Eiskalt geplant - Anke Franzl - E-Book

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Anke Franzl

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Beschreibung

München, im Sommer. Der Selbstmord einer jungen Bankerin stellt sich nach kurzer Zeit als heimtückischer Mord heraus. Die ermittelnden Kommissare, Natascha Fietzek und Korbinian Fuchs, tappen zunächst völlig im Dunkeln, was das mögliche Motiv und die Hintergründe für die Tat anbelangen. Das private und berufliche Umfeld des Opfers werden durchleuchtet, auch hier findet sich zunächst keine Erklärung. Dann bringt eine Freundin des Opfers, Sabrina Degen, durch einen Zufall die Ermittler auf eine Spur.

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Seitenzahl: 370

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Eiskalt geplant

TitelseiteHinweis der Autorin:Prolog1. Tag: Montag, 06. Juni2. Tag: Dienstag, 07. Juni3. Tag: Mittwoch, 08. Juni4. Tag: Donnerstag, 09. Juni5. Tag: Freitag, 10. Juni6. Tag: Samstag, 11. Juni7. Tag: Sonntag, 12. Juni8. Tag: Montag, 13. Juni9. Tag: Dienstag, 14. Juni10. Tag: Mittwoch, 15. Juni11. Tag: Donnerstag, 16. JuniMonate später – das EndeImpressum

Anke Franzl

Eiskalt geplant

Hinweis der Autorin:

Alle handelnden Personen und Unternehmen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Existenzen sind rein zufällig und keineswegs beabsichtigt. Ebenso ist der Fall und alles, was mit ihm zusammenhängt, fiktiv und eignet sich nicht zur Nachahmung

Prolog

Sie drehte sich zu ihm um und zwickte ihm ziemlich unsanft mit ihren spitzen Fingernägeln in die linke Hand. Wortlos stolzierte sie zum Sessel und fischte sich eine Zigarette aus ihrer Handtasche. Nach tiefem Inhalieren blies sie den Rauch in seine Richtung und warf ihm dabei einen Blick zu, der ihn schaudern ließ. Sie sah immer noch hungrig aus und alles andere als freundlich. Von diesem Moment an wusste er, dass er einen großen, einen sehr großen Fehler begangen hatte, für den er irgendwann und irgendwie würde bezahlen müssen. Er kannte seine Schwäche, die niemals wieder an die Oberfläche hätte kommen dürfen, schon gar nicht in Anwesenheit dieser Frau. Aber es war passiert und ihm war klar, dass er es immer wieder tun würde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Lange Zeit hatte er sein kleines Geheimnis bewahrt, jahrelang hatte er sich zurückgehalten, und nun hatte er sie eingeweiht und sie sich gleichzeitig damit zum Feind gemacht..

Annähernd zehn Jahre war es her, dass er dem Drängen das letzte Mal nachgegeben hatte und damals wäre es fast zur Katastrophe gekommen. Er war gerade zwanzig, jung und ungestüm und noch mit einer gewissen Unschuld behaftet. Er hatte gerade sein Studium begonnen. Während eines gemeinsames Skiurlaubs mit seinen Eltern und einer befreundeten italienischen Familie, deren Tochter feurig und willig schien und mit den Augen mehr versprach als sie körperlich halten wollte und konnte, passierte es.

In einer verlassenen Berghütte auf über 2000 Meter über dem Meeresspiegel zeigte er ihr sein wahres Naturell. Niemals würde er den Ekel und das Entsetzen vergessen, die sich in ihrem Gesicht widerspiegelten. Sie verließ fluchtartig die Hütte und brauste etwas zu schnell die Piste hinunter. Dabei übersah sie die Pistenraupe. Er musste sich von dem Schrecken zunächst ein wenig erholen, bevor er hinter ihr herfuhr. Als er bei ihr ankam, traf gerade die Rettungsmannschaft ein; jede Hilfe kam für die junge Italienerin zu spät, zum Glück für ihn, denn sie hätte ihre und seine Eltern eingeweiht und sicher auch vor einer Anzeige nicht halt gemacht. Durch den Zusammenstoß mit der schweren Gerät blieb von ihrem geschundenen Körper nicht mehr viel übrig, alle Beweise waren vernichtet.

Nach diesem Erlebnis riss er sich zusammen, versuchte, völlig kontrolliert zu agieren, jahrelang, führte sogar eine normale Beziehung. Bis heute. Sie hatte genau gespürt, was mit ihm los war. Und woher auch immer, sie hatte genau gewusst, welche Knöpfe sie drücken musste, um das Ungeheuer, das in ihm schlummerte, zu entfesseln. Noch konnte er nicht ahnen, dass alles einem bestimmten Zweck diente und sie jeden ihrer Schritte eiskalt geplant hatte.

1. Tag: Montag, 06. Juni

München-Bogenhausen, 06:30 Uhr, in einem Mehrfamilienhaus

Mit einem Hauch zog Sabrina die Wohnungstür zu. Um diese Uhrzeit wollte sie niemanden wecken, schon gar nicht den Mann, der hinter dieser Tür noch tief und fest schlief.

Sascha.

Hunger hatte sie gestern Abend noch spät zu ihrem Lieblingsitaliener getrieben. Sie hatte nur eine Kleinigkeit essen und anschließend sofort wieder nach Hause fahren wollen. Alle Tische waren besetzt und sie hatte nur noch einen Platz an der Theke ergattern können. Sascha saß auch an der Bar, gesehen hatte sie ihn schon öfter in dem kleinen und gemütlichen Lokal, bisher hatten sie aber noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Sie kamen ins Gespräch und verbrachten ein paar kurzweilige und witzige Stunden miteinander. Außerdem fand Sabrina ihn ganz schnuckelig mit seinen engelsblonden Locken und den großen blauen Augen, kein schnöseliger Typ, sondern ganz natürlich und herzlich. Sie hatten sich so angeregt unterhalten, dass Sabrina sich von ihm in seine Wohnung, die nur zwei Ecken vom Lokal entfernt lag, auf einen Schlummertrunk einladen ließ. Eigentlich hatte sie früh ins Bett gehen wollen, nicht ausgehen, geschweige denn versacken; das hatte sie mal wieder davon, dass in ihrem Kühlschrank ständig Ebbe herrschte.

Aber es war so ein lustiger Abend geworden, sie wollte unter gar keinen Umständen bereuen, dass sie mitgegangen war. Sascha hatte sich als lieber Kerl und Spaßvogel entpuppt, seine Auswahl an herrlichen Rotweinen war beachtlich. Zudem hatte er ein interessantes und aufregendes Leben geführt und als Sohn eines Diplomaten schon fast den ganzen Erdball bereist und bewohnt. Es hatte Sabrina unglaublich viel Freude gemacht, mit ihm über Gott und die Welt zu reden und herumzualbern. Leider war dann aus dem geplanten Schlummertrunk mehr als eine Flasche Rotwein geworden und es wurde entsprechend spät. Bei dem Versuch, ein bisschen zu knutschen, hatten Sabrina und Sascha festgestellt, dass der Funke nicht überspringen wollte. Das hatte der heiteren Stimmung allerdings keinen Abbruch getan, ganz im Gegenteil, der Abend verlief weiterhin fröhlich und unverkrampft. Sascha schien ebenso wie sie nicht mit aller Gewalt auf ein Abenteuer aus. Und ein süßer Typ war er auf jeden Fall. Angesichts ihres Alkoholpegels blieb sie kurzerhand für die Nacht auf Saschas Sofa. Auto hätte sie nicht mehr fahren können und dürfen.

