Eiskalter Schlaf - Astrid Korten - E-Book
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Astrid Korten

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Beschreibung

Platz 1 - Bestseller und Jahresbestseller Gibt es Alpträume, aus denen ein Opfer nicht erwachen kann? Anna wurde von einem brutalen Serienkiller entführt. Zwar konnte Kommissar Benedikt van Cleef ihr das Leben retten, doch auch Jahre später hat Anna das Grauen nicht vergessen. Schlimmer noch: Sie beginnt, zunehmend die Kontrolle über sich zu verlieren. Kann eine Hypnosetherapie ihr helfen, das zurückliegende Kapitel abzuschließen – oder wir dadurch neuen Schrecken die Tür geöffnet? Zur gleichen Zeit ermittelt Benedikt van Cleef in einem anderen Fall. Die Spuren führen weit in die Vergangenheit zurück – und zu einem bestialischen Verbrechen, das noch immer nicht gesühnt wurde … Ein Ermittler. Zwei Opfer. Sind Sie bereit für die Poesie des Bösen?

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Inhaltsverzeichnis

Astrid Korten

Über das Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Lesetipps

Über die Autorin:

Impressum

Astrid Korten

EISKALTER SCHLAF

Poesie des Bösen

Thriller

Über das Buch

Der Platz 1 – Bestseller / Der Jahresbestseller in einer neuen Auflage. Eine brutale Mordserie gibt der Polizei Rätsel auf. Die Opfer sind junge Frauen – attraktive blonde Engel mit blau lackierten Fingernägeln. In den Wohnungen der Toten findet sich stets dieselbe mysteriöse Nachricht: „Ich bin die Sehnsucht, ein Prinz und schön wie die Liebe.“ Die Kommissare Benedikt van Cleef und Robert Hirschau wissen genau: Irgendwo dort draußen bereitet sich der Killer darauf vor, erneut zuzuschlagen. Die junge Katharina ahnt derweil nichts von den fieberhaften Ermittlungen der Polizei - und von der Gefahr, in der sie schwebt …Brutal, eindringlich, faszinierend: Begleiten Sie einen gnadenlosen Killer bei seinen Taten – und sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt!

Trümmer

Das Leben der meisten Menschen

ist eine lange Reihe von Trümmerhaufen.

Jeder Tag mehr Trümmer, und mehr Trümmer,

ein endloser Weg von Haufen Trümmer,

und niemand ist da, sie wegzuräumen,

außer der Tod.

Tennessee Williams

Suddenly, last summer

Prolog

Aachen, 12. Oktober 1944

Seitdem er Kriegsgerichtsrat war, wimmelte es in seinem Terminkalender nur so von Einträgen. Richard Kollmann starrte auf die dicht beschriebenen Zeilen unter dem Datum Freitag, 13. Oktober 1944: 10 Uhr Verhandlung Grabosch, Krasinski, Jansen, Mahler.

Wehrmachtsstreifen, die Jagd auf Plünderer machten, hatten die vier jungen Männer aufgegriffen, und in der alten Kaiserstadt Aachen galt das Standrecht.

Die Schreibtischlampe verlieh dem Arbeitszimmer mit ihrem kalten weißen Licht eine unbehagliche Atmosphäre. Trotz der einschläfernden Wärme, die vom Kohleofen ausging, konnte Kollmann ein Frösteln nicht unterdrücken. Seit amerikanische Einheiten den Aachener Stadtwald bombardierten und der Bodenkrieg den deutschen Westen erreicht hatte, litt er unter starken Migräneanfällen.

Er schloss die Lider und rieb sich heftig die Schläfen, aber der dröhnende Schmerz, der ihm zu schaffen machte, konnte nicht einfach wegmassiert werden. Er öffnete die Augen und schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein.

Auf dem schweren Mahagonischreibtisch stapelten sich die Akten festgenommener Jugendlicher. Er plante, die morgige Gerichtsverhandlung im Eilverfahren mit sofort verkündbarem Urteil zu beenden. Deshalb hatte er die Gerichtsakten der Angeklagten am Vormittag mit größter Sorgfalt studiert.

Durch diese exzellente Vorbereitung würde die Sitzung höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, und es blieb dann immer noch genügend Zeit, um anschließend zu Fuß zum Hotel Quellenhof zu gehen, in das SS-Reichsführer Himmler um zwölf zu einem kleinen Imbiss geladen hatte.

Der schwere Wein und die Opiattablette, die er vor einer Stunde eingenommen hatte, betäubten allmählich den Kopfschmerz. Ein feines Lächeln umspielte jetzt seine Mundwinkel. Die Burschen unmittelbar nach der Verhandlung von einem Exekutionskommando hinrichten zu lassen wäre eine Überlegung wert und würde ganz sicher Himmlers Stimmung heben. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Womöglich brachte es ihm sogar eine Berufung zum Oberlandesgericht ein.

Stille lag über dem feudalen Wohnhaus, das zu den wenigen hochherrschaftlichen Villen gehörte, die bislang von Angriffen verschont geblieben waren. Draußen zogen graue Wolken am fahlen Mond vorbei. Sein Licht sickerte durch die Äste der alten Eiche und warf die Schatten, knöcherne Finger einer alten Frau, auf die Wände des Arbeitszimmers.

Kollmann leerte das Glas mit dem schweren roten Burgunder, löschte das Licht seiner Schreibtischlampe und ging schmunzelnd die Stufen zum Keller hinunter, wo das Vergnügen auf ihn wartete.

Am Freitag, den 13. Oktober 1944, einem bewölkten, kühlen Tag, wurden eine Gruppe junger Soldaten und ein vierzehnjähriger Zivilist wie Rinder bei einer Viehauktion ins Kriegsgericht getrieben.

Zur Vernehmung des achtzehnjährigen Grenadiers Maryam Krasinski, eines jungen Mannes mit kindlich weichen Gesichtszügen, erschien auch seine Mutter Dónya. Man hatte ihr gesagt, dies sei eine reine Routineangelegenheit, die schnell über die Bühne gehen werde.

Sie setzte sich in die letzte Reihe des Gerichtssaals, neben ihr der jüngere Sohn Jánosz und eine junge Frau, die in stummer Verzweiflung ein wimmerndes Baby umklammert hielt.

Dónya Krasinski weinte still in sich hinein, und ihre Augen blickten ausdruckslos zu dem erhöhten, langen Tisch. Noch war er verwaist, noch war kein Urteil über Maryam gesprochen. Als das Tribunal den Saal betrat und kalte graue Augen den Raum überblickten, legte sie unwillkürlich die Hand an ihre Kehle und spürte das Flattern ihres Herzschlags.

Kurze Zeit später wurde ihr Sohn Maryam zum Tode verurteilt.

Maryam Krasinski blieb gelassen, als Kriegsgerichtsrat Kollmann die Entscheidung des Feld-Kriegsgerichts begründete. In einem rüden Ton und heftig gestikulierend wurde die Vollstreckung der Todesurteile für Montag, den 16. Oktober 1944, durch Erschießung am Katschhof anberaumt.

Für einen Moment starrten sie einander in die Augen, der Richter und sein Opfer. Als hätte jemand einen Vorhang weggerissen. Maryam sah in die eiskalten grauen Augen des kahlköpfigen, korpulenten Verhandlungsleiters, dann musterte er die Beisitzer von Kopf bis Fuß: Hauptmann Kemper und Gefreiter Wilhelms und Oberkriegsgerichtsrat Dr. Specke, der Vertreter der Anklage. Er sah eine unbeschreibliche Leere, Trostlosigkeit jenseits aller Verzweiflung, das Böse in vollendeter Form.

Sie sind gar nicht hier, dachte Maryam. Nicht wirklich. Sie schwelgen schon in Phantasien, sie malen sich schon aus, wie sie mich und die anderen töten werden.

Nur der Protokollführer, Gefreiter Nüsker, senkte bei der Urteilsverkündung den Kopf, und Maryam fragte sich, ob der junge Mann, der nicht viel älter sein konnte als er selbst, sich wohl schämte.

In diesem Moment ertönte ein Schrei vom Zuschauerraum her. „Nein! Maryam, nein! O Gott!“

Sein Blick zuckte über die Reihen bis zu seiner Mutter, die sich an seinen Bruder klammerte und haltlos schluchzte. Er presste die Hände zusammen, obwohl er nichts empfand außer absoluter Leere. Zum Tode verurteilt: Worte, die ihm nichts sagten.

