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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Spannung garantiert: Ein toter Journalist und ein dunkles Geheimnis. Der packende und szenische Krimi »Eisfeld – Dunkle Enthüllungen« ist der 2. Fall für Mara Eisfeld, der neuen starken Frau beim LKA Berlin. Kriminalhauptkommissarin Mara Eisfeld hat gerade genug private Sorgen: Ihr Noch-Ehemann Matti drängt sie zu kräftezehrenden Mediationsgesprächen, um ihrem Sohn die Trennung zu erleichtern, und dann taucht auch noch ihr Vater in Berlin auf und will sich unbedingt treffen. Doch als der Investigativ-Journalist Peter Hester mitten in der Stadt brutal ermordet wird, gerät all das in den Hintergrund. War es ein Racheakt der gefürchteten Tiznit-Bande? Schließlich hatte Hester entscheidend dazu beigetragen, dass deren Chef zu langjähriger Haft verurteilt wurde. Doch als Eisfeld tiefer eintaucht, stößt sie auf eine noch unveröffentlichte Recherche des Journalisten. Eine Enthüllung, die so brisant ist, dass jemand bereit war, dafür zu töten – und vielleicht nicht nur ein einziges Mal. Düsterer Berlin-Krimi mit Sogwirkung – ein echter Pageturner für Tatort-Gucker und Thriller-Fans Der vielfach ausgezeichnete Drehbuchautor und Regisseur Steffen Weinert konfrontiert seine ebenso sympathische wie willensstarke LKA-Ermittlerin Mara Eisfeld mit einem brisanten Fall, der sie an die Grenzen ihrer Kräfte bringt. Und als wäre das nicht genug, gerät Maras Familie auch noch ins Visier. Wer die Krimis von Andreas Franz, Sven Koch oder Sabine Thiessler verschlingt, wird auch mit der Krimi-Reihe um Mara Eisfeld gern schlaflose Nächte verbringen. Ihren ersten Auftritt hatte die Berliner LKA-Ermittlerin im Krimi »Eisfeld – Der Fall Katharina S.«
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2025
Steffen Weinert
Dunkle Enthüllungen
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Kriminalhauptkommissarin Mara Eisfeld muss sich gleich mit zwei Unannehmlichkeiten auseinandersetzen: Neben den Mediationsgesprächen beim Jugendamt, auf die ihr Noch-Ehemann Matti besteht, um ihrem gemeinsamen Sohn die Trennung so leicht wie möglich zu machen, taucht auch noch ihr Vater unangekündigt in der Stadt auf. Dann wird mitten in Berlin, am helllichten Tag, der Investigativ-Journalist Peter Hester von einem vorbeifahrenden Motorrad aus erschossen. Zunächst deutet alles auf einen Racheakt der mächtigen Drogenbande Tiznit hin, doch während Mara tiefer in die Ermittlungen eintaucht, werden die Zusammenhänge immer verworrener – und bald schon entwickelt der Fall eine Dynamik, die der LKA-Beamtin alles abverlangt …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
Leseprobe »Eisfeld«
Gedankenverloren blickte Mara Eisfeld aus dem Fenster. Eine leichte Brise bewegte die goldglänzenden Blätter der imposanten Kastanie, die im Hof des historischen Gebäudekomplexes aus rotem Backstein stand. Die Mittagssonne schimmerte lieblich zwischen den Ästen hindurch und trug ihren Teil zu der beruhigenden und friedlichen Atmosphäre bei.
Der Herbst, Maras liebste Jahreszeit, war nun endlich angekommen, und die Temperaturen gingen nach einem langen, heißen und trockenen Sommer langsam wieder nach unten. Wenn sie in einer halben Stunde hier rauskam, würde sie als Erstes eine Handvoll Kastanien für ihren Sohn Sami sammeln. Zum Basteln. Und zusätzlich vielleicht noch ein paar Blätter zum Trocknen. Danach würde sie ohne Umwege den Bäcker gegenüber ansteuern und endlich frühstücken. Denn ihrem Magen nach zu urteilen, der in den vergangenen Minuten bereits mehrfach durch lautes Grummeln auf sich aufmerksam gemacht hatte, war das auch bitter nötig. Ihr schwebte vor: reichlich Kaffee, mindestens ein belegtes Brötchen und für den Weg noch irgendein süßes Teilchen. Gesunde Ernährung? Heute ohne sie.
»Frau Eisfeld, sind Sie noch bei uns?«
Die freundliche Stimme mit dem mahnend-pädagogischen Unterton, die Mara aus ihren kulinarischen Träumen riss, gehörte einer zierlichen Frau mit praktischer Kurzhaarfrisur in Mahagoni-Kupfer und einer roten Schmetterlingsbrille auf der mit Sommersprossen übersäten Nase. Doris Wermuth, Sozialpädagogin im Dienste des Bezirksamts Pankow, Abteilung Erziehungs- und Familienberatung, und aktuell die Person, unter deren Anleitung geklärt werden sollte, wie es nach der Trennung mit der Erziehung des gemeinsamen Kindes weiterging.
»Ja, natürlich bin ich noch hier«, antwortete Mara schnell und schob ein hoffentlich nicht allzu bemüht wirkendes Lächeln hinterher. »Wo soll ich denn sonst sein?«
Auch Doris Wermuth lächelte. Allerdings nur mit der unteren Gesichtshälfte. Der obere Teil – ab Wangenknochen aufwärts – blieb unverändert. Lauernde Augen unter dezent aufgetragenem Lidschatten, die Mara unablässig taxierten.
»Dann würde ich vorschlagen, Sie geben Ihrem Ex-Partner eine kurze Rückmeldung zu der – wie ich finde – sehr eindrücklichen Schilderung seiner Gefühlslage in Zusammenhang mit der Trennungssituation.«
Mit einer Geste lenkte die Sozialpädagogin Maras Blick weg von sich und hin zum dritten Mitglied ihres kleinen Stuhlkreises hier in diesem ausgesprochen beengten Büro der Erziehungsberatungsstelle.
Matti, dessen Vorliebe für Coachings aller Art ihnen diese Veranstaltung überhaupt erst eingebrockt hatte, sah sie mit erwartungsfreudigem Gesicht an. Er schien nicht zu verstehen – oder nicht verstehen zu wollen –, dass Gespräche über Gefühle, noch dazu, wenn sie vor Fremden stattfanden, nicht zu Maras bevorzugten Tätigkeiten gehörten. Sie war zwar nicht grundsätzlich dagegen, sich Hilfe von außen zu holen, doch die wenigen Meinungsverschiedenheiten, die sie beide bezüglich Sami hatten, machten das in ihren Augen nicht zwingend erforderlich. Die hätte man problemlos bei einem Glas Wein klären können. Wie zwei Erwachsene eben. Denn Matti und sie verstanden sich doch nach wie vor gut, oder etwa nicht?
Maras mangelnder Glaube an die Sinnhaftigkeit dieser Veranstaltung – es war bereits der dritte Termin – hatte dazu geführt, dass sie nicht die Konzentration aufbrachte, die vielleicht angemessen gewesen wäre, und so hatte sie jetzt nicht den Hauch einer Ahnung, was genau der Inhalt von Mattis angeblich so eindrücklicher Gefühlsweltschilderung gewesen war.
