Eisland - Kim Faber - E-Book

Eisland E-Book

Kim Faber

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein verurteilter Kindermörder wird entlassen. Juncker und Kristiansen ermitteln und decken Schreckliches auf ...

Nach sieben Jahren wird der Mörder eines elfjährigen Jungen aus dem Gefängnis entlassen, weil es Zweifel an seiner Schuld gibt. Signe Kristiansen und Martin Juncker von der Kopenhagener Polizei haben damals ermittelt und sind nach wie vor von der Schuld des Mannes überzeugt. Entgegen den Anweisungen ihrer Vorgesetzten nehmen sie die Ermittlungen wieder auf. Als ein paar Tage nach der Entlassung ein Staatsanwalt verschwindet, ist es ihre Kollegin Nabiha Khalid, die auf eine brisante Verbindung zwischen den Fällen stößt ...

Lesen Sie auch die anderen hochspannenden Fälle von Juncker & Kristiansen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

8. Juni

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

9. Juni

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

10. Juni

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

11. Juni

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

12. Juni

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

13. Juni

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

14. Juni

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

15. Juni

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

16. Juni

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

17. Juni

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

18. Juni

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

19. Juni

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

20. Juni

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

21. Juni

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

22. Juni

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

23. Juni

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

27. Juni

Kapitel 86

Dank

Haben Sie Lust gleich weiterzulesen? Dann lassen Sie sich von unseren Lesetipps inspirieren.

Newsletter-Anmeldung

Seitenliste

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

357

358

359

360

361

362

363

364

365

366

367

368

369

370

371

372

373

374

375

376

377

378

379

380

381

382

383

384

385

386

387

388

389

390

391

392

393

394

395

396

397

397

398

399

400

401

402

403

404

405

406

407

408

409

410

411

412

413

414

415

416

417

418

419

420

421

422

423

424

425

426

427

428

429

430

431

432

433

434

435

436

437

438

439

440

441

442

443

444

Buch

Nach sieben Jahren wird der Mörder eines elfjährigen Jungen aus dem Gefängnis entlassen, weil es Zweifel an seiner Schuld gibt. Signe Kristiansen und Martin Juncker haben damals ermittelt und sind nach wie vor von der Schuld des Mannes überzeugt. Entgegen den Anweisungen ihrer Vorgesetzten nehmen sie die Ermittlungen wieder auf. Als ein paar Tage nach der Entlassung ein Staatsanwalt verschwindet, ist es Nabiha Khalid, die auf eine brisante Verbindung zwischen den Fällen stößt …

Die Autor*innen

Janni Pedersen ist Moderatorin und Kriminalreporterin bei TV2, einem der meistgesehenen Fernsehsender Dänemarks. 2018 wurde sie als beste Nachrichtensprecherin des Jahres ausgezeichnet. Kim Faber ist Architekt und Journalist bei Politiken, einer der größten dänischen Tageszeitungen. Das bekannte Journalistenpaar hat mit ihrem Debüt Winterland einen explosiven und packenden Kriminalroman über Terror, Gewalt, Trauer und Einsamkeit geschrieben. Nach dem großen Erfolg des Reihenauftakts haben auch die Folgebände um das dänische Ermittlerduo Martin Juncker und Signe Kristiansen die SPIEGEL-Bestsellerliste im Sturm erobert..

Von Kim Faber und Pedersen bereits erschienen

Winterland · Todland · Blutland · Mörderland

KIM FABER & JANNI PEDERSEN

EIS

LAND

Ein Fall für Juncker und Kristiansen

Deutsch von Franziska Hüther

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Løgner bei Politikens Forlag, Kopenhagen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2024 Kim Faber & Janni Pedersen and JP/Politikens Hus A/S 2024 in agreement with Politiken Literary Agency

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

JaB · Herstellung: CS

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-32755-2V002

www.blanvalet.de

Etwas zu wagen bedeutet, für einen Moment den Halt zu verlieren.

Nichts zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren.

SØRENKIERKEGAARD

8. Juni

Kapitel 1

Der Junge hieß Lukas, war elf Jahre alt und seit gut vierundzwanzig Stunden verschwunden. Länger aber nicht.

Er lag in einem niedrigen Kellerraum neben einem alten Schreibtisch auf dem Betonboden, und wäre die Wunde an der linken Schläfe und die rotbraune, in einem beinahe perfekten Kreis um den Kopf geronnene Blutlache nicht gewesen, hätte man denken können, er schlafe. Eine Leuchtstofflampe warf ein flackerndes, kaltes Licht auf die Szene und machte sie, falls möglich, noch trostloser.

»Oh Mann, Kleiner«, flüsterte Signe Kristiansen.

Martin Junckersen schielte zu seiner Kollegin hinüber. Die beiden Ermittler standen reglos in ihren weißen Schutzanzügen in der Tür. Signe blickte starr geradeaus, weshalb er den Ausdruck in ihren Augen nicht sehen konnte. Das war aber auch nicht nötig, denn ihre belegte Stimme verriet, dass der leblose Junge auf dem schmutzigen Boden die erfahrene Ermittlerin weit stärker berührte, als der Anblick eines Todesopfers es normalerweise tat.

Die beiden Kriminaltechniker traten zur Seite und gaben den Blick auf die Leiche frei.

»Dürfen wir zu ihm?«, fragte Juncker.

»Wenn Sie vorsichtig sind.«

Trotz der feuchtwarmen Luft gab es noch keine sichtbaren Zeichen von Verwesung, und es roch auch nicht danach. Juncker beugte sich hinunter und inspizierte die Wunde. Der Rechtsmediziner würde garantiert zu dem Schluss »stumpfe Gewalteinwirkung« gelangen, sie suchten also nach einer Tatwaffe mit einem gewissen Gewicht. Das konnte von einem Stein bis hin zu einem Hammer alles Mögliche sein, darüber würde die Obduktion vermutlich mehr Auskunft geben.

Signe ging neben dem Jungen in die Hocke und streckte die Hand aus, als wolle sie seine halb geöffneten Augen schließen. Einer der Kriminaltechniker räusperte sich, und sie erhob sich mit einem gemurmelten »’tschuldigung«.

Juncker hatte vergessen, wie alt genau Signes Sohn Lasse war, aber wohl etwa so alt wie Lukas.

Es ist sieben Jahre her, dass Signe und Juncker den toten Jungen in dem Keller eines Wohnblocks auf der Insel Amager in Kopenhagen betrachtet haben. Es ist fünf Jahre und elf Monate her, dass der damals zweiunddreißigjährige Robert Danius des Mordes für schuldig befunden und zu sechzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Es ist knapp ein halbes Jahr her, dass das Gericht entschied, die Sache Danius wieder aufzunehmen, da neue Informationen aufgetaucht waren. Und sofern alles nach Zeitplan läuft, ist es noch eine gute Minute, bis die Tür schräg hinter Staatsanwältin Petra Hagen, ihrem Assistenten und Juncker aufgeht und drei Richter Saal 1 betreten, den größten im Østre Landsret, dem für Ostdänemark zuständigen Landgericht.

Juncker schaut sich um. Presse- und Zuschauerplätze sind so voll besetzt, wie unter Einhaltung des vorgeschriebenen Corona-Abstands von zwei Metern möglich. Dass ein Mordfall verhandelt wird, kommt nicht jeden Tag vor, entsprechend groß ist die mediale Aufmerksamkeit. Zwei prominente Gerichtsreporterinnen mustern Juncker neugierig, und eine der beiden lächelt ihm zu. Er erwidert die Geste mit einem reservierten Nicken. Im Zuschauerbereich hat die Mutter des Angeklagten in Begleitung einiger Angehöriger Platz genommen, die ihm immer wieder böse Blicke zuschießen.

Robert Danius sitzt neben seinem Verteidiger schräg gegenüber Juncker und den Vertretern der Anklage. Sein Gesicht ist teilweise hinter einer der vier schlanken Eisensäulen verborgen, die die Decke des großen Saales stützen. Im Gegensatz zu seiner Mutter hat Danius entschieden, Juncker zu ignorieren. Nur einmal kommt es zu einem Augenkontakt. Danius’ Blick ist derselbe wie bei den Vernehmungen vor sieben Jahren. Er blinzelt so gut wie nicht. Ein Psychiater hat Juncker einmal erklärt, dass Menschen, die systematisch lügen, anders als viele glauben, dabei keineswegs Blickkontakt meiden. Vielmehr beobachten sie ihr Gegenüber aufmerksam, um zu sehen, ob ihre Lügen überzeugend sind oder sie umschwenken müssen.