„Mama, ich habe nichts getan, ich habe nichts getan! Der Richter hat mir mein Leben versprochen. Ich will nicht sterben, Mama“, rief ein Junge neben ihm und streckte verzweifelt die mageren Arme der eigenen Mutter entgegen. Seine Kraft reichte nicht aus, und sein Schrei erstickte.

Maryam sah ihn an, spürte den Schmerz beim Anblick der frischen Wunden auf seinen Händen, als hätte jemand glühende Zigaretten darauf ausgedrückt.

Ein Beamter des Wachpersonals griff ein und schleifte den Jungen aus dem Gerichtssaal.

In der Nacht schreckte das Wimmern des Häftlings nebenan Maryam immer wieder aus dem Schlaf. Es war Egon Grabosch, der Junge, der in der Verhandlung seine Mutter angefleht hatte.

Vor einem Monat hatte Egon den Bunker in der Oppenhoffallee verlassen, um im Zentrum der zerstörten Innenstadt bei Pfeifen Jansen in der Adalbertstraße Zigaretten zu holen. Er wurde von einer Wehrmachtsstreife aufgegriffen und ins Haus des Richters geschleppt.

„Ich wollte meinem Vater nur eine Freude machen“, schluchzte der Junge, „und ihn mit einer Schachtel Zigaretten zum fünfundvierzigsten Geburtstag überraschen.“

Maryam lauschte dem Lamentieren, aber er merkte sich nur einen einzigen merkwürdigen Satz: Der Richter hat sein Versprechen nicht gehalten.

Er durfte nicht an die Vollstreckung denken, aber natürlich tat er nichts anderes, wie auch Egon Grabosch in der Zelle neben ihm. Er konnte an sonst nichts denken. Er starrte auf die Uhr, beobachtete, wie die Zeit verging, und fragte sich, wann die Gefängniswärter endlich kommen würden, um ihn und die anderen zum Katschhof zu bringen, wo gegen sechs Uhr das Urteil vollstreckt werden sollte. Er konnte die Uhr oben durch den schmalen Fensterschlitz klar und deutlich erkennen. Sie war alt – mit einem runden Zifferblatt, großen schwarzen Zahlen und einem unaufhörlich vorwärtsrückenden roten Sekundenzeiger, der die Zeit dahinticken ließ: Fünf Stunden lang schon, und noch immer gab es keinen Schlaf für ihn.

Langsam ging er auf und ab, von der grauen Westwand zur verschlossenen Tür und zurück, ein kurzer Weg, ein paar Schritte nur. Die ersten ein, zwei Stunden waren gar nicht so schlimm gewesen. Die Wärter waren gekommen, hatten ihm und den anderen Mut zugesprochen und waren eine Weile geblieben. In den letzten Stunden konnte man den Verurteilten ein wenig freundlicher entgegentreten.

Er kaute an den Fingernägeln und beobachtete dabei die Uhr. Mit jeder weiteren Stunde wurde es schlimmer. Worüber denken andere Menschen nach, fragte er sich, während sie auf den Tod warten?

Zwei Wachen, die er noch nicht kannte, gingen schnell an seiner verschlossenen Tür vorbei. Sie schauten durchs Sichtfenster, wollten einen Blick auf ihn erhaschen. Er spürte die heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hing, schmerzhaft wie stechende Dornen. Die Wachen warteten genauso auf die Vollstreckung des Urteils wie er. Alle wollten es hinter sich haben. Er legte beide Hände an die Wand und fühlte die kühle Betonstruktur. Zu Mittag hatte er einen Apfel gegessen, das Einzige, was er hatte zu sich nehmen können. Der süße Saft war ihm übers Kinn gelaufen, und er hatte ihn nicht abgewischt. Stattdessen hatte er sich an die Zellenwand gelehnt, die Augen geschlossen und den Apfel verschlungen, als hätte er noch nie zuvor einen gegessen.

Maryam dachte über glücklichere Zeiten nach, Zeiten, in denen er verliebt war, wirklich verliebt. Er hatte Ludmilla im Gerichtssaal gesehen, mit dem Baby im Arm.

Er malte sich aus, wie er mit ihr eine Bergwanderung machte und sie wegen eines Gewitters in der Hütte Schutz suchten. Jene Hütte, wo vor einem Jahr in einer leidenschaftlichen Umarmung das Kind gezeugt worden war. Damals hatte der Geruch von Humus und Baumrinde in der Luft gelegen. Sie habe eine so unbekümmerte Art, ihr Gang sei so leicht und schwungvoll wie der eines jungen Mädchens auf dem Weg zu einem heimlichen Abenteuer; jeder könne ihr ansehen, dass an diesem Tag nichts Schlimmes geschehen werde, hatte er ihr gesagt. Unbekümmert, leicht und schwungvoll – Worte, die ihm nur selten in den Sinn kamen. Er würde sie und sein Baby niemals wiedersehen.

Er schloss die Augen und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Seine Fäuste gruben sich in seine Beine. Jetzt, in diesem Augenblick, wollte er an Gott glauben.

„Rette mich, Gott“, betete er. „Bewahre mich vor diesem Tod.“

Doch das Einzige, was ihm die Stille der Nacht gab, war eine Beklommenheit, die seine Brust aushöhlte. Vielleicht genau das, was ich verdiene, dachte er.

Durch das schmale Fenster sah er auf die Uhr. Eine weitere Stunde war vergangen. Er wollte schreien. Über sein Schicksal, sein Leben und das Leben der anderen hatten fünf Männer in fünf Minuten entschieden. Ihr Urteil: Tod durch ein Exekutionskommando.

Obwohl er erst achtzehn Jahre alt war, hatte er doch im Laufe der Jahre gelernt, dass sich Gerechtigkeit in diesen Zeiten nicht durchsetzen konnte. Er legte seine Stirn an die Wand um der Kühlung willen; die kalten Steine wirkten besänftigend und brachten seinem Gesicht, das wieder einmal zerschunden war, ein wenig Erleichterung.

Die Wände knackten lauter als sonst, die Lüftungsschlitze und Leitungsschächte schienen aktiver zu sein, Dinge bewegten sich, trudelnd und sinkend wie Plankton in einem Teich.

Draußen entfernten sich Schritte. Er hörte das Knirschen des Kieses, das Quietschen des Flügeltors. Dann war alles wieder ruhig.

Am Sonntag, dem 15. Oktober 1944, wurde der bewusstlose Maryam Krasinski von zwei Beamten der Justizvollzugsanstalt Aachen auf einer Pritsche aus seiner Zelle getragen und in den Keller der Villa in der Ludwigsallee gebracht. Niemand sah etwas, niemand hörte etwas, auch der vierzehnjährige Egon Grabosch nicht.

Am Nachmittag erwachte Maryam Krasinski in Kollmanns Keller aus einem seltsamen Traum. Er erinnerte sich schwach an die Injektionsnadel, die seine Haut kurz vor Sonnenaufgang durchbohrt hatte, und an zwei Gestalten in Uniform, die ihn auf einer Bahre hierhergebracht hatten.

Er lag auf einem alten Bett, Arme und Beine waren an den Stahlrahmen gefesselt. Ein modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Er öffnete die Augen. Auf dem Bett saß Kriegsgerichtsrat Kollmann. Er trug einen schwarzen Morgenmantel mit wappenartigen Emblemen. Maryam spürte sein Gewicht auf der Matratze, seine Hitze und seine wulstigen Finger, die ihn berührten, und er wusste nicht, ob er wach war oder noch träumte, und setzte zu einem Schrei an.

Kollmann hielt ihm den Mund zu und lächelte. „Schhh ...“

Maryam wand sich, seine Augen starrten den Mann im Morgenmantel an, bis er sicher war, dass Kollmann ihm nichts tun würde. Noch nicht. Er nickte.

Kollmann nahm die Hand von seinem Mund. „Du bist süß“, flüsterte er.

Maryam warf einen Blick auf die anderen Männer, die nacheinander den Kellerraum betraten. Sie tranken Whisky aus Flaschen und versammelten sich um das Bett. Er erkannte die Besetzung des Tribunals: Anton Kemper, ein untersetzter Mann mit blauen Hosenträgern auf nackter Haut; Karl Nüsker, hager und steif, mit dunklen Augen unter buschigen Brauen, die ihn seltsam ansahen; Edgar Wilhelms, hohe, gerundete Stirn, perfekt geformte Nase, kantiges Kinn, ironisches Lächeln; Dr. Rüdiger Specke, blondes, immer perfekt gekämmtes Haar, das die dunkelbraunen Augen hervorhob, die wie Steine in einem Flussbett glänzten.