Sie atmete tief ein und wieder aus und wollte gerade eine Antwort improvisieren, da ergriff die Sozialpädagogin erneut das Wort.
»Wenn ich da noch mal kurz einhaken dürfte, Frau Eisfeld …?«
Doris Wermuth wartete ab, bis Mara ihr mit einem Nicken die Erlaubnis für ihr »Einhaken« erteilte, um dann mit sanfter, aber nicht minder belehrender Stimme fortzufahren: »Sie haben gerade sehr laut aufgestöhnt. Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, welche Wirkung das auf die anderen Personen im Raum hat, deshalb möchte ich Ihnen gern Rückmeldung geben, wie es mir damit ergeht: Ich fühle mich verletzt, weil sich mir der Eindruck aufdrängt, Sie sind von unserem Gespräch in irgendeiner Form angeödet oder gar genervt. Sind Sie das denn?«
Mara schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein, ich bin nicht genervt, ganz und gar nicht. Und auch nicht angeödet. Ich bin … fokussiert. Da wirke ich manchmal so. Fokussiert und konzentriert, das bin ich, ja.«
Doris Wermuth neigte den Kopf nach vorne und sah Eisfeld über den Rand ihrer Schmetterlingsbrille prüfend an. Ihr Ausdruck schwankte zwischen Skepsis und maßloser Enttäuschung, was Mara augenblicklich verunsicherte. Sie hatte bei dieser Frau immer das Gefühl, irgendetwas falsch zu machen, selbst wenn sie absolut sicher war, sich ausnahmsweise nichts zuschulden kommen lassen zu haben.
Matti hob die Hand, als wäre er in der Schule. »An dieser Stelle würde ich jetzt ganz gerne mal einhaken …«
Die Erziehungsberaterin löste ihren kritischen Blick sichtlich widerwillig von Mara, lehnte sich zurück und gab Matti mit einer Geste zu verstehen, doch bitte zu sprechen.
»Danke. Also, da die Zeit zügig voranschreitet, möchte ich vorschlagen, dass wir den einen oder anderen Punkt überspringen und zum Wesentlichen kommen. Mit Kommunikationsregeln sind wir inzwischen ja bestens versorgt, unsere Gefühlswelten haben wir ebenfalls ausreichend erkundet, und Mara kann mir ihr Feedback auf das, was ich eben gesagt habe, auch gern bei einer anderen Gelegenheit geben. Sofern sie denn möchte.«
Mara musste ein Grinsen unterdrücken. Dass sie mit Kommunikationsregeln bestens versorgt seien, war eine freundliche Umschreibung der Tatsache, dass sie die ersten beiden Termine mit Frau Wermuth ausschließlich damit verbracht hatten, genau diese festzulegen, sprich zu vereinbaren, sich nicht gegenseitig ins Wort zu fallen, sondern den anderen – beziehungsweise die andere – aussprechen zu lassen, auf Bitten des anderen zu reagieren, anstatt sie zu ignorieren, und noch so einiges mehr.
Die Sozialpädagogin hob in Unschuldsgeste die Hände. »Natürlich. Ja, ja, ganz klar können wir das alles überspringen. Sie beide bestimmen, was wir hier besprechen und aushandeln. Mir war für die ersten Sitzungen nur wichtig, den Rahmen zu schaffen, in dem wir uns bewegen. Einen Raum zu öffnen, in dem Sie sich begegnen können. Dieses Vorgehen hat sich bei der Arbeit mit ehemaligen Paaren bewährt. Ein fester Rahmen hilft, besonders dann, wenn die Spannung zwischen den Beteiligten fast mit den Händen zu greifen ist, wie es bei Ihnen beiden der Fall ist …«
Mara runzelte die Stirn. Welche Spannung denn bitte? Seit sie in diesem Raum hier saß, empfand sie das exakte Gegenteil von Spannung, nämlich eine Mischung aus gähnender Langeweile und bleierner Müdigkeit. Wovon redete die Frau also?
Dieser drängenden Frage konnte Mara allerdings nicht nachgehen, denn plötzlich begann ihr Telefon ein lautes Brummen von sich zu geben. Instinktiv zog sie es aus der Hosentasche und sah auf das Display. Eine ihr unbekannte Nummer. Eisfeld überlegte, ob sie rangehen sollte, bemerkte dann aber, dass sie sowohl von Matti als auch von Frau Wermuth mit einem Ausdruck des Entsetzens angestarrt wurde, was sie schließlich dazu veranlasste, das Smartphone in der Ritze zwischen Sitzkissen und Armlehne des IKEA-Sessels, auf dem sie saß, verschwinden zu lassen.
»Ich weiß, ich weiß. Kommunikationsregeln. Sorry. Hört gleich auf«, sagte Mara, sichtlich um Deeskalation bemüht. »Wir können weitermachen.«
Matti räusperte sich. »Also, mir wäre wichtig, wenn wir unsere verbleibende Zeit heute dafür nutzen könnten, konkret und verbindlich festzulegen, wer Sami wann in den kommenden Wochen betreut. So, dass jeder planen kann.«
Doris Wermuth pflichtete ihm nickend bei. »Ja, Planungssicherheit ist wichtig. Für Sie als Eltern und auch für Ihren Sohn. Gerade in den jungen Jahren brauchen Kinder Strukturen, die ihnen Halt geben.«
Wie angekündigt war der Vibrationston nach kurzer Zeit verstummt, allerdings währte die Stille nur wenige Sekunden, denn kurz darauf begann er von Neuem. Mara musste schier übermenschliche Kräfte aufbringen, um nicht erneut auf das Display zu schauen.
»Ich würde ja liebend gern alle Termine bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag festlegen«, sagte sie schließlich und versuchte, dabei so ruhig wie möglich zu bleiben. »Problem ist nur: Ich kann das nicht. Mein Beruf lässt das nicht zu, und das weißt du auch, Matti. Stimmt’s, du weißt das? Denn wir haben darüber schon viele Male gesprochen. Trotzdem forderst du es immer wieder von mir ein. Wir können auch gerne mal darüber reden, was das mit meinen Gefühlen macht …«
»Mara, wir müssen eine Lösung finden, mit der wir beide leben können«, entgegnete Matti ruhig, jedoch deutlich bestimmter als zuvor. »Ich kann und will mein Leben nicht mehr um deine Arbeitszeiten herum planen. Das habe ich lange genug gemacht. Damit muss jetzt Schluss sein.«
Es folgte ein kurzer Moment des Schweigens. In der Ferne hörte man die Sirenen mehrerer Einsatzfahrzeuge. Eine merkwürdige Unruhe lag über der Stadt.
Erneut begann Maras Smartphone zu vibrieren. Dieses Mal versuchte sie gar nicht erst, den Impuls, danach zu greifen, zu unterdrücken, und sah auf das Display. Die gleiche unbekannte Nummer wie zuvor.
»Frau Eisfeld? Nicht …«, sagte Doris Wermuth mit sich überschlagender Stimme, als Mara das Gerät zum Ohr führte und den Anruf entgegennahm.