Robert Danius lächelt, beugt sich zu seinem Verteidiger und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Verteidiger blickt zu Juncker, lächelt dann ebenfalls und nickt seinem Klienten zu.

Juncker hat der Staatsanwaltschaft in dem wieder aufgenommenen Fall gegen Robert Danius assistiert. Er war damals felsenfest überzeugt, dass Danius den Jungen umgebracht, sie den richtigen Mann gefasst hatten, und ist es nach wie vor. Ungeachtet der neu aufgetauchten Erkenntnisse.

Um Punkt zehn öffnet sich die Tür hinter Juncker, und alle erheben sich, während der Vorsitzende Richter und die Beisitzenden Richter ihre Plätze einnehmen. In ihren schwarzen Roben sehen sie aus wie Rollenspieler, was sie ja in gewisser Weise auch sind, denkt Juncker. Zeitgleich geht eine zweite Tür auf, die neun Schöffen treten ein und nehmen vor einem riesigen Gemälde Aufstellung, das mit seinen klaren Farben inmitten der Ödnis aus kreideweißen Wänden, hellem Furnier und grauem Linoleum beinahe frivol wirkt.

Unter einer großen Auswahl furztrockener Richter gilt dieser Vorsitzende Richter als der trockenste. Über den Rand seiner Brille, die zum äußersten Punkt seiner Nasenspitze gerutscht ist, blickt er in die Zuschauerreihen.

»Bevor ich das Urteil verkünde, sei betont, dass ich keinerlei Gefühlsausbrüche dulde, verstanden?«

Einer der Journalisten nickt beflissen, ansonsten reagiert niemand, und im Saal herrscht Totenstille. Der Richter bedenkt die Zuschauer sicherheitshalber nochmals mit einem strengen Blick.

»In der Sache Robert Danius ergeht folgendes Urteil«, sagt er dann.

Kunstpause.

Herrgott, heute noch, denkt Juncker.

Der Richter hebt den Blick.

»Der Angeklagte wird freigesprochen.«

Einige lange Sekunden ist es mucksmäuschenstill in Saal 1. Dann bricht Danius’ Mutter in Tränen aus. Danius klopft derweil seinem Verteidiger auf den Rücken, während die Journalisten hastig auf ihren Smartphones herumtippen.

»Darf ich um Ruhe bitten«, sagt der Vorsitzende Richter mit erhobener Stimme. Danius’ Mutter tupft die Tränen weg und schnäuzt sich kräftig die Nase. Der Vorsitzende Richter fordert die Anwesenden auf, Platz zu nehmen, und verliest das Urteil. Juncker hört nicht hin. Das Einzige, woran er denken kann, ist das psychiatrische Gutachten über Danius, das diesem kurz gefasst gleich mehrere Persönlichkeitsstörungen bescheinigt, darunter insbesondere eine beunruhigende Mischung aus Paranoia und Narzissmus. Dass der Betreffende eine Gewalttat verübt, sei daher, so der unheilvolle Schluss der Experten, nicht auszuschließen. Sprich: Es besteht die Gefahr, dass Robert Danius jemanden tötet.

Erneut jemanden tötet, denkt Juncker. So eine verdammte Scheiße.

Nachdem das Urteil verlesen ist, verlassen die drei Richter und die Schöffen den Gerichtssaal durch dieselben Türen, durch die sie hereingekommen sind. Zuschauer und Journalisten erheben sich, die Staatsanwältin und ihr Assistent packen ihre Unterlagen zusammen.

Petra Hagen wendet sich um. »So, Juncker, wollen wir uns der Meute stellen?«

»Tja, müssen wir wohl. Ich vermute, rausschleichen ist nicht?«

»Keine Chance. Aber lassen Sie mich ruhig machen.«

Die Journalisten haben eine Traube am Ausgang zur Fredericiagade gebildet, und an den Corona-Abstand hält sich niemand mehr. Im Gerichtssaal waren nur zehn Vertreter der größten Medienhäuser zugelassen, während die Übrigen die Urteilsverkündung per Videoübertragung in einem separaten Raum mitverfolgt haben. Jetzt sind sie alle zusammengeströmt. Die Journalisten der beiden großen Fernsehsender haben es wie üblich in die vorderste Reihe geschafft. Dahinter rangeln die Printmedien und kleineren TV-Kanäle um die zweiten Plätze. Das dürfte die Definition eines Superspreader-Events sein, denkt Juncker bei sich.

»Petra Hagen, das Urteil ist eine gewaltige Niederlage für die Staatsanwaltschaft und die Polizei«, beginnt der Journalist des Öffentlich-Rechtlichen mit einer Feststellung, ehe ihm einfällt, dass er besser eine Frage formulieren sollte. Der guten Ordnung halber fügt er daher noch an: »Stimmt’s?«

Petra Hagen schüttelt entschieden den Kopf. »Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist die Aufklärung von Straftaten, es handelt sich hier nicht um einen Wettkampf, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt. Im Fall Danius sind neue Erkenntnisse aufgetaucht, die uns seinerzeit leider nicht vorlagen, und das Gericht hat diese nun für ausreichend triftig befunden, um das Urteil zu revidieren. Ich möchte betonen, dass diese Informationen die Ermittlungsarbeiten der Polizei sowie der Staatsanwaltschaft in der Sache in keiner Weise schmälern. Es erübrigen sich weitere Kommentare. Wenn Sie uns also bitte vorbeilassen würden …«

Die Journalisten in den hinteren Reihen rufen laut durcheinander. Die Reporterin des zweitgrößten Senders verschafft sich Gehör und wendet sich an Juncker.

»Polizeikommissar Martin Junckersen, Sie waren damals in die Ermittlungen involviert. Für Sie persönlich muss es doch eine schwere Niederlage bedeuten, dass der Mann, von dessen Schuld Sie überzeugt waren, jetzt freigesprochen wurde.«

»Kein Kommentar«, sagt Juncker, während er einen halbherzigen Versuch unternimmt, sich durch die Menschenmasse zu schieben, ohne den Leuten allzu nahe zu kommen.

Die Reporterin lässt nicht locker. »Halten Sie Robert Danius nach wie vor für schuldig?«

Er starrt sie wütend an. Eigentlich ist sie eine Journalistin, mit der er verhältnismäßig gut kann.

»Herr Junckersen«, insistiert sie. »Der Freispruch kann schließlich nur eines bedeuten: Der wahre Mörder ist noch auf freiem Fuß, oder nicht?«

Ja, denkt Juncker, allerdings, und der wahre Mörder heißt Robert Danius. Aber das kann er natürlich nicht antworten, daher schweigt er verbissen.

Unter einigen Mühen drängeln Petra Hagen und Juncker an den Fotografen vorbei, die sich, erpicht darauf, ihre Bilder zu ergattern, beinahe gegenseitig umrempeln. Wie sich herausstellt, ist es der direkte Weg vom Regen in die Traufe, denn kaum haben sie es durch das Gittertor geschafft, eilt bereits eine neuerliche Meute bestehend aus Robert Danius’ Angehörigen, darunter seiner Mutter, sowie einem weiteren Dutzend Journalisten und Kameraleuten auf sie zu. Kurz erwägt Juncker, einfach die Flucht zu ergreifen – sein Wagen steht nur zweihundert Meter entfernt –, doch seit seiner Prostatakrebsoperation ist er nicht mehr der Schnellste, die Schar hätte ihn also rasch eingeholt. Außerdem wären es nicht eben ruhmvolle Bilder von ihm als gealtertem Polizeikommissar, der auf steifen Beinen davonstakst, um der verbalen Konfrontation mit der Mutter eines soeben zum Opfer eines Justizirrtums erklärten Mannes zu entgehen. Daher bleibt er mit Petra Hagen und dem Assistenten stehen, der von der ganzen Situation leicht überfordert scheint.