„Seht mal, wie süß er ist! Er ist ein rebellischer Junge. Wir werden viel Spaß mit ihm haben“, sagte Kollmann heiser und lachte laut auf. „Keine Sorge. Er wird alles mitmachen, schließlich hängt sein Leben davon ab.“

Maryam erfasste das Ungeheuer in Kollmanns Augen, wie schon zwei Tage zuvor bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal. Er zitterte, aber nicht aus Angst. Er sah, wie Kollmann sich zu ihm herabbeugte. Der Richter küsste seine Lippen und kostete den Geschmack seines Mundes. Hinter seinem Bein blitzte etwas auf, das Maryam nicht richtig erkennen konnte. Eine Zange? Ein Messer?

Kollmann sagte etwas, so leise, dass er ihn kaum hörte. Maryam spürte erneut eine Welle der Müdigkeit herandonnern, spürte, wie sein Körper von einer Strömung weggerissen wurde, weit hinaus aufs offene Meer.

Finger berührten den oberen Rand des Lakens und hoben es an. Es roch nach Seife. Kriegsgerichtsrat Kollmann streckte ihm aus der Nacht seine Arme entgegen wie ein Ertrinkender aus dem dunklen Meer und verkündete ein zweites Mal das Urteil. Die Beisitzer Hauptmann Kemper, Gefreiter Wilhelms und der Vertreter der Anklage, Oberkriegsgerichtsrat Dr. Specke, legten ihre Kleidung ab. Maryams Rücken straffte sich, er sah nur ihre bleiche, schlaffe Haut. Dann hörte er im Hintergrund ein Geräusch. Eine Kamera lief, und er erkannte den Mann, der sie bediente.

Maryam wusste auf einmal: Er hatte die Wahl. Der Junge in der Zelle, Grabosch, hatte es herausgeschrien. Er nickte und verdrängte die aufkommenden Tränen.

Kurz vor Morgengrauen, am Montag, dem 16. Oktober 1944, verließ Maryam Krasinski das Haus in der Ludwigsallee 25 als freier Mann.

Freiheit!, dachte er verächtlich. Was war das schon? Er würde nie wieder frei sein. Freiheit für ihre Taten, Freiheit für ein Versprechen, das sie ihm abgenommen hatten, Freiheit für sein Stillschweigen, für eine Stunde Vorsprung, bis sie die Gestapo auf ihn hetzten, wie es Egon Grabosch widerfahren war.

Im Zeitraffer fluteten die Bilder vorbei: Gummihandschuhe, Handschellen, mit denen er ans Bett gefesselt wurde, der Knebel, um ihn am Schreien zu hindern, ein blutgetränktes Laken. Moosbewachsene, schimmelige Wände – die Männer, ihre Schweißabsonderungen, ihr Urin, ihr Kot, ihr Sperma und Blut, überall Blut, sein Blut.

Er zwang sich, ruhig ein- und auszuatmen, und starrte zum blassen Mond hinauf. Dann schloss er die Augen und glaubte den Chorgesang im Aachener Dom zu hören. Seine Melodie hatte diese steinerne Welt, die unter den Wogen der Kriegszeit lebte, niemals verlassen. Der Himmel war seltsam klar. Alles ist in Ordnung. Das Leben geht weiter.

Maryam Krasinski dachte an den Gefreiten Nüsker, einen jungen Mann in seinem Alter, der in der vergangenen Nacht die Filmkamera bedient hatte, während das Kriegstribunal seine perversen Neigungen ausgelebt und ihn gedemütigt, geschändet und misshandelt hatte. Und jetzt irrte er mit pochendem Schädel in der Morgendämmerung durch die Straßen von Aachen.

Am Katschhof sah er, wie drei Jungen mit verbundenen Augen an die Wand gestellt wurden. Er erkannte in einem von ihnen Egon Grabosch wieder. Ein Wehrmachtsexekutionskommando machte sich bereit. Jemand gab den Befehl: „Feuer.“ Die Jungen fielen zu Boden, aber Egon stand wieder auf, anscheinend war er nur von einem Streifschuss getroffen worden. Er lief noch wenige Meter, dann kam ein junger Offizier und gab ihm den „Gnadenschuss“.

Er sah, wie zwei Geistliche die toten Körper in Decken hüllten und fortbrachten. Dann ging auch er.

Maryam Krasinski verspürte das Verlangen nach Rache. Er spürte Rastlosigkeit, die ihn niemals wieder zur Ruhe kommen lassen würde. Diese Nacht würde ihn unerbittlich verfolgen, und es gab für ihn keinen Zufluchtsort, an dem die Spuren seiner Qual verwischen würden. Sie würden ewig in sein Herz gegraben sein.

Er irrte durch die Stadt, bis er zwischen den Ruinen am Adalbertsteinweg erschöpft zusammenbrach.

Kapitel 1

München, 28. September 2006

Seit sechs Jahren litt sie nun schon unter diesen Gedächtnisstörungen, ein Zustand, dessen sich Anna Gavaldo immer dann bewusst wurde, wenn sie mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert wurde. Die Schatten kamen neuerdings in der Nacht vor einer Therapiesitzung und hatten immer die unscharfe Kontur jenes Mannes, der sie vor sechs Jahren in einem Kellerraum eingesperrt hatte. Aber sie erkannte ihn nicht und hatte keine Erinnerung an das Geschehen in diesem dunklen Raum.

„Retrograde Amnesie“ nannte ihr Psychotherapeut dieses Krankheitsbild. Prof. Jörg Kreiler war nicht nur eine Kapazität auf dem Gebiet der Neurochirurgie, sondern genoss auch einen ebenso hervorragenden Ruf als Psychiater, und nicht zuletzt war er ihr Freund und besaß seit vielen Jahren Annas Vertrauen.

Heute drängten sich ihr die Schatten förmlich auf. Donnerstag, der 28. September 2006. Jörg – so stand es im Terminkalender: ein Schattentag.

Am Morgen war sie schon um halb sieben aufgestanden, hatte den Küchenschrank aufgeräumt und das Frühstück gemacht. Und nachdem Max mit ihrer sechsjährigen Tochter Katharina das Haus verlassen hatte, hatte sie im Badezimmer mit einem Schwung den Inhalt des Medikamentenschränkchens in den Abfalleimer gefegt und danach den Spiegel geputzt und gedacht: Ich brauche das alles nicht mehr, nicht das Valium, nicht das Lexotanil, nicht das Aspirin und nicht das Trevilor. Diese Pillen umnebelten nur ihr Hirn. Ihre Seele schützte sich durch das Vergessen jener grauenvollen Tage, die sie in der Gewalt eines Psychopathen verbracht hatte. Sie fühlte sich heute Morgen klar und frisch wie ein sprudelnder Wasserfall. Wozu also all diese Pillen?

Den traumatischen Erlebnissen war eine Zeit des Glücks gefolgt, das Glück, das ihr die Geburt ihrer Tochter schenkte, und eine Zeit der Zärtlichkeit, in der die Angst sich verflüchtigte. Auch das Studium an der Kunstakademie hatte ihr viel Freude bereitet, besonders, seit sie nach ihrem Abschluss jeden Dienstag Zweitklässler unterrichtete. Außerdem war sie bereit für ein zweites Kind. Sie war richtig eifersüchtig auf den Babybauch ihrer Freundin Mathilda, die in wenigen Wochen Zwillinge zur Welt bringen würde. Aber die Pillen würden kein heranwachsendes Wesen in ihrem Körper zulassen.

Anna seufzte. Warum hatte sie neuerdings dieses seltsame Gefühl, ihr Leben könnte entgleisen? Vielleicht, weil sie die Medikamente ohne Jörgs Zustimmung allmählich abgesetzt hatte. Ob ihr Körper und ihr Geist den Entzug nicht verkrafteten? Die Zwerge in der Schule hatten eine Antenne für ihre Stimmungsschwankungen. Die Kinder schauten sie hin und wieder mit seltsamen Augen an, besonders dann, wenn sie ihrer Lehrerin eine Frage stellten und keine Antwort bekamen. Es gab Momente, da hörte sie das Kinderlachen, die niedlichen Stimmen, aber sie hörte nicht, was die Kleinen sagten, sondern nur das Sausen in ihren Ohren.