»Ja?«
Ein atmosphärisches Knacken, dann eine ihr sehr vertraute Stimme: »Ich bin’s, Blessing.«
Kriminalhauptkommissar Gideon Blessing, Maras Stellvertreter seit dem Tag, an dem sie die Leitung der 9. Mordkommission übernommen hatte, war nicht nur ein loyaler Kollege, sondern inzwischen auch einer ihrer engsten Vertrauten beim Landeskriminalamt Berlin geworden, obwohl der Beginn ihrer Zusammenarbeit durchaus ruppig verlaufen war.
»Was ist los, Blessing?«, fragte Mara. »Und warum rufen Sie nicht von Ihrem Diensthandy aus an? Ich wäre sonst schon beim ersten Mal rangegangen.«
Der letzte Satz war Eisfeld so rausgerutscht. Sie hatte nicht beabsichtigt, die Sozialpädagogin damit zu provozieren, aber deren brüskiertem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte sie genau das getan. Während sie Blessings Ausführungen lauschte, trat dieses Problem jedoch in den Hintergrund, denn es war etwas passiert, das sie zum sofortigen Aufbruch zwang: ein Schusswechsel mit tödlichem Ausgang vor dem ARGUS-Gebäude.
»Ich muss das Beratungsgespräch leider vorzeitig verlassen«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.
»Nein, Mara, das geht nicht«, erwiderte Matti, der den gesamten Termin über souverän, ja fast schon tiefenentspannt gewirkt hatte, jetzt sichtlich nervös. »Wir müssen das heute zu Ende bringen hier. Die Betreuungstage müssen festgelegt werden, und zwar verbindlich. Und dann gibt es noch eine andere wichtige Sache, die wir besprechen müssen.«
»Machen wir beim nächsten Mal«, versprach Mara, während sie eilig ihre Sachen zusammenpackte. Und an Frau Wermuth gerichtet: »Sorry für den überstürzten Aufbruch und, na ja, für alles andere auch. Beim nächsten Mal gebe ich mir mehr Mühe, ja?«
Matti verdrehte die Augen. »Könntest du dann wenigstens Sami morgen früh bei mir abholen und zur Kita bringen? Halb neun? Ich hab einen Termin in Hamburg.«
Seine Worte klangen so gereizt, dass Mara fast der Versuchung erlag, Matti in aller Deutlichkeit auf die vereinbarten Kommunikationsregeln hinzuweisen, damit nicht immer nur sie es war, die gerügt wurde. Letztlich ließ sie es bleiben und versprach zu tun, worum er sie gebeten hatte.
Mara Eisfeld schoss mit ihrem Dienst-Audi über die Prenzlauer Allee, ließ Fernsehturm und Museumsinsel hinter sich und näherte sich trotz des stockenden Verkehrs relativ zügig dem ehemaligen Zeitungsviertel. Dort, wo ab Ende des 19. Jahrhunderts mehr als fünfhundert Betriebe rund um die Zeitungsherstellung ihren Sitz gehabt hatten, befanden sich jetzt fast nur noch die Zentralen einiger weniger Großverlage. Unter ihnen auch die des ARGUS.
Je näher Eisfeld ihrem Ziel kam, desto zäher floss der Verkehr. Sie setzte das Blaulicht aufs Dach, kam dadurch aber nur geringfügig schneller voran, da ein erheblicher Teil der Fahrzeuge vor ihr nur sehr widerwillig eine Schneise für sie freigeben wollte. Eisfeld hupte, gestikulierte und spielte sogar mit dem Gedanken, auszusteigen, um besonders renitenten Verkehrsteilnehmern die Leviten zu lesen, ließ es dann aber doch bleiben und übte sich in Geduld.
Ihr Smartphone brummte erneut. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass es sich nicht etwa um eine berufliche Angelegenheit handelte, wie sie eigentlich erwartet hatte, sondern dass ihr Vater sie zu erreichen versuchte.
Ganz schlechter Zeitpunkt, Papa, dachte Mara und ignorierte den Anruf. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihr Gehirn allerhand Mutmaßungen über den Anlass des Anrufs anstellte, denn normalerweise meldete sich ihr Vater – wenn überhaupt – nur an Wochenenden oder Feiertagen.
Das Gedankenkarussell kam erst zum Stillstand, als sie in der Ferne eine Ansammlung von mehreren am Straßenrand parkenden Einsatzfahrzeugen erblickte. Der Bereich vor dem ARGUS-Gebäude – einem imposanten Quader aus Glas und Metall – war weiträumig abgesperrt. Eisfeld manövrierte ihren wuchtigen Dienstwagen mit chirurgischer Präzision mit zwei Zügen in die freie Lücke hinter dem Sprinter der Kriminaltechnik und stieg aus. Auf der anderen Seite des Flatterbands entdeckte sie ihren Stellvertreter, der im Gespräch mit einer uniformierten Kollegin war, und kämpfte sich durch die Menge der Polizisten und Schaulustigen zu ihm durch. Trotz der vielen Kollegen, die im Inneren der Absperrung ihrer Arbeit nachgingen, hatte Mara freie Sicht auf den mit einem Leichentuch bedeckten Körper, der wenige Meter vom Eingang des ARGUS-Gebäudes entfernt auf dem Asphalt lag. Nur die italienischen Stiefeletten aus braunem Leder und der untere Teil der Jeans waren zu sehen, der Rest der Leiche blieb unter dem Tuch verborgen.
Kurz bevor Eisfeld Blessing erreicht hatte, entdeckte er sie, löste sich von seiner Gesprächspartnerin und kam ihr entgegen.
»Noch mal Entschuldigung, dass ich Sie von dieser anderen Nummer angerufen habe. Ich hab mir von Dietrich ein Ersatztelefon geliehen, denn meins ist irgendwie weg.«
»Weg?«
»Na ja, nicht weg«, korrigierte sich Blessing und druckste ein wenig herum. »Ich habe es gestern liegen gelassen. Bei einem Bekannten. Oder besser gesagt bei einem Date. Einem Date mit Übernachtung.«
»Blessing!«, stieß Eisfeld mit gespieltem Entsetzen aus. »Sie sind mir ja einer.«
Aber auch wenn sie ihren Stellvertreter aufzog, freute sich Mara über diese Entwicklung. Endlich schien er wieder ins Leben zurückzufinden. Denn danach hatte es lange Zeit nicht ausgesehen, was ihr zugegebenermaßen ziemliche Sorgen bereitet hatte. Die Schussverletzung, die er sich bei den Ermittlungen in ihrem ersten gemeinsamen Fall zugezogen hatte, war zwar bald verheilt gewesen, die seelischen Probleme, die sie nach sich gezogen hatten, waren hingegen deutlich hartnäckiger gewesen. Hinzu kam die Trennung von Kriminaldirektor Tamm, die Blessing mehr zu schaffen gemacht hatte, als er sich eingestehen wollte. Umso schöner war es, zu sehen, dass dies nun vielleicht der Vergangenheit angehörte.