Der Trupp wird von Danius’ Mutter angeführt, die ein elegantes türkisfarbenes Kostüm trägt. Sie ist Besitzerin eines Friseursalons in Østerbro und war an sämtlichen Verhandlungstagen dabei. Hin und wieder hat sie ihr Missfallen über eine Zeugenaussage mit einem Kopfschütteln zum Ausdruck gebracht, die meiste Zeit aber hat sie, den Blick auf ihren Sohn gerichtet, geschwiegen. Schon bei der ersten Begegnung mit ihr meinte Juncker etwas Verletzliches bei ihr zu erkennen. Zweimal hat sie ihn im Anschluss an die Verhandlungen konfrontiert und ihn und seine Kollegen beschuldigt, ihrem Sohn nur deshalb die Tat anhängen zu wollen, weil die Polizei nicht in der Lage sei, den richtigen Mörder zu finden. Doch Juncker hat sich nie von ihr bedrängt gefühlt, sondern sie eher als Löwenmutter gesehen, die für ihr Kind kämpft. Und wer täte das nicht?

Das Grüppchen ist bei ihnen angelangt. Die Mutter bleibt anderthalb Meter von Juncker entfernt stehen und funkelt ihn an, ihr Gesicht umrahmt von üppigen blonden Locken. Für einen Moment scheint die Szene wie eingefroren – abgesehen von den Kameraleuten, die sich, um den besten Platz eifernd, von beiden Flanken nähern.

»Sie haben sich geirrt, Martin Junckersen«, sagt sie dann. »So was von geirrt.«

Juncker rinnt der Schweiß über den Rücken. Er überlegt, ob er einen kurzen Vortrag über die Arbeitsteilung zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht halten soll, ganz gleich um welchen Fall es geht. Ihr sagen, dass die Polizei in einer Strafsache ermittelt und das erlangte Beweismaterial der Staatsanwaltschaft vorlegt. Dass diese daraufhin entscheidet, ob das Material für eine Anklage ausreicht – und dass am Ende das Gericht und niemand sonst den Angeklagten für schuldig oder unschuldig befindet. Eigentlich ganz einfach. Aber nein, jetzt ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt, um den Besserwisser zu spielen.

»Sie glauben immer noch, dass er es war, stimmt’s? Dass mein Sohn den Jungen umgebracht hat«, fährt sie fort.

Ja, denkt er. Aber er kann es genauso wenig gegenüber der Mutter wie gegenüber den Journalisten einräumen, daher schweigt er erneut, und erneut springt Petra Hagen für ihn in die Bresche.

»Wir haben dem, was wir bereits gesagt haben, nichts hinzuzufügen. Wir respektieren die Entscheidung des Gerichts zu einhundert Prozent, das ist vollkommen klar. Robert Danius wurde in sämtlichen Punkten freigesprochen, fertig aus, und dagegen gibt es von unserer Seite keinerlei Vorbehalte.«

Die Mutter starrt Juncker misstrauisch an. Dann tritt sie ganz nah an ihn heran und beugt sich vor. Er kann ihr Parfüm riechen und weicht zurück, doch sie folgt ihm.

»Sie schulden meinem Sohn sieben Jahre«, flüstert sie ihm ins Ohr und macht einen Schritt zurück. »Sieben Jahre, Martin Junckersen. Das ist eine lange Zeit.«

Kapitel 2

Erik Merlin lehnt sich so schwungvoll zurück, dass sein armer, alter Schreibtischstuhl ächzt und knirscht.

»Mann, Juncker«, sagt der Leiter der Abteilung für Gewaltkriminalität, und das breite Boxergesicht sieht müder aus denn je.

Juncker steht den Rücken an die Wand gelehnt an seinem Stammplatz neben der Tür. Wann Merlin wohl den Stecker zieht und in Pension geht? Dass der Tag sich nähert, hängt seit geraumer Zeit in der Luft.

»Was ist los?«, fragt er.

»Was los ist? Hast du die Videos auf TV2 News und den sozialen Medien nicht gesehen?«

»Nein, ich bin nicht auf Facebook oder so.«

Merlin greift nach seinem Handy, schaltet es ein und scrollt kurz.

»Schön, die will ich dir aber nicht vorenthalten. Hier … ›Der schweigende Kommissar‹ heißt eines. ›Hält die Polizei Kopenhagen Robert Danius nach wie vor für schuldig?‹, fragt ein anderes. Videoclips von dir, wie du mit offenem Mund dastehst und offenkundig außerstande bist, klar auf die direkte Frage der Mutter zu antworten, ob du Danius trotz Freispruch noch immer für schuldig hältst. Willst du sie dir ansehen?«

»Nein, nicht nötig«, murmelt Juncker.

»War es echt so schwer, diese Frage mit Nein zu beantworten, Juncker?« Merlin lässt ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern fährt direkt fort: »Es versteht sich doch wohl von selbst, dass nicht der geringste Zweifel daran bestehen darf, dass wir eine gerichtliche Entscheidung respektieren. Zumal eine vom Landgericht!«

»Das heißt, ich hätte vor laufender Kamera lügen sollen?«

»Ja, verdammt. Wenn du mit deiner Dickköpfigkeit tatsächlich immer noch von Danius’ Schuld überzeugt bist.«

Juncker schaut seinen Chef verdutzt an. Merlin hat noch nie auf diese Weise mit ihm geredet, und ihm dämmert, dass er gerade etwas erlebt, was ihm im Laufe seiner Karriere nur wenige Male passiert ist: Er bekommt gerade einen waschechten Anschiss von seinem Boss.

In Merlins Büro sind noch zwei weitere Personen anwesend: Kai Åkesson, Chef der für die Abteilung für Gewaltkriminalität zuständigen Staatsanwaltschaft, sowie Geir Jensen, der eine der drei Mordsektionen der Abteilung leitet.

Åkesson räuspert sich. »Wie wär’s, wenn …?«

»Was? Ach so, ja, fangen wir an.« Merlin rollt mit seinem Stuhl näher zum Schreibtisch, wo sich ein beträchtlicher Teil seines Bauches über die Platte wölbt. »Danius’ Freispruch heißt, wir stehen wieder am Anfang. Lukas’ Mörder ist irgendwo da draußen, und wir müssen ihn finden. Und zwar möglichst zügig.«

»Das ist klar.« Geir fährt sich durch seine rote Wischmoppfrisur, die an den Popproduzenten Phil Spector an einem Bad Hair Day erinnert. »Wir wissen aber alle, wie schwierig eine Ermittlung in einem so lange zurückliegenden Fall ist.«

»Ja, aber das sind nun mal die Umstände. Also ›packen wir’s‹, wie der gute Poul Eefsen, Gott hab ihn selig, am 18. Mai zu seinen Leuten gesagt hat.«

»Das hat er echt gesagt?«, fragt Geir.

»Ja«, sagt Juncker.

Geir sieht ihn an. »Warst du an dem Abend dabei?«

»Ja.«

Die schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei in Nørrebro am 18. Mai 1993 nach der Volksabstimmung zum Vertrag von Maastricht waren das erste Mal, dass die Polizei in Friedenszeiten mit scharfer Munition auf eine Menschenmenge feuerte. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.

»Oha. Warst du einer von denen, die geschossen haben?«

Juncker schaut seinen jüngeren Kollegen ausdruckslos an.

»Na ja, geht mich ja auch nichts an …«, murmelt Geir.

Ganz genau, denkt Juncker.

»Im Grunde ist es doch ziemlich einfach«, bringt Merlin sie wieder auf das Thema zurück. »Entweder ist Lukas’ Mörder schon in den Ermittlungen aufgetaucht, und wir hatten ihn als möglichen Verdächtigen ausgeschlossen. Oder aber wir waren noch nicht mal in der Nähe des Täters. Sprich, wir haben keine Ahnung, wer er ist.«

Juncker verschränkt die Arme und schaut Merlin an. »Tut mir leid, dass ich euch in die Suppe spucke, aber es besteht ja trotz allem immer noch die Möglichkeit, dass wir den Richtigen hatten und ihn jetzt auf freien Fuß gesetzt haben.«

Merlin schüttelt entnervt den Kopf. »Juncker, verstehst du’s echt nicht?«

»Das psychiatrische Gutachten war eindeutig. Die Kombination aus verschiedenen Persönlichkeitsstörungen macht Danius zu einer Gefahr, wenn er frei draußen herumläuft.«

»Ich brauche dir doch wohl nicht zu erklären, dass Wunderlichsein hierzulande kein Verbrechen ist. Wir buchten niemanden vorbeugend ein, oder hab ich was verpasst?«

»Ich will doch nur dein Okay, bei Danius ganz diskret ein bisschen weiter zu graben.«

»Und das kann ich dir nicht geben. Stell dir mal vor, was das für einen Aufschrei gibt, wenn rauskommt, dass wir weiter gegen einen Mann ermitteln, der freigesprochen und aus der Haft entlassen wurde. Ich würde in hohem Bogen fliegen.«

Das Risiko schreckt dich sonst auch nicht, denkt Juncker, sagt aber nichts. Es wäre vergeblich.