Sie durfte die Vergangenheit nicht an sich herankommen lassen, und insbesondere durfte sie Max nicht mit ihren Hirngespinsten belasten – ihren Mann mit dem energischen, scharf geschnittenen Gesicht, den intelligenten dunkelbraunen Augen; Max, der Geist und Körper immer unter Kontrolle hatte. Er hatte genug um die Ohren, sie durfte ihn nicht belasten. Nach dem Tod seiner Eltern, die vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, hatte er die Leitung des Mailänder Pharmakonzerns Biocell übernommen und ihr zuliebe die Verwaltung nach München verlegt. Die Produktionsstätte der gentechnologisch hergestellten Pharmaka befand sich nach wie vor in Mailand, doch Max spielte mit dem Gedanken, sie nach Polen zu verlegen.

Schade, dass Max und Jörg sich nicht so gut verstanden. Jörg war nur selten Gast im Haus, denn Max mochte ihn nicht besonders.

Sie lächelte. Vielleicht war ihr Ehemann eifersüchtig auf diesen attraktiven Arzt, der damals ihrer Schwester Katharina den Kopf verdreht hatte. Aber Jörg hatte ihr geholfen, vielleicht auch deshalb, weil er mit ihrer Schwester befreundet gewesen war, bevor sie ums Leben kam. Oder vielleicht, weil sie ihn an Katharina erinnerte.

Jörg Kreiler war ihr Psychiater, ihr Anker und ihr Freund. Er brachte sie dazu, sich wirklich gut zu fühlen und sich den Dämonen ihrer Träume zu stellen, die ihr ständig auflauerten; mit seiner Hilfe würde sie sie vertreiben, und ab sofort auch ohne Psychopharmaka. Heute würde sie nicht den Wagen nehmen, ihr war nach S-Bahn zumute.

Als sie den Eingangsschacht der S-Bahn-Station hinunterging, wehte ihr von der Treppe ein Geruch verborgener Orte entgegen, modriger Untergrundstaub, den die Dunkelheit verströmte und der sie an den Raum erinnerte, in dem Jakob sie vor Jahren eingeschlossen hatte. Nur allzu gut erinnerte sie sich an den unheilvollen Klang seiner Stimme. Ihr Körper nahm immer wieder feinste Anpassungen vor, glich jede Veränderung ihres Geistes in Geschwindigkeit und Richtung aus, wenn Erinnerungen wie Blitze aufzuckten. Und wenn sich ihr Gehirn aus Jakobs frostiger Umklammerung befreite, gab es jedes Mal einen Moment, in dem ihr Kopf sich absolut rein anfühlte. Das war den Schmerz der Erinnerung wert – dieses Gefühl, diese süße, verschwommene Erlösung.

Einmal hatte sie Mathilda gefragt, ob sie dieses Gefühl kenne, ob sie wisse, was sie meine, aber die Freundin hatte ihr nur einen eigenartigen, besorgten Blick geschenkt und sich später sogar über ihre Frage lustig gemacht.

Nicht so Jörg Kreiler. Der verstand sie vollkommen.

Jörg Kreilers von einem kleinen Eichenbestand abgeschirmte Villa, in der die privaten Praxisräume untergebracht waren, befand sich am oberen Ende der Rudliebstraße.

Als Kreiler die Klingel hörte, fuhr er auf. Anna!

Er holte tief Luft und atmete aus, dann ging er zur Sprechanlage. Er wusste, dass sie es war, aber er wusste auch, dass die Form gewahrt werden musste.

Er sprach in das Metallgitter. „Ja?“

Die Antwort folgte fast augenblicklich, hell und melodisch. „Ich bin’s, Anna. Hallo, Jörg. Anna hier.“

Er hörte ihrem Tonfall an, dass sie ihre Medikamente nicht genommen hatte.

„Du bist pünktlich auf die Minute“, entgegnete er. „Komm herein.“

Er wartete neben der Tür, hörte ihre Schritte auf den steinernen Treppenstufen, ein leises Klack–Klack–Klack, das lauter und lauter wurde, bis plötzlich nichts mehr zu hören war. Als er öffnete, machte Anna einen Schritt zurück, verblüfft über das abrupte Öffnen.

„Mein Gott, hast du mich erschreckt!“ Dann lächelte sie, entspannte sich und trat ein.

Er hielt einen Moment inne und musterte sie von oben bis unten, bemüht, nicht allzu aufdringlich zu erscheinen. Es fiel ihm schwer, sie nicht zu umarmen.

Anna legte die Stirn in Falten. „Jörg, ich muss mit dir reden.“

„Deswegen bist du ja hier. Setz dich doch. Wir sollten uns über deine Therapie unterhalten.“

„Mir ist etwas Merkwürdiges passiert. Es geschah, als ich heute Mittag auf dem Weg zur Schule war. Ich wollte Katharina abholen. Es war doch heute ein ganz gewöhnlicher Tag. Ich ging die Straße entlang, und alles war wie immer. Ich dachte an nichts Besonderes, nur an Entscheidungen und Termine und was ich als Erstes erledigen müsste, als ich plötzlich die Stimme eines Mannes hörte.“

„Was sagte er?“

„Ich liebe dich, Anna. Es war seine Stimme, Jörg. Ganz sicher. Es war Jakobs Stimme.“ Tränen standen in ihren Augen.

Er beugte sich näher zu ihr. „Was hast du dann gemacht?“

„Ich blieb stehen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich tatsächlich umdrehte oder nicht, aber ich sah – nein, ich sah es nicht, ich spürte es irgendwie … Es hat keinen Sinn, ich kann es nicht genau beschreiben, aber ich hatte dieses ungeheuer starke Gefühl – nein, mehr als das, ich wusste es. Er war neben mir. Jakob stand neben mir, sah mich an und lächelte. O Anna, sagte er, ich habe dich wirklich lieb.“

„Und was hast du dabei empfunden?“

„Zunächst gar nichts, aber dann sagte er: Es ist ein wundervolles Gefühl. Glücklich, stolz, erhaben …“

„Was hast du geantwortet?“

„Ich antwortete: Ich hab dich auch lieb.“ Sie brach in Tränen aus.

Er reichte ihr Papiertaschentücher und nahm ihre Hand. Er musste sich beherrschen, sie nicht in den Arm zu nehmen und sie zu küssen. „Hm … Und dann?“

„Dann klickte es in meinem Kopf, und alles war wieder beim Alten. Ich dachte, das kann nicht passiert sein. Ich glaube nicht an Gespenster, und Jakob lebt nicht mehr. Er ist seit sieben Jahren tot, erschossen von Benedikt van Cleef.“

Was geht verdammt noch mal wirklich in deinem hübschen Köpfchen vor, Anna?

„Manchmal sitze ich in einem Café an der Theke, doch ich achte nicht auf die Menschen und den Lärm um mich herum. Ich trinke meinen Kaffee aus, diesen lauwarmen und bitteren letzten Schluck in der Tasse, dann greife ich nach einer Zeitschrift, die auf dem Tresen vor mir liegt, und erlebe Ähnliches. Ich blicke in den Spiegel hinter dem Tresen und sehe ihn.“

„Versuch mir deine Gefühle zu erklären. Was, glaubst du, könnte es bedeuten, wenn du mir sagst: Es war ein wundervolles Gefühl. Glücklich, stolz, erhaben?“

„Ich glaube, meine Erinnerung kehrt zurück. Ich habe Angst davor und weiß nicht genau, was sie bei mir auslösen könnte. Vielleicht stürze ich ab.“

„Es gibt Menschen in deinem Leben, die dich auffangen werden.“ Er tupfte die Tränen von ihrem Gesicht.

Anna beruhigte sich ein wenig. „Du auch?“, fragte sie schelmisch.

„Ganz besonders ich. Aber so weit sind wir noch nicht.“

„Ich möchte dich etwas fragen. Wäre es hilfreich, mir die Aufnahmen von damals zu zeigen? Wenn du Benedikt van Cleef um die Tatortfotos bitten würdest, wird er sie dir zukommen lassen.“

„Und du möchtest sie mit mir gemeinsam ansehen?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Was hält Max von dieser Idee?“

„Er weiß nichts davon, und das ist auch gut so.“

„Warum?“

Jörg hatte das Gefühl, sie könne jeden Moment erneut in Tränen ausbrechen.

