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Ursula Poznanski

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Beschreibung

+++ Platz 7 der Spiegel-Bestseller (Paperback) nach der ersten Verkaufswoche +++ Es ist klein. Es ist leise. Es sieht alles. Jona ist siebzehn und seinen Altersgenossen ein ganzes Stück voraus, was Intelligenz und Auffassungsgabe betrifft. Allerdings ist er auch sehr talentiert darin, sich bei anderen unbeliebt zu machen und anzuecken. Auf die hervorgerufene Ablehnung reagiert Jonas auf ganz eigene Weise: Er lässt sein privates Forschungsobjekt auf seine Neider los: eine Drohne. Klein, leise, mit einer hervorragenden Kamera ausgestattet und imstande, jede Person aufzuspüren, über deren Handynummer Jona verfügt. Mit dem, was er auf diese Weise zu sehen bekommt, kann er sich zur Wehr setzen gegen Spott und Häme. Doch dann erfährt er etwas, das besser unentdeckt geblieben wäre, und plötzlich schwebt er in tödlicher Gefahr. Drohnen, Überwachung, Manipulation, dunkle Geheimnisse – gekonnt webt Ursula Poznanski hochaktuelle Themen in ihren neuen Thriller. Die Spiegel-Bestseller-Autorin legt nach den Jugendbuch-Bestsellern Erebos, Saeculum, der Eleria-Trilogie (Die Verratenen, Die Verschworenen, Die Vernichteten) und Layers ihren neuen Jugendbuch-Thriller vor.

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Seitenzahl: 478

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Sammlungen



1

Der Zug hielt mit einem Ruck. Als wäre der Lokführer an der Station Rothenheim lieber vorbeigerauscht und hätte sich erst im letzten Moment dazu durchringen können, doch die Bremse zu ziehen.

Verständlich, fand Jona, obwohl das Haltemanöver ihn fast von den Füßen gerissen hätte. Er packte seinen Aluminiumkoffer fester und spähte nach draußen.

Grau, alles. Graue Straßen, graue Häuser, graues Wetter. Die Fotos in der Hochglanzbroschüre, die die Victor-Franz-Hess-Privatuniversität ihm gemeinsam mit ihrer Einladung zugeschickt hatte, hatten irgendwie anders ausgesehen.

Jona hängte sich seinen Rucksack um und stieg aus dem Zug. Hinaus in den Nieselregen.

Keine Spur von den Helmreichs. Klar. Wenn die Bahn schon einmal pünktlich war, musste sich seine Gastfamilie verspäten. Alles andere hätte nicht ins Bild gepasst und erst recht nicht in Jonas Leben.

Seufzend marschierte er auf das Bahnhofsgebäude zu und hielt Ausschau nach den beiden Durchschnittsgesichtern, die er auf den Facebookprofilen der Helmreichs betrachtet hatte. Silvia und Martin. Wahrscheinlich hatten sie heute Morgen aus dem Fenster gesehen, daraufhin einen depressiven Schub erlitten und beschlossen, ihrem Leben ein frühes Ende zu setzen.

»Vernünftige Entscheidung«, murmelte Jona, während er unter dem Bahnhofsvordach Schutz vor dem stärker werdenden Regen suchte. Fünf Minuten vergingen. Zehn. Voller Widerwillen zog er schließlich sein Handy aus der Hosentasche.

Silvia Helmreich. Er wählte die eingespeicherte Nummer an, lauschte dem Freizeichen. Dreimal, viermal. Dann schaltete sich die Sprachbox ein.

Guten Tag, ich kann im Moment leider nicht ans Telefon gehen, sprechen Sie Ihre Nachricht bitte nach dem Signalton.

Eine hohe Stimme in einer so aufdringlich gespielten Fröhlichkeit, dass Jona seine Vorsätze, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen, unmittelbar über Bord warf.