»Wir stellen ein großes Team für den Fall zusammen, natürlich mit unseren besten Leuten. Du bist dabei, Juncker, aber die Ermittlungsleitung übernimmt Geir. Ich denke, das ist in der jetzigen Situation am sinnvollsten. Geir, du warst damals bei den Ermittlungen nicht involviert, du kannst mit frischem Blick an die Sache rangehen.«

Merlin schaut Juncker über den Rand seiner Lesebrille an.

»Passt für mich«, sagt Juncker und zuckt mit den Schultern. Insgeheim ist er erleichtert.

Kapitel 3

Signe kaut diskret auf der Spitze ihres Kulis.

»Fuck«, stößt sie aus und wirft ihn auf den Tisch.

Seit bald einem Jahr arbeitet sie in der Abteilung für Organisierte Kriminalität. Die OK befindet sich im selben Gebäude wie die Abteilung für Gewaltkriminalität, nur zwei Stockwerke darüber. Sie teilt sich das Büro mit drei Kollegen, von denen gerade aber niemand an seinem Platz ist, daher hat Juncker sich an den Schreibtisch gegenüber ihrem gesetzt.

Signe ist von der Abteilung für Gewaltkriminalität zur OK gewechselt, um humanere Dienstzeiten zu haben und auf diese Weise ihre Ehe zu retten. Sie arbeitet immer noch viel, aber die Schichten sind besser planbar, und der Schritt war insofern erfolgreich, als sie und Niels noch immer zusammen sind. Juncker hat nicht näher nachgefragt, wie es zwischen den beiden läuft, und Signe hat nichts gesagt. Aber seit dem Wechsel wirkt sie entspannter, weniger … das erste Wort, das Juncker einfällt, ist das englische uptight, weshalb er sich als erbitterter Gegner jeglicher Anglizismen maßlos über sich selbst ärgert. Was ist zum Beispiel das Problem mit »angespannt«? Es gibt keins. Sie wirkt weniger angespannt.

»Du sagst es.« Juncker rutscht tiefer in den Stuhl, um sein schmerzendes Kreuz zu entlasten.

»Und wir sind uns ganz sicher, dass Robert Danius Lukas umgebracht hat, ja?«

»Ja.«

»Wir haben uns die Vernehmung der neuen Zeugin ja noch nicht angehört. Seine Ex-Freundin, oder?«

»Ja.«

»Und du hältst sie nicht für glaubwürdig?«

»Null.«

»Und die andere Sache, die Funkzellendaten? Die gelten plötzlich doch nicht als Beweis dafür, wo sich jemand aufhält?«

»Das ist ziemlich technisch, aber kurz gesagt ist nicht ganz klar, inwieweit die Daten einer Funkzellenabfrage verwendet werden können, um zu bestimmen, wo sich jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgehalten hat. Das spricht zwar weder für noch gegen seine Unschuld, nur ist dann eben der Zweifel auf seiner Seite.«

»Das ist ja auch erst mal richtig so. Du bist dir aber nach wie vor sicher, dass er es war?«

»Ja.«

»Und was kannst du jetzt machen, Juncker?«

»Reichlich wenig, weil ich an den neuen Ermittlungen beteiligt bin. Ich habe Merlin gebeten, mich weiter auf Danius anzusetzen, aber das hat er rundweg abgelehnt.«

»Nachvollziehbar, oder?«

Juncker zuckt mit den Schultern. Signe lehnt sich zurück, verschränkt die Hände im Nacken und schaut zur Decke. Eine Weile sagt keiner etwas.

»Was denkst du?«, unterbricht Juncker schließlich das Schweigen.

»Dass ich jede Menge Überstunden abfeiern muss und gerade wenig los ist. Ich glaube, eine Woche könnte ich mir freinehmen. In der Zeit kann ich Danius ein bisschen unter die Lupe nehmen, vielleicht findet sich ja noch mehr Dreck, als wir schon haben. Ich hab ja keinen Zugriff auf die Fallunterlagen, aber wenn du mir die wichtigsten Vernehmungsprotokolle von damals kopierst … Die Kisten stehen ja noch bei euch in der Abteilung, oder?«

»Ja, das sollte gehen.«

»Und dann hilfst du mir, sobald du einen freien Moment hast.«

Juncker nickt nach kurzem Zögern. »Na klar.«

Sie verfallen wieder in Schweigen, dann steht Juncker auf.

»Dafür können wir richtig Ärger kriegen«, sagt Signe.

Er schaut sie an. »Allerdings.«

9. Juni

Kapitel 4

Ein Geir Jensen um sieben Uhr morgens ist keine schöne Erscheinung. Er selbst allerdings auch nicht, ist Juncker sich peinlich bewusst. Der Ermittlungsleiter hat ihn zu einem frühen Treffen gebeten, damit sie den Lukas-Fall vor dem Morgenbriefing in Ruhe durchgehen können. Zwei Umzugskartons mit insgesamt neunzehn Aktenordnern stehen neben seinem Schreibtisch.

»Juncker, magst du mir den Fall erst mal zusammenfassen?«

Er nickt. »Klar. Wie du bestimmt weißt, …«

»Brauchst du deine Notizen gar nicht?«, unterbricht ihn Geir verblüfft.

»Nicht nötig. Soll ich anfangen, oder hast du noch mehr Fragen?«

»Nein, leg los.«

Geir unternimmt keinen Versuch, den Missfallen in seiner Stimme zu verbergen. So eine Nervensäge, denkt Juncker.

»Lukas verschwand freitagnachmittags und wurde etwa vierundzwanzig Stunden später tot aufgefunden. Fund- und Tatort war der Kellerraum, den Robert Danius als Büro und Werkstatt benutzte. Er war Hausmeister in dem großen Sozialbau, der …«

»Ich meine, das heißt inzwischen Facility Manager«, bemerkt Geir.

Juncker kämpft seinen Ärger über die neuerliche Unterbrechung zurück. Dieses Gespräch kann länger dauern.

»Lukas wurden mindestens zwei tödliche Schläge gegen den Kopf versetzt, laut Obduktion vermutlich mit einem Hammer mit quadratischer Aufschlagfläche, der aber nie gefunden wurde. Sie ergab außerdem, dass man versucht hatte, ihn zu strangulieren, gestorben ist er aber an den Schlägen. Ob die Strangulation vor oder nach den Schlägen erfolgte, ließ sich nicht sagen.«

»Wer war der Obduzent?«

»Markman.«

»Gab es Spuren eines sexuellen Übergriffs?«

»Nein. Aber auf dem Schreibtisch, neben dem die Leiche lag, wurde frisches Sperma gefunden. Laut DNA-Analyse stammte es von Robert Danius.«

»Wie hat er das erklärt?«

»Er meinte, er habe an dem Tag, als Lukas getötet wurde, vorher in seinem Büro onaniert. Als Todeszeitpunkt wurde übrigens 16:35 Uhr festgestellt.«

»Das ist ziemlich genau.«

»Ja. Lukas hatte sein Handy in der Gesäßtasche. Das Display war zersplittert und die Elektronik um 16:35 Uhr stehen geblieben, also höchstwahrscheinlich zu dem Zeitpunkt, als er angegriffen und umgebracht wurde.«

»Ergibt Sinn.«

»Danke«, erwidert Juncker spitz.