„Jakob benutzte den Namen meiner Schwester, den ich unserer Tochter gegeben habe. Katharina, die Glückliche, die Stolze, die Erhabene.“

„Du glaubst immer noch, Katharina ist Jakobs Tochter?“

„Ja.“

Erneut nahm er ihre Hand. „Anna, der Gentest war eindeutig. Max ist Katharinas Vater.“

„Vielleicht wurde der Test manipuliert.“

Er sehnte sich danach, sie in den Arm zu nehmen, sie zu trösten und ihr zu sagen: Jakob ist tot. Mausetot.

„Und da ist noch etwas. Manchmal glaube ich, dass er mich Katharina nennt. Und dann habe ich das Gefühl, ich bin Katharina und nicht Anna …“

Kreiler stand am Fenster und blickte ihr nachdenklich hinterher, als sie rasch in Richtung S-Bahn-Station ging. Seufzend setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete das Diktiergerät ein.

„Heute ist Donnerstag, der 28. September 2006, sechzehn Uhr. Anna Gavaldo war in meiner Praxis …“

Aber da meldete sich sein Piepser, und dreißig Minuten später stand er am OP-Tisch, um einem Patienten mit einer frischen Hirnblutung das Leben zu retten.

Erst gegen Mitternacht, zurück in der Villa, konnte er seinen Gedanken freien Lauf und das Gespräch mit Anna Gavaldo Revue passieren lassen.

Mit den angewandten Psychoanalysen der vergangenen Wochen hatte er in ihrem Gehirn einen Prozess in Gang gesetzt, den er in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte.

Er hatte schon häufiger versucht, sie zu verstehen, dabei aber festgestellt, dass er sie nur schwer erreichen konnte. Er wusste, dass ihr Trick des Abtauchens nur dem Eigenschutz diente, da sie sehr sensibel und verletzbar war. Sie scheute offene Auseinandersetzungen, selbst wenn sie völlig harmlos waren. Anna ließ Gefühle seit jenen Ereignissen nicht mehr nach draußen. Ihre Scheu, der nackten Wahrheit ins Gesicht zu sehen, ließ ihre Phantasie gedeihen. Sie lebte manchmal sogar völlig in einer Traumwelt, bis sie vom Alltag wieder eingeholt wurde.

Ihre Schwester Katharina war da ganz anders gewesen. Sie war ein sinnlicher Mensch und – wie er – allen schönen Dingen des Lebens zugetan. Sie war eine Genießerin, hatte Geschmack und hatte als Krankenschwester hart gearbeitet. Geduld war ihre Stärke, doch manchmal konnte das bei Katharina auch in Sturheit ausarten. Sie hatte sich immer gerne Zeit gelassen und wollte ihren eigenen, natürlichen Rhythmus finden.

Sie war keine Träumerin wie Anna, sie konnte sehr realistisch sein, deshalb war Katharina für ihn der Fels in der Brandung gewesen, an dem er sich orientiert hatte. Auch er strebte nach Besitz und Sicherheit. Katharina war sein Eigen gewesen, und er hatte sie nie mehr hergeben wollen.

Katharina … Wenn seine Gedanken sie umkreisten, legte sich die Einsamkeit wie ein schweres Tuch auf ihn und erinnerte ihn an jenen schicksalsträchtigen 27. Oktober 1995, der ihm bewusstgemacht hatte, dass er seit Katharinas Ermordung aufgehört hatte zu leben.

München, November 1995

Das Büro des Beerdigungsinstituts Borowski war spartanisch eingerichtet: ein schlichtes Kreuz an der weißen Wand, ein einfacher Schreibtisch aus Nussbaum und ein grauer Teppichboden, der die Schritte dämpfte.

Die Schreibtischlampe unterstrich mit ihrem kalten Licht die schaurige Atmosphäre, und Dr. Jörg Kreiler konnte ein Frösteln nicht unterdrücken. Auf dem Schreibtisch stapelten sich die Akten, die der Mann dahinter rasch beiseiteschob, als Jörg sich setzte.

Lothar Borowski begrüßte ihn mit einem wohlwollenden Blick. Jörg schätzte den Bestattungsunternehmer in seinem dunklen Anzug auf mindestens siebzig, vielleicht älter, aber seine rosafarbene Haut strahlte vor Gesundheit. Sein kahler Schädel hatte unter der grauen Beleuchtung etwas mondähnlich Imposantes. Die tiefschwarze Fliege hing auf eine Weise schief, die vermuten ließ, dass er sich in Windeseile für seinen Gast umgezogen hatte.

Borowski führte ihn schweigend in die Kapelle. Während sie stumm nebeneinander hergingen, dachte Jörg an die drei Worte, die seine Welt hatten einstürzen lassen. Drei Worte, die Katharinas Mutter in den Telefonhörer gesprochen hatte. Nein, es waren vier Worte gewesen: „Katharina ist tot. Ermordet.“ Und nach einer kurzen Pause am anderen Ende der Leitung: „Kommst du zur Beerdigung? Ihre Leiche wird in etwa vier Tagen freigegeben.“

Er hatte den Hörer aufgelegt und danach und auch später das Telefon immer wieder läuten lassen. Wie konnte sie ihre Tochter bloß so nennen? Ihre Leiche statt einfach nur Katharina.

Eine Leiche hatte keinen Namen, keine Konsistenz, keine Wünsche. Für sie würde sich nichts mehr ereignen. Sie würde nie mehr zu irgendetwas ihre Meinung sagen, nie mehr von ihrem Schmerz sprechen. Aus Katharina war eine unbewegliche starre Hülle geworden, für die nichts mehr eine Rolle spielte, auch er nicht.

Als Arzt wusste er, was man in einem Leichenschauhaus mit einem Körper nach der Obduktion machte. Außer dass man sie in ein Kühlfach legte oder sie beiseitestellte, bis jemand sie abholte, geschah nichts mit ihr. Gar nichts.

Und jetzt war er hier in Borowskis Beerdigungsinstitut und wollte vor der morgigen Beisetzung Abschied von seinem Mädchen nehmen. Er glaubte, im Hintergrund dezente Musik zu hören. Oder war es Katharina, die, von weichem Samt umgeben, in dem Mahagonisarg lag und seinen Namen rief? Es klang wie ein süßes, weit entferntes Lied.

Sein Herz pochte. „Öffnen Sie bitte den Sarg.“

Lothar Borowski sah ihn entsetzt an. „Morgen ist die Bestattung. Ich habe alles Mögliche getan, sie einigermaßen für die Beerdigung vorzubereiten. Dennoch ist es kein schöner Anblick. Wollen Sie sich dem wirklich aussetzen? Ich könnte das Licht noch mehr dämpfen.“

„Bitte.“ Seine Stimme klang tonlos.

Borowski hob den Deckel und trat mit gesenktem Kopf, die Hände respektvoll gekreuzt, einige Schritte zurück.

Jörg holte kaum wahrnehmbar Luft. Er wusste, was der Tod bedeuten konnte, doch zwischen dem natürlichen Ableben und diesem Tod stand eine Bestie, die ein blühendes Leben auf grausame Weise ausgelöscht hatte.

Sein Herz galoppierte. In seinem Kopf hallten Katharinas Schreie durch die Nacht, begleitet vom Singsang ihres Mörders. Er hörte ihr unaufhörliches Weinen, ihr krampfhaftes Schluchzen während der Vergewaltigung, ihr Flehen, sie nicht zu töten.

Er nahm eine Haarsträhne in die Hand und flüsterte leise: „Meine Liebe.“

Dann drehte er sich abrupt um, ging zum Eingang der Kapelle und nahm am äußersten Ende einer Reihe von Klappstühlen Platz. Er blickte auf seine im Schoß gefalteten Hände. Tief in seinem Inneren spürte er das Zittern, von dem er gehofft hatte, es würde nachlassen, wenn er sich einen Moment hinsetzte. Der Tod seiner Mutter hatte ihn tief berührt, doch der Schmerz, den er heute empfand, war unvergleichbar größer. Er griff in die Tasche seines Sportsakkos und tastete nach den blauen Beruhigungstabletten: Valium 20.

Er rutschte auf seinem Stuhl herum und blickte auf, als ein Mann die Kapelle betrat. Auch Borowski wunderte sich über das Erscheinen des Fremden. Der Mann blieb steif an Katharinas Sarg stehen, die Hände gefaltet, während seine Augen herumhuschten. Augen, in denen nur kalte Gleichgültigkeit lauerte. Jörg hörte, dass der Fremde kurz mit Borowski sprach. Die Worte bedeuteten nichts.

