Eiseskälte an der Dreisam - Christian Schlindwein - E-Book

Eiseskälte an der Dreisam E-Book

Christian Schlindwein

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Beschreibung

Freiburg, 1899: Als ein junges Hausmädchen tot am Ufer der Dreisam gefunden wird, hält die badische Polizei schnell einen unlängst entflohenen Sträfling für den Mörder. Doch Kriminalsergeant Gebhard Ernsthal hat Zweifel. Bei seinen Ermittlungen erhält er unterwartet Unterstützung von Schwester Johanna Maria, einer neugierigen Ordensfrau mit scharfem Verstand. Der Fall scheint klar, bis ein weiteres Opfer gefunden wird. Die Ermittlungen führen zu den feinen Adressen der Stadt - und in eine Welt, in der der Tod nur ein Mittel zum Zweck ist.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christian Schlindwein

Eiseskälte an der Dreisam

Historischer Kriminalroman

Zum Buch

Hinter verschlossenen Türen Schwester Johanna Maria freut sich auf ihren Dienst im Kindergarten der Pfarrei St. Bernhard von Baden in Freiburg. Die schnell wachsende Schwarzwaldmetropole ist im Winter 1899 eine einzige riesige Baustelle, in der sagenhafter Reichtum und bittere Armut Tür an Tür wohnen. Da wird an der Dreisam die Leiche eines Hausmädchens gefunden. Der Vorgesetzte der jüngst ins Leben gerufenen badischen Kriminalpolizei geht von einem Sittlichkeitsverbrechen aus, doch der junge Kriminalsergeant Gebhard Ernsthal ermittelt in eine andere Richtung. Unterstützt wird er dabei von Johanna Maria, die eine Verbindung der Toten zu den reichen Villenbesitzern an der Dreisam vermutet. Gemeinsam kommen die beiden nach und nach einem fürchterlichen Geheimnis auf die Spur. Zu spät wird Johanna Maria bewusst, dass sie sich damit mächtige Feinde geschaffen hat, die bereit sind, alles zu vernichten, was ihren ehrgeizigen Plänen im Wege steht.

Christian Schlindwein, geboren 1973 in Konstanz, studierte Theologie in Freiburg und ist seit 2008 Pfarrer im Fürstentum Liechtenstein. In seinen Romanen verbindet er detaillierte historische Recherche mit einer spannenden Krimihandlung. In »Eiseskälte an der Dreisam« nimmt er seine Leser mit auf eine Reise ins historische Freiburg um 1900 und stellt ihnen ein außergewöhnliches Ermittlerduo zur Seite.

Impressum

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Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_market_hall,_Freiburg,_Baden,_Germany,_ca._1895.jpg

ISBN 978-3-7349-3324-0

Zitat

Du edle Münsterhüterin,

Freiburg Brisgoica,

Wohl kommst du Keinem aus dem Sinn,

Der je dein Antlitz sah.

G. v. Oertzen, Freiburg, in: Auf Schwarzwaldwegen

Aus einem Reiseführer von 1901

Der Fund an der Dreisam

Eins

Der Himmel über Freiburg war schmutzig grau. Immer dunklere Wolken türmten sich über den Vogesen auf und rollten über den Rhein von Westen her über die Stadt. Die Hänge des winterlichen Schwarzwalds waren wolkenverhangen. Nur hier und da, wo die zähen Nebel an den spitzen Tannen in der Höhe aufrissen, wurde der mit Raureif überzogene Wald kurz sichtbar, wie ein Trugbild, bevor er erneut hinter feuchten Schwaden verschwand.

Glockenschläge hallten gedämpft über die Dächer. Es war später Vormittag, aber die Sonne ließ sich nicht sehen. Nur grau in grau, und das schon seit Tagen. Die Luft roch nach Schnee. Im Wind wirbelten feine weiße Flocken über die Straßen und Plätze, ließen sich auf die steinernen Ränder der Brunnen nieder und bleichten die Giebel der Häuser. Schwarzer Rauch stieg aus den Schornsteinen. Die Menschen, die unterwegs waren, schlichen mit tief in die Stirn gezogenen Hüten und Mützen durch die Kälte. Beim Atmen stießen sie Wolken aus wie Dampflokomotiven. Über das kalte Pflaster hallte das Getrappel von Pferden und das Rattern von eisenbeschlagenen Wagenrädern. Streunende Hunde huschten mit eingezogenem Schwanz durch die Gassen auf der Suche nach Essbarem.

Kein lautes Schwatzen erfüllte die Straßen wie sonst, kein helles Lachen war zu hören. Keine Stimme erhob sich, um Kunden anzulocken und Waren feilzubieten. Die Marktleute hockten stumm hinter ihren Ständen auf dem windigen Münsterplatz und rieben nur dann und wann die klammen Hände aneinander. Wenige der vorbeieilenden Menschen blieben stehen, die meisten von ihnen waren Dienstboten oder Hausmädchen, die von ihrer Herrschaft zum Einkaufen geschickt worden waren.

Ratternd klapperte ein vollbesetzter Pferdeomnibus über die Baustelle der Kaiserbrücke. Tief vermummt schwang der Kutscher die Peitsche. Unter der Brücke schäumte die Dreisam. Mehrere in Lumpen gehüllte Gestalten kauerten an einem der Brückenpfeiler am Fluss. Eng aneinander gedrängt versuchten sie, sich gegen den Frost zu schützen. Eine Flasche mit billigem Fusel machte die Runde. Beißende Tabakwölkchen stiegen auf.

Gleichgültig eilten die Passanten auf der Brücke vorüber. Niemand warf einen Blick über das Geländer nach unten. Niemand achtete auf die Landstreicher und Herumtreiber. Und zunächst sah auch niemand die Frauenleiche, die ganz in der Nähe im nassen braunen Gras des Ufers lag wie eine achtlos weggeworfene Puppe. Auf dem Rücken ruhend, die rot geäderten Augen starrten erloschen zum fahlen Himmel. Auf der linken Wange klebte ein welkes Blatt. Die Arme waren weit ausgebreitet, eine Hand trieb im eiskalten Wasser. Die Haube, die die Frau getragen hatte, war ihr vom Kopf gerutscht, ihre dunklen Haare umrahmten wie ein Fächer das bläulich blasse Gesicht.