Als Sabrina aufwachte, war es schon hell und sie hatte einen ziemlich scheußlichen Geschmack im Mund. Die tolle Kombination von Spaghetti Aglio, Olio e Peperoncini, die sie bei ‚ihrem’ Italiener genossen hatte, zusammen mit Unmengen von Rotwein, rächte sich, und Zähne hatte sie nur sehr oberflächlich ohne Zahnbürste geputzt. Sabrina wagte keinen Blick in einen Spiegel, alleine die Vorstellung, wie sie aussah, ließ sie schaudern. Sie trug ihr Shirt vom Abend zuvor, hatte sich nicht richtig abgeschminkt und natürlich auch nicht gekämmt. Ihre kastanienbraunen, schulterlangen Naturlocken, die unter normalen Umständen schon schwer zu bändigen waren, standen wahrscheinlich in alle Himmelsrichtungen ab. Immer wieder stellte sich Sabrina die Frage, wem ihrer Vorfahren sie diese widerspenstigen Haare zu verdanken hatte. Ihr Vater hatte zwar einen Hauch von Wellen in seinem mittlerweile grauen Schopf, aber die waren kein Vergleich zu dem Wirrwarr auf ihrem Haupt.

Sie fasste kurzerhand den Entschluss, Sascha weiter schlafen zu lassen. Wenn er sie in diesem Zustand sah, wäre ein weiteres Treffen von vorneherein gefährdet. Sabrina kicherte in sich hinein und dachte: Klasse, jetzt bin ich zweiunddreißig Jahre alt und verbringe mit einem nahezu wildfremden Mann die Nacht in seiner Wohnung, allerdings alleine auf seinem Sofa, und dazu noch ohne dass mehr passiert wäre als ein oder zwei Küsschen auszutauschen. Und wie ein Dieb schleiche ich mich morgens aus dem Haus, damit er nicht sieht, wie ich ungekämmt aussehe.

Sie hinterließ ihm einen lieben Gruß mit ihrer Telefonnummer auf einem Zettel, bedankte sich für den schönen Abend und schrieb, dass sie sich über ein Wiedersehen freuen würde. Nun sollte sie lieber schleunigst zusehen, dass sie die vier oder fünf Etagen nach unten huschte, möglichst ohne Lärm zu verursachen. Ihr Auto stand zum Glück direkt um die Ecke. Wenn sie sich beeilte und ihr der Verkehr keinen Strich durch die Rechnung machte, könnte sie zu Hause noch schnell unter die Dusche springen und bis halb neun Uhr in der Bank sein. Zwei enorm wichtige Termine standen heute an, die sie unter gar keinen Umständen verpatzen durfte. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf bekommen.

In diese Gedanken versunken, ließ eine nur allzu vertraute leise Stimme sie auf der Treppe jäh innehalten. Das war doch die Stimme von Achim, ihrem Chef! Wie konnte das sein? Was machte er hier? Wieso in diesem Haus und dann noch um diese Uhrzeit? Er wohnte in Grünwald, am anderen Ende der Stadt. Und wenn man den neuesten Gerüchten Glauben schenken durfte, war seine aktuelle Flamme, eine junge Schauspielerin, zurzeit bei Dreharbeiten in Südafrika. Hatte er etwa mehrere Eisen im Feuer? Zuzutrauen wäre es ihm.

„Ich weiß noch nicht, ob wir uns heute Abend sehen können, mein Lieber, könnte spät werden. Lass uns heute Nachmittag mal telefonieren, vielleicht weiß ich dann schon, ob wir etwas zu feiern haben. Stell auf jeden Fall ein Fläschchen Schampus für die nächsten Tage kalt, ich verlasse mich auf Sabrina, sie schaukelt den Deal mit Sicherheit.“

Sabrina lief es eiskalt über den Rücken, als ihr Name fiel. Er war es wirklich, da gab es nun keinen Zweifel mehr. Sie blickte an sich herunter. In diesem Zustand durfte Achim sie unter gar keinen Umständen sehen, denn mit zerzausten Haaren und verschmiertem Make-up, einem alles andere als frischen Atem und im Freizeit-Outfit hatte sie so gar nichts mit der ehrgeizigen Bankerin gleich, die sie tagsüber verkörperte. Achim und sie pflegten zwar eine lose Freundschaft mit gelegentlichen Unternehmungen, aber ganz so desolat wie an diesem Morgen kannte er sie nicht. Und wie sollte sie auch erklären, dass sie einfach so bei einem jungen, gutaussehenden Mann übernachtet hatte, den sie quasi nicht kannte. Nein, auf Erklärungen hatte sie ganz bestimmt keine Lust. Außerdem war er ihr Chef und setzte offensichtlich hohe Erwartungen an sie, was den Ausgang der beiden Termine heute anging. In ihrem übernächtigten Zustand machte sie wirklich keinen professionellen Eindruck.

Sie hätte nur zu gerne gewusst, wer ‚meine Liebe’ war. Oder hatte sie doch richtig ‚mein Lieber’ gehört? Was sollte das denn nun? Bevor sie weiter nachdenken konnte, siegte ihre Neugierde und sie lehnte sich vorsichtig über das Treppengeländer. Vor der Wohnung eine Etage tiefer sah sie ein Paar, das sich küsste. Und als Achim mit einem leisen, aber zärtlichen ‚Ciao’ die Treppe herunter lief, erhaschte Sabrina einen Blick auf das Objekt Achims Begierde, das in diesem Moment die Wohnungstür schloss. Vor Schreck wäre Sabrina fast über das Geländer gefallen. Sie ließ sich schleunigst auf die Treppenstufen plumpsen und atmete tief ein und aus. Das war ein Hammer! Wahnsinn, Johannes König, graue Eminenz, der absolute Vorzeigebanker, Vorstandsmitglied der Südbank, konservativ bis in die blonden Haarspitzen, hatte offensichtlich ein Verhältnis mit einem seiner Mitarbeiter, dem Leiter des Bereiches Firmenkunden, Sabrinas Chef Achim Lang.

Sabrina glaubte zu träumen. Ihre Gedanken wirbelten nur so durcheinander. Nie im Leben hätte sie Johannes König ein Verhältnis zugetraut, so anständig und teils auch spießig wie er war, oder besser gesagt sich gab. Nachdem sie im letzten Jahr seine junge und schöne Frau Martina kennen gelernt hatte, konnte sie eine Affäre zwar nachvollziehen. Martina König machte auf Sabrina den Eindruck, kühl und arrogant zu sein, ein wenig durch den Wind und verwöhnt. Gleichzeitig wirkte sie unsicher und schien dem Gin mehr zuzusprechen, als wahrscheinlich gut für sie war. Dem äußeren Anschein nach gaben die Königs, wenn man sie mal zusammen sah, das perfekte Paar ab, aber Sabrina hatte nicht den Eindruck gewonnen, dass es eine besonders harmonische Beziehung war. Auf jeden Fall fand Sabrina die Frau ihres Vorstands eigenartig, und diese verließ den Gerüchten zufolge nur hin und wieder zu offiziellen Anlässen ihres Mannes ihr Feriendomizil am Comer See.