Für einen Moment schloss Jörg die Augen und konzentrierte sich auf die flüsternden Geräusche, doch er hörte nur das pfeifende Dröhnen in seinem Kopf und den leisen Hauch seines Atems.

Sein Mädchen war tot. Vorher war ihm alles hell, strahlend und leicht erschienen. Er hatte sie grenzenlos geliebt, Katharina war ihm unsterblich erschienen. Jetzt hatte sie ihn verlassen, zurückgelassen mit seiner Sehnsucht. Sie hatte nicht auf ihn gewartet, es gab kein Auf Wiedersehen, keinen Abschiedskuss. Er konnte nur abwarten, wie es ohne sie weitergehen würde. Konnte es überhaupt weitergehen? Jeder kehrte nach der Beerdigung in sein Leben zurück. Und Anna? Wie würde sie mit dem Tod ihrer Schwester umgehen? Die süße Anna erinnerte ihn so sehr an Katharina. Merkwürdig, dass ihm diese Ähnlichkeit mit einem Mal so quälend bewusst wurde.

Er beobachtete den Fremden, der sich nun vom Sarg entfernte.

Was wäre, wenn Katharinas Mörder hier auftauchen würde, fragte er sich. Was brütete ein krankes Hirn nach einem Mord sonst noch aus? Vielleicht, sich an dem Anblick ein letztes Mal aufzugeilen?

Als er die Kapelle verließ, rannte er beinahe in Katharinas Jugendfreund Severin Corelli hinein, der wohl auch in aller Stille Abschied nehmen wollte. Plötzlich hielt Severin inne und drehte sich nach ihm um. Seine Augen blickten vorwurfsvoll. Wollte er ihm damit sagen, dass er Katharina im Stich gelassen hatte?

Er wandte sich ab, um diesen Augen zu entgehen, die ihn aus einem fremden Gesicht anstarrten.

Die Gegenwart der Villa holte ihn wieder ein. Er biss die Zähne zusammen und atmete langsam und konzentriert durch. Dann drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus, ging ins Schlafzimmer, öffnete die Schublade seiner Kommode und nahm Katharinas Glasperlenkette heraus, die Anna ihm vor Jahren geschenkt hatte. Sie war zerrissen. Er hielt die kleinen Kugeln lose in der Hand und ließ sie durch seine Finger gleiten.

Die Geister der Vergangenheit hatten noch immer Macht über ihn. Er hatte beim Anblick von Katharinas Leiche alles verloren. Warum musste sich ihr Mörder Jahre später ein neues Opfer suchen und sich ausgerechnet an ihrer Schwester Anna austoben? Sie wäre damals beinahe unter seinen Händen gestorben. Wenigstens hatte er ihr Leben retten können. An diese tröstliche Tatsache klammerte er sich so lange, bis sein Alter Ego ihn hämisch auslachte. Was für eine durchsichtige Verdrängungsstrategie!

An Schlafen war nicht zu denken. Er litt an Schlaflosigkeit, die seine Wahrnehmung allmählich auch tagsüber trübte. Und sobald er eindöste, sah er heute wie damals immer wieder in schauderhafter Deutlichkeit Katharinas zertrümmertes, in einer Blutlache liegendes Gesicht. Daran hatte sich nichts geändert, auch nicht, nachdem er Anna das Leben gerettet hatte. Dieses halluzinatorische Bild wirkte echt bis in die Details, selbst den Stoff ihrer Bluse oder die Form des Blutflecks hätte er genau beschreiben können.

Um die quälenden Gedanken loszuwerden, versetzte er sich in Trance und regredierte sich mit aller Kraft in eine bessere Welt: tropische Sonnenuntergänge in der Karibik, wo von dunkelgrünen, fleischigen Blättern der Regen tropfte und die Lianen bis auf den Boden hingen. Ein Papagei flatterte krächzend davon, Katharina berührte ihn. Sie sagte mit dieser sanften Stimme, die ihn so erregte, dass sie verrückt nach ihm sei, nach seinem Haar, nach seinem Mund, nach seinem Lachen, seinem Körper …

Er drehte sich auf die Seite und klemmte die dünne Bettdecke zwischen die Knie. „Katharina …“

Endlich übermannte ihn der Schlaf.

Kapitel 2

Rom – 22. September 2006

Seine langen, makellosen Finger umspielten Stein für Stein die Mauer der Aussichtsplattform der Villa d’Este. Unten auf den Kieswegen des Tivoli-Gartens eilten Menschen wie Ameisen von Brunnen zu Brunnen. Er fragte sich, ob Pirro Ligorio, der den Park für die Familie d’Este angelegt hatte, sich wohl je hätte träumen lassen, dass er eines Tages damit Millionen von Touristen erfreuen würde.

Die Villa d’Este lag ein Stück nordöstlich von Rom, an die Sabiner Hügel geschmiegt. Er war schon oft dort gewesen, und jedes Mal hatte es ihm besonderes Vergnügen bereitet, auf dem höchsten Plateau zu stehen und auf die sprudelnde Vielfalt der Springbrunnen herabzublicken, alle derart raffiniert angelegt, dass keiner dem anderen glich.

Alles sollte ganz schnell gehen – wie immer. Die Aussichtsplattform der Villa eignete sich vortrefflich für geheime Übergaben. Hier, mehr als 200 Meter über den Tivoli-Gärten, würde Pawel Kubanek, den alle nur den Polen nannten, niemandem begegnen, den er kannte. Nur Touristen nahmen die Anstrengung von dreihundertsiebenundzwanzig Stufen in Kauf, um den Ausblick auf die sprudelnden Brunnen zu genießen. In Rom kannte er jeden Winkel, er hatte hier einige Jahre gelebt.

Die Auftraggeber waren mit seiner Arbeit zufrieden. Pawel Kubanek wusste, dass er einer der besten Auftragskiller Russlands war. In den letzten Jahren war die RAK, eine russische Organisation fragwürdiger Charaktere, immer mächtiger und einflussreicher geworden. Das Drogen- und Geldwäschegeschäft sowie der Menschenhandel wurden ausgeweitet. Sexuelle Ausbeutung und die Entnahme und der Handel mit Organen waren zwar ein gefährliches, aber auch ein sehr lukratives Geschäft.

Er tötete Menschen, die der RAK gefährlich werden konnten. Häufig kamen seine Opfer aus dem Rotlichtmilieu: Zuhälter, die Verrat begingen; eine Prostituierte, die ihren Mund nicht halten konnte; ein Dealer, der die Jugendlichen auf dem Kinderstrich mit verunreinigtem Heroin der Konkurrenz versorgte. Hin und wieder erhielt er sogar den Auftrag, Persönlichkeiten aus Politik oder Wirtschaft aus dem Weg zu räumen.

Sie alle waren wie die Bösen in den Märchen, die seine Mutter ihm an den kalten Winterabenden unter Moskaus Brücken erzählt hatte. Er fürchtete sich nicht in den dunklen, undurchdringlichen Wäldern ihrer Seelenlandschaft, sondern tötete sie mit grausamer Effizienz und ohne jegliche Gefühlsregung.

Manchmal ließ er seine Opfer Blut schmecken, das er ihnen zu trinken gab, ihr eigenes Blut. Ihre Schreie hallten dann in seinem Kopf nach und verbanden sich mit den pochenden Schlägen seines Herzens.

Er wischte sich mit einer eleganten Handbewegung eine silberblonde Strähne aus dem Gesicht.

„Dein Name!“, forderte plötzlich eine Stimme neben ihm.

„Pole. Nenn mich einfach nur Pole“, flüsterte Pawel Kubanek, ohne sich zur Seite zu wenden.

Unauffällig schob der Mann ihm einen braunen Umschlag zu, den er geschickt in die Innenseite seines Mantels wandern ließ. Dann verschwand der andere genauso unauffällig, wie er gekommen war.

Auch Pawel verließ die Aussichtsplattform, um in sein Hotel zurückzukehren. Es lag nicht weit entfernt vom Tivoli-Garten.

In der Penthousesuite des Hotels angekommen, öffnete er den braunen Umschlag und lächelte. Routine, dachte er im ersten Augenblick. Als er jedoch die Transfersumme auf dem Überweisungsträger las, stutzte er. Der Vorschuss war wesentlich höher als die Summen, die sonst auf sein Schweizer Bankkonto flossen.