»Was hat sonst noch auf Robert Danius hingedeutet?«

»Zeugen haben ihn gegen sechzehn Uhr mit Lukas und zwei anderen Jungs im Hof Basketball spielen sehen, und einem Zeugen zufolge ging Lukas anschließend mit Danius in den Keller.«

»Wie hat Danius das begründet?«

»Er und Lukas kannten sich gut. Robert Danius war in seiner Freizeit Basketballcoach und trainierte im Rahmen eines von ihm angestoßenen Projekts Jungs aus der Gegend. Lukas war sehr talentiert, weshalb Danius häufig mit ihm im Hof gespielt hatte. Das wurde vor Gericht übrigens als erschwerender Umstand gewertet. An besagtem Nachmittag war Lukas angeblich mit Danius in den Keller gegangen, um sich ein Basketballmagazin auszuleihen. Danius gab an, er habe dem Jungen die Zeitschrift gegeben und sei dann nach Hause, habe ihm aber erlaubt, noch eine Weile zum Lesen in dem Kellerraum zu bleiben. Wenn er ging, sollte er dann einfach die Tür hinter sich zuziehen. Das Magazin wurde übrigens in dem Raum gefunden.«

»Soweit ich mich entsinne, gab es in Danius’ Vergangenheit einen belastenden Umstand?«

»Genau.« Juncker nickt. »Von 2005 bis 2010 war Danius Trainer in einem Basketballverein in Herlev. 2011 zeigten zwei junge Männer namens Jens und Steffen Robert Danius bei der Polizei Vestegnen an, weil er sich über einen Zeitraum von einem Jahr, da waren die beiden dreizehn, an ihnen vergriffen habe.«

»Was hat sie dazu bewogen, zur Polizei zu gehen?«

»Kurz vorher war ein Pfadfinderleiter wegen sexueller Nötigung zum Nachteil von zehn Jungen zu einer Freiheitsstrafe von anderthalb Jahren verurteilt worden. Steffen hatte die Verhandlung am Gericht Glostrup mitverfolgt, weil ihn die Übergriffe durch Danius nicht losließen und er deshalb ähnliche Fälle auf ganz Seeland genau beobachtete. Als der Pfadfinderleiter verurteilt wurde, nahm Steffen dadurch bestärkt Kontakt zu Jens auf. Die beiden hatten sich nicht mehr gesehen, seit sie im Basketballverein aufgehört hatten, und sind dann zusammen zur Polizei gegangen.«

Juncker trinkt einen Schluck Kaffee, ehe er fortfährt.

»Die Ermittlungen wurden nach kurzer Zeit eingestellt, weil die Beweislage laut Staatsanwaltschaft nicht für eine Anklage wegen sexuellen Missbrauchs reichte, sondern höchstens für eine wegen sexueller Nötigung Minderjähriger. 2010 betrug die Verjährungsfrist für diesen Tatbestand fünf Jahre, deshalb wurde das Verfahren eingestellt, und unsere Kollegen der Direktion Vestegnen haben Danius gar nicht erst vernommen. Kurz darauf zog Robert Danius aus Herlev weg und konnte fröhlich in einem anderen Verein als Trainer weitermachen.«

Geir schüttelt den Kopf. »Das hat man irgendwo schon mal gehört, oder?«

»Ja, viele Sexualstraftäter kommen auf diese Weise ungeschoren davon. Als wir dann wegen des Mordes an Lukas gegen Danius ermittelten, haben wir in den verschiedenen Direktionen nachgefragt, ob schon irgendwo etwas gegen ihn vorliegt. Und da meldete sich die Polizei Vestegnen mit dem eingestellten Fall aus Herlev.«

»Aber der konnte für den Lukas-Fall ja schlecht verwendet werden, wenn er verjährt war, oder?«

»Stimmt. Signe und ich haben aber trotzdem mit den beiden jungen Männern gesprochen. Sie haben erzählt, Danius habe sie über längere Zeit gegroomt, sich also mit Missbrauchsabsicht ihr Vertrauen erschlichen. Zunächst indem er sie nach dem Training aufhielt, bis die anderen Jungs aus dem Team die Halle verlassen hatten. Er ging mit ihnen duschen und begann, mit ihnen übers Masturbieren zu sprechen. Irgendwann standen alle drei unter ihrem jeweiligen Duschstrahl, und er zeigte ihnen, wie sie sich berühren sollten. Einmal hat er Nutella mitgebracht, sie damit eingerieben und es ihnen vom Körper geleckt. Er wollte auch, dass sie dasselbe beim jeweils anderen tun, aber da haben sie sich geweigert. Jens und Steffen hörten daraufhin im Verein auf. Sie haben niemandem davon erzählt, haben sich geschämt und dachten, sie wären in gewisser Weise selbst schuld, weil sie anfangs neugierig waren und freiwillig mit dem Trainer unter die Dusche gingen.«

»Der Klassiker«, meint Geir kopfschüttelnd.

»Ja. Als Signe und ich mit ihnen gesprochen haben, haben sie immer noch stark darunter gelitten. Und als sie hörten, dass wegen Tötung eines Elfjährigen gegen ihn ermittelt wurde, war der Frust umso größer, dass ihre Anzeige im Sande verlaufen war.«

»Gab es außer DNA noch andere Spuren?«

»Ja, mehrere von Lukas’ Haaren in dem Kellerraum und Roberts Haare auf der Leiche. Auf der Leiche wurden aber auch andere Haare und DNA sichergestellt, zu denen sich kein Treffer in den Registern fand. Danius hat das von ihm stammende DNA-Material damit erklärt, dass der Junge schon mehrfach bei ihm im Kellerraum gewesen sei.«

»Das Briefing fängt gleich an«, sagt Geir mit Blick auf sein Handy. »Sagst du mir noch schnell, welche anderen Verdächtigen ihr im Visier hattet?«

»Insgesamt drei: Lukas’ Stiefvater, den Vorsitzenden der Hausgemeinschaft und einen Installateur für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, der Robert Danius oft besucht und häufig Aufträge am Gebäude ausgeführt hat. Letzterer war wegen Vergewaltigung vorbestraft. Sowohl er als auch der Stiefvater hatten Alibis. Der Vorsitzende der Hausgemeinschaft nicht, es gab aber auch nichts, was für ihn als Täter sprach, außer dass er ein ganz merkwürdiger Typ und seine Aussage ziemlich wirr war.«

»Okay, danke, Juncker. Ich bin …«

»Es war keiner von ihnen. Robert Danius ist der Täter.«

»Ja, das sagtest du schon. Aber du hast Merlin gehört.«

»Ja«, brummt Juncker. »Hab ich.«

»Also nehmen wir uns die drei anderen Verdächtigen noch mal vor. Und drei, vier Leute sollen die alten Akten durchsehen, unter anderem den Tatortbefundbericht. Vielleicht haben wir ja irgendetwas übersehen.«

Haben wir nicht, denkt Juncker.

Kapitel 5

Millionen von Kronen sind zur Unterstützung von durch die Pandemie betroffenen Unternehmen geflossen. Jetzt gehen die ersten Anzeigen wegen Betrugs mit Corona-Hilfen ein, wie die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität bestätigt.

Die Journalistin Charlotte Junckersen seufzt erleichtert. Gott sei Dank hat sie sich heute freigenommen. Andernfalls würde ihr Redakteur sie jetzt garantiert auffordern, weitere Nachforschungen zu der Betrugsgeschichte im Radio anzustellen, und sie würde sich mit derselben Unlust daranmachen wie an all die anderen Storys, mit der man sie beauftragt. Insbesondere die über Covid-19.

Dabei ist ihr durchaus bewusst, wo der Hase im Pfeffer liegt. Nicht die Storys sind das Problem, sie selbst ist es. Mit ihr ist nichts mehr los. Sie bringt es nicht fertig, so zu tun, als wäre die jüngste Umstrukturierung der Redaktion im Dienste des Journalismus geschehen, so wie die Chefetage es bei jeder Gelegenheit betont. Als wäre die Auflösung der Investigativgruppe das einzig Richtige, und die Verteilung der sechs ehemaligen Investigativjournalisten auf verschiedene Ressorts verbessere die journalistische Qualität der Morgentidende. Sie weiß, dass das nicht stimmt. Alle wissen das. Es ist die dritte größere Umstrukturierung der Redaktion binnen fünf Jahren. Um ein Haar wäre sie wieder im für das Parlament auf Schloss Christiansborg zuständigen politischen Ressort gelandet, was sie verhindert hat, indem sie hoch pokerte und mit ihrer Kündigung drohte. Ein gewagter Trick, aber sie hatte Erfolg, und ihr Chefredakteur bot ihr stattdessen eine Stelle im Inlandsressort an, die sie akzeptierte.