Blessing zuckte mit den Schultern und lächelte verschämt. »You only live once. Wenn Sie wissen, was ich meine. Heute Abend habe ich mein Gerät wieder, versprochen.«
»Gut, dann bringen Sie mich doch mal auf den aktuellen Stand über das, was hier passiert ist.«
»Natürlich. Laut Augenzeugen ist eine Person auf einem Motorrad über den Fußweg zum Eingang des ARGUS-Gebäudes gerast und hat das Feuer eröffnet, als Peter Hester gerade …«
»Moment«, sagte Eisfeld und war von einem Augenblick auf den anderen wie elektrisiert. »Der Tote ist Peter Hester?«
Blessing sah sie überrascht an. »Ja. Hatte ich das gar nicht erwähnt? Peter Hester, der Journalist.«
»Nein, diese nicht ganz unbedeutende Information hatten Sie mir bisher verschwiegen.«
Peter Hester war der bekannteste Investigativjournalist des Landes. Die Masse an Reportagen, die er geschrieben und gedreht hatte, sowie die Vielzahl von aufgedeckten Skandalen hatten ihm im Laufe seiner mehr als drei Jahrzehnte andauernden Karriere einen immensen Bekanntheitsgrad beschert. Hester war eine Reporterlegende mit hohem Ansehen sowohl bei den eigenen Kollegen als auch in der breiten Öffentlichkeit.
Mit deutlichem Herzklopfen bewegte sich Eisfeld die wenigen Schritte zu der abgedeckten Leiche hinüber, ging in die Hocke und hob das Leichentuch an. Ein kurzes Zucken durchfuhr sie, als sie das wächserne Gesicht des Journalisten sah. In der Stirn klaffte ein Einschussloch.
Auch wenn sie Hester nur von Bildern und Fernsehsendungen kannte, so hatte sie doch das Gefühl, einen Menschen vor sich zu haben, mit dem sie vertraut war und den sie darüber hinaus auch bewundert hatte. An den ersten Artikel, den sie von ihm gelesen hatte, konnte sich Mara noch genau erinnern. Sie musste fünfzehn gewesen sein, hatte gerade angefangen, sich für das Weltgeschehen zu interessieren, und lag mit Fieber im Bett. In den Wachphasen las sie Peter Hesters Titelgeschichte über den Beginn des Afghanistankrieges und hatte dabei das Gefühl, plötzlich zu verstehen, was in der Welt vor sich ging. Wie die Dinge miteinander verwoben waren, wodurch Konflikte verursacht wurden und wie man sie lösen konnte. Später, nachdem das Fieber abgeklungen war, musste sie zwar feststellen, dass sich diese universellen Einsichten wieder verflüchtigt hatten, dennoch hatte das Erlebnis dazu geführt, dass sie fortan alles las, was ihr von ihm in die Hände fiel.
»Hester war gerade auf dem Weg ins Verlagsgebäude, als die Attacke stattgefunden hat«, setzte Blessing seinen Bericht fort. »Von einem Motorrad aus. Mehrere gezielte Schüsse in Bauch, Oberkörper und Kopf. Wir sind noch dabei zu überprüfen, ob es brauchbare Aufnahmen von den Überwachungskameras gibt. Eine junge Frau wollte sich dem Täter in den Weg stellen, hat ihren Mut aber mit einer schweren Kopfverletzung bezahlt und liegt im Koma. Zoe Otterpohl, Anfang zwanzig, arbeitet seit ein paar Wochen als Volontärin beim ARGUS.«
Eisfeld bedeckte Hesters Gesicht wieder mit dem Leichentuch, stand auf und gab den beiden Angestellten des Bestattungsunternehmens, die bereits mit einem Leichensack in der Hand auf die Freigabe des Toten warteten, mit einer Geste zu verstehen, dass sie Peter Hesters sterbliche Überreste nun in die Gerichtsmedizin bringen konnten.
»Einen ähnlichen Tatablauf hatten wir ja vor einigen Wochen schon mal. Der Tiznit-Aussteiger, Sie erinnern sich.«
Tiznit war nicht nur eine Kleinstadt im Süden Marokkos, sondern auch der Name einer im gesamten norddeutschen Raum aktiven, mächtigen Drogenbande, deren Gründer und Oberhaupt Wurzeln in ebendieser Kleinstadt hatte. Der Aussteiger, von dem Eisfeld sprach, war ein hochrangiges Mitglied der Bande gewesen, das sich der Staatsanwaltschaft anvertraut hatte und Informationen gegen Straffreiheit tauschen wollte. Daraus war allerdings nichts geworden. Aber nicht etwa, weil die Behörden nicht auf das Angebot hatten eingehen wollen, sondern weil der Mann trotz Sicherheitsmaßnahmen in ähnlicher Weise hingerichtet worden war wie jetzt Peter Hester.
»Ein ähnlicher Ablauf bedeutet natürlich noch lange nicht, dass die beiden Taten miteinander in Verbindung stehen«, fügte Eisfeld an. »Aber das sollten wir unbedingt so schnell wie möglich überprüfen. Wer bearbeitet den Fall?«
»Die Fünfte.«
Eisfeld verzog das Gesicht. Die 5. Mordkommission wurde von ihrem speziellen Freund Kriminalhauptkommissar Bertram Banners geleitet, mit dem sie bei ihrem ersten Fall als neue Leiterin der Neunten heftig aneinandergeraten war. Seitdem waren sie sich aus dem Weg gegangen, und Eisfeld hatte inständig gehofft, dass es dabei bleiben würde.
Blessing, der ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, schlug vor, die Kommunikation mit den Kollegen der anderen Mordkommission zu übernehmen. Ein Angebot, das Eisfeld nur allzu gerne annahm.
»KHK Banners ist aber ohnehin auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben.«
»Tatsächlich? Wusste ich gar nicht«, erwiderte Eisfeld. »Dann soll er sich mal gründlich zu Hause auskurieren. Besser für alle. Außer für seine Familie vielleicht.«
Die beiden Bestatter hatten inzwischen den schwarzen Leichensack neben Hester ausgebreitet und hievten den leblosen Körper nun dort hinein. Anschließend zogen sie den Reißverschluss zu und wuchteten den unhandlichen Sack auf eine bereitstehende Rolltrage.
»Hester hatte übrigens neben einem Autoschlüssel und einem Portemonnaie nur ein uraltes Tastentelefon bei sich«, sagte Blessing. »Ob der Täter ihm sein anderes Gerät abgenommen hat oder ob er gar kein weiteres dabeihatte, müssen wir noch klären.«
Eisfeld nickte zustimmend. »Aber zuerst gehen wir rein und sprechen mit Hesters Kollegen.«
Noch bevor sie den Eingang des ARGUS-Gebäudes erreicht hatten, brummte Eisfelds Smartphone erneut. Wieder war es ihr Vater. Dieses Mal ging sie ran.
»Papa, ich bin arbeiten. Gibt’s was Dringendes? Falls nein, rufe ich dich später an, okay?«
»Dringend, dringend«, erwiderte August Eisfeld in augenscheinlich vorgetäuschter Erregung. »Natürlich ist es dringend. Es ist immer dringend, wenn ich anrufe, weißt du doch.«
Mara musste innerlich schmunzeln. Auch wenn ihr Vater es lustig und locker verpackte, wusste sie doch, dass er es genau so meinte, wie er es sagte. In seinem Beruf war er es einfach gewohnt, dass alle um ihn herum seine Worte entweder in die Kategorien »wichtig«, »dringend« oder »wichtig und dringend« einordneten. Und am liebsten wäre ihm natürlich gewesen, dass es in seiner Familie ebenso lief. Doch da hatte er die Rechnung ohne Mara gemacht.