Er blätterte die Unterlagen durch. Kein Foto, sondern Namen und Adressen. Und der Auftrag, eine Akte zu beschaffen und sie einem gewissen Konstantin Kollmann zukommen zu lassen.

Entgegen seiner Gewohnheit fragte er sich, weshalb ein Klient ein solch starkes Interesse an einer alten Ermittlungsakte hatte: ein Verbrechen, das als ungelöster Mordfall längst Geschichte war.

Üblicherweise erledigte er die Aufträge, ohne Fragen zu stellen. Den Kanälen, über die er an seine Auftraggeber kam, konnte er vertrauen. Die polnischen und russischen Kontaktleute wussten, dass er keine Spuren hinterließ; deshalb stand er hoch im Kurs. Wer war dieser Konstantin Kollmann überhaupt? Ob er der Sache nachgehen und den Klienten überprüfen sollte?

In den nächsten Tagen führte der Pole einige Telefonate, flog nach Düsseldorf und traf sich in einem Café in der Kö-Passage mit Benny Kretschmar, dem er Päckchen mit gebündelten Banknoten überreichte. Am selben Abend schlenderte er schon wieder durch die dunklen Gassen Roms.

Drei Tage später traf per Kurierdienst ein großer Umschlag ein. Er enthielt die Akten, die Konstantin Kollmann angefordert hatte. Ein Gerichtsdiener des Amtsgerichts Aachen hatte sie für Kretschmar kopiert, ebenso eine weitere Ermittlungsakte jüngeren Datums, nachdem Benny die Bedenken des Justizangestellten mit einer stattlichen Summe hatte ausräumen können. Bevor sie morgen an Konstantin Kollmann gingen, würde Pawel einen Blick hineinwerfen.

Er betrat die Terrasse der Penthousesuite und schaute über die Dächer dieser wunderbaren Stadt. Gierig sog er die klare Luft auf. Er genoss es, mit seinem geliebten Rom allein zu sein. Der bequeme Korbsessel war der ideale Platz, um sich in die alten Prozessakten zu vertiefen …

Seine Hände zitterten, als er die Akten beiseitelegte, und er starrte eine ganze Zeitlang ins Leere. Er war auf etwas völlig Unerwartetes gestoßen, und die Dokumente hatten sein bisheriges Leben völlig ins Wanken gebracht. Kubanek griff sich an die Stirn und massierte seine Schläfen. Erinnerungen flackerten auf, Bilder der Vergangenheit: der Umzug von seiner Geburtsstadt Warschau nach Russland, eine Kindheit ohne Hoffnung, der Hunger, die Kälte, die Einsamkeit.

Pawel Kubanek dachte an Moskau, an das Denkmal für Minin und Poscharski, das er so oft betrachtet hatte: eine Bronzeskulptur des Bildhauers Martos, die vor der Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz stand. An der Kremlmauer befand sich der Alexander-Garten. Plötzlich war er wieder ein Kind auf dem Schoß seiner Mutter, das dort mit ihr auf einer Bank saß. Während sie ihn an ihren warmen, weichen Körper drückte, um ihn gegen die klirrende Kälte zu schützen, erzählte sie ihm von seinem Vater und seinem Großvater, die eines Tages kommen und sie beide in ein warmes Haus bringen würden.

Ganz in der Nähe des Kreml und des Roten Platzes waren einige der ältesten Steinbauten des Kitai-Gorod, der Moskauer Altstadt, erhalten geblieben: Baulichkeiten des alten Zarenhofs, das Haus des Bojaren Romanow und die Annen-Kirche aus dem 15. Jahrhundert. Wenn er traurig und es besonders kalt war in Moskaus dunkelsten Gassen, schlichen sie sich in den alten Zarenhof. Dort erzählte seine Mutter ihm Geschichten von gläsernen Bergen und blauen Drachen, von Lebensbäumen und Mondblumen, von Talismanen und Tarnkappen, von Zauberern und Geistern, vom Feuervogel und der Regenbogenschlange, von weissagenden Träumen und dem Weg ins Himmelreich. Er lauschte ihren Worten, die ihn trösteten und ablenkten von dem nagenden Hunger, der seinen kleinen Körper ausmergelte.

Er tippte mit den Fingern einen nervösen Rhythmus auf dem Aktendeckel. Morgen würde er mit der Suche nach seinem wahren Ich beginnen und nach der Person fahnden, von deren Existenz er bislang nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Kapitel 3

Italien, Costa Smeralda – 3. Oktober 2006

Anna streckte genießerisch ihre Nase in den kühlen Wind. Sie fuhr auf der Straße nach Porto Cervo. Der Fahrtwind roch wunderbar frisch und rein. Wie in einer Projektionstrommel zogen Tausende mit Margeriten bewachsene Grashügel und riesige Flächen von Zwistrosen mit ihren aufdringlich weißen Blüten an ihr vorbei, gefolgt von Strohblumenfeldern und feuchten Tälern voller Erdbeerbäume, Erika und Oleander.

Anna holte tief Luft und sah im Rückspiegel zu ihrer Tochter. Katharina war auf dem Kindersitz eingeschlafen.

Jedes Jahr verbrachten sie im Herbst eine Woche in ihrem Haus an der Liscia di Vacca. Max hatte es vor Jahren erworben. Die Villa war mit architektonischem Feingefühl in die faszinierende Landschaft eingebettet worden und umgeben von einer prächtigen Parkanlage; eine Oase der Ruhe und ein Platz, an dem ihre Tochter ihren Spieltrieb ausleben konnte.

Manchmal dachte Anna dabei an ihre eigene Kindheit, an die Wochenenden, an denen sie mit ihrer Freundin Mathi und ihrem Großvater in den Hühnerstall ging, um kleine Küken unter einer großen Wärmelampe zu bewachen. Opa Alexe konnte wunderbare Geschichten aus Rumänien erzählen und hatte ihr so wichtige Dinge beigebracht wie Toleranz, Großzügigkeit und Anstand, die Neigung zur Musik, Kunst und Literatur und die Bedeutung einer Freundschaft. Das Wichtigste aber war, dass er sie lehrte, dass man nur sich selbst gehörte.

Eine Ewigkeit war seitdem vergangen. Sie war früher so fröhlich und unkompliziert gewesen, bis dieses Schwein …

Ich muss unbedingt etwas unternehmen, dachte sie. Max hatte darauf bestanden, schon diese Woche nach Italien zu fahren. Die Luftveränderung würde ihr guttun und sie auf andere Gedanken bringen, aber die Abgeschiedenheit hatte ihr nicht die ersehnte Erholung gebracht. Vielleicht hätte sie ein wenig Abwechslung aufgemuntert, aber im Ort gab es außer einem winzigen Lebensmittelladen, einem Fischhändler und einem Metzger nichts, was dieses Bedürfnis hätte befriedigen können, und die kleine, direkt neben der Kirche liegende Bar mochte vielleicht für die Einwohner eine Attraktion sein, für sie jedenfalls nicht.

Es gab kein größeres Vergnügen, als mit Katharina auf den Spielplatz zu gehen oder im Meer zu baden, aber in dieser ersten Urlaubswoche war alles anders geworden, nachdem sie mit Max und Katharina zum ersten Mal die Bar betreten hatte. Vielleicht lag es daran, dass an der Wand über der Theke das große Bild eines Erzengels hing, der mit seinem Schwert einen am Rand der Hölle liegenden Dämon niederstach. Vor dem Bild flackerte eine Kerze in einem roten Plastikbehälter.

Sie verschwieg Max, dass diese Augen Erinnerungssequenzen in ihr wachriefen. Der Dämon hatte stechende schwarze Augen wie der Mann in ihren Träumen, der sie in dem kalten, dunklen Raum so sehr gequält hatte. Jakob …

Sie blickte wieder in den Rückspiegel und betrachtete kurz ihre Tochter, die am Daumen nuckelte. Seltsam, dachte sie. Katharina liebte es besonders, in diese Bar zu gehen und sich wie die Dorfbewohner auf den Barhocker zu setzen, dabei ein Eis zu schlürfen und dieses Bild anzustarren.

„Was fasziniert dich bloß daran? Es ist so grausam …“, flüsterte Anna und erschauderte.

„Ich mag diese Bar nicht“, hatte sie zu Max gesagt. „Zu viele Dämonen an der Wand.“

Doch er hatte nur gelacht und sich über sie lustig gemacht. Es gäbe keine Dämonen, sagte er und suchte von da an gelegentlich allein die Bar auf, um meistens erst nach Mitternacht beschwipst heimzukehren.