Johannes König und ein Verhältnis war schon eine kleine Sensation für sich, aber ein Verhältnis mit einem Mann! Und nicht irgendein Mann, ausgerechnet Achim, der Womanizer schlechthin. Sabrina hatte hehre Grundsätze, was Affären mit Vorgesetzen und Kollegen im nahen Umfeld anbelangte, somit war Achim per se für sie tabu. Wenn sie ihn allerdings privat irgendwo kennen gelernt hätte, wäre er ein potenzieller Flirtkandidat gewesen. Achim war sehr charmant, sportlich und selbstbewusst, groß gewachsen und mit einem hohen Maß an Intelligenz ausgestattet, 38 Jahre jung und auf dem besten Weg, eine steile Karriere zu machen. Er galt bereits jetzt, zwei Jahre nach seinem Eintritt in die Bank, als möglicher Nachfolgekandidat für einen bald scheidendes Vorstandsmitglied. Was dazu kam, und das setzte seiner Persönlichkeit den Stempel auf, er war sehr nett und unkompliziert, war mit vielen seiner Mitarbeiter per Du und schaffte es dennoch, bei der Freundschaft, die er Sabrina anbot, die nötige Distanz zu wahren. Sie gingen hin und wieder abends zusammen auf einen Drink aus, hatten mal gemeinsam mit ein paar anderen Leuten eine Bergtour gemacht und Sabrina hatte dennoch den nötigen Respekt vor ihm als ihre Führungskraft. Es gab kaum jemanden im Bereich Firmenkunden, der ernsthaft etwas an ihm auszusetzen hatte. Wenn es Gemunkel über Achim gab, dann meist nur über seine vielen Affären. Aber mit denen konnte es nicht so weit her sein, vermutete Sabrina nun. Vielleicht streute er absichtlich selbst ein paar Gerüchte, um damit von seiner Vorliebe für Männer abzulenken.

Sabrina musste lächeln. Welcher Stress musste es für Achim sein, sich gegen eindeutige Angebote aus der Frauenwelt zur Wehr zu setzen! Und Johannes König sah sie nun in einem ganz anderen Licht. Die homosexuelle Neigung machte ihn sympathischer und nahm etwas von seiner Härte, die er nach außen kehrte. Meine Güte, dachte Sabrina, wenn das an die Öffentlichkeit gelangen würde, wären beide Männer beruflich erledigt. Die Finanzwelt und schon gar nicht die Südbank mit ihrer vornehmlich konservativen Klientel akzeptierten auch im dritten Jahrtausend noch keine Schwulen in leitenden Positionen.

Ihr persönlich war es vollkommen gleich, ob Männer mit Männern oder Frauen schliefen. Einer ihrer besten Freunde, Steffen, der mittlerweile in Köln lebte, war auch homosexuell und sie wusste, mit welchen Vorurteilen und Problemen er zu kämpfen hatte. Sie konnte sich unglaublich darüber aufregen, mit welcher Intoleranz viele Menschen diesem Thema begegneten, allen voran ihr Exmann Marc, der jeglichen Kontakt mit Steffen abgelehnt hatte, weil er ihn überdreht und tuntig fand. Sabrina fand sich Marc gegenüber immer häufiger in einer Verteidigungsposition wieder und merkte mehr und mehr, wie wenig sie mit diesem Mann verband, nicht nur das Thema Homosexualität betreffend. So kam es, dass nach einer kurzen Ehe, die noch keine zwei Jahre dauerte, eine Blitzscheidung folgte. Fünf Minuten im Gericht, und sie waren beide wieder frei. Marc hatte sehr schnell wieder geheiratet und war mittlerweile Vater eines Sohnes, der Kontakt zu ihm war zwischenzeitlich eingeschlafen. Sabrina hatte die Trennung relativ schnell verarbeitet und diese Ehe unter Lebenserfahrung verbucht. Jetzt wartete sie auf den Tag, an dem ihr Mr. Perfect, der Mann, der hundertprozentig zu ihr passte, über den Weg laufen würde. Sie war weder ungeduldig noch auf der Suche, deshalb konnte sie leichten Herzens und ohne Gewissensbisse einmal die Nacht bei einem attraktiven Mann verbringen. Und wirklich passiert war ja nun auch nichts.

Sabrina erhob sich und ging leise die Treppe herunter. Sie schmunzelte vor sich hin. Sieh an, sieh an, meine beiden Chefs in einer vollkommen neuen Perspektive, dachte sie. Irgendwie fingen der Tag und auch die Woche gut an. Sie wünschte beiden Männern im Stillen viel Glück.

München, Südbank, 08:15 Uhr

„Was gibt es? Du sollst doch eigentlich …. Jetzt fall mir doch nicht immer ins Wort! Alles läuft, das habe ich dir doch schon hundertmal gesagt! Und es dauert so lange wie es eben dauert! Kann sich nur noch um ein paar Tage handeln … nein, das geht schon klar, Sie können mich gerne jederzeit wieder anrufen. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, die erste Sitzung des Tages ruft. Bis dann! Ciao!"

Veronica Eisenbarth knallte den Hörer auf.

„Was kann so dringend sein, dass Sie mitten in einem Telefonat einfach so hier hereinplatzen? Können Sie nicht einmal anklopfen?“, blaffte sie ihre Assistentin Tamara Weimann an, die erschrocken in der Tür stand.

Tamara entschuldigte sich stockend: „Ich wusste nicht, dass Sie schon im Hause sind und wollte Ihnen nur schnell schon die erste Post auf den Schreibtisch legen. Sorry, ich hätte natürlich angeklopft, wenn.... “

„Dann tun Sie das gefälligst das nächste Mal, egal ob ich da bin oder nicht! Das ist ja wie im Kindergarten hier! Die einfachsten Regeln sind wohl noch zu schwer! Und denken Sie daran, dass ich heute noch einen Wagen brauche! Ich muss morgen um 10:30 Uhr in Frankfurt sein!“

Veronica war außer sich und rauschte aus ihrem Büro an der jungen Assistentin vorbei. Tamara Weimann standen Tränen in den Augen. Wie lange würde sie das noch aushalten müssen mit Veronica Eisenbarth? Die Launenhaftigkeit ihrer Chefin stellte regelmäßig alles in den Schatten, was sie bisher erlebt hatte. Wie konnte eine so attraktive und erfolgreiche Frau nur so dermaßen hart sein? Und warum ließ sie ihre schlechte Laune ganz besonders gerne an ihr aus?

Da waren weder Charme noch Ausgeglichenheit, nur Hektik und der Ehrgeiz, um jeden Preis Erfolg zu haben und auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Wer Veronica Eisenbarth dabei im Weg stand, wurde zertreten oder aus dem Weg gemobbt, und keiner bremste sie, da sie so enorm erfolgreich war. Die Kunden liebten sie, dort sprühte sie nur so vor Charme und wickelte jeden mit ihrer roten Mähne und den blitzenden grünen Katzenaugen um den kleinen Finger. Die Welt der Finanzen war nach wie vor mehrheitlich in männlicher Hand und Veronica, die sich ihrer optischen Reize voll bewusst war, nutzte männliche Schwächen schamlos aus. Um ein gutes Geschäft unter Dach und Fach zu bringen, kannte sie keine Grenzen. Tamara hatte Veronicas Hand während eines Mittagessens mit einem Londoner Banker zwischen dessen Beinen gesehen, nur ganz kurz, dafür aber sehr eindeutig. Außer ihr war es keinem am Tisch aufgefallen und sie hütete dieses Geheimnis. Sie würde sich beruflich ihr eigenes Grab schaufeln, sollte sie jemals darüber sprechen. Sie sehnte nur den Tag herbei, an dem sie Veronica lange genug ertragen hatte, um sich um einen anderen Job zu bemühen.

In einem Monat wäre ihre Probezeit bei der Südbank vorbei, dann könnte sie bald versuchen, in eine andere Abteilung zu wechseln. Sie wusste, dass sie gut war, sehr integer und diskret, sprach mehrere Sprachen fließend und hatte sich innerhalb kurzer Zeit einen guten Ruf in der Bank erworben. Die internationalen Meetings, die häufig unter Veronicas Leitung stattfanden, waren jedes Mal perfekt von ihr organisiert und die jeweiligen Gäste wurden ihrer Nationalität entsprechend bewirtet und behandelt. Und den Mietwagen hatte sie natürlich schon längst bestellt, sie hatte noch nie Veronicas Termine verpatzt oder vergessen. Sie konnte sich nur nicht erklären, warum ihre Chefin an einem Montagmorgen so unausstehlich war.