Der Schnee begann jetzt dichter zu fallen. Leise legte er sich auf die braunen Haare und den wollenen Mantel, bedeckte die nach oben ragenden Spitzen der groben Schuhe. Einzelne Flocken landeten auf den dichten Augenbrauen und glitzerten in den Wimpern. Hier unten am Ufer war nur das Tosen des Flusses zu hören. Stetig und monoton rauschte die Dreisam in ihrem Bett nach Westen. Wassertropfen wirbelten auf die Liegende und überzogen den starren Leib mit einer glänzenden Schicht aus hauchdünnem, zerbrechlichem Eis. Auf eine bizarre Weise schön. Wie ein gläserner Sarg.

Zwei

Es war der Dienstag der ersten Adventswoche des Jahres 1899. Die Auslagen der Schaufenster waren vorweihnachtlich geschmückt. Vor dem Siegesdenkmal auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz sang ein schlotternder Kinderchor mit dünnen Stimmchen Adventslieder.

Kriminalsergeant Gebhard Ernsthal war nicht adventlich zumute. Schon gar nicht weihnachtlich. Er war übermüdet. Sein Magen knurrte. Seufzend zog er seine Uhr aus der Westentasche und ließ den Deckel aufspringen. Bald Mittag. Prüfend hob er den Blick zum bewölkten Himmel. Es wollte heute überhaupt nicht richtig hell werden. Mit einem weiteren Seufzer steckte er die Uhr wieder ein. Das Bimmeln einer hellen Glocke hinter ihm ließ ihn erschrocken zur Seite springen. Ein Pferdeomnibus ratterte haarscharf an ihm vorüber.

Der junge Mann atmete tief durch. Beinahe wäre er gestürzt. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und ging, so schnell es das glatte Straßenpflaster zuließ, die Friedrichstraße hinunter. Zum Haus seines Bruders war es nicht weit. Wenn er sich sputete, würde er rechtzeitig zum Mittagessen eintreffen. Bei dem Gedanken an die warme, dampfige Stube und das Klirren des Bestecks auf dem weißen Porzellan beschleunigte er seine Schritte. Er war zwar nicht angemeldet, aber Konrad würde seinen kleinen Bruder nicht abweisen. Das hatte er nie getan.

Mehrfach musste der Sergeant auf dem Trottoir Menschen ausweichen, die mit auf den Boden gerichtetem Blick an ihm vorüberstampften. Dann sah er endlich das Haus vor sich. Das Pfarrhaus von St. Bernhard. Es lag neben einer hohen neugotischen Kirche unmittelbar an der Straße. Schon als er die Stufen zum Eingang hinaufstieg, war es ihm, als wenn ein würziger Duft seine Nase kitzelte. Was war das, Linsensuppe? Vielleicht sogar mit Einlage?

Erwartungsvoll zog er an der Klingel. Er hörte Schritte, die Tür öffnete sich.

»Gebhard, was für eine Überraschung!«

Lächelnd ließ ihn sein Bruder eintreten. Gebhard Ernsthal hängte seinen Gehrock an die Garderobe, zupfte an seinem Schnurrbart und folgte dem schwarz gekleideten Mann in die Stube. Der gute Geruch stammte eindeutig von einer Linsensuppe. Dem Polizisten lief das Wasser im Mund zusammen.

»Setz dich, Gebhard, ich werde Fräulein Rosa bitten, ein weiteres Gedeck aufzulegen.«

Während sich der Pfarrer in die Küche begab, begrüßte der Kriminalsergeant einen jungen Mann in schwarzer Soutane, der bereits am Tisch saß. »Guten Tag, Herr Vikar. Haben Sie sich gut einleben können? Wie gefällt Ihnen Ihre erste Stelle?«

Vikar Wilhelm Vogel war ein schmächtiger, dünnhaariger Mann mit einer dicken, runden Brille und einem nervösen Zug um die schmalen Lippen. Schüchtern antwortete er: »Es ist eine Ehre, in der Bischofstadt wirken zu dürfen. Und Pfarrer Dr. Ernsthal, Ihr verehrter Bruder, hat sehr viel Geduld mit mir.«

»Ist er nicht zu streng mit Ihnen?«

»Ganz und gar nicht.«

Eine beleibte, grauhaarige Frau mit Rüschenschürze kam aus der Küche. In den Händen hielt sie einen tiefen Teller, Besteck und ein Glas. Mit einem mütterlich wohlwollenden Gesichtsausdruck legte sie das Gedeck vor dem Gast auf den weiß gedeckten Tisch.

»Schön, dass Sie da sind, Herr Ernsthal«, sagte die Haushälterin. »Das Essen in den Gasthäusern ist auf die Dauer nicht das Richtige für Sie.«

Der Pfarrer setzte sich zu der kleinen Gesellschaft.

»Sie meinen, mein Bruder sollte endlich heiraten, Fräulein Rosa?«, fragte er spitzbübisch.

»Um Gottes willen, nein! Lassen Sie sich nur Zeit, Herr Ernsthal! Die Frauen heutzutage sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Alles ist verrückt geworden in diesen Zeiten. Es ist nicht leicht, die Richtige zu finden. Und bis es so weit ist, sind Sie im Pfarrhaus immer willkommen.«

Der Polizist war rot geworden. Der Vikar ebenso. Pfarrer Ernsthal faltete kopfschüttelnd die Hände. »Lasset uns beten.«

Nach dem Tischsegen trug die Haushälterin die dampfende Suppenterrine herein. Eine Weile war nichts als das Klimpern des Bestecks zu hören. Schließlich zog sich der Sergeant die steif gebügelte Serviette aus dem Kragen.

»Das war wunderbar, Fräulein Rosa«, sagte er. »Niemand macht so eine feine Linsensuppe wie Sie.«

»Besser als in einem Ihrer Gasthäuser ist sie wahrscheinlich schon«, sagte sie mit einem befriedigten Nicken und räumte die leere Suppenschüssel ab. »Falls Sie keine anderen Wünsche haben, Hochwürden, werde ich mich nach der Küchenarbeit für den Ausgang zurechtmachen. Sie wissen ja, heute Nachmittag um drei findet im Kornhaus die jährliche Ehrung treuer weiblicher Dienstboten statt.«

»Ach ja«, entgegnete der Geistliche, »das hätte ich beinahe vergessen.«

»Wie können Sie das nur vergessen, Hochwürden? Jedes Jahr am Geburtstag Ihrer Königlichen Hoheit der Großherzogin veranstaltet der Luisen-Frauenverein diesen Anlass, und ich bin seit vielen Jahren Mitglied! Wie jedes Jahr wird auch diesmal wieder der Erzbischof dabei sein. Er findet immer ganz wunderbare Worte.« Selig lächelnd verließ sie die Stube.