Im ganzen letzten Jahr hat sie nicht eine wirklich gute Story geliefert. Seit sie für ihre Enthüllungsgeschichte um das Behördenversagen, aufgrund dessen der Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt 2016 nicht verhindert werden konnte, mit dem Cavlingpreis ausgezeichnet wurde, hat sie nicht mehr groß von sich reden gemacht. Noch vor wenigen Jahren wäre es vollkommen undenkbar für sie gewesen, die nächsten Entlassungen zu fürchten. Jetzt rechnet sie ziemlich sicher damit, dass sie, sobald es wieder so weit ist – vermutlich unter dem Deckmantel einer »Fokussierung auf die wesentlichen Themen« –, eine von denen sein wird, die fliegen.

Es sei denn, sie gräbt irgendetwas aus. Etwas Wichtiges. Eine große Story.

Wie immer, wenn es heiß ist, hat sie schlecht geschlafen. Gegen zwei ist sie nass geschwitzt aufgewacht und hat ihr Nachthemd ausgezogen, was nichts brachte. Also zog sie auch ihren Slip aus und versuchte, splitternackt wieder einzuschlafen. Nach zwei Stunden gelang es ihr endlich, und sie schlief unruhig, bis ihr Handyalarm sie um 07:30 Uhr weckte.

Jetzt leert sie in einem Anflug schlechten Gewissens den Kaffeesatz in der Stempelkanne in den Rest- statt in den Biomüll. Aber der stinkt bei dieser Hitze so.

Auf dem Esstisch liegt ein T-Shirt, das sie sich über den Kopf zieht. Am liebsten würde sie nackt bleiben, aber die Nachbarn sollen sie nicht unbekleidet im Haus herumlaufen sehen. Das ist einer der wenigen Nachteile daran, in den »Kartoffelreihen« zu wohnen, einem der beliebtesten Viertel Kopenhagens: Von der Straße kann man direkt in die offene Küche und den Wohnbereich sehen. Es sei denn, man zieht die Gardinen zu, aber wer will das schon an einem schönen Sommertag?

Charlotte übergießt die frisch gemahlenen Bohnen mit heißem Wasser, lässt den Kaffee kurz ziehen, drückt schließlich den Stempel nach unten und schenkt sich eine Tasse ein. Dann setzt sie sich an den Esstisch und zieht einen Notizblock aus ihrer Tasche. Sie blättert ein paar Seiten vor und liest durch, was sie sich notiert hat. Es ist beinahe auf den Tag genau vier Monate her, seit sie zum ersten Mal von Peter Rolf kontaktiert wurde, dem ehemaligen Berater des Justizministers, der wegen Mordes an drei Frauen zu Sicherungsverwahrung auf unbestimmte Zeit verurteilt wurde. Er möchte mit ihr sprechen; er habe eine gute Story, über die sie sicher gern berichten würde, schrieb er.

Peter Rolf war wegen insgesamt fünf Morden angeklagt. Der erste lag zehn Jahre zurück, das Opfer war Martina Jensen, eine junge, aufstrebende sozialdemokratische Lokalpolitikerin aus Albertslund; allerdings wurde er in diesem Fall aufgrund einer zu dünnen Beweislage freigesprochen. Auch die Tötung des Polizisten Troels Mikkelsen konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Für schuldig befunden wurde er dagegen des Mordes an drei Frauen, die gemeinsam hatten, dass sie kompetent und erfolgreich gewesen waren. Die Vertretung der Anklage hatte eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert. Das Gericht folgte stattdessen jedoch der Empfehlung des rechtsmedizinischen Rates, der mit Verweis auf das gerichtspsychiatrische Gutachten erklärte, Peter Rolf sei zwar schuldfähig, aber so offenkundig fasziniert vom Strangulieren und damit eine derartige Gefahr für »Leib, Leben und Freiheit anderer«, dass die Frage, ob er je wieder auf freien Fuß gesetzt werden solle, der ärztlichen Einschätzung bedürfe. Der Rat votierte daher für die Verwahrung auf unbestimmte Zeit, und Richter und Schöffen kamen der Empfehlung nach. Es ist ein halbes Jahr her, dass der Fall gegen ihn geschlossen wurde. Sollte er jemals freikommen – ein äußerst unwahrscheinliches Szenario –, kann er sich schon mal auf die Auslieferung in die USA gefasst machen, wo er laut Überzeugung des FBI mindestens zwei Frauen ermordet hat.

Signe war die Erste, der Charlotte vom Angebot des Serienmörders, ihr eine gute Story zu liefern, erzählt hat. Der Cavlingpreis, die höchste Auszeichnung im dänischen Journalismus, den sie für ihre Berichterstattung über den Terroranschlag auf dem Nytorv erhalten hat, hätte ebenso sehr Signe gebührt, und ihre Beziehung entwickelte sich in der Folge zu einer Freundschaft. Entsprechend hart traf es sie, als Signe ihr aufs Entschiedenste davon abriet, mit Peter Rolf in Kontakt zu treten. Es bestünde keinerlei Grund, einem kompletten Psychopathen auch noch als Sprachrohr zu dienen, so Signe.

Zunächst ist Charlotte ihrem Rat gefolgt – auch wenn es sie wunderte, wie emotional ihre Freundin reagierte. Als habe sie etwas von Rolf zu befürchten. Als habe sie Angst, in seiner Story involviert zu sein.

Jedenfalls hörte Charlotte erst einmal auf ihre Freundin und reagierte nicht auf Rolfs Anfrage. Auch als er ein zweites Mal schrieb, antwortete sie nicht. Doch er gab nicht auf, und beim dritten Mal willigte sie ein, ihn zu treffen, und beantragte eine Besuchserlaubnis in der Haftanstalt.

Charlotte hat Signe noch nichts davon erzählt, aber sie ist schlicht und ergreifend neugierig. Außerdem würde sie nahezu alles tun, um etwas Aufsehenerregendes zu schreiben.

Erst wurde ihr Antrag mit der Begründung abgelehnt, Peter Rolf dürfe mit Rücksicht auf die Bevölkerung und insbesondere die Hinterbliebenen keine Plattform durch das Gespräch mit einer Journalistin erhalten.

Peter Rolf berief sich daraufhin auf das Strafvollzugsgesetz, das Häftlingen grundsätzlich das Recht zusprach, sich gegenüber der Presse zu äußern. Außerdem, hob Rolf hervor, ginge es bei Charlottes Besuch gar nicht um die Verbrechen, wegen derer er verurteilt wurde, womit auch kein Grund zur Rücksichtnahme bestünde.

Schließlich erhielt sie die Erlaubnis unter der Bedingung, dass die Haftanstalt die eventuell »in Zusammenhang mit dem Besuch« entstehenden Artikel lesen und genehmigen dürfte. Dem hat sie zugestimmt. Die Formulierung »in Zusammenhang mit dem Besuch« ist so flexibel, dass sie sie nötigenfalls problemlos umgehen könnte.

In zwei Stunden soll sie im Gefängnis Herstedvester sein, wo Peter Rolf seine Strafe absitzt. Sie trinkt ihren Kaffee aus und geht ins Bad, das zu dem kleinen Garten des Hauses zeigt und mit einem großen Milchglasfenster ausgestattet ist, das für ausgesprochen gute Lichtverhältnisse sorgt. Viel zu gute, denkt Charlotte seit Jahren. Sie streicht sich das rote Haar aus dem Gesicht. Ihr Haar ist im Großen und Ganzen das Einzige an ihrem Erscheinungsbild, das sich wacker hält. Bisher ist sie ums Färben herumgekommen. Der Rest dagegen …

Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel blickt, hat sich ihr Gesicht wieder ein bisschen verändert. Die Falte auf dem linken Augenlid zum Beispiel, die war doch gestern noch nicht da, oder? Sie braucht zwanzig Minuten, um alles durchzugehen. Könnte schlimmer sein, denkt sie, als sie das fertige Resultat betrachtet. Könnte aber auch definitiv besser sein. Sie hat sich selbst geschworen, niemals zu Botox zu greifen, aber an manchen Tagen überkommen sie die Zweifel, und dieser Morgen ist einer davon. Sie kann versuchen, die Runzeln im Mundwinkel und die Kummerfalte zwischen den Augenbrauen zu verbergen, entfernen kann sie sie nicht. Na und?, hat sie gegenüber ihren Freundinnen, die der Versuchung erlegen sind, immer erwidert: So ist es eben, wenn man älter wird. Aber inzwischen ist es lange her, seit sie zuletzt so gedacht hat, denn allmählich sieht sie aus wie eine verbitterte, müde alte Schachtel. Dabei ist sie das gar nicht.