Tamara wusste es nicht genau, hatte aber das Gefühl, dass es mit dem Privatleben von Veronica Eisenbarth nicht zum Besten bestellt war. Von einem Lebensgefährten hörte man nie etwas, somit lebte sie wohl alleine. Sie war geschieden, ihr Exmann war Schriftsteller und hielt sich nicht mehr in Deutschland auf. Veronica schien auf eine unbestimmte Art und Weise noch an ihm zu hängen, auch wenn sie dies Tamara gegenüber nie geäußert hatte und wahrscheinlich auch nie zugeben würde. Aber nach einem Telefonat mit ihm im letzten Monat, das Tamara an Veronica verbunden hatte, fand sie ihre Chefin sehr verträumt und nachdenklich vor.

München, Südbank, 11:55 Uhr

„Hallo, Sabrina, ich bin’s, Eva. Wie geht es dir? Bist du sehr im Stress?“

Statt eine Antwort zu geben, schnaufte Sabrina zunächst einmal kräftig in den Hörer. Ihre Freundin Dr. Eva Müller, Mitarbeiterin im Bereich Interne Revision, kannte diese emotionalen Ausbrüche von Sabrina und würde ihr sicherlich diese Reaktion nachsehen.

„Stress ist gar kein Ausdruck, hier drehen heute noch alle durch, und ich wahrscheinlich als Erste! Ich habe einen Zweistundentermin hinter mir mit einer Horde ambitionierter und detailverliebter Juristen. Die haben mich dermaßen in die Mangel genommen, ich fühle mich wie falsch zusammengesetzt! Und in einer halben Stunde rückt die nächste Karawane an! In meinem nächsten Leben werde ich Finanzbeamtin, das kannst du mir glauben! Dann mache in jeden Steuersünder fertig, um mich abzureagieren, und gehe spätestens um fünf nachmittags nach Hause! Wie geht es dir, meine Liebe? Komm, erzähl mir eine lustige Geschichte, bitte!“

„Och, soweit geht es mir ganz gut. Irgendwie stehen wohl alle etwas Kopf, oder könntest du auf die Peanuts von einhundertfünfunddreißig Millionen Euro einfach so verzichten?“

Eva Müller prustete dabei ein bisschen vor sich hin. „Ich frage mich, wie manche unserer Geschäftspartner ihre Buchhaltung machen, mit dem feuchten Zeigefinger im Wind? Aber eigentlich will ich nicht jammern, sondern dich zum Essen entführen. Heute scheint es ja nicht zu klappen, aber wie sieht es bei dir morgen aus, wollen wir beim Italiener um die Ecke einen kleinen Lunch zu uns nehmen? Sagen wir, um eins?“

„Ja, sehr gut! Weißt du, heute habe ich für Essen eh weder Zeit noch Nerven. Drück mir mal die Daumen, ja! Dann lade ich dich sogar morgen ein! Bis dann, ich freue mich und erzähle dir alles. Mach es gut, Eva!“

„Ciao, Sabrina...“ Aber bevor Eva weiter sprechen konnte, hatte Sabrina schon wieder aufgelegt. Nun gut, der nächste Anruf, den Eva erledigen musste, war nicht ganz so spaßig, wenn auch der Gesprächspartner jung und attraktiv war. Aber niemand hob ab. Also machte sie sich auf den Weg zum nächsten Bäcker, irgendeine Kleinigkeit würde sie zu sich nehmen müssen.

München, Südbank, 16:30 Uhr

Eva gab einen Druckbefehl ein und drückte dann die Speichertaste ihres PCs, um den Kurzbericht zu einem aktuellen Fall aus dem Bereich Syndizierungen zu schließen. Diese Abteilung prüfte sie als Revisionistin seit drei Monaten und fand die Geschäfte und Akten eher langweilig. Alles schien von Anfang an festzustehen, da wurde nicht viel verhandelt. Umso erstaunlicher, dass sich in einen solchen Vorgang offensichtlich ein weitreichender Fehler eingeschlichen hatte. Aber vielleicht war alles ein Irrtum oder nur unvollständige Aktenlage und ließ sich auf dem kleinen Dienstweg klären.

Entgegen ihrer Angewohnheit, nur im Beisein der zuständigen Führungskraft mit den verantwortlichen Mitarbeitern zu sprechen, rief sie Marius Buschmann direkt an. Er war für die Bearbeitung des Deals verantwortlich und er müsste zu dem Fehlerteufel etwas sagen können. Marius war erst seit gut einem Jahr in der Bank beschäftigt und hatte, soweit Eva mitbekommen hatte, ein mehr als gespanntes Verhältnis zu seiner Chefin Veronica Eisenbarth. Obwohl man dazu sagen musste, dass Eva noch nicht zu Ohren gekommen war, dass sich irgendjemand gut mit ihr verstand.

Diese Eisenbarth hatte sich den zweifelhaften Ruf erworben, ihren Mitarbeitern gegenüber Haare auf den Zähnen zu haben und Eva hatte Mitleid mit Marius. Sie wollte ihm die Gelegenheit geben, sich auf einen Mängelbericht von der Revision vorzubereiten oder eventuell sogar einen Irrtum aufzuklären, bevor seine Chefin ihn ins Gebet nehmen konnte. Und wenn er wirklich einen Fehler gemacht oder übersehen haben sollte, mochte sie sich die Folgen für ihn nicht ausdenken.

„Herr Buschmann, hallo, gut, dass ich Sie erreiche, hier spricht Eva Müller von der Revision. Ich würde gerne kurz mit Ihnen über die Syndizierung für die Dreamworks AG sprechen, Sie wissen schon, die von letztem Monat. Wann hätten Sie denn Zeit für mich?“

„Ähm, hallo, Frau Dr. Müller. Nun... klar, aber, ich meine, ich habe doch die Dokumentation vorbereitet und so und ... also, ich verstehe nicht, dass es da noch etwas zu reden geben sollte!“

„Tja, so wie die Aktenlage momentan ist, kann sie nicht bleiben. Vielleicht ist ja alles nur ein Versehen. Ich habe meinen Bericht schon fertig, aber momentan noch als Entwurf. Ich dachte mir, ich gebe Ihnen die Möglichkeit, dass wir im Vorfeld unter vier Augen über den Fall sprechen, sollte sich alles nur als ein Irrtum herausstellen. Also, wann würde es Ihnen denn passen? Heute noch?“

„Oh, ach so, also heute ist schlecht, aber ich könnte morgen früh so gegen neun Uhr bei Ihnen sein, wäre das OK?“

„Natürlich, Herr Buschmann, kommen Sie doch einfach morgen früh bei mir vorbei. Bis dann, Tschüss.“

Eva legte nachdenklich den Telefonhörer auf. Komisch, er wollte gar nicht wissen, was denn nun so ungereimt an der Aktenlage war. Sie zuckte mit den Schultern, vielleicht saß ihm ja gerade seine Chefin im Nacken und verfolgte das Telefonat mit. Dann konnte er nicht frei und ungehemmt sprechen, wer weiß.

Zur gleichen Zeit im Büro von Marius Buschmann

„Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was mache ich denn jetzt?“ Marius lief aufgeregt von seinem Schreibtisch bis zur Wand und wieder zurück. Er zitterte am ganzen Körper. Er musste Veronica anrufen, sie mussten sich etwas einfallen lassen, und zwar schnell, sonst hatten sie verloren. Oh, wie er diese Situation hasste. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Veronica und ihre Spielchen. Er hasste sie, abgrundtief, so, wie seine Kolleginnen und Kollegen das auch sahen. Aber in erster Linie wegen ihrer schlechten Moral. Und sich selbst hasste er noch mehr, wie leicht war er zu manipulieren, für ein bisschen Spaß im Bett. Aber der Sex mit Veronica und alles, was dazu gehörte, waren einfach genial. Ihm liefen kalte Schauer über den Rücken, wenn er nur daran dachte. Und an einer anderen Stelle wurde ihm ganz heiß....