»Wenn Sie erlauben, Herr Pfarrer, werde ich mich ebenfalls zurückziehen«, sagte der Vikar und erhob sich. Seine dicke Brille war immer noch vom heißen Suppendampf beschlagen. »Ich habe an meiner Predigt für den Sonntag zu arbeiten.«

»Bitte.«

»Darf ich noch fragen, ob Sie schon wissen, wann die Barmherzige Schwester eintreffen wird?«

»Sie wird heute oder morgen erwartet.«

Nachdem der junge Geistliche gegangen war, sagte Gebhard zu seinem älteren Bruder: »Der Vikar scheint ein eifriger Priester zu sein.«

»Eifrig ist er«, sagte der Pfarrer nickend. »Beinahe ein wenig zu eifrig. Aber alles andere stünde einem Neupriester auch schlecht an.«

»Und was ist das für eine Schwester, von der er gesprochen hat?«

»In Hegne am Bodensee wurde vor wenigen Jahren eine Niederlassung der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz gegründet. Das Kloster sendet uns eine Schwester für unseren Kindergarten. Außerdem plane ich eine Nähschule für Töchter aus einfachen Verhältnissen.«

»Wo willst du die Schwester unterbringen?«

»Du weißt noch gar nicht, dass Schwester Hildegardis uns aus Altersgründen verlassen hat. Die Neue wird ihr Zimmer über dem Kindergarten neben dem Pfarrhaus beziehen. Sie soll übrigens recht jung sein.«

»Der Ruhestand ist Schwester Hildegardis zu gönnen. Sie war eine Institution. Ich selbst bin auch zu ihr in den Kindergarten gegangen. Hoffentlich schicken sie dir als Nachfolgerin keine, die sie im Kloster einfach nur loswerden wollten«, scherzte der Polizist. »Sonst hast du ab sofort einen Drachen im Garten wohnen.«

»Gebhard, Barmherzige Schwestern sind nie Drachen!«

Beide lachten.

Die Haushälterin kam wieder herein und stellte einen Teller mit Adventsgebäck auf den Tisch.

»Sie verwöhnen uns, Fräulein Rosa«, sagte Gebhard strahlend und griff beherzt zu.

Drei

Eine halbe Stunde später war das Strahlen verschwunden. In der Gendarmeriewache im Bezirksamt Basler Hof in der Kaiserstraße herrschte gedrückte Stille. Unter den gerahmten Bildern des Kaisers und des Großherzogs saß ein schnauzbärtiger Mann in einem dunkelgrünen Uniformrock am Empfangstresen und nickte dem jungen Kriminalsergeanten schweigend zu. Ein anderer, der gerade seine Pickelhaube an einen Haken gehängt hatte, starrte ausdruckslos vor sich nieder.

Mit einem flauen Gefühl im Magen stieg Ernsthal die Treppe hinauf, die zu den Büroräumen führte. Die badische Kriminalpolizei war erst 1877 auf Erlass des Großherzogs gegründet worden, und man hatte im Obergeschoss der Gendarmerie zwei Zimmer dafür eingerichtet.

An einem Schreibtisch hockte der Sergeant Xaver Brogle vor einem Stoß Akten. Der Dienststellenleiter Kriminalkommissar Eugen Bollinger stand am Erkerfenster, paffte seine Pfeife und beobachtete das vorweihnachtliche Treiben auf der Kaiserstraße. Als Ernsthal eintrat, drehte er sich um und musterte den jungen Mann streng. »Ernsthal! Lassen Sie sich auch mal sehen?«

»Es ist noch Mittagspause, Herr Kommissar, und ich dachte …«

»Überlassen Sie das Denken den Pferden, Ernsthal, die haben größere Köpfe! Wir haben eine ermordete Frau an der Dreisam, und ich muss hier tatenlos herumsitzen und auf Sie warten! Sie wissen, dass sich Polizeiwachtmeister Kaiser im Krankenstand befindet und Sie ihn vertreten. Los, Sie müssen den Rock gar nicht ablegen! Wir fahren zur Leichenhalle!«

Elektrisiert folgte Ernsthal seinem schwergewichtigen Vorgesetzten. Er hätte gern mehr über den Mordfall erfahren, aber er traute sich nicht nachzufragen.

Eine Droschke brachte die beiden Polizisten in das neue Institutsviertel im Norden der Stadt. Vor dem repräsentativen Anatomiegebäude stiegen sie aus. Sie wurden von einem Leichenwäscher erwartet, der sie wortlos in einen Raum im Erdgeschoss führte. SECIER-SAAL stand auf einem kupfernen Schild an der Tür.

Ernsthal schluckte, als er die Leiche in der Mitte des steil ansteigenden Auditoriums erblickte. Es war eine vielleicht zwanzigjährige Frau. Sie lag auf einem weiß gekachelten Tisch. Ihre Kleidung starrte vor Dreck. In ihren Haaren und auf ihrer Wange klebten Blätter. Die Haut hatte eine bläulich-marmorne Färbung angenommen. Ein bärtiger Mann in einem weißen Kittel war gerade damit beschäftigt, die Tote zu entkleiden.

Gebhard Ernsthal musste sich beherrschen, um sich seine Aufregung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. Seine Ohren glühten. Er hatte nie zuvor eine nackte Frau gesehen, und obwohl es in diesem Fall von ihm verlangt wurde, fühlte er sich tief in seinem Inneren schuldig.

»Was haben wir hier, Professor?«, fragte Bollinger und gab sich die Antwort gleich selbst: »Würgemale am Hals. Ich wette auf einen Sittenstrolch! Das ist eindeutig ein Sittlichkeitsverbrechen! Man muss sich die Leiche ja nur einmal anschauen: ein Hausmädchen, wie es der Kleidung nach scheint. Hübsches Ding.«

Erschüttert wandte Ernsthal seine Augen von dem unnatürlich blassen Körper auf dem Tisch ab. Er hatte Bollinger nicht richtig zugehört. Doch ein Sittlichkeitsverbrechen? Das erschien ihm zumindest fragwürdig.

»Nach Unzucht sieht es auf den ersten Blick nicht aus«, konstatierte auch der Professor. »Aber natürlich werde ich das genauer untersuchen.«

Der junge Polizist wollte sich gar nicht vorstellen, auf welche Weise diese Untersuchung vorgenommen werden würde. Mit gequältem Gesichtsausdruck sah er zur Decke hinauf.