Kapitel 6

Es ging völlig problemlos. Signes Chef bei der OK, Kristian Pagh, fand es ebenfalls naheliegend, dass sie die Überstunden jetzt abfeiert, da gerade keine größeren Projekte anstehen. Deshalb haben sie vereinbart, dass sie erst mal eine Woche freinimmt.

»Du kannst dann ja sehen, ob du noch ein paar Tage mehr brauchst. Hast du schon Pläne? Wollt ihr verreisen, du und dein Mann?«, fragte ihr Chef.

»Nein, haben wir nicht vor. Auch wenn die Kinder es natürlich toll fänden, ein paar Tage sturmfrei zu haben. Ich werde wohl eher versuchen, die Wäscheberge abzutragen und vielleicht mal Großputz zu machen, der steht dringend an.«

Lasse und Anne sind in der Schule und zählen die Tage, bis in anderthalb Wochen die Sommerferien beginnen. Niels ist im Co-Working-Büro in Vesterbro, das er sich vor einem Monat, als er einen großen Beraterauftrag für eine seeländische Kommune bekam, gemietet hat. Der Auftrag hat seine – und damit auch Signes – Laune erheblich verbessert. Nachdem er seine Stelle als Leiter eines Sozial- und Gesundheitszentrums in Nørrebro gekündigt und sich als Berater selbstständig gemacht hatte, mussten sie während der Anfangsmonate allein mit Signes Gehalt über die Runden kommen, was ihm zunehmend aufs Gemüt schlug.

Sie räumt Müslischälchen und Tassen von dem kleinen Esstisch in der Küche, dann setzt sie sich auf einen Stuhl und starrt in die Luft. Momentan gibt es in ihrem Leben nur eine einzige Sorge: Peter Rolf hat Charlotte kontaktiert, weil er angeblich eine gute Story für sie habe. Und Signe hat einen Riesenbammel, ob ihre Freundin wohl der Versuchung widerstehen könnte, einen Artikel zu schreiben mit der Überschrift: »Ermittlerin Signe K. fälschte Beweismaterial, um einen Kollegen, der sie vergewaltigt hatte, zu Fall zu bringen.«

Aber sie kann nichts tun, außer hoffen, dass Charlotte ihrer Bitte folgt und Peter Rolf ignoriert.

Also lenkt sie ihre Gedanken stattdessen in eine andere Richtung und überlegt, wie sie Junckers und ihre geheime Ermittlung gegen Robert Danius anpacken soll. Die Vorstellung, dass der Mann jetzt auf freiem Fuß ist, behagt ihr ganz und gar nicht. Sie weiß nicht genau, wie das Prozedere aussieht, wenn ein unschuldig Verurteilter entlassen wird, aber vermutlich geschieht es unmittelbar nach der Urteilsverkündung. Theoretisch könnte sie ihm also jederzeit auf der Straße begegnen.

Sie ruft Juncker an und verabredet sich mit ihm für später in seiner Mittagspause, um einen Plan zu entwerfen. Er klingt müde und gereizt, und Signe kommen Zweifel an ihrem Vorhaben, denn selbst wenn Juncker hoffentlich einige der Vernehmungsprotokolle kopiert hat, ist es umständlich, dass sie keinen vollen Zugriff auf die Fallakten hat. Und was kann Juncker schon beitragen, nachdem Merlin ihm ausdrücklich verboten hat, gegen Danius zu ermitteln?

Warum kann sie von solchen Dingen nicht einfach die Finger lassen?

Kapitel 7

Charlotte ist noch nie im Gefängnis Herstedvester gewesen. Sie hat nie über Kriminalfälle berichtet und war in ihrer langen Karriere als Journalistin nur ein einziges Mal zu Besuch in einer Haftanstalt. Zum Glück hat sie den Anlass vergessen.

Eine Vollzugsbeamtin bringt sie vom Haupteingang zu dem Raum, wo sie Peter Rolf treffen wird. Darin stehen ein ovaler Tisch mit weißer Platte und sechs helle Holzstühle. An einer Wand hängt ein Flachbildschirm neben einem Whiteboard, mehr Einrichtung gibt es nicht.

»Hier«, sagt die Beamtin und reicht ihr ein kleines Teil, das aussieht wie ein Autoschlüssel.

»Was ist das?«

»Ein Überfallmelder. Falls Sie sich bedroht fühlen, wir sind nur wenige Sekunden entfernt.«

»Bedroht? Meinen Sie, dass Rolf hier drin so weit gehen würde?«

»Nehmen Sie ihn einfach. Nur zur Sicherheit.«

Charlotte zögert. Dann zuckt sie mit den Achseln, nimmt das Gerät und steckt es in die Tasche ihres Blazers.

»Er kommt gleich. Wie gesagt: Wir sind direkt in der Nähe, sollte irgendetwas sein«, sagt die Frau und geht.

Charlotte setzt sich und legt Notizblock und Kugelschreiber bereit. Sie hat entschieden, kein Diktiergerät zu verwenden. Nach ihrer damaligen Erfahrung, als Peter Rolf noch Berater des Justizministers war, ist er erheblich offenherziger, wenn er nicht aufgenommen wird. Außerdem ist sie geübt im Notieren, sie gehört der Generation von Journalisten an, die das noch gelernt haben, bevor es üblich wurde, praktisch alle Interviews aufzuzeichnen.

Einige Minuten später geht die Tür auf. Mit breitem Lächeln betritt Peter Rolf in Begleitung eines Mannes mittleren Alters – nicht uniformiert, sondern gekleidet in einen zivilen grauen Anzug – den Raum. Der Mann stellt sich als Gorm Henriksen vor, Leiter der Abteilung.

»Sie kennen beide die Bedingungen für diesen Besuch, ich brauche Ihnen also nicht …«

»Ganz genau, Henriksen, brauchen Sie nicht«, unterbricht ihn Peter Rolf und zwinkert Charlotte zu.

»Na dann. Ich schaue in einer Stunde wieder rein. Sollten Sie vorher fertig sein, Frau Junckersen, klopfen sie einfach an die Tür. Fragen?«

Charlotte schüttelt den Kopf.

»Alles klar, dann lasse ich Sie jetzt allein.«

Peter Rolf setzt sich ihr gegenüber an den Tisch. Sie hat beschlossen, ihm zunächst das Ruder zu überlassen. Schließlich sitzen sie hier auf seine Initiative hin. Doch er sagt nichts. Schaut sie nur an. Und lächelt dieses Lächeln, das seine Signatur ist und das sie noch aus der Zeit kennt, als sie für das politische Ressort auf Christiansborg arbeitete. Sie hat viel darüber nachgedacht, wie es wohl sein wird, von Angesicht zu Angesicht einem Serienmörder gegenüberzusitzen, und sich vorgestellt, dass es sicher kaum anders wäre als die vielen Male, die sie sich mit ihm unterhalten hat, als sie noch auf professioneller Ebene miteinander zu tun hatten. Aber das ist es. Es ist vollkommen anders.

Er sieht aus wie früher. Jeans und ein weißes T-Shirt. Sorgfältig rasiert und vielleicht sogar noch einen Ticken muskulöser als in ihrer Erinnerung, aber hier drin hat er ja auch massig Zeit zum Trainieren. Und dann ist da dieses Lächeln. Einnehmend, wenn er will. Vertraulich, wenn er sich dazu entschieden hat. Nachsichtig. Einladend. Oder intim. Du und ich gegen den Rest der Welt, wenn die Situation es erfordert.

Er sagt kein Wort. Lächelt nur.

»Was wollen Sie von mir?«, fragt sie. Sie hat keine Lust auf dieses Spielchen.