Mit trockenem Mund wählte er Veronicas Nummer. Tamara nahm ab.

„Hallo, Herr Buschmann!“

„Hallo, Tamara, könnte ich, ähm, vielleicht mit Frau Eisenbarth sprechen?“ Tamara meinte in Marius Stimme eine gewisse Aufgeregtheit zu erkennen.

„Oje, Herr Buschmann, hoffentlich ist es nichts Ernstes, die gute Dame hat heute nicht ihren besten Tag! Ich stelle Sie mal durch, sie müsste am Platz sein!“

Marius wartete nur einen kurzen Moment, dann hatte er Veronica in der Leitung.

„Hier Marius, Veronica, Mist, wir haben ein Problem!“ Marius konnte nur noch flüstern. Sein Magen flatterte und er war froh, dass er saß.

„Die Müller ist über irgendetwas gestolpert und will mich morgen sprechen. Wir müssen etwas tun, ganz dringend!“

„Nun beruhige dich mal wieder und rede normal, du hörst dich ja total durchgeknallt an! Und reiß dich verdammt noch mal zusammen! Es hilft uns nun nicht weiter, wenn du nur herum jammerst. Wann sollst du sie treffen? Was hat sie gesagt?“

„Um neun morgen früh, sie hat schon einen Bericht geschrieben, will aber noch mal mit mir vorher sprechen. Was machen wir denn jetzt? Mensch, so ein Mist! Was haben wir nur gemacht!“ Marius war jetzt den Tränen nahe.

„Dreh jetzt um Himmels Willen nicht durch. Wir kriegen das schon hin. Sie hat nur einen Entwurf, klar, mehr geht nicht. Pass auf, du gehst heute Abend noch in ihr Büro, sieh zu, dass du die Akte in die Finger bekommst. Schreib den Bericht neu und lege ihn wieder in die Akte. Dann bringst du sie zurück und marschierst morgen früh um neun wie verabredet zu ihr hin. Nur wird sie dann nicht da sein, aber das besprechen wir heute Abend. Ruf mich auf meiner Mobilnummer an, wenn du alles erledigt hast, OK?"

„Ja, ja, mache ich! So eine Scheiße!“

Marius legte auf und seine Hände flatterten. Wie lange musste er sich wohl jetzt die Zeit vertreiben, bis Eva Müller und ihr Kollege endlich nach Hause gingen? Bis überhaupt die Büros verwaist waren, damit ihn niemand erwischte? Und was meinte Veronica damit, dass Dr. Müller morgen nicht da sein würde? Er hatte eine böse Vorahnung, aber dann stürmte sein Kollege Becker zu ihm ins Büro und er wurde mit einem aktuellen Fall abgelenkt.

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit trieb Marius sich bis acht Uhr abends im Büro herum, erledigte einigen Schriftverkehr, der schon längst überfällig war, und machte sogar Ablage. Nach und nach wurde es auf den Fluren der Bank immer ruhiger und er schlich auf leisen Sohlen Richtung Innenrevision, die nur eine Etage unter den Syndizierungen ihre Büros hatte. Alle Zimmer waren leer und erwartungsgemäß alle Schränke abgeschlossen. Aber wie wohl jeder in der Bank hatte auch Eva Müller ein ‚Geheimfach’ für ihren Schrankschlüssel und nach einigem nervösen Suchen hielt Marius die Akte der Syndizierung für die Dreamworks AG in den Händen. Mit wackligen Knien schlich Marius in sein Büro zurück. Der vorläufige Revisionsbericht von Dr. Müller lag in der Akte, er enthielt tatsächlich die Anmerkung, die er befürchtete hatte! Sie musste wirklich gute Augen haben, dass ihr das aufgefallen war. Es war die einzige Schwachstelle in der ganzen Akte. Ansonsten hatte sie nur noch eine Beanstandung hinsichtlich des Layouts eines der Zusageschreiben, das noch nicht auf dem aktuellen Standardlayout der Bank geschrieben worden war. Und natürlich fehlte der Syndizierungsvertrag, was aber durchaus üblich war. Mit diesen Kritikpunkten konnten sie leben. Marius schrieb den Bericht auf dem Layout der Revisionsabteilung neu, druckte ihn aus und legte ihn wieder in die Akte. Der Entwurf enthielt jetzt nur noch zwei harmlose Anmerkungen. Marius hoffte inständig, dass Dr. Müller noch mit niemanden aus ihrer Abteilung über diesen Fall gesprochen hatte. Den ursprünglichen Bericht steckte er in seine Tasche, schloss sein Zimmer ab und legte die Akte beim Verlassen der Bank wieder in Dr. Müllers Schrank.

Er spürte nun die Anspannung der letzten Stunden und auf dem Weg zum Parkplatz wurde ihm schwarz vor Augen. Schwer atmend setzte er sich in sein Auto und lehnte den Kopf zurück. Er ließ alle Scheiben herunter und holte tief Luft. Während er mit zitternden Fingern eine Zigarette anzündete, rief er Veronica auf ihrem Mobiltelefon an. Gemeinsam bereiteten sie den Schlachtplan für den nächsten Tag vor...

2. Tag: Dienstag, 07. Juni

München – Giesing, Schönstraße, Wohnung von Dr. Eva Müller, 07:15 Uhr

Eva Müller stellte ihre Espressotasse in die Spüle. Obwohl noch so früh am morgen, war sie bereits fertig angezogen für den Job und freute sich über den Sonnenschein, der sich durch ihr Küchenfenster ergoss. Es versprach wieder ein schöner und warmer Sommertag zu werden. Sie war gerade auf dem Weg zur Tür, als es klingelte. Etwas erstaunt angesichts der frühen Uhrzeit nahm sie den Hörer der Gegensprechanlage ab.

„Ja, bitte?“

„Schönen guten Morgen, Fleurop-Service, einen Strauß für Frau Dr. Eva Müller.“ Der Mann musste mitten im Sommer erkältet sein, so rau wie seine Stimme klang.

„Uups, wer schickt mir denn Blumen? Ganz oben im dritten Stock bitte“, antwortete Eva. Sie drückte den Knopf, um die Haustüre zu öffnen. Eva war gespannt, wer sie wohl mit Blumen bedachte, und dann noch um diese Uhrzeit per Fleurop! In Gedanken versunken öffnete sie die Wohnungstür. Was für ein toller großer Strauß, dachte sie noch. Die Blumen verdeckten komplett das Gesicht des Boten. Im nächsten Moment drückte ihr jemand ein weiches und feuchtes Tuch auf den Mund und sie sank zu Boden.

München, Südbank, 12:55 Uhr

„Was soll das heißen, sie ist nicht da? Das gibt es doch nicht, wir wollten zusammen zum Mittagessen gehen! Und sie hat sich wirklich nicht gemeldet, auch nicht bei einem anderen Kollegen?“

Sabrina runzelte die Stirn, denn das sah Eva gar nicht ähnlich. Sie war die Zuverlässigkeit in Person und hasste nichts mehr, als selbst versetzt zu werden. Sogar Unpünktlichkeit, die bei ihr schon bei einer Minute Verspätung anfing, fand keinerlei Gnade in ihren Augen.