»Was hingegen für Ihre Vermutung spricht«, sagte der Weißhaarige und reichte dem Kommissar einen ledernen Gegenstand, »ist diese Geldbörse, die wir in der Schürze der Toten gefunden haben. Sie ist gut gefüllt. Einen Raub können wir also ausschließen.«

Bollinger nickte befriedigt.

»Geschändet und erwürgt«, deduzierte er. »Vielleicht hat der Schurke sie in die Büsche gezerrt und konnte seine eigentliche Absicht nicht ausführen, weil das Mädel geschrien hat. Er musste sie also zum Schweigen bringen.«

»Gibt es noch andere Verletzungen?«, fragte der Kriminalsergeant mit brüchiger Stimme. »Schürfwunden oder blaue Flecken?«

»Unser Neuling bekommt zittrige Knie«, sagte Bollinger lachend. Ihm war die Unsicherheit Ernsthals nicht entgangen. Mit vernehmlichem Schmatzen zündete er sich seine Pfeife wieder an. »Sie waren eben nicht im Krieg, Ernsthal. Was sind Sie für ein Jahrgang? Neunundsechzig? Fast noch ein Kind. Unsere Generation hat Leichen gesehen, sage ich Ihnen! Gute, treue Kameraden! Aber die meisten toten Soldaten trugen doch rote Hosen, nicht wahr, Herr Professor?«

»Ich war nicht im Krieg, Herr Kommissar«, antwortete der Weißhaarige. »Dazu war ich zu alt. Ich bin Jahrgang siebenunddreißig. Und zu Ihrer Frage, junger Mann: Andere Verletzungen kann ich äußerlich an der Frau bisher nicht erkennen.«

Er beugte sich tief über den Leichnam und betrachtete ihn geschäftig von allen Seiten.

»Ich bleibe dabei«, insistierte Bollinger und blies eine ansehnliche Wolke Rauch aus. »Es handelt sich um ein Notzuchtdelikt. Vielleicht hat sich das Fräulein auch schwängern lassen, und als sie ihrem Liebhaber offenbarte, dass sie in anderen Umständen war, hat er sie umgebracht. So etwas kommt vor. Nicht jeder will für eine schnelle Romanze mit einem Dienstmädchen ein Leben lang bezahlen. Vielleicht stammt der Vater des Kindes aus guten Verhältnissen, und die Kleine wurde gierig, wer weiß? Drohte, ihn öffentlich bloßzustellen? Leute wurden bereits aus geringfügigeren Gründen getötet. Das lernen Sie schon noch, Ernsthal!«

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar.«

»Ich bin mir allerdings ziemlich sicher, dass wir unseren Mörder eher in den unteren Schichten zu suchen haben. Ein ehrbarer Mann lässt eine Leiche nicht achtlos am Fluss liegen, wo sie jeder sehen kann. Was ist denn das für eine Art? Es würde mich gar nicht wundern, wenn es sich bei dem Täter um einen kleinen Arbeiter handelte oder einen von den Stadtstreichern. Oder einen Zigeuner. Haben wir gerade solches Pack in der Stadt, Ernsthal?«

»Ich glaube nicht, Herr Kriminalkommissar.«

»Nun gut. Wir sind hier fertig. Danke, Herr Professor. Kommen Sie, Ernsthal, unsere Droschke wartet. Wir müssen den Kerl erwischen, der das getan hat. Man erwartet von uns, dass dieser Unhold aufs Schafott kommt!«

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar«, antwortete der junge Polizist pflichtschuldig, obwohl ihn etwas ganz anderes beschäftigte. Bevor sie den Täter ermitteln und ihn seiner gerechten Strafe zuführen konnten, mussten sie zunächst wissen, um wen es sich bei dem Opfer handelte. Wer war die junge Frau, die auf so tragische Weise ums Leben gekommen war?

Ernsthal warf einen letzten Blick auf den starren Leichnam. Dann folgte er seinem Vorgesetzten ins Freie. Der Sergeant hatte tatsächlich zittrige Knie. Doch das hätte er niemals zugegeben.

Vier

»Männer fürchten sich nicht, und sie heulen auch nicht wie die Weiber. Klötzle hat sich ganz schön lächerlich gemacht an der Dreisam, als er nicht fähig war, zu helfen, die Leiche anzuheben. Wendet sich ab und muss in die Büsche. So was will Gendarm sein! Soll er doch zu Hause bei den Frauen am Herd bleiben. Was ein rechter Mann ist, der hält so was aus!«

Zustimmend erhoben alle die Krüge. Auch Gebhard Ernsthal stieß mit seinen Kollegen an, obwohl er nicht so ganz von den Ausführungen Wachtmeister Fegers überzeugt war.

Er hatte sich überreden lassen, mit Feger, zwei weiteren Sergeanten und vier Gendarmen nach Dienstschluss auf einen Umtrunk ins Ganterbräu in der Schiffstraße mitzukommen. Die Beamten saßen in dem tabakgeschwängerten Saal unter der bunten Glasdecke bei einem der Billardtische und verfolgten das Duell Fegers mit dem Sergeanten Greif. Die meisten hatten die Uniformröcke aufgeknöpft oder abgelegt. Ihre Degen hingen an den Lederriemen über den Stuhllehnen. Die in Zivil gekleideten Beamten hatten es sich ebenfalls gemütlich gemacht.

Einer der Gendarmen meinte: »Die Tote von der Dreisam, das ist ja harmlos. Die hatte noch alle Klamotten an, als wir sie gefunden haben, und Wunden hatte sie auch keine. Ich habe einmal eine gesehen, der hatte ihr Alter ins Gesicht geschossen!« Er unterbrach sich, um geräuschvoll aufzustoßen. »Das war vielleicht eine Sauerei!«

»Wo war das?«, fragte ein anderer neugierig.

»Auf einem Hof hinter Kirchzarten. Bis wir dort waren, das dauerte. Da fuhr noch keine Höllentalbahn. Es war ein Unfall. Der Bauer wollte zum Hasenschießen, und das Gewehr ging los.«

»Was für eine Tragödie«, entfuhr es Ernsthal.

Der Gendarm zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Im Krieg gab es Schlimmeres.«

»Das kannst du laut sagen. Halt mal mein Bier«, forderte Feger einen der Kollegen auf und griff nach dem Queue. Er beugte sich zur Hälfte über den Billardtisch und nahm genau Maß. Die angestoßene Kugel rollte trotzdem nicht in das Loch.