»Hallo. Hier ist Jona Wolfram, Sie erinnern sich? Nein? Also, ich bin der, den Sie eigentlich um 16Uhr25 vom Bahnhof hätten abholen sollen. Zumindest haben Sie das mit meinen Eltern so besprochen, persönlich hatten wir ja noch nicht das Vergnügen. Aber machen Sie sich keine Gedanken, beenden Sie ruhig vorher Ihre Shoppingtour oder Ihre Pediküre, ich warte einfach noch ein bisschen. Gleich neben mir sitzt ein netter, bärtiger Mann, der mir angeboten hat, seinen Doppelliter Rotwein mit mir zu teilen. Also keine Eile!«

Noch bevor er die Verbindung trennte, wusste Jona, dass diese Aktion dumm gewesen war. Vor allem die Sache mit Shopping und Pediküre, die würde man ihm übel nehmen. Konnte ja auch sein, dass gerade die Oma vom Lkw überfahren worden war.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Begriff wieder einmal nicht, warum seine Intelligenz, die ihm im Alter von siebzehn Jahren ein Vollstipendium an einer Eliteuni einbrachte, ihn in ganz alltäglichen Situationen ständig im Stich ließ.

Er behielt das Smartphone in der Hand und überlegte sich ein paar überzeugend klingende Entschuldigungen, während er auf Silvia Helmreichs erbosten Rückruf wartete.

Obwohl – auf ein Gespräch mit ihr legte er überhaupt keinen Wert. Eine Rückmeldung anderer Art wäre ihm hingegen sehr gelegen gekommen. Jona seufzte. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht, Silvia in seine Sammlung aufzunehmen?

Er rief noch einmal ihre Nummer auf, über seine ganz spezielle Nachrichten-App.

Bin am Bahnhof, kann Sie leider nirgendwo sehen. Ist alles in Ordnung? Liebe Grüße, Jona Wolfram.

Kaum zwei Minuten später verkündete sein Smartphone per Glockenton, dass eine SMS eingetroffen war.

Tut mir leid, werde gleich da sein. Fünf Minuten, höchstens zehn. Freue mich darauf, dich kennenzulernen! Silvia.

Sie hatte geantwortet. Jona grinste zufrieden in sich hinein. Jetzt gehörte sie ihm. Ja, sie würde ihn kennenlernen. Und er sie noch viel besser.

Er überlegte sich, ob er nicht gleich auch die Universität anrufen und mit dem Rektor einen ersten persönlichen Termin vereinbaren sollte. Dr.Carl Schratter. Wenn man nach dem Bild auf der Uni-Homepage ging, wirkte er wie ein freundlicher Mann mit streng nach hinten gebürstetem graublondem Haar und einer ziemlich großen Nase. Vor ein paar Tagen noch hatte Jona von ihm eine Mail bekommen, eine vorauseilende Begrüßung und zum vierten oder fünften Mal die Versicherung, dass er sich sehr, wirklich sehr freue, so ein Ausnahmetalent wie Jona an seiner Universität begrüßen zu können.

Er klang nett, dieser Carl Schratter. Er wusste Jona zu schätzen.

Exakt in dem Moment, in dem er die Nummer des Rektoratsbüros aufrief, bog endlich Silvia Helmreich um die Ecke, völlig aufgelöst.

»Es tut mir so leid! Du bist Jona, nicht wahr? Es tut mir so leid, Jona.« Sie griff nach seinem Alukoffer und er musste sich zusammennehmen, um ihn ihr nicht grob aus der Hand zu reißen.

»Den nehme ich«, sagte er. »Sie müssen nichts für mich tragen, wirklich nicht.«

Sie blickte sich hektisch um und lächelte dann, als müsse sie sich erst erinnern, wie man das macht. »Wie du meinst. Der Großteil deiner Sachen ist ja längst bei uns. Drei Koffer, zwei Taschen, ist das richtig?«

»Ja.« Er musterte die Frau von oben bis unten. Sie wirkte so erschöpft, als hätte sie den Weg zum Bahnhof im Laufschritt zurückgelegt. »Was hat Sie denn so lange aufgehalten?«

Für Jonas Geschmack dachte Silvia Helmreich darüber einen Moment zu lange nach. »Es gab ein Problem mit dem Auto. Mein Mann sagt mir schon seit Monaten, ich soll es in die Werkstatt stellen, doch bisher habe ich es immer aufgeschoben. Er wird sauer sein, aber das geschieht mir wohl recht.«

Verlieren wir bloß keinen Gedanken daran, ob eventuell ich sauer bin, dachte Jona bitter. »Es wäre nett gewesen, wenn Sie mich angerufen und informiert hätten.«

Sie blinzelte, als ob das ein völlig neuer Gedanke für sie wäre. »Ja. Ja, da hast du recht. Tut mir wirklich leid, ich fürchte, wir haben da keinen sehr guten Start.«

Er antwortete nicht, sondern trottete schweigend neben ihr her zum Auto und bestand darauf, den Alukoffer selbst zu verstauen. Als sie vom Parkplatz fuhren, ergriff er wieder das Wort.