„Ich kann mir das auch nicht erklären, Frau Degen“, antwortete Thomas Mäder, der Kollege, der mit Eva Müller das Büro teilte. „Gestern Abend, als wir zusammen die Bank verlassen haben, war sie noch ganz munter. Keiner im Team hat etwas von ihr gehört, ich habe schon nachgefragt. Es wird doch nichts passiert sein?“

„Ach, das glaube ich nicht. Manchmal kann einen ja schon ein verdorbener Magen niederstrecken. Ich rufe mal schnell bei ihr zu Hause oder auf ihrem Mobiltelefon an, vielleicht ist sie ja gerade beim Arzt“, bot Sabrina an. „Ich melde mich dann bei Ihnen, wenn ich sie erreicht habe, ja?“

Sabrina hatte Evas Privatnummer im Kopf, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Sie hinterließ eine Nachricht und bat um Rückruf, sobald Eva wieder zu Hause war. Mobil war Eva auch nicht zu erreichen, nach dem fünften Klingeln schaltete sich die Mobilbox ein und Sabrina hinterließ auch dort eine Nachricht. Sie legte langsam den Hörer auf. Ein leichter Schauer überlief sie, denn sie fand die Situation nun doch etwas eigenartig. Und sofort klingelte ihr Telefon wieder und sie wurde von einem Anwalt eines Kunden, mit dem ein großer Mediendeal abgeschlossen werden sollte, zu einer Telefonkonferenz eingeladen. Diese sollte schon um halb zwei stattfinden, so blieben ihr noch nicht mal mehr dreißig Minuten, um sich darauf vorzubereiten. Das sieht den Typen ähnlich, dachte Sabrina grimmig. Die wollen mich bestimmt überrumpeln und mir Klauseln unterjubeln, die die Bank dann sehr schnell bereuen könnte. Mittagessen konnte sie ja nun eh vergessen, nachdem ihre Verabredung geplatzt war. Kurzerhand rannte sie in das Büro von Achim Lang, ihrem Vorgesetzten, um ihm von der Telefonkonferenz zu berichten. Achim bot sich sofort an, auch daran teilzunehmen und begab sich gemeinsam mir ihr in Sabrinas Büro. Er war bei den Verhandlungen am Vortag schon mit von der Partie gewesen und ziemlich gut mit dem Thema vertraut, wenn auch Sabrina die Gesprächsführung übernommen hatte. Der Jurist ihrer Abteilung war bereits von der Gegenpartei eingeladen, deckte aber im Wesentlichen nur die rechtliche Seite bei dieser Art von Deals ab. Themen wie Konditionen und Sicherheiten lagen nicht in seinem Verantwortungsbereich. Dafür würden sie gleich noch einen Kreditspezialisten hinzuziehen, der für die Vertragsausgestaltung und die Dokumentation des Falles zuständig war.

„Du, Achim, ich habe übrigens vergeblich versucht, Eva zu erreichen, sie ist heute nicht gekommen, keiner hat etwas von ihr gehört! Hat sie sich eventuell bei dir gemeldet?“

Erstaunt sah Achim sie an. „Nein, Eva hat mich nicht angerufen. Das ist ja komisch, unentschuldigtes Fehlen passt so gar nicht zu ihr! Weißt du was, ich fahre doch auf dem Nachhauseweg fast an ihrer Wohnung vorbei, da klingele ich mal kurz bei ihr und sehe nach dem Rechten.“

„Ja, das wäre prima. Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl im Bauch. Mensch, hoffentlich ist ihr nichts passiert.“

„Jetzt mach dir mal keine Sorgen.“ Achim versuchte sie zu beruhigen. „Unsere taffe Eva haut so schnell nichts um. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, eigenartig ist das schon. Aber komm, lass uns nicht grübeln, es gibt bestimmt eine ganz simple Erklärung oder es hat jemand vergessen, Bescheid zu sagen, dass sie sich für heute abgemeldet hat.“ Als er Sabrinas Nicken sah, fuhr er fort: „So, und jetzt lass uns mal überlegen, welche schwache Stelle die Rechtsverdreher der TurtleMedia AG gefunden haben und wie wir uns wappnen können.“

Die nächsten zwanzig Minuten berieten sie gemeinsam mit dem Juristen und dem zuständigen Kreditspezialisten über die Vorgehensweise für die Verhandlungen in der Telefonkonferenz, die pünktlich begann und geschlagene zwei Stunden dauerte. Sabrina rauchte danach der Kopf, aber alle strittigen Punkte waren geklärt und die Verträge sollten heute noch per Bote an das Unternehmen zur Unterschrift gebracht werden. Und dann geschah wieder das, was ihr so häufig passierte: Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt und wollte sich im Bürostuhl zurück lehnen und einmal tief durchatmen, begann erneut ihr Telefon zu klingeln. Sie stöhnte kurz auf, bevor sie abhob, um sofort wieder zu einem freundlichen und verbindlichen Ton überzugehen, als sie hörte, dass ein Kunde am anderen Ende der Leitung saß. Sicher, sie war vielleicht ein wenig altmodisch, viele Kolleginnen und Kollegen fanden sie mitunter sogar spießig, aber der Grundsatz ‚der Kunde ist König’ hatte sich in ihr eingebrannt und sie würde niemals einen Kunden Stress oder schlechte Laune spüren lassen.

Während Sabrina telefonierte, winkte Achim ihr zum Abschied noch kurz zu und verließ ihr Büro und die Bank. Zwei aufregende und erfolgreiche Tage lagen hinter ihm und sein Arbeitstag war noch nicht vorbei. Er wollte noch eine kleine Runde an der Isar joggen, bevor er sich um sechs Uhr zum Abendessen mit einem Kunden im Weißen Bräuhaus traf. Der Mann stammte aus dem Rheinland und war Geschäftsführer eines Maschinenbauunternehmens, mit dem die Südbank eine langjährige Kundenbeziehung unterhielt. Der Kunde hatte ein Faible für bayerische Kost und Weißbier, insgesamt für die bayerische Lebensart. Achim wusste, es würde ein kurzweiliger, aber auch sehr herzhafter und kalorienreicher Abend werden, und da trainierte er lieber vorher noch ein paar von den Kalorien ab, die er später in vielfacher Form zu sich nehmen würde. Er würde sich Freizeitkleidung für das laute, aber traditionsreiche Lokal anziehen, denn sein Kunde kreuzte bei seinen Besuchen immer in Lederhose und Trachtenjanker auf, da passte ein geschniegelter Anzug eh nicht. Achim musste schon im Vorfeld schmunzeln, wenn er daran dachte, wie der Mann in seinem herrlichen Kölner Dialekt die bayerische Lebensweise pries. Wenn es nicht zu spät würde, könnte er sogar noch bei Johannes vorbeifahren und ein bisschen mit ihm feiern. Der Mediendeal, den sie abgeschlossen hatten, war zwar Sabrinas Erfolg, aber er brachte dem kompletten Bereich eine Menge Provisionen und Erträge und führte sie wieder ein ganzes Stück näher an die Erreichung der ehrgeizigen Ziele, die sie sich gesteckt hatten. Sabrina, dachte Achim, ist wirklich eine Vollblutbankerin. Selten hatte er Kolleginnen oder Kollegen kennen gelernt, die eine dermaßen ausgeprägte Kundenorientierung besaßen. Sabrina verstand es hervorragend, Kompetenz und Freundlichkeit in einer Weise zu kombinieren, dass die Kunden das Gefühl bekommen mussten, hundertprozentig richtig beraten worden zu sein.

Und während Sabrina die Kreditverträge mit den ausgehandelten Bedingungen aufsetzen ließ, erfreute sich Achim schwitzend und keuchend an einer Joggingrunde an der sonnigen Isar im südlichen München und vergaß die Welt um sich herum, natürlich auch Eva....