»Ach, verdammt«, fluchte der Wachtmeister, als er sich wieder aufrichtete, »die Platte ist nicht ganz eben. Habt ihr das gesehen?«

Sein Mitspieler grinste abfällig, als er den Spielstab in Empfang nahm. »Vielleicht hättest du nur weniger saufen sollen, Feger. Pass auf, so geht das!« Zielsicher versenkte er die Kugel.

Das Gesicht Fegers war vom Alkohol und vom Zorn gerötet. Mit zusammengepressten Lippen beobachtete er, wie Greif die Partie Kugel um Kugel zu seinen Gunsten beendete.

»Kerle, die Frauen umbringen, gehören für mich auf die Guillotine«, ließ er vernehmen. »Aug um Aug und Zahn um Zahn. Nur so lassen sich Recht und Ordnung aufrechterhalten, sage ich. Die Spitzbuben müssen wissen, was ihnen droht!«

Ernsthal starrte nachdenklich in sein Bierglas. Er glaubte an Recht und Ordnung, dennoch fürchtete er manchmal die Mittel, die angewandt wurden, um selbiges durchzusetzen. Gewalt mit Gewalt zu beantworten, war nicht seine Vorstellung von Staatsgewalt. Und ließ sich ein Verbrecher tatsächlich durch die Androhung drakonischer Strafen von seinen Taten abhalten? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er konnte es nicht sagen.

»Sergeant Ernsthal philosophiert mal wieder vor sich hin«, spöttelte der Gendarm neben ihm.

»Das macht er doch immer!«, merkte Greif an. »Ernsthal hat lieber mit Büchern zu tun als mit Leichen, habe ich recht, Gebhard?«

Dem Sergeanten fiel auf die Schnelle keine Antwort ein. Hilfesuchend blickte er zu seinem Kollegen Xaver Brogle, der sich gemütlich sein Pfeifchen stopfte. Brogle paffte einen Zug und sagte dann: »Lasst den Ernsthal in Ruhe! Es braucht Macher, und es braucht Denker. Unser Gebhard ist halt ein Denker.«

Gebhard Ernsthal nickte unsicher. Hatte Brogle ihn gerade verteidigt, oder bedeuteten seine Worte, dass das Denken eine Art von Behinderung darstellte, mit der er eben leben musste?

Wachtmeister Feger setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Das mag sein, Xaver«, sagte er grinsend zu Brogle. »Aber ich kann euch verraten, dass unser Denker ganz schön weiß um die Nase war, als er vorhin von der Leichenschau ins Bezirksamt zurückkam.«

Ernsthal lief unter dem Gelächter seiner Kollegen rot an. Er musste wieder an die Ermordete denken. Solange sie ihren Namen nicht kannten, war sie nur eine Leiche auf einem Tisch in der Anatomie. Ein anonymer Fall, nichts weiter.

Sie mussten herausfinden, wer die junge Frau war.

Fünf

Auch einen Tag später war die Identität der Toten noch immer unbekannt. Die Zeitungen hatten ausführlich über die Mordtat berichtet, und es kursierten bereits unterschiedliche Gerüchte. Die Bürgerlich-Liberalen machten die Verrohung der Sitten unter der wachsenden Zahl der Arbeiter für das Verbrechen verantwortlich, die sozialdemokratischen Blätter sahen in der sozialen Ungerechtigkeit die Wurzeln der Untat und suchten den Täter in bourgeoisen Kreisen, in denen das Leben eines Dienstmädchens nichts wert sei, während die dem katholischen Zentrum nahestehende Zeitung die Gleichgültigkeit gegenüber Gottes Geboten als Ursache anprangerte.

Gebhard Ernsthal hatte sich noch keine Meinung gebildet.

Er dachte darüber nach, ob der Fundort an der Dreisam als Tatort infrage kam. Aber was sollte die junge Frau dort unten zu schaffen gehabt haben, als ihr Mörder sie überraschte? Die Böschung war von der Straße aus auch viel zu leicht einsehbar. Dem jungen Kriminalpolizisten erschien es wahrscheinlicher, dass sich der Mörder seines Opfers dort nur entledigt hatte. Dennoch musste das Verbrechen ganz in der Nähe stattgefunden haben, denn es war schlichtweg unmöglich, eine Leiche unbemerkt durch Freiburg zu tragen. Selbst in der Nacht waren die Straßen nicht völlig verwaist, und der Professor aus der Anatomie hatte inzwischen wissen lassen, dass der Todeszeitpunkt für den frühen Morgen angesetzt werden musste. In diesen Stunden befanden sich bereits zahlreiche Menschen auf dem Weg zur Arbeit.

Die Gendarmen suchten inzwischen auf Geheiß Bollingers alle Männer auf, die in den letzten Jahren wegen Sittlichkeitsvergehen aktenkundig geworden waren, um deren Alibis zu überprüfen und ihre Aussagen aufzunehmen. Moderne systematische Polizeiarbeit.

Ernsthal hatte dennoch seine Zweifel. Er wusste, dass er nicht über die Erfahrung des Kriminalkommissars verfügte, aber das Fehlen von Blessuren kam ihm eigenartig vor. Wie zerrte man einen Menschen von der Straße in ein Gebüsch, ohne Druckstellen oder dergleichen zu hinterlassen? Auch die Kleidung schien, abgesehen vom Schmutz, völlig intakt gewesen zu sein.

Mit diesen Gedanken stieg der junge Polizist am Siegesdenkmal aus dem Pferdeomnibus. Es war der Nikolaustag, und sein Bruder hatte ihn aus diesem Anlass zum Mittagessen eingeladen. Oder vielleicht einfach deshalb, weil er wusste, dass sein kleiner Bruder sonst wieder allein in einem Gasthaus zu Mittag essen musste.

Der Pfarrer kam gerade aus der Kirche, als Gebhard eintraf. Er hatte sein Brevier unter den Arm geklemmt und winkte seinem Bruder freundlich zu.

»Salut, Herr Sergeant!«, rief er. »Du bist pünktlich, mein Lieber.« Pfarrer Ernsthal war einer der wenigen, die den Dienstrang französisch aussprachen und nicht wie die meisten Deutschen, bei denen das Wort wie Serschannt klang.

»Wenn es ums Essen geht, bin ich immer pünktlich, das weißt du doch«, scherzte Gebhard.