Nach einem kurzen Austausch von Sticheleien kam ihr Vater zum Anlass seines Anrufs: Er war in Berlin, wollte sich abends mit ihr treffen und hatte zu diesem Zweck auch schon einen Tisch reserviert. Mara fühlte sich überrumpelt, brachte aber nicht die Kraft auf, sich dagegen zur Wehr zu setzen, und sagte zu.
Im Inneren des gläsernen Kastens herrschte eine aufgeregte Atmosphäre. Diverse Mitarbeiter des ARGUS-Verlages wuselten zwischen den Arbeitsplätzen hin und her. Klassische Büros, in die man sich zurückziehen konnte, schien es hier so gut wie keine zu geben, stattdessen waren viele unterschiedlich große Tische auf den gesamten Innenraum verteilt. Es gab mehrere Ebenen, die mit Treppen verbunden waren. Alles war offen und von jeder Stelle im Raum einsehbar. Für Mara wäre es der absolute Horror, so zu arbeiten. Immer unter Beobachtung, nein danke.
Die meisten Menschen hielten sich gegenwärtig am anderen Ende des hallenartigen Raumes auf. An der rückwärtigen Wand aus Sichtbeton prangte in bewusst auf alt gemachtem Stil der Schriftzug des ARGUS, rechts darüber das Logo: Ein männlicher Argusfasan mit aufgefächertem Federkleid, sodass die darauf befindliche augenähnliche Musterung bestens zur Geltung kam. Direkt darunter stand eine Person mit hochrotem Kopf und fuchtelte wild mit den Armen.
Als Eisfeld und Blessing näher kamen, erkannten sie, dass es sich um Nikolas Bärenklau handelte, den Chefredakteur des ARGUS. Ein mittelgroßer, durchschnittlich attraktiver, aber mit einem gigantischen Selbstbewusstsein ausgestatteter Mittvierziger, der das Blatt seit mehr als zehn Jahren leitete und in dieser Zeit sowohl das Onlineangebot massiv ausgebaut hatte als auch die Auflage der Druckversion stabilisieren konnte, was man im kriselnden Printjournalismus mit seinen stetig sinkenden Zahlen als großen Erfolg werten konnte. Erreicht wurde das allerdings durch eine moralisch fragwürdige Fokussierung auf polarisierende Themen und deren populistische Aufbereitung, die dann in zugespitzte Headlines à la »Folgt nach dem Hitzesommer jetzt der Flüchtlingstsunami?« mündete. Bärenklau war außerdem derjenige, der Eisfelds Vorgesetzten Umut Oktay jahrelang als Informanten bezahlt hatte, woraus sich eigentlich entweder ein LKA-interner Skandal oder doch wenigstens personelle Konsequenzen hätten ergeben müssen. Nichts davon war bislang eingetreten.
»Aufmacher wird ein bildschirmfüllendes Foto von Peter, wie er da draußen in seinem eigenen Blut liegt. Es muss knallen, schocken, aufrütteln. Den Leuten muss klar werden, dass die freie Presse, ach was, die ganze freiheitlich-demokratische Grundordnung einem massiven Angriff ausgesetzt ist.«
Bärenklau schien regelrecht euphorisiert von dem, was er da sagte. Seine Mitarbeiter wirkten hingegen zum größten Teil skeptisch.
»Wenn wir als Land jetzt nicht massiv gegensteuern, dann haben wir hier bald Zustände wie in den Niederlanden oder in Schweden, und das kann niemand wollen. Die Politik ist jetzt gefordert, die Polizei, alle. Und der ARGUS wird dafür sorgen, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen. Und wenn nicht, werden wir ihnen Beine machen! Es muss jetzt mal ordentlich durchgekärchert werden! Diese Verbrecherbande muss endlich zerschlagen werden!«
Auch wenn Bärenklau es nicht direkt aussprach, war mehr als offensichtlich, dass er sich bei seinen Ausführungen auf Tiznit bezog. Er hatte also die gleichen Überlegungen angestellt wie Eisfeld und Blessing, mit dem feinen, aber nicht unbedeutenden Unterschied, dass es für die Polizei lediglich eine von möglicherweise mehreren Spuren war, denen sie nachgehen würden, für Bärenklau hingegen der Schuldige bereits feststand – und diese zur Tatsache beförderte Vermutung würde er nun mit der ganzen Medienmacht, die dem ARGUS zur Verfügung stand, in die Köpfe seiner Leserinnen und Leser hämmern.
Zunächst jedoch entspann sich eine Diskussion darüber, ob man mit der Veröffentlichung dieser Fotos Peter Hesters Persönlichkeitsrechte nicht erheblich verletzen würde. Vereinzelt wurde auch auf die Pietätlosigkeit eines solches Vorgehens hingewiesen. Klar, man hatte in der Vergangenheit Opfer von Gewaltverbrechen bereits viele Male auf diese Art vorgeführt, aber hier handelte es schließlich um einen Kollegen, und dessen tragischen Tod könne man doch nicht zur Steigerung der Auflage ausschlachten.
Bärenklau schob die Einwände allesamt mit einem süffisanten Lächeln beiseite und verwies auf die Pflicht zur »wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit« als oberstem Gebot des Journalismus. Da danach außer vereinzeltem Murren kein nennenswerter Widerstand mehr zu erkennen war, verfestigte sich bei Mara der Eindruck, dass Bärenklau sich nicht nur selbst als eine Art Sonnenkönig mit absoluter Entscheidungsgewalt sah, sondern in dieser Rolle auch von seinen Untergebenen akzeptiert wurde.
Nachdem der Chefredakteur die Redaktionskonferenz beendet hatte, setzte sich ein Teil der Mitarbeiter in kleinen Gruppen zusammen, um Ideen für Artikel zu brainstormen. Ein anderer Teil klappte die Laptops auf und begann sofort zu tippen. Bärenklau verschwand währenddessen in eines der wenigen mit echten Wänden ausgestatteten Büros.
Eisfeld und Blessing wollten ihm hinterher, doch ein junger Mann mit akkurat nach hinten gegelten Haaren und in schwarzem Hemd und blauer Krawatte stellte sich ihnen in den Weg.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Glaube nicht«, sagte Mara und wollte den jungen Mann mit einem Ausfallschritt auskontern, doch das misslang, da dessen Reflexe und Agilität deutlich ausgeprägter waren als ihre. Flugs suchte er sich eine neue Position und versperrte den beiden Ermittlern weiter den Weg.
»Wie ich sehe, haben Sie noch keinen Besucherausweis erhalten. Den bekommen Sie direkt unten am Empfang. Ohne diesen dürfen Sie sich hier nicht frei bewegen.«
Eisfeld und Blessing zückten ihre Dienstausweise und hielten sie dem Jüngling, den Mara auf maximal zwanzig schätzte, unter die Nase.
»LKA Berlin. Wir würden gerne mit Nikolas Bärenklau sprechen.«
»Um was geht’s, wenn ich fragen darf?«, erwiderte der Angesprochene unbeeindruckt.