Aber das möchte Peter Rolf ihr ganz offensichtlich noch nicht sagen. »Haben Sie einen Überfallmelder bekommen?«

Ein paar Sekunden lang schauen sie sich in die Augen. Dann nickt sie.

»Den brauchen Sie nicht«, sagt er. »Wie geht es Ihnen, Charlotte?«

Er wirkt vollkommen entspannt. Wie ein Gastgeber, der die Geladenen zu einer größeren Veranstaltung willkommen heißt. Aber sie hat nicht vor, mit einem Serienmörder zu plauschen.

»Gut, danke. Aber könnten Sie bitte zum Punkt kommen, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, erwidert sie, obwohl das nicht stimmt, sie hat nichts weiter vor. Er quittiert die Bemerkung mit einem neuerlichen Lächeln, doch in seinen Augen flackert ein Anflug von Irritation auf. Auch das erkennt sie von früher. Wenn ihm jemand seine Rolle als Leitwolf und die Kontrolle über das Gespräch streitig macht, reagiert er verstimmt.

Aber nur für eine Sekunde. Dann findet er zurück in seine Rolle.

»Natürlich, Sie sind schließlich eine viel beschäftigte Journalistin. Erhellen Sie mich, mit welchen Storys befasst sich die Starreporterin der Morgentidende derzeit? Ich lese ja täglich die Zeitung, kann mich aber nicht entsinnen, dass mir Ihr Name in letzter Zeit untergekommen wäre.«

Sein Versuch, sie einzuschüchtern, ist so plump, dass sie beinahe loslacht.

»Sagen Sie mir jetzt, was Sache ist, sonst gehe ich.«

Sie nimmt den Notizblock und greift nach ihrer Tasche. Peter Rolfs Lächeln verblasst. Dann hebt er eine Hand, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Wie gut haben Sie meinen Fall verfolgt?« Sein Tonfall ist neutral.

Sie schüttelt den Kopf. »Nicht besonders. Ich weiß grob Bescheid, habe mich aber nicht näher damit befasst.«

»Okay.«

»Außerdem dürfen wir nicht über Ihren Fall sprechen, wissen Sie noch? Das war Teil der Abmachung, damit ich Sie besuchen darf.«

Er schnaubt verächtlich. »Niemand hört uns zu. Wenn Sie es für sich behalten, erfährt es keiner. Außerdem bin ich derjenige, der gegen die Bedingungen verstößt, Sie können also vollkommen unbesorgt sein.«

Da hat er recht. Theoretisch jedenfalls. »Sprechen Sie weiter.«

Er rutscht auf seinem Stuhl vor. »Die Sache mit den zwei Haaren …?«

»Das sagt mir nichts.«

»Auf Katja Lütsachs Leiche wurden zwei Haare gefunden, die vom selben Mann stammten, allerdings nicht von mir …« Er lächelt und fährt sich über den glatt rasierten Schädel. »Die Polizei konnte sich nicht erklären, von wem sie waren. Was sich aber feststellen ließ: Sie stimmten mit einem DNA-Profil im sogenannten Spurenregister überein. Es gibt zwei DNA-Register: eines über namentlich bekannte Personen, die wegen Verbrechen angeklagt waren, auf die eine Freiheitsstrafe von mehr als anderthalb Jahren steht. Und eines mit nicht identifizierbaren DNA-Profilen, die an Tatorten und auf Opfern gefunden wurden – das Spurenregister. Die beiden Haare stammten von einem unbekannten Mann, der zwei mehrere Jahre zurückliegende, bislang ungeklärte Vergewaltigungen in Kopenhagen verübt hatte. Mein Verteidiger hat natürlich versucht, mithilfe dieser Haare Zweifel daran zu säen, wer bei Lütsachs Ermordung anwesend war.«

»Sie haben in sämtlichen Punkten auf nicht schuldig plädiert, richtig?«

»Natürlich. So läuft das Spiel.«

Das Spiel? Er hat fünf Menschen umgebracht, und trotzdem ist das alles für ihn nichts als ein Spiel. Am liebsten würde Charlotte aufstehen und sich auf Nimmerwiedersehen verabschieden, aber sie bleibt sitzen. Er hat ihre Neugier geweckt.

»Was hat Ihr Verteidiger gesagt?«

»Er meinte, es gäbe theoretisch drei Möglichkeiten«, antwortet Rolf und beugt sich über den Tisch. »Entweder kannte Katja Lütsach die Person, die die beiden Vergewaltigungen verübt hatte, oder war in ihrer Nähe gewesen, und die Haare waren auf diese Weise an ihren Körper gelangt. Oder sie wurde von zwei Personen ermordet. Die erste Möglichkeit wurde für unwahrscheinlich befunden, nachdem die Polizei ihren Familien- und Bekanntenkreis untersucht, dort aber niemanden gefunden hatte, der mit den beiden Vergewaltigungen in Verbindung gebracht werden konnte. Die zweite Möglichkeit haben die Ermittler eingehend geprüft, sie aber schließlich ebenfalls ausgeschlossen, weil es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass mehr als ein Täter den Mord ausgeführt haben könnte.« Er lächelt breit.

»Was?«, fragt Charlotte.

»Dem würde ich gern hinzufügen, dass ich Ihnen garantieren kann, dass nur ein Täter bei der Ermordung von Katja Lütsach anwesend war – wie übrigens auch bei den anderen Frauen. Was ich vor Gericht natürlich nicht erwähnt habe, da das ja einem Schuldgeständnis gleichgekommen wäre.«

Auf einmal kommt es ihr sehr heiß und stickig in dem kleinen Raum vor. Charlotte merkt, wie sich Schweißflecken unter ihren Achseln und auf dem Rücken ausbreiten. Sie unterdrückt das heftige Bedürfnis, aufzustehen und ihren Blazer auszuziehen. Peter Rolfs Miene ist vollkommen teilnahmslos.

»Und die dritte …?«

»Entschuldigung?«

»Sie haben gesagt, es gebe drei Möglichkeiten.«

»Ach ja, richtig. Die dritte und interessanteste Möglichkeit ist die, dass jemand die beiden Haare absichtlich auf der Leiche platziert hat, um denjenigen, zu dem sie gehörten, zu belasten.« Rolf lehnt sich zufrieden auf dem Stuhl zurück.

Charlotte überlegt. »Streng genommen könnten Sie das zum Beispiel gewesen sein, oder?«

»Ich war es aber nicht«, erwidert er leicht gereizt.

»Okay, Sie sagen also, jemand anders als Sie, der Zugang zur Leiche hatte, hat die Haare platziert?«

»Ganz genau.«

»Ich nehme an, die Anzahl der Menschen, die in der Nähe der Leiche waren, ist sehr begrenzt?«

»Zu dem Schluss kam auch mein Verteidiger. Der Jogger, der die Leiche fand, hat sich ihr nur auf einige Meter genähert. Dann waren da die beiden Streifenpolizisten, die als Erste vor Ort waren, die sind aber auch auf Abstand geblieben, weil die Frau offensichtlich mausetot war. Dass eine dieser drei Personen die Haare platziert hat, ist also eher unwahrscheinlich. Bleiben zwei Ermittler, ein Rechtsmediziner sowie drei Kriminaltechniker. Weder der Rechtsmediziner noch einer der drei Kriminaltechniker war zu irgendeinem Zeitpunkt allein mit der Leiche, die konnte man also ausschließen. Bleiben …« 

»Die beiden Ermittler.«

»Richtig. Zwei Personen, die Sie sehr gut kennen.«

»Signe und Martin, stimmt’s?«

»Ach, Sie nennen ihn Martin? Aber ja, ganz genau. Ihre Freundin und Ihr Ex-Mann.«

Charlottes Magen zieht sich zusammen. »Jemand wollte also einen Mann in die Pfanne hauen. Aber wen? Was wissen Sie? Sie verschweigen etwas.«

Er starrt ihr direkt in die Augen. Schweigt lange. Dann sagt er: »Ich weiß, wer dieser Mann ist.«

»Okay. Und zwar wer?«

»Sie kennen ihn. Ihr Mann, Entschuldigung, Ex-Mann, und Signe kennen ihn auch. Ziemlich gut sogar.«

»Jetzt spucken Sie’s schon aus. Wer?«

»Troels Mikkelsen.«