»Heute hat sich Fräulein Rosa ganz besondere Mühe gegeben.Tu t’en souviens? Le jour de Saint Nicolas avec Maman?«

»Bien sûr.«

Wie jedes Mal, wenn die Brüder von ihrer Mutter sprachen, wechselten sie unwillkürlich in die französische Sprache. Louise Troisfontaines war Elsässerin gewesen und hatte mit ihren Kindern zeit ihres Lebens Französisch gesprochen, auch wenn sie mit ihrem Mann, August Ernsthal, nach der Hochzeit ins Badische gezogen war.

Der Ältere schloss die Haustür auf. »Komm, du musst vor dem Essen noch unseren Neuzugang kennenlernen.«

»Den Drachen?«

»Lass dich überraschen!«

In der Stube wartete bereits der Vikar. Neben ihm am Tisch saß eine junge Nonne. Beide erhoben sich, als der Pfarrer eintrat.

»Darf ich vorstellen, Schwester, mein Bruder Gebhard Ernsthal. Gebhard, die ehrwürdige Schwester Johanna Maria. Wie ich dir gestern erzählt habe, wird sie im Kindergarten arbeiten und die seit Längerem geplante Nähschule aufbauen.«

Die Nonne mochte in ihren Zwanzigern sein, schätzte der Polizist. Vielleicht so alt wie die Tote, die er gestern in der Anatomie gesehen hatte. Die Schwester hatte ein ovales Gesicht mit hellen, klugen Augen, die ihn neugierig anblickten.

Gebhard streckte die Hand aus, zog sie aber rasch wieder zurück, als ihm einfiel, dass ein Handschlag bei einer Nonne nicht angebracht war. Mit rotem Kopf verbeugte er sich steif und ein bisschen linkisch.

»Der Bruder des Pfarrers?«, fragte die Ordensfrau überrascht und blickte von einem zum anderen. »Sie sehen viel jünger aus, Herr Ernsthal, eher wie ein Neffe.«

»Mein Bruder war ein Nachzügler«, erklärte der Geistliche. »Ich war neunzehn, als er auf die Welt kam, und befand mich bereits im Studium. Inzwischen ist Gebhard bei der Kriminalpolizei, müssen Sie wissen.«

»Kriminalpolizei? Wie aufregend! Sind Sie etwa mit dem aktuellen Mordfall betraut? Gibt es schon Hinweise auf den Täter? In Ihrem Beruf hören und sehen Sie bestimmt vieles, was sonst verborgen bleibt.«

»In der Tat, ja«, antwortete der Polizist. »Und nein, es gibt noch keine Hinweise. Wir stehen mit unseren Ermittlungen ganz am Anfang.«

»Wie gehen Sie vor? Befragen Sie Zeugen? Gibt es überhaupt Zeugen?«

Der Hausherr lud sie ein, sich an den Tisch zu setzen. »Schwester Johanna scheint vielseitig interessiert zu sein«, stellte er lächelnd fest. »Ich hoffe jedoch, dass sie sich bei aller entschuldbaren Neugierde auf die Aufgaben konzentrieren wird, für die sie hierhergeschickt worden ist.«

Fräulein Rosa brachte die Nudelsuppe herein. »Neugier ist vieler Laster Anfang, Schwester«, sagte sie und nahm ebenfalls Platz. »Darum heißt es ganz richtig: Steck deinen Löffel nicht in anderer Leute Töpfe.«

Nach dem Gebet verlief das Essen zunächst schweigend. Erst als die Haushälterin den Braten auftischte, wandte sich Schwester Johanna wie beiläufig an den Vikar, der neben ihr saß: »Habe ich eigentlich erwähnt, dass ich heute meinen ersten Tag im Kindergarten hatte und dass ein Mädchen erzählt hat, dass ihr Hausmädchen vermisst wird?«

Vikar Vogel sah sie irritiert an. Gebhard Ernsthal bemerkte, dass die Botschaft eigentlich nicht an den Vikar, sondern an ihn gerichtet war, und horchte wie gewünscht auf.

»Die Familie wohnt übrigens in der Wiehre, in der Nähe des Fundorts der Leiche«, fuhr die junge Nonne fort. »Aber das kann auch ein Zufall sein. Bestimmt ist es nur ein Zufall.«

»Wie heißt die Familie?«, erkundigte sich der Polizist.

»Meierhofer, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich werde das überprüfen.«

Johanna nickte befriedigt und konnte dann offensichtlich ihre Neugierde nicht länger beherrschen. »Haben Sie die Leiche gesehen? Waren Sie bei der Obduktion dabei?«

»Was ist eine Obduktion?«, fragte Fräulein Rosa ahnungslos.

»Das ist, wenn man den Leichnam aufschneidet, um zu untersuchen, wie der Mensch zu Tode gekommen ist«, erklärte die Nonne eifrig.

»Schwester!«, rief die Haushälterin entsetzt. »Das ist doch kein Tischgespräch, schon gar nicht in einem Pfarrhaus! Außerdem sollten solche gräulichen Angelegenheiten der Polizei überlassen bleiben. Das ist nichts für Frauen! Oder für Nonnen!«

Der Vikar richtete sich kerzengerade auf. »Dem muss ich ohne Abstriche zustimmen, Schwester!«, rief er. »Wo kommen wir hin, wenn die Frauenbewegung nun auch noch auf unsere heilige Kirche übergreift?«

Bevor die Ordensfrau etwas entgegnen konnte, sagte der Pfarrer: »Heute ist das Fest des heiligen Nikolaus. Vielleicht sollten wir tatsächlich nicht mehr von Leichen sprechen, sondern uns erbaulicheren Dingen zuwenden.«

»Aber …«, versuchte Johanna einzuwenden.

»Dingen, die unserer Berufung und unserer Aufgabe entsprechen«, schloss Dr. Konrad Ernsthal mit erhobener Stimme.

»Vollkommen richtig, Herr Pfarrer«, sekundierte Vikar Vogel befriedigt. »Eine Frau, und insbesondere eine Ordensfrau, sollte wissen, was sich zu Tisch ziemt. Und wann sie zu schweigen hat.«

Gebhard Ernsthal sah, dass der Nonne eine Entgegnung auf der Zunge lag, doch es gelang ihr, sich zu beherrschen. Mit einem tiefen Atemzug senkte sie den Kopf. Auf Stirn und Wangen erschienen hektische rote Flecken. Offensichtlich kochte es in ihrem Innern.

Das kann für die Pfarrei heiter werden, dachte der Sergeant bei sich. Schwester Johanna Maria war kein Drachen, aber unter der schlichten schwarzen Haube brodelte offenbar dennoch ein Feuer.