»Haben Sie in der letzten halben Stunde Ihre Sprachbox abgehört?«

Sie sah ihn an, schüttelte den Kopf.

»Gut. Es wäre besser, Sie belassen es dabei.«

Das Haus war in zwei verschiedenen Blautönen verputzt und von einem sehr gepflegten Garten umgeben. Jona hakte in Gedanken alle klaren Symptome für Spießigkeit und Angepasstheit ab: Vogelhäuschen – check; Thujenhecke – check; der gemauerte Grill aus dem Baumarkt – check; spucknapfgroßer Swimmingpool – natürlich auch check. Nur die Gartenzwerge suchte er vergebens, nahm sich aber vor, der Familie zwei oder drei davon zu schenken. Um das Bild wirklich rundzumachen. »Warte noch einen Moment.« Silvia Helmreich mühte sich mit dem Türschloss ab, das offenbar klemmte. »Ich möchte nur schnell sichergehen, dass alles in Ordnung ist.« Sie lächelte Jona an. »Erster Eindruck, du weißt ja.«

Er musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszulachen. Als ob der erste Eindruck noch zu retten gewesen wäre. Als ob ihn nach fast einer Stunde Warten am Bahnhof ein paar dreckige Socken auf dem Fußboden noch irritieren könnten.

Doch diesmal musste er sich kaum eine Minute lang gedulden, bevor er hereingewunken wurde. »So. Willkommen. Ich hoffe, du wirst dich bei uns wohlfühlen, Jona. Lass uns per Du sein, okay? Nenn mich Silvia.« Sie streckte ihm die Hand hin und er ergriff sie nach kurzem Zögern.

»Dein Zimmer ist im ersten Stock, du kannst die Wände gern so dekorieren, wie du sie haben möchtest. Alles kein Problem. Der WLAN-Empfang ist da oben auch sehr gut.«

Die Wände waren Jona gleichgültig, dagegen war der WLAN-Empfang fast lebenswichtig. »Danke, äh, Silvia. Ich werde dann mal auspacken.«

Sie nickte, ging auf der Treppe voraus und öffnete oben die erste Tür links. »Hier. Bad und Toilette sind gleich gegenüber. Du teilst sie dir nur mit Kerstin; Martin und ich haben unser eigenes Bad.«

Ah ja. Kerstins Existenz hatte er beinahe verdrängt, obwohl er von seinen Eltern wusste, dass die Helmreichs eine zweiundzwanzigjährige Tochter hatten. Da konnte er sich gut ausrechnen, wie häufig das Bad besetzt sein würde.

Das Zimmer war nicht groß, aber es würde reichen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Jona den Teddybären, den man ihm aufs Kopfkissen gesetzt hatte, und quartierte ihn im Kleiderschrank ein.

Die Koffer, die Mama und Paps schon vor einer Woche vorausgeschickt hatten, waren alle angekommen. Jona stöpselte sich die Kopfhörer in die Ohren, drehte die Musik auf volle Lautstärke und begann mit dem Auspacken.

»Sie werden dich in alle Einzelteile zerlegen«, erklärte Kerstin genüsslich, bevor sie sich eine weitere Gabel Spaghetti in den Mund schob.

»Kerstin!« Silvia ließ ihr Besteck klirrend auf den Teller fallen. »Nimm dich zusammen, ja? Jona wird blendend zurechtkommen, warum auch nicht? Ihr geht an eine der besten Universitäten im Land, eine Eliteuniversität, dort weiß man ja hoffentlich, wie man miteinander umgehen muss!«

»Es ist ein Haifischbecken«, konstatierte Kerstin ungerührt. »Und er hier – hast du ihm die letzte Viertelstunde lang zugehört? –, er ist ein Klugscheißer. Ein kleiner Klugscheißer, zu allem Überfluss. Sie werden ihn als Konkurrenz betrachten und ihm das Leben so schwer machen, wie sie können. Noch dazu, wo er erst vier Wochen nach Semesterbeginn hier aufschlägt. Sonderbehandlung von Anfang an.«