3. Tag: Mittwoch, 08. Juni

München-Schwabing, Wohnung von Sabrina Degen, 06:15 Uhr

Sabrina hatte schlecht geschlafen. Sie hasste es, morgens gerädert aufzuwachen, nicht mehr richtig müde, aber auch überhaupt nicht ausgeschlafen.

Es war weit nach zehn Uhr gestern Abend gewesen, bis sie endlich die Bank verlassen konnte. Zum Glück war der große Deal unter Dach und Fach, da würde sie ein bisschen kürzer treten können und sich vielleicht sogar mal ein paar freie Tage gönnen. Aber sobald sie wach geworden war, fingen ihre Gedanken an um Eva zu kreisen, die sich immer noch nicht bei ihr gemeldet hatte. Nach einer langen heißen Dusche mit einem abschließenden kalten Strahl und einer Tasse mit doppeltem Espresso kehrten allmählich Sabrinas Lebensgeister zurück und sie griff zum Telefon. Es ist jetzt gleich sieben Uhr, dachte sie, da muss Eva doch zu Hause sein. Aber wieder meldeten sich nur der Anrufbeantworter und die Mobilbox. Von Achim hatte Sabrina auch nichts gehört, er hätte sich sicherlich gemeldet, wenn er Eva angetroffen hätte. Wenn er es überhaupt versucht hatte. Sabrina überlegte nicht lange. Sie sprang sie in den nächstbesten Hosenanzug, zog sich kurz die Lippen nach und verließ ihre Wohnung, um bei Eva vorbei zu fahren. Sabrina quälte sich durch den morgendlichen Berufsverkehr in München und brauchte geschlagene fünfunddreißig Minuten, bis sie vor Evas Wohnung in Giesing stand. Sie klingelte Sturm, ohne Reaktion. Sie rief erneut mit ihrem Mobiltelefon bei Eva an, aber hatte wieder nur Maschinen am anderen Ende der Leitung. Da fasste Sabrina einen Entschluss und klingelte den Hausmeister der Anlage heraus, der drei Eingänge neben Eva im Erdgeschoss wohnte. Ein etwas grantiger, älterer Herr Meierhoff, dem Sabrinas Störung nicht gelegen kam, öffnete. Sabrina stellte sich vor und erzählte ihm, dass Eva nicht in der Bank erschienen war und auch nicht auf Anrufe und Klingeln reagierte. Schlagartig bekam er einen besorgten Gesichtsausdruck.

„Mei, da wird doch nix passiert sein? Ich kann Ihnen aber nicht einfach so die Wohnung aufschließen, das darf ich nicht.“

„Ich verstehe Sie ja, aber ich habe so ein ungutes Gefühl. Wissen Sie was, ich rufe mal schnell in unserem Personalbereich an und frage, was in solchen Fällen zu tun ist“, meinte Sabrina. Nach einem kurzen Telefonat mit dem Personalleiter, der zum Glück Frühaufsteher war und daher bereits am Schreibtisch saß, wuchs Sabrinas Angst.

„Wir sollen die Polizei einschalten“, flüsterte Sabrina, „die machen sich große Sorgen in der Bank. Keiner hat etwas von ihr gehört, es ging auch keine Krankmeldung ein.“

„Dann machen wir das, jetzt kommen Sie mal mit, ich koche Ihnen einen Kaffee, während wir warten“, antwortete der Hausmeister freundlich. Ihm gefiel die Farbe, die Sabrinas Gesicht angenommen hatte, so gar nicht. Aber sie schaffte es dennoch, die Polizei zu verständigen und mit knappen, aber präzisen Angaben die Lage zu schildern. Dann ließ sie sich von dem Hausmeister in dessen Wohnung führen und auf eine Eckbank setzen. Die Tasse Kaffee, die er ihr hinstellte, rührte sie nicht an. Zum Glück war Herr Meierhoff kein Freund der frühmorgendlichen höflichen Konversation, und so überließ er Sabrina einfach ihren Gedanken.

Bereits fünfzehn Minuten später sah Sabrina zwei uniformierte Polizisten den Innenhof zu Evas Hauseingang überqueren. In Begleitung des Hausmeisters und Sabrinas stiegen sie in den dritten Stock und standen vor Evas Wohnungstür.

„Also, aufgebrochen ist die schon mal nicht, die sieht völlig unbeschädigt aus“, meinte einer der beiden Beamten.

„Schließen Sie doch bitte jetzt auf. Aber Sie bleiben dann bitte draußen und fassen auch nichts an“, wies der andere Polizist sie an. Leicht zittrig schloss der Hausmeister die Wohnungstür auf. Die Polizisten stießen die Tür auf und riefen Evas Namen. Der süßliche Geruch, der aus der Wohnung strömte, ließ die beiden Beamten zusammen zucken. Und Sabrina genügte der kurze Blick in den Flur um zu wissen, dass etwas ganz Schlimmes passiert war. Der weiße Fliesenboden war fleckig und instinktiv wusste Sabrina, dass es sich nur um Blut handeln konnte. Die Polizisten kamen nach kurzer Zeit wieder aus der Wohnung, etwas blasser als zuvor. Einer kramte sein Mobiltelefon heraus und bestellte Arzt, Spurensicherung und Kriminalpolizei.

„Wir müssen von Ihnen beiden die Personalien feststellen. Es tut mir wirklich leid, aber Frau Dr. Müller scheint sich das Leben genommen zu haben“, wandte er sich an Sabrina und den Hausmeister.

Sabrina schlug die Hand vor den Mund.

„Sich umgebracht? Eva ist tot? Aber warum sollte sie das tun? Das macht doch keinen Sinn! Wir waren doch sogar gestern noch zum Essen verabredet! Da bringt man sich doch nicht um! Ich glaube das nicht! Das kann nicht sein! Oh, mein Gott!“ Sie brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Der Hausmeister stand stumm und weiß wie die Wand hinter ihm da und rührte sich nicht.

„Nun beruhigen Sie sich doch, bitte!“ Es war der jüngere der beiden Polizisten, der Sabrina darum bat. Fast hätte er ihr den Arm um die Schulter gelegt, sie tat ihm irgendwie leid und gefiel ihm gleichzeitig, aber das wäre ziemlich unpassend gewesen. Er führte sie vorsichtig zur Treppe und drückte sie sanft auf eine der Stufen. Scheinbar willenlos ließ Sabrina sich nieder und verbarg den Kopf in den Armen. Warum ausgerechnet Eva? Hätte sie Signale erkennen müssen? Hatte sie nicht bemerkt, dass es ihr nicht gut ging? Warum brachte sich eine intelligente, schöne und erfolgreiche junge Frau einfach so um? Nein, das konnte nicht sein! Vielleicht war es gar kein Selbstmord, vielleicht war sie überfallen worden? Und dann dieses ganze Blut im Flur, das sah doch nicht nach Selbstmord aus. Sabrina Gedanken wirbelten durcheinander. Sie musste dringend in der Bank anrufen, Achim Bescheid geben, meine Güte, dachte sie, Achim, der hätte doch nach ihr sehen sollen!

Mit einem Ruck stand Sabrina auf und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Mobiltelefon. Bevor sie eine Taste drücken konnte, schwärmte eine Gruppe Männer in weißen Anzügen mit allerhand Gepäck an ihr vorbei in die Wohnung. Dahinter folgten eine junge Frau und ein Mann in Zivil, die sich als Oberkommissarin Fietzek und Hauptkommissar Fuchs vorstellten.

„Darf ich fragen, wer Sie sind“, fragte Fuchs an Sabrina gewandt, nachdem er kurz mit den beiden Polizisten und dem Hausmeister gesprochen hatte.