Eisfeld sah kurz zu Blessing, dann wieder zu dem jungen Mann und holte tief Luft. »Vor Ihrer Eingangstür sind vor wenigen Minuten Ihr Kollege Peter Hester erschossen und eine weitere Mitarbeiterin des ARGUS schwer verletzt worden, und Sie fragen uns allen Ernstes, um was es geht? Wer sind Sie überhaupt?«
Der junge Mann zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. »Reza Fischer. Ich bin der persönliche Assistent des Chefredakteurs. Herr Bärenklau hat jetzt einen Call mit der Konzernzentrale, ergo: erst mal keine Zeit.« Er machte eine Kunstpause, um zu sehen, welche Wirkung das Gesagte hatte, und fuhr dann jovial fort: »Ich kann aber versuchen, im Anschluss daran ein Zeitfenster für Sie zu blocken.«
»Das würden Sie für uns tun?«, erwiderte Eisfeld mit sarkastischem Unterton. »Das ist ja großartig.«
Reza Fischer ging nicht auf die Spitze ein, sondern setzte stattdessen sein gewinnendstes Lächeln auf.
»Aber wenn ich oder jemand anderes aus der Redaktion Ihnen behilflich sein kann, lassen Sie es mich wissen. Ich stehe gern zur Verfügung. Und was den Besucherausweis angeht: Ich denke, da können wir in Anbetracht der Umstände ein Auge zudrücken.«
Eisfeld setzte zu einer Antwort an, doch Blessing kam ihr zuvor. »Wir benötigen eine Liste der Personen, die mit Peter Hester zusammengearbeitet haben. Mit wem war er hier befreundet? Zu wem hatte er ein enges Verhältnis? Und vor allem brauchen wir eine Aufstellung aller Projekte, an denen er aktuell gearbeitet hat.«
»Und das Ganze benötigen wir sehr zeitnah«, ergänzte Eisfeld mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich glaube, Herr Hester hatte zu überhaupt niemandem in der Redaktion ein enges Verhältnis. Er war ein klassischer Einzelkämpfer«, gab Fischer zur Antwort. »Hier im Verlag war er äußerst selten. Ich selbst habe ihn höchstens zwei, drei Mal gesehen, und ich bin jetzt schon seit fast einem Jahr der persönliche Assistent von Herrn Bärenklau.«
Eisfeld runzelte die Stirn. »Warum das? Warum war er nie vor Ort? Wo hat er gearbeitet? Und woher wusste der Täter, dass er ausgerechnet heute ins ARGUS-Gebäude kommen würde?«
»Das sind sehr viele Fragen«, bemerkte Fischer immer noch lächelnd. »Ich kann gern versuchen, einige davon zu beantworten. Wo Herr Hester sich in der Regel aufgehalten hat, weiß ich nicht. Das wusste niemand, und das sollte wohl auch so sein, weil es Teil seines persönlichen Sicherheitskonzepts war. Herr Hester hat eine Vielzahl an Drohungen erhalten …«
»Die wollen wir alle sehen«, unterbrach Eisfeld ihn. »Die Drohungen. Egal, ob sie digital eingegangen sind, per Post, mit einem Pflasterstein, einer Brieftaube oder sonst wie.«
»Brieftaube, sehr gut«, schmunzelte Fischer, um kurz darauf fortzufahren. »Dass Herr Hester so selten in den Verlag gekommen ist, war ebenfalls Teil des Sicherheitskonzepts. Heute war ein Termin mit der Chefredaktion angesetzt, bei dem er seine neuesten Recherchen persönlich vorstellen wollte. Wir waren alle schon ganz gespannt …«
»Worum ging es?«, fragte Blessing.
»Keine Ahnung. Ich sagte ja, dass Peter Hester seinen neuesten Scoop erst heute vorstellen wollte. Aber brisant muss es wohl gewesen sein …«
»Hatte es mit Tiznit zu tun?«, ließ Blessing nicht locker.
Fischer atmete tief ein und aus und schloss dabei halb die Augenlider. »Wie ich eben schon sagte: Ich weiß es nicht. Aber wenn ich mir die Frage erlauben darf: Warum wollen Sie das überhaupt wissen? Wer Peter Hester auf dem Gewissen hat, liegt doch auf der Hand. Warum gehen Sie nicht gegen diese Verbrecherbande vor und kärchern da mal ordentlich durch, wie mein Chef vorhin vorgeschlagen hat?«
»Was macht Sie so sicher, dass Tiznit dahintersteckt?«, fragte Eisfeld, sich bewusst naiv gebend.
»Ihr Ernst? Das ist doch wohl offensichtlich. Seit seinem Artikel über Asil Jamali war Peter Hester in ständiger Gefahr, von dessen Handlangern abgeknallt zu werden. Deshalb doch die ganzen Sicherheitsvorkehrungen.«
Asil Jamali war Gründer und Kopf von Tiznit, in Deutschland geboren, und anfangs sah es so aus, als wäre bei ihm die Integration mustergültig gelungen. Gute Noten während der gesamten Schullaufbahn, ein Einserabitur als krönender Abschluss. Statt aber ein Studium zu beginnen und den Weg in ein bürgerliches Leben mit einem finanziell lukrativen Job zu gehen, widmete er sich voll und ganz dem Aufbau seiner Organisation, die er nach der Heimatstadt seiner Vorfahren benannte. Bald war er durch Drogenhandel, Waffenschmuggel und Schutzgelderpressung zu einem sehr reichen, mächtigen und gefürchteten Mann geworden, dem die Ermittlungsbehörden jahrelang keine Straftat nachweisen konnten, sosehr sie es auch versuchten. Doch dann kam Peter Hester, grub einen mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Mord aus, recherchierte den Fall minutiös und legte Beweise vor, die keinen anderen Schluss zuließen als den, dass Asil Jamali die Tat begangen hatte. Kurze Zeit später sah das auch ein Gericht so, und Jamali wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Diese saß er aktuell in der JVA Tegel ab, was ihn allerdings nicht daran hinderte, von dort aus weiterhin die Strippen zu ziehen.
Reza Fischers Smartwatch gab einen glockenhellen Ton von sich. »Der Call mit der Konzernzentrale ist beendet. Herr Bärenklau geht jetzt mittagessen.«
»Äh, nein«, protestierte Eisfeld. »Herr Bärenklau geht jetzt nicht mittagessen, Herr Bärenklau spricht jetzt erst mal mit uns!«
Sie sah an Reza Fischer vorbei, in der Erwartung, dass der Chefredakteur aus seinem Büro kam.
»Tut mir leid«, sagte Fischer, der in der Zwischenzeit sein Smartphone herausgeholt hatte und nun mit konzentrierter Miene etwas eintippte. »Herr Bärenklau hat das Gebäude bereits verlassen und möchte nicht gestört werden. Ich habe Sie aber direkt im Anschluss daran eingetragen. Das dürfte klappen. In einer Stunde ist er zurück.«
Reza Fischer setzte wieder den Gesichtsausdruck auf, den er selbst vermutlich für ein sympathisches Lächeln hielt, der Eisfeld aber langsam rasend machte. »Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«
Man konnte es durchaus einen Logenplatz nennen, dieses Hotelzimmer mit den bodentiefen Fenstern, in dem er sich seit nahezu einer Stunde aufhielt und von wo aus er gebannt nach draußen blickte. Mit Sicherheit gab es weit und breit keinen besseren Ort, das Geschehen, das sich dort unten abspielte, hautnah mitzuerleben. Es war, als wäre er mittendrin und nicht einfach nur passiver Beobachter.