Jona zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur auf eure Fragen geantwortet. In vollständigen, grammatikalisch korrekten Sätzen, das ist wahr – und wenn mich das schon zum Klugscheißer macht, dann frage ich mich, was genau an dieser Universität hier Elite sein soll.«

Silvia seufzte, Kerstin lachte laut auf. »Toll, dass du da bist. Ich werde so viel Spaß haben.«

Ein Räuspern von der Stirnseite des Tisches. Martin Helmreich hatte die ganze Zeit über kaum ein Wort gesagt, jetzt blickte er von seinem Teller auf. Er war blass und wirkte müde. »Wirklich schön zu hören, dass du so viel von deiner Uni hältst, Kerstin. Deine Mutter und ich nehmen eine Menge auf uns, um dich dort hinschicken zu können.«

Oh Gott, die Opfernummer. Erstmals fühlte Jona etwas wie Sympathie für Kerstin. Diese Art von Eltern abzukriegen, war echt Pech. Er warf einen Blick auf Silvias Leidensmiene und wandte sich sofort wieder ab. Was wir alles auf uns nehmen.

Und nun hatten sie auch noch Jona aufgenommen. Das allerdings freiwillig und gegen ausreichend Geld, was er ihnen notfalls unter die Nase reiben würde.

Aber nicht heute. »Dann hoffe ich, ich bin keine zusätzliche Belastung«, sagte er zuckersüß. Sah, wie Helmreich irritiert die Augenbrauen hochzog.

»Aber natürlich nicht.« Er drehte den Kopf zur Seite, blickte einen Moment lang zum Fenster, in dem sich das Esszimmer spiegelte. Anscheinend war er mit seinen Gedanken bereits wieder woanders. »Danke für das Essen, Silvia. War sehr gut. Ich glaube, ich gehe schon mal nach oben.«

Jona wartete, bis Martins Schritte auf der Treppe verklungen waren. »Ich schließe mich an. Ich bin hundemüde. Der Tag war lang und der morgen wird es auch, schätze ich.«

Ohne eine Antwort abzuwarten – oder sein Geschirr wegzuräumen –, ging er nach draußen. Lief die Treppe hinauf, nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal und schloss die Zimmertür hinter sich. Leise.

Endlich allein. Endlich Ruhe.

Jona kniete sich vor sein Bett und zog behutsam den Alukoffer darunter hervor. Er war abgesperrt, der Schlüssel sicher versteckt. So würde es fürs Erste bleiben. Es war noch viel zu früh, den Koffer zu öffnen. Wozu auch. Es lohnte sich bisher noch bei niemandem, ihm Elanus auf den Hals zu hetzen.

2

»Der Rektor ist beschäftigt.« Die hektischen roten Flecken im Gesicht der Sekretärin entlockten Jona ein mitfühlendes Lächeln. Als er zehn Minuten vorher zum zweiten Mal an der Tür geklopft hatte, war die Haut der Frau noch durchgehend blass gewesen. Tja, es tat ihm leid, dass er ihr Stress verursachte, aber er wartete nun bereits eine halbe Stunde vor dem Rektorat und hatte nicht vor, da draußen vergessen zu werden. »Mein Termin mit Dr.Schratter war um zehn Uhr.«

Die Frau strich mit einer fahrigen Bewegung ihr halblanges Haar hinters Ohr und öffnete den Mund zu einer Antwort, doch noch bevor sie auch nur einen Ton sagen konnte, unterbrach ein Krachen das eben begonnene Gespräch. Als hätte jemand im Büro des Rektors einen Stuhl umgeworfen. Oder ihn gegen die Wand gedroschen.

»Sie Vollidiot!« Eine laute Stimme, männlich. »Ist Ihnen überhaupt klar, was Sie da angerichtet haben?«

Jona biss sich auf die Lippen. Schien ein sympathischer Mann zu sein, dieser Schratter. Nach dem Ton seiner Mails hatte Jona sich ein anderes Bild von ihm gemacht. War wohl keine gute Idee, ihm in einer solchen Stimmung zum ersten Mal zu begegnen.