Sechs

Auf das Klingeln der Hausglocke öffnete ein älterer Mann in einem dunklen Anzug und weißen Handschuhen. Die Familie Meierhofer musste sehr betucht sein, dachte der Sergeant, wenn sie sich zu einem Hausmädchen und sicherlich einer Köchin auch einen Hausdiener leisten konnte. Aber hier im Stadtteil Wiehre wohnten inzwischen viele reiche Leute.

»Sie wünschen?«

»Ernsthal, Kriminalsergeant Ernsthal. Ist der Hausherr zu sprechen?«

»Bedaure, Seine Exzellenz ist nicht im Hause. Waren Sie angemeldet?«

»Nein, das nicht. Könnte ich vielleicht mit der Dame des Hauses sprechen?«

Der Butler zog missbilligend die rechte Augenbraue in die Höhe. »Die gnädige Frau empfängt keine unangemeldeten Besuche«, entgegnete er. »Insbesondere nicht in Abwesenheit des gnädigen Herrn.«

»Das ist sehr ehrenhaft«, sagte Ernsthal mit beherrschter Höflichkeit. »Dennoch muss ich darauf bestehen. Es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.«

»Hat der Herr eine Karte?«

Ernsthal zog eine Visitenkarte aus seiner Westentasche.

»Bitte hier in der Eingangshalle zu warten«, wies der Butler ihn an und verschwand im Innern des Hauses.

Ungeduldig ging der junge Mann auf und ab und trat dann an eines der hohen Fenster. Er beobachtete eine Weile den Verkehr auf der breiten Straße, die an der Dreisam entlangführte. Von dort wanderte sein Blick zu der nagelneuen, aus rotem Sandstein errichteten Johanneskirche und weiter zu der Böschung, die zum Flussufer hinabführte.

Zum Ort des Leichenfundes.

Eine Tür öffnete sich, und er fuhr herum. Der Diener führte ihn wortlos in einen angrenzenden Salon. In der Mitte des üppig ausgestatteten Raumes stand eine überraschend junge Frau mit blassem Teint und dunkelblonden Haaren.

»Sie wünschen, mein Herr?«, begrüßte sie ihn kühl und musterte ihn dabei abschätzig von oben bis unten.

Der Polizist nahm seinen Hut ab. »Verzeihen Sie, gnädige Frau, dass ich Sie unangemeldet in Ihrem Heim überfalle. Ich will, Ihre Erlaubnis vorausgesetzt, sogleich zur Sache kommen, um Ihre kostbare Zeit nicht unnötig zu vergeuden.«

»Das wäre äußerst rücksichtsvoll von Ihnen.«

Trotz der herablassenden Antwort verspürte Ernsthal Mitleid mit der Dame. Ihre hochnäsige Art wirkte auf ihn wie eine wohlgehütete Fassade, hinter der sie ihre Unsicherheit verbarg.

»Nun?« Frau Meierhofer setzte sich steif auf einen Sessel.

Der Polizist wartete einige Sekunden, ob sie ihm einen Platz anbieten würde. Da das nicht geschah, blieb er stehen.

»Es handelt sich um die tote Frau, die gestern an der Dreisam gefunden wurde«, begann er. »Sie haben sicherlich davon gehört?«

»Nein.«

»Nein? Es war heute in allen Zeitungen.«

»Ich habe Besseres zu tun, als die Zeitung zu lesen.«

»Gewiss, gnädige Frau. Erlauben Sie, dass ich Sie ins Bild setze. Es handelt sich bei der Toten um eine junge Frau, vermutlich ein Hausmädchen.«

Das unbeirrte Schweigen Frau Meierhofers verunsicherte ihn.

»Meine Frage, beziehungsweise die Frage, der die Polizei nachgeht, ist, wäre es möglich, also könnte dieses Mädchen unter Umständen zu Ihrem Haushalt gehören? Gehört haben? Anders gesagt, fehlt Ihnen eine Bedienstete? Ein Hausmädchen, um genau zu sein?« Der Polizist war rot angelaufen. Zum Glück war keiner seiner Kollegen Zeuge dieser Stotterei geworden.

Frau Meierhofer schien davon keine Notiz zu nehmen. Sie sagte nur: »In der Tat.«

Überrascht hob Ernsthal den Kopf. »In der Tat? Sie meinen, Sie vermissen ein Hausmädchen?«

»Ja. Eva. Sie ist jedoch schon mehrmals ausgebüxt.«

»Können Sie sie mir beschreiben? Ich bräuchte auch ihren Nachnamen.«

Mit einer kleinen Glocke, die vor ihr auf dem Kaffeetischchen stand, rief Frau Meierhofer den Hausdiener herbei. Die Plötzlichkeit, mit der er eintrat, ließ Ernsthal vermuten, dass er an der Tür gelauscht hatte.

»Heinrich, nennen Sie dem Inspektor den Nachnamen von Eva. Sie ist doch noch verschwunden?«

»Ganz recht, gnädige Frau. Ihr Name ist Eva Dischinger. Sie stammt aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald. Leider bin ich gezwungen zu konstatieren, dass sie dem Haushalt der Herrschaften keine große Hilfe war. Dafür gebe ich auch mir die Schuld. Ich habe sie persönlich examiniert, bevor sie eingestellt wurde.«

»Schon gut, Heinrich.«

»Das Mädchen wurde gestern früh von mir zu einem Besorgungsgang in die Stadt geschickt. Von diesem kehrte sie nicht zurück.«

Die detaillierte Beschreibung, die der Butler anschließend gab, ließ die letzten Zweifel des Kriminalsergeanten schwinden. »Dann haben wir die Tote wohl identifiziert«, murmelte er.

»Wie schrecklich«, stammelte Frau Meierhofer. »Was wird mein Mann dazu sagen? Er ist Abgeordneter des badischen Landtags und kandidiert für den Reichstag. Ich muss Sie also bitten, Herr Inspektor, diese Angelegenheit äußerst diskret zu behandeln.«

Der Kriminalsergeant bezweifelte, dass es dafür nicht längst zu spät war, nickte jedoch mitfühlend.

»Wir tun, was wir können, gnädige Frau. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich mir nun noch gerne die Kammer Ihres Hausmädchens ansehen, bevor ich mich empfehle.«

Als er einige Minuten später das Haus verließ, atmete er tief durch. Er dachte an den weißen Leichnam in der Anatomie. Immerhin hatte die Tote von der Dreisam jetzt einen Namen.