Seine sonst so messerscharfen und raschen Rückschlüsse, die sie immer bewundert hatte, versagten hier, obgleich sie sonst so unerwartet wie Gedankenblitze kamen und immer eine fundierte logische Basis hatten, mit der er Probleme löste. Ja, das war es, was so besonders an ihm war. Aber bei ihr setzte sein Verstand aus. Er hatte keine Ahnung, welche Abgründe sich plötzlich auftaten.

Sie musste einen klaren Kopf bewahren und nicht immer sofort aus dem Häuschen geraten, wenn für den Bruchteil einer Sekunde eine Erinnerung aufblitzte wie vorhin.

Sie hatten im Ort einen Segler getroffen, der manchmal den kleinen Hafen ansteuerte und mit dem Max an einigen Abenden in der Bar ein Glas Rotwein trank. In der Bar hatte sie ihn „Jakob“ genannt.

„Sie verwechseln mich, Frau Gavaldo“, hatte er geantwortet.

Plötzlich war es still geworden in der Bar, der Raum hatte seine physischen Eigenschaften verändert, und es schien, als verlöre er seine Substanz. Alle hatten sie angestarrt. Sie hatte Katharina an die Hand genommen und war mit ihr eilig zum Auto gerannt. Das arme Kind war ganz verwirrt gewesen und hatte vor Schreck sein Eis auf den Boden fallen lassen.

Wie konnten Katharina, Max und die Bewohner des Dorfs auch wissen, dass Jakob sie noch immer verfolgte, sie beobachtete und sich womöglich noch immer in diesem Haus in Grünwald aufhielt; vielleicht in seinem mit den Zeichen des Todes übermalten Kellerraum oder im Dachgeschoss mit dem großen Bogenfenster. Wenn Erinnerungssequenzen sie in diese Räume führten, was bedeutete das? Nein, sie wollte nicht darüber nachdenken.

Nach Katharinas Geburt hatte sie sogar geglaubt, dass die Zeit allmählich die Wunden heilte, auch weil der Tod durch neues Leben verdrängt worden war. Aber es gab hier in Italien zu viele Nächte, in denen sie kerzengerade und schweißgebadet im Bett saß.

Seltsam, dachte sie, Jörg hatte sie von Anfang an vor der Flüchtigkeit des Erinnerns gewarnt. Was würde er zu dem Dämon sagen? Warum wurde sie gezwungen, in die Augen dieses Ungeheuers zu schauen? „Während du dabeisitzt und dein Eis schlürfst“, sagte sie zornig und blickte in den Rückspiegel.

Katharinas dunkle Augen musterten sie mit einem seltsamen Blick.

Plötzlich raste ihr Herz. „Hast du ausgeschlafen, Schätzchen?“

Katharina nickte. „Mit wem sprichst du da, Mami?“

„Ach, weißt du, manchmal denken Erwachsene einfach nur laut.“

Katharina schien mit der Antwort zufrieden zu sein und sah durchs Seitenfenster. „Mami?“

„Ja, Kleines?“

„Stehst du auf Papi?“

„Äh, ja.“

Katharina nickte zufrieden. „Gut. Papi steht auch auf dich.“

Anna hob die Augenbrauen. „Hat er dir das erzählt?“

„Nein.“

„Woher weißt du das denn?“

„Ich weiß es. Ich bin klug“, antwortete Katharina.

„Aha.“

„Papi hat gesagt, du bist toll.“

„Hat er?“ Anna errötete unter dem prüfenden Blick ihrer sechsjährigen Tochter.

„Ja“, bestätigte das Kind.

„Gut.“

„Und warum hast du dann Angst?“

Anna erstarrte und trat auf die Bremse. Ihr Blick verschleierte sich, sie schloss die Augen. In Gedanken stieg Nebel hinter den Grashügeln auf. Er verwandelte die saftigen Wiesen in geisterhafte Weiden, zog über die Zwistrosen hinweg und umhüllte den Wagen. Der blaue Himmel war jetzt grau. Von weitem ragte ein Baum mit Hunderten von Krähen darauf gespenstisch empor.

Sie öffnete die Augen und lockerte den Sicherheitsgurt, dann drehte sie sich langsam um und starrte ihrer Tochter direkt in die Augen.

Das Mädchen war ein schönes Kind, mit seinen dunklen Locken, den großen dunklen Augen, einer feingezeichneten Nase und vollen Lippen. Und dennoch fragte sie sich, ob Jakobs Brut aus der Hölle in den Kindersitz geschlüpft war.

Sie bildete sich ein, dass das Kind sie anlächelte und ihr zärtlich übers Haar strich, doch beim Anblick des kleinen fremden Wesens empfand sie Angst und Zorn. Trieb die kleine Furie sie in den Wahnsinn? Das würde sie nicht zulassen. Sie war eine Heldin. Jakob hatte ihr das immer wieder ins Ohr geflüstert und ihr gesagt: Heldinnen töten, oder sie werden getötet. Sie würde überleben. Nichts würde sie davon abhalten, auch nicht diese kleine Bestie im Kindersitz.

In ihren Schläfen begann es dumpf zu pochen. Die Gegenwart holte sie wieder ein. Leise verließ sie in Gedanken die geisterhaften Weiden. Der Nebel lichtete sich, und der Himmel erhielt sein strahlendes Blau zurück. Sie glaubte, aus der Ferne das Wimmern eines Babys zu hören, und kam zur Besinnung, gerade rechtzeitig.

Ihre Tochter schluchzte heftig und versuchte, sich aus dem Kindersitz zu befreien. „Mami! Mami!“ Tränen rannen über Katharinas Wangen, und sie streckte verzweifelt die Arme nach ihr aus.

„Meine Kleine. Warum weinst du denn?“, fragte sie betroffen.

„Du hast so komisch geguckt, Mami. Ich habe Angst.“

Sie stieg rasch aus, löste den Sicherheitsgurt des Kindersitzes und umarmte ihre Tochter. „Du musst keine Angst haben, Kleines. Alles ist in Ordnung.“

Katharina sah sie mit großen Augen an. Noch immer kullerten Tränen über das kleine Gesicht. „Wirklich?“

„Ja, Schätzchen“, flüsterte Anna und wiegte das Mädchen sanft hin und her, bis es sich beruhigte.

Wenig später fuhr sie weiter. Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz schlug bis zum Hals. Dass sie raste, merkte sie gar nicht. Sie blickte in den Rückspiegel. Jakob hat mal wieder die Zähne gefletscht, dachte sie.

„Was meinst du, Kleines. Wollen wir heute Abend Onkel Jörg anrufen?“

Katharina nickte und lächelte.

Kapitel 4

München, 2. Oktober 2006

Es war ein sonniger Tag; eine Frühlingsbrise streichelte seine Haut, und doch fühlte sich die Luft schwer wie Eisen an.

Als Konstantin Kollmann am Abend die halbe Meile bis zum Kleinhesselohersee joggte, glaubte er, gegen die Last glücklicher Tage ankämpfen zu müssen, und er dachte unwillkürlich an das Sprichwort, nach dem nichts schwerer zu ertragen war als eine Reihe guter Tage.

Vom Joggen heimgekehrt, riss er als Erstes den großen Umschlag auf, den er gestern mit der Morgenpost erhalten hatte. Außer den alten Prozessakten enthielt er eine Notiz mit Informationen, auf die er gewartet hatte. Zögernd löste er den Knoten der braunen Kordel und klappte den Aktendeckel auf.

Sein Blick verdunkelte sich, als er die vor ihm liegenden Dokumente durchblätterte: Maryam Krasinski, ehelicher Sohn einer polnischen Landarbeiterin und eines deutschen Arbeiters, wurde im Alter von achtzehn Jahren am 16. Oktober 1944 hingerichtet. So stand es zumindest im Protokoll.

Er zitterte plötzlich und hatte das verängstigte Kind vor Augen, das viele Jahre später – am Abend des 20. Juli 1971 – im Haus in der Ludwigsallee 25 in Aachen aus dem Schlaf gerissen worden war.

Die Männer, die damals in das Haus seines Großvaters eingedrungen waren und den ehemaligen Richter auf bestialische Weise getötet hatten, waren zweifellos am Leben gewesen.

Er hatte sich in jener mörderischen Nacht ihre Vornamen eingeprägt.

---ENDE DER LESEPROBE---