Die hervorragende Aussicht ließ ihn sogar fast die Unannehmlichkeiten vergessen, die eine Unterkunft dieser Preisklasse mit sich brachte. Vor allem die Beengtheit hatte ihm anfangs etwas zu schaffen gemacht, denn üblicherweise hielt er sich nicht in solchen Räumlichkeiten auf. Abstand, zu Dingen wie zu Menschen, war ihm sehr wichtig, und er achtete deshalb in seinem normalen Leben penibel darauf, dass ihm nichts und niemand zu nahe kam. Er brauchte die Weite um sich herum wie die Luft zum Atmen.
Von Weite konnte an diesem Ort hier freilich keine Rede sein. Zwischen diesem monströsen Bett, dem merkwürdigen Tisch aus Rauchglas und den beiden geschmacklosen Sesseln in Türkis fühlte er sich wie eingeklemmt. Nicht einen normalen Schritt konnte er tun, ohne gegen einen dieser Gegenstände zu stoßen. Es war eine Zumutung.
Die Qualität der Vorstellung, der er beiwohnen durfte, war hingegen überragend. Die Attacke auf den Journalisten hätte kaum professioneller ausgeführt werden können. Sein Geschäftspartner hatte nicht zu viel versprochen, als er anpries, wie effizient und verlässlich die Leute, die sie hinzugezogen hatten, derartige Aufgaben lösten.
Noch vor wenigen Wochen hatte er sich kaum vorstellen können, dass sie diesen Punkt jemals erreichen würden. Damals erschien die Bedrohung, der sie ausgesetzt waren, existenzgefährdend und unabwendbar. Die Nachricht, dass weite Teile ihrer bestens gehüteten Geschäftsgeheimnisse an die Öffentlichkeit zu gelangen drohten, hatte ihn auf der kleinen, abgelegenen Insel im finnischen Schärenmeer erreicht, auf die er sich in regelmäßigen Abständen zurückzog, um mit seiner Frau nichts anderes zu tun, als spazieren zu gehen, in der eigenen Saunahütte zu schwitzen und den Blick über die wogende Ostsee schweifen zu lassen.
An Urlaub war ab diesem Zeitpunkt natürlich nicht mehr zu denken gewesen. Er war sofort nach Berlin zurückgekehrt, wo er nach einigen Gesprächen feststellen musste, dass ihr Problem noch größer war als zunächst angenommen. Doch all das lag nun in der Vergangenheit. Sie hatten etwas geschafft, auf das sie stolz sein konnten.
Doch trotz des Triumphs war er hellsichtig genug, um zu wissen, dass es noch nicht vorbei war. Eine erste – vermutlich die wichtigste und entscheidende – Etappe war getan, ja, aber ganz ausgestanden war die Angelegenheit noch nicht.
Auf dem Platz unter seinem Hotelzimmerfenster hatten sich in der letzten halben Stunde immer mehr Menschen eingefunden. Darunter Polizisten in Uniform, Spurensicherer mit weißen Schutzanzügen, Schaulustige, die die Szenerie teils verstohlen, teils ungeniert und offen filmten. Er machte es sich zur Aufgabe, die jeweilige Funktion der Personen zu erraten, die aus beruflichen Gründen vor Ort waren, denn von deren Hartnäckigkeit und Professionalität würde es abhängen, ob er unbeschadet aus der Sache herauskam – oder eben nicht. Er würde alles daransetzen, dass Letzteres nicht eintrat.
Zwei Personen in Zivilkleidung waren ihm nach einiger Zeit besonders ins Auge gestochen: ein hagerer Mann in einem tadellosen, perfekt sitzenden Anzug, mit runder Brille und gestelztem Gang, und dessen Kollegin in einer weinroten Blousonjacke. Diese beiden schienen dort unten den Ton anzugeben. Sie erteilten die Anweisungen, und ihnen wurde berichtet. Auf die beiden würde er sich konzentrieren.
Vorhin waren sie im Gebäude des Zeitungsverlages verschwunden. Jetzt traten sie wieder heraus. Er hielt sich die Kamera, mit der er bereits einige Fotos der beiden geschossen hatte, erneut vors Gesicht. Als er nahe an das Gesicht der Frau heranzoomte, hob die plötzlich den Kopf, und es schien, als würde sie ihm direkt in die Augen blicken. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und fiel dabei fast rücklings über den sperrigen, geschmacklosen Sessel hinter sich.
Da die ersten Eilmeldungen zum Mord an dem bekannten Investigativjournalisten längst über diverse Ticker gelaufen waren, entschied Eisfeld, die Zeit bis zu Bärenklaus Rückkehr in den Verlag zu nutzen, um Hesters Hinterbliebenen die Todesmeldung persönlich zu überbringen. Hedwig Diedrichsen, die erfahrenste Mitarbeiterin im Team der 9. Mordkommission, hatte ihnen eine Adresse in Lichterfelde-West geschickt. Dort besaß Hester gemeinsam mit seiner Frau Charlotte, einer Architektin, ein Häuschen. Weitere Angehörige hatte sie nicht ermitteln können. Das Paar war kinderlos, und Peter Hesters Eltern waren bereits verstorben.
Die Fahrtzeit nach Lichterfelde-West betrug laut Navi knapp dreißig Minuten, Eisfeld schaffte es in zwanzig, was Blessings empfindlichem Nervenkostüm augenscheinlich nicht guttat. Eine Bemerkung über den Fahrstil seiner Chefin hatte er sich aber, wie so oft in letzter Zeit, verkniffen. Vermutlich, weil er inzwischen eingesehen hatte, dass dies ohnehin nichts brachte.
Das »Häuschen« entpuppte sich als liebevoll restaurierte und mit Efeu bewachsene Gründerzeitvilla, die in einem ruhigen Wohngebiet lag und von einem kontrolliert verwilderten Garten umgeben war. Ein kleines Juwel, das einen durch und durch einladenden Eindruck machte.
An der linken Seite der Villa war ein gläserner Wintergarten angebaut. Als Eisfeld und Blessing das Grundstück durch das offene Gartentürchen betraten, sahen sie dort eine Frau mit dicken Over-Ear-Kopfhörern sitzen und konzentriert am Laptop arbeiten. Eisfeld und Blessing gingen den schmalen Weg am Haus entlang und klopften schließlich gegen die Scheibe des Anbaus.
Die in ihre Tätigkeit vertiefte Frau schrak auf, orientierte sich, erblickte die Besucher, erhob sich und ließ mit einem beherzten Ruck die gläserne Schiebetür des Wintergartens aufgleiten.
Wenige Minuten später saß Charlotte Hester zusammen mit Eisfeld und Blessing an dem Tisch, an dem sie eben noch gearbeitet hatte, schenkte den Besuchern Wasser ein und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten, was ihr allerdings nicht wirklich gelang.