Eva Dischinger.

Sieben

Der Vikar hatte sie zur Weißglut gebracht. Schwester Johanna Maria brauchte frische Luft, um ihr Temperament abzukühlen. Gemessenen Schrittes ging sie durch die Kaiserstraße. Sie wäre gerne schneller gelaufen, aber das ziemte sich nicht für eine Ordensfrau.

Vor der klassizistischen Fassade der Wagnerschen Buchhandlung mit ihren Büsten von Homer, Goethe, Schiller und Kant blieb sie stehen. Durch die Schaufenster erspähte sie weiße, mit Goldleisten verzierte Regale mit Hunderten von Büchern. So viel zu lesen, so viel zu entdecken!

So viel Wissen.

Schon als Mädchen hatte sie Bücher verschlungen, die ihr Vater bei Pfarrern und Lehrern für sie auslieh, weil sie dann wenigstens für ein paar Stunden Ruhe gab. Denn sie war ein kleiner Wildfang, der mit Knaben herumtollte und keinem Streit aus dem Weg ging. Ihr Lehrer hatte einmal resigniert ihren Eltern gegenüber bemerkt, dass sie ihrer Tochter keinen passenderen Namen hätten geben können – eine Anspielung auf ihren bürgerlichen Vornamen Barbara, der auf Lateinisch Barbarin bedeutete.

Als sie mit dreiundzwanzig Jahren zur Überraschung ihrer Familie und zum Entsetzen ihres ehemaligen Lehrers in das Kloster Hegne eingetreten war, befürchteten die einen den Untergang des Abendlandes im Allgemeinen und den der katholischen Kirche im Besonderen, während die anderen prophezeiten, dass sie ohnehin kein Jahr hinter den Klostermauern aushalten würde. Oder dass die Schwestern sie kein Jahr aushalten würden. Aber die Schwestern waren hart im Nehmen, und auch Barbara hielt durch. Zum Erstaunen aller durchlief sie das Noviziat, legte die Gelübde ab, und aus der Barbarin wurde Schwester Johanna Maria.

Freiburg war ihr erster Einsatzort, und sie war gerne in die Schwarzwaldmetropole gekommen. Die Oberen berücksichtigten keineswegs immer die Begabungen oder gar die Neigungen der Schwestern, wenn sie ihnen eine Aufgabe zuwiesen. Um es geradeheraus zu sagen, sie taten es so gut wie nie. Schwester Johanna freute sich jedoch über ihre Aufgabe. Sie mochte Kinder, und sie besaß eine schier unerschöpfliche Geduld für unartige Mädchen und Lausbuben.

In der Auslage der Buchhandlung wurden Klassiker und Neuerscheinungen angepriesen. Neben brandneuen Romanen wie »Der Stechlin« von Theodor Fontane, »Die Vestalinnen« von Robert Kraft und »Am Jenseits« von Karl May gab es auch eine Auswahl wissenschaftlicher Bücher. Ganz vorne lag »Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts« von Houston Stewart Chamberlain neben »Dr. A. Oetkers Grundlehren der Kochkunst«.

Scheu sah sich die junge Nonne nach rechts und links um. Es ziemte sich nicht für eine Ordensfrau, Schaufenster zu betrachten. Oder gar müßig in einem Laden herumzustöbern. Aber sie konnte sich nicht beherrschen. Kurz entschlossen trat sie ein.

Im Geschäft befanden sich nicht viele Kunden, dennoch ließ Johanna ihren Blick über die Anwesenden schweifen, ob ein bekanntes Gesicht darunter war. War es nicht.

Die Nonne stieß zuerst auf die Kinderbücher. »Der Struwwelpeter« von Heinrich Hoffmann und Emmy von Rhodens »Der Trotzkopf«. Daneben lag »Puppenköchin Anna. Ein praktisches Kochbuch für kleine liebe Mädchen« von Henriette Davidis. Schwester Johanna Maria überlegte, ob dieses Büchlein nicht in ihrem Kindergarten nützlich sein könnte.

Sie ging an frisch gedruckten Exemplaren von »Das Schweigen im Walde« des bayerischen Autors Ludwig Ganghofer vorüber, der auf einer Tafel als Lieblingsautor von Kaiser Wilhelm II. angepriesen wurde. Für einen Moment nahm sie einen Gedichtband von Hugo von Hofmannsthal in die Hand, legte ihn jedoch gleich wieder verlegen zurück. Dann entdeckte sie vor sich ein Regal mit neuen wissenschaftlichen Werken. Wilhelm Conrad Röntgens »Über eine neue Art von Strahlen«. Ernst Haeckels »Die Welträthsel«. Und dort: Sigmund Freuds »Studien über Hysterie«.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Schwester? Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

Mit hochroten Ohren, die zum Glück unter dem Schleier nicht zu sehen waren, drehte sich Johanna um. Vor ihr stand ein Verkäufer mit makellos gezogenem Mittelscheitel und breitem Schnurrbart.

»Religiöse Bücher und Erbauungsliteratur finden Sie auf der anderen Seite«, erklärte er. »Das hier ist nichts für Frauen und schon gar nichts für Ordensfrauen! Wie wäre es mit »Katakomben-Bilder: sechs Erzählungen aus den ersten Jahrhunderten der römischen Kirche«? Oder soll es ein Geschenk sein? Diese Bände von Karl May sind von ihm selbst signiert worden, als der Autor Ende März dieses Jahres bei seinem Verleger in Freiburg weilte.«

»Vielen Dank, sehr freundlich«, murmelte die Nonne, »aber ich muss gehen.«

Mit wehendem Umhang verließ sie die Buchhandlung. Die Versuchungen waren in einer großen Stadt vielfältiger und zahlreicher als in ihrem heimatlichen Kloster, musste sie sich eingestehen. Hier gab es an jeder Ecke Interessantes zu entdecken.

Während sie weiter die Kaiserstraße hinabging, dachte sie darüber nach, dass sie sehr gerne mehr über den Mordfall an der Dreisam erfahren würde. Die wenigen Informationen, die sie besaß, stammten aus einer Zeitung, die der Pfarrer achtlos in der Stube liegen gelassen hatte. Neugierig hatte sie sich das Blatt geschnappt und den reißerischen Artikel auf der Titelseite gelesen. Heimlich natürlich. Denn auch Zeitungslektüre ziemte sich nicht für eine Ordensfrau.

Johanna seufzte. So vieles ziemte sich nicht, das aufregend und interessant war.