„Ich bin Sabrina Degen, eine Kollegin und auch Freundin von Eva, also von Frau Dr. Müller, und... mein Gott, das gibt es doch alles gar nicht. Ich habe gestern mehrere Male versucht sie anzurufen, aber sie hat sich nicht gemeldet. Und heute Morgen dachte ich, ich fahre mal eben schnell bei ihr vorbei, weil sich Achim auch nicht gemeldet hatte und ich anfing, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Also, Achim ist mein Vorgesetzter in der Bank und auch mit Eva befreundet, und der wollte gestern Abend noch bei ihr vorbeischauen, hat es aber anscheinend nicht geschafft. Und jetzt ist Eva ... tot!“ Sabrina konnte den Tränenstrom nicht kontrollieren, der ihr über die Wangen lief. Vor lauter Aufregung hatten sich ihre Worte fast überschlagen.

„Hat Frau Dr. Müller alleine gelebt?“ Die Stimme von Kommissarin Fietzek war sanft und sehr freundlich und Sabrina beruhigte sich ein wenig.

„Ja, sie ist Single, ich meine sie war es. Zumindest weiß ich nichts von einer aktuellen Beziehung. Ich denke, das hätte sie mir gesagt, es ist ja nicht so, dass man in unserem Alter – wir sind beide gleich alt – sich nicht danach sehnen würde, endlich den Partner des Lebens zu finden. Aber deswegen bringt man sich doch nicht um!“ Kopfschüttelnd starrte Sabrina auf ihr Mobiltelefon, das sie immer noch unverrichteter Dinge in der Hand hielt.

„Und gestern ist sie nicht zur Arbeit erschienen?“

„Nein, den ganzen Tag nicht. Mittags war ich mit ihr zum Essen verabredet, da habe ich dann von ihrem Kollegen erfahren, dass sie nicht ins Büro gekommen ist. Deswegen habe ich auch bei ihr zu Hause und auf dem Mobiltelefon angerufen, weil keiner etwas von ihr gehört hatte. Ich muss in der Bank Bescheid geben. Darf ich das?“

„Natürlich, Frau Degen.“ Auch Kommissar Fuchs tiefe Stimme hatte eine sanfte Färbung angenommen. „Aber bitte geben Sie keine Details weiter. Wir werden uns sicherlich im privaten und auch beruflichen Umfeld von Frau Dr. Müller umhören, irgendeinen Grund muss es ja geben, warum eine junge Frau ihrem Leben ein Ende setzt. Und halten Sie sich bitte noch zu unserer Verfügung, wir müssten noch einmal wegen des Protokolls mit Ihnen sprechen, ja?“

Dann wandte sich Kommissar Fuchs ab und ging zu den Kollegen der Spurensicherung in die Wohnung. Kommissarin Fietzek legte Sabrina sanft ihre Hand auf den Arm. „Am besten gehen Sie heute nach Hause. Hier, ich gebe Ihnen meine Karte, sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, das wichtig sein könnte, dann rufen Sie mich an, egal um welche Uhrzeit. Alles Gute für Sie.“

Sabrina nickte geistesabwesend und schob die Karte in ihre Tasche. Dann stieg sie beklommen die Treppen hinunter. Ich fahre in die Bank, dachte sie. Ich muss arbeiten und mich ablenken, zu Hause drehe ich wahrscheinlich durch.

München, Büro von Hauptkommissar Fuchs, 10:30 Uhr

„Nun, wie ist dein erster Eindruck, Natascha, was hältst du davon? Du hast doch ein gutes Gespür. Irgendeine Idee, warum? Jung, blond, tot? Warum bringt sich so jemand um? Ach ja, und sie scheint nicht unvermögend gewesen zu sein, so beim kurzen Hinschauen.“ Korbinian Fuchs blickte seine Kollegin erwartungsvoll an.

Natascha Fietzek kräuselte kurz die Stirn.

„Irgendwie ist es schon komisch, auf den ersten Blick deutet so gar nichts auf Fremdeinwirkung hin. Aber warum zieht sich jemand, der sterben möchte, Bankklamotten an? Ich meine, würdest du dich in Armani werfen, um dir danach die Pulsadern aufzuschneiden? Mit einem Skalpell. Und trinkst womöglich noch ein Tässchen Kaffee vorher, zumindest stand eine Espressotasse in der Spüle, sonst nichts.“ Natascha zuckte mit den Schultern.

„Sie könnte einen niederschmetternden Anruf am Morgen bekommen haben, ganz schlechte Nachrichten, die sie völlig aus der Bahn geworfen haben. Wir sollten mal versuchen, die letzten Anrufer bei ihr ausfindig zu machen, und natürlich auch die Nachbarn befragen. Und dann ist ihr in letzter Sekunde eingefallen, dass sie doch nicht sterben möchte. Sie hat dann krampfhaft versucht, ihr Telefon zu erreichen, das würde zumindest die Blutspuren erklären. Ich weiß nicht, Korbinian, das erscheint mir sehr unwahrscheinlich! Meine Güte, dieses ganze Blut in der Wohnung.“ Natascha Fietzek schüttelte sich. Sie war zwar schon ein paar Jahre in der Mordkommission tätig, aber den Anblick von allzu viel Blut konnte sie immer noch nicht vertragen.

„Lass uns doch mal den Bericht der Spurensicherung und der Obduktion abwarten. Vielleicht finden die ja etwas, das mehr Licht in das Dunkel der Person Müller bringt. Du weißt doch, wie oft wir schon erlebt haben, dass jemand jahrelang abhängig war von Tabletten oder Alkohol und der Kollegen- und Freundeskreis nichts mitbekommen hat. Wer kann denn schon wirklich in einen anderen Menschen hinein schauen.“

„Ja, das stimmt“, meinte Korbinian Fuchs nickend. „Du bist ja auch nach fast vier Jahren Zusammenarbeit noch ein Buch mit sieben Siegeln für mich, aber du bist ja schließlich auch eine Frau, die soll sowieso mal jemand verstehen!“

„Oh, oh, gibt es etwa Stress zu Hause?“

Natascha kannte die Situation bei der Familie Fuchs ein wenig, innerhalb von zwei Jahren hatten sie zweimal Zwillinge bekommen, fast schon ein medizinisches Wunder. Die Pärchen waren jetzt drei und fünf Jahre alt und Elke, Korbinians Frau, meisterte die Situation hervorragend und mit unglaublicher Gelassenheit. Ab und zu forderte sie aber – verständlicherweise – etwas Freiraum für sich, was bedeutete, das Korbinian herhalten musste und einen Abend lang alle Kinder alleine hüten musste oder eventuell sogar einen ganzen Tag am Wochenende das Vergnügen hatte. Natascha wusste, dass Korbinian seine Kinder über alles liebte, aber mit vier lebhaften Kleinen alleine zu Hause zu sein brachte ihn regelmäßig an seine Grenzen.

„Ach, nein, ist schon in Ordnung. Stress wird es noch, Elke fährt kommendes Wochenende in die Alpenrose, du kennst doch auch diesen Wellnesstempel am Achensee, oder? Das haben ihr ihre Eltern geschenkt, damit sie sich mal verwöhnen lassen kann. Nicht, dass ich ihr es nicht gönne, ganz im Gegenteil, aber ich hoffe so sehr, dass das Wetter so bleibt, damit ich mit den Kurzen nach draußen kann, sonst stellen die mir die Bude auf den Kopf. Wie sieht es aus, hättest du Lust, dass du dich uns mit deinem Junior anschließt? Ich hatte an einen Zoobesuch gedacht, oder einen Ausflug in die Berge.“

Natascha Fietzek hatte auch einen Sohn aus einer kurzen Ehe, die vor drei Jahren geschieden worden war. Der kleine Tim war ihr ein und alles und passte mit seinen vier Jahren natürlich hervorragend zu der Truppe von Korbinian.