Inzwischen hatte sie auch ihr Smartphone aus der Küche geholt und eingeschaltet. Da aber ohne Unterlass Nachrichten eintrudelten, deren Absender wahlweise ihr Beileid aussprachen, Hilfe anboten oder wissen wollten, was denn genau geschehen war, und sich Charlotte Hester von der Nachrichtenflut bald hoffnungslos überfordert zu fühlen schien, schaltete sie das Gerät wieder aus.
»Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, Peters Tod käme überraschend«, sagte Charlotte Hester, nachdem sie sich zum wiederholten Mal die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte. »Dass Peters Arbeit ihn zur Zielscheibe macht, war uns beiden schon lange klar. Drohungen hat er seit Jahren reichlich erhalten. Aber das wissen Sie sicher schon. Die krassesten Fälle hat er auch zur Anzeige gebracht. Den Rest allerdings nicht. Peter hätte seinem Beruf ja nicht mehr nachgehen können, hätte er bei jeder Drohung und jedem Hasskommentar in den sozialen Medien ein Formular ausfüllen müssen. Und von den Tätern ist meines Wissens bisher eh keiner geschnappt worden.«
»Worauf haben sich die Kommentare bezogen?«, fragte Eisfeld. »Ich meine, gab es auf bestimmte Themen besonders heftige Reaktionen?«
Charlotte Hester überlegte kurz. »Das kann ich gar nicht sagen. Klar, immer wenn es um Klimawandel, Frauenrechte, Migration oder Wärmepumpen ging, kamen besonders viele aus ihren Löchern. Aber auch bei Russland oder der evangelikalen Rechten in den USA. Selbst bei vermeintlich wenig polarisierenden Themen finden die Leute etwas an dem Autor des Textes auszusetzen und fühlen sich bemüßigt, ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Oft hatten die Kommentare nicht einmal Bezug zu dem, was Peter geschrieben hatte.«
»Im ARGUS geht man davon aus, dass Tiznit für den Anschlag auf Ihren Mann verantwortlich ist …«
»Ex-Mann«, ging Charlotte dazwischen, woraufhin Eisfeld sie fragend ansah.
»Ja, Peter und ich haben uns scheiden lassen. Schon vor acht Jahren. Aber wir waren nach wie vor befreundet und haben weiterhin zusammen unter einem Dach gelebt. So ein Haus gibt man nicht so einfach auf. Er hatte das Erdgeschoss für sich allein und ich das Stockwerk darüber und den Wintergarten als Büro.«
Charlotte Hester schenkte in alle Gläser Wasser nach, obwohl Blessing wie auch Eisfeld erst einen Schluck getrunken hatten.
»Peter war mit seiner Arbeit verheiratet. Die stand in seinem Leben immer an erster Stelle, und ich habe erst spät begriffen, dass sich daran nie etwas ändern würde. Für eine Demokratie ist jemand wie Peter natürlich ein Geschenk, mit seinem Einsatz, seinem Mut und seiner Leidenschaft, keine Frage, aber für so profane Dinge wie eine Ehe war er völlig ungeeignet. Aber es war okay zwischen uns, wir hatten trotz allem ein gutes Verhältnis …«
»Hatte er eine neue Partnerin?«, fragte Blessing, bevor Charlotte Hester erneut in Tränen ausbrechen konnte.
»Das weiß ich nicht. Möglich. Vielleicht. Er war oft tagelang unterwegs, wäre also gut möglich, dass er bei einer anderen Frau war. Ich habe ihn nie danach gefragt, und er mich auch nie, ob ich mit anderen Männern zusammen war. Es war unausgesprochen klar, dass wir darüber nicht reden. Warum auch?«
»Die Kollegen Ihres Ex-Manns sind wie gesagt der Meinung, dass Tiznit für den Anschlag auf ihn verantwortlich ist«, sagte Eisfeld. »Teilen Sie diese Einschätzung?«
Charlotte Hester zuckte mit den Schultern. »Möglich. Asil Jamali war sicher nicht glücklich darüber, dass er jahrelang der Justiz ein Schnippchen schlagen konnte und ihn dann ausgerechnet ein Journalist zu Fall bringt. Aber Jamali und seine Leute waren bei Weitem nicht die Einzigen, die einen Groll gegen Peter hegten. Im Laufe der Jahre hat er eine Menge Leute gegen sich aufgebracht. Er hätte auch Anspruch auf Personenschutz gehabt, hat das aber immer abgelehnt. Er wollte nicht rund um die Uhr Leute um sich haben, außerdem war er der Überzeugung, dass man nicht frei ist, wenn man sich einschüchtern lässt.«
Eisfeld machte sich eine Notiz in ihrem Handy, um sich daran zu erinnern, Dietrich zu bitten, sämtliche Artikel, die Hester in den letzten Jahren geschrieben hatte, heraussuchen zu lassen. Allerdings hoffte sie inständig, dass ihnen das Durchforsten des ganzen Materials erspart blieb und sie vorher eine andere Spur fanden.
»Wir haben bisher nicht in Erfahrung bringen können, woran Ihr Ex-Mann aktuell gearbeitet hat«, schaltete sich nun Blessing wieder ein. »Außerdem haben wir uns gewundert, dass er nur ein altertümliches Telefon bei sich hatte. Und auch sonst kein Gerät mit Internetzugang.«
»Ja, in dieser Beziehung war er speziell. Peter hatte ständig Angst, dass ihn jemand abhört oder ausspioniert. Deshalb hat er nur dieses alte Ding mit sich herumgeschleppt, das zudem die meiste Zeit ausgeschaltet war. Auch Cloud-Dienste hat er nie genutzt. Wenn seine Texte zum Verlag mussten, hat er sie auf einem USB-Stick per Post geschickt oder nachts in den Briefkasten des ARGUS geworfen, wie so ein Whistleblower.« Charlotte Hester hielt für einen Moment inne, lächelte kurz, vermutlich über eine schöne Erinnerung, die vor ihrem inneren Auge auftauchte, doch unmittelbar darauf wurde ihr Ausdruck wieder ernst. »Woran er gearbeitet hat, weiß ich nicht. Über unfertige Sachen hat Peter nie gesprochen. Mit niemandem, auch mit mir nicht …«
Sie schluckte, um zu verhindern, dass der Schmerz sie erneut überwältigte.
Eisfeld sah sie mitfühlend an. »Meinen Sie, wir könnten uns bei ihm mal umsehen? Sie sagten ja vorhin, jeder von Ihnen hatte seinen eigenen Bereich?«
»Können Sie gerne machen, ich bezweifle aber, dass Sie dort viel finden. Nichts, was die Arbeit betrifft, hat er je mit nach Hause gebracht. Auch in dieser Beziehung war er eigen.«
»Wenn er nicht im Verlag gearbeitet hatte und nicht hier, wo denn dann?«, fragte Blessing.
Charlotte Hester wiegte den Kopf hin und her. »Er hatte einen Ort. Ein Büro. Er nannte es immer ›mein Refugium‹. Allerdings weiß ich nicht, wo es sich befindet.«
Eisfeld würde Dietrich nachher bitten, herauszufinden, von wo aus Hester gearbeitet hatte, auch wenn das sicherlich keine einfache Aufgabe werden würde. Wenn er nicht mal seine Frau eingeweiht hatte, hatte er garantiert weitere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um diese Information geheim zu halten. Versuchen sollten sie es dennoch.