»Vielleicht verschieben wir den Termin ja«, murmelte die Sekretärin peinlich berührt und zog einen Buchkalender hervor. »Ich kann nur im Moment noch nicht sagen, wann es dem Rektor passen wird. Aber … vielleicht Freitag?«

Im Büro sprach nun jemand anderes, sehr leise und in schuldbewusstem Ton. Zu seinem Leidwesen konnte Jona kein Wort verstehen.

»Freitag wäre okay.«

»Ich sehe, was ich tun kann.« Die Sekretärin schrieb eine Notiz in den Kalender. »Melden Sie sich vorsichtshalber noch mal bei mir. Tut mir leid, aber – Dr.Schratter hat derzeit sehr viel um die Ohren. Er ist sonst nicht so, keine Sorge.«

»Ja, natürlich.« Jona schielte zur Tür hinüber, doch dahinter war es jetzt ruhig. »In Ordnung. Dann also bis bald.«

Er hatte die Tür beinahe schon geschlossen, als die Frau ihn noch einmal zurückrief. Sie hatte eine dünne graue Mappe in der Hand. »Hier. Ihre Unterlagen, da steht alles drin. Vorlesungen, Übungen, Professorenkontakte.« Sie musterte ihn kurz. »Sie sind ja begabt, sagen sie, dann werden Sie sich schon zurechtfinden.«

Oh, wie gut er diesen Satz kannte. Und wie sehr er ihn liebte. Wer sich für klüger hielt als andere, durfte es gerne ein bisschen schwerer haben im Leben.

Ohne zu grüßen, drehte er sich um und ging, bereits vertieft in die Mappe, die ihm eben überreicht worden war. Ach du liebe Güte.

Grundbegriffe der Mathematik. Analysis 1. Lineare Algebra 1. Einführung in die Informatik. Einführung in die strukturierte Programmierung.

Sie hatten ihn tatsächlich in die Kurse des ersten Semesters eingeteilt. So war das nicht verabredet gewesen, da würde er ja bloß seine Zeit verschwenden. Das war doch alles Kinderkram, dazu hatte er schon während der letzten beiden Schuljahre bergeweise Fachliteratur gewälzt.

Jona blätterte vorwärts. Er wusste, die interessanten Sachen kamen erst viel später, mit den Vertiefungsfächern: Entwurf und Analyse von Algorithmen. Mathematische Grundlagen der Kryptografie.

Zu dumm, dass Dr.Schratter damit beschäftigt gewesen war, Untergebene niederzubrüllen. Jona hätte ihn sonst an ihre Vereinbarung erinnern können. Sie hatten besprochen, dass er die Einführungsphase überspringen und gleich mit den Kursen des dritten Semesters beginnen konnte.

Er seufzte. Die Vorlesung über mathematische Modellierung begann in zwanzig Minuten. Das war eine Veranstaltung für Fünftsemester, aber sie würden ihn schon nicht rausschmeißen. Dieser Stoff interessierte ihn, und wenn er dem Dozenten nicht folgen konnte, würde zumindest das eine interessante neue Erfahrung sein.

Laut dem Lageplan, den er ebenfalls in der Mappe fand, war das Institut höchstens zweihundert Meter entfernt.

Na dann. Er war hier, um zu studieren, und genau das würde er jetzt tun. Wenn es allzu langweilig wurde, konnte er immer noch darüber nachdenken, wie sich Elanus’ Stabilität weiter verbessern ließ. Sie war gut, aber nicht perfekt.

Und perfekt war das Mindeste, was er zu akzeptieren bereit war.

Natürlich musterten sie ihn beim Hereinkommen. Erstaunt, irritiert oder milde lächelnd. Als wäre er der Botenjunge.

Sie mussten alle etwa einundzwanzig, zweiundzwanzig sein. Es war Jona klar, dass die vier Jahre, die ihn noch von diesen Studierenden trennten, keine Kleinigkeit waren. Und davon abgesehen: Die meisten hier kamen aus Familien, die sich fünfstellige Studiengebühren leisten konnten, und das jedes Jahr. Söhne und Töchter russischer Oligarchen, amerikanischer Großindustrieller oder arabischer Ölmilliardäre. An mehr als einem Handgelenk sah Jona eine Uhr blitzen, die deutlich mehr gekostet haben musste als das Auto seiner Eltern.

Tja, leicht würde es nicht werden. Noch dazu war er keiner von den Siebzehnjährigen, die locker als neunzehn durchgingen.

»Sorry, ich denke, du hast dich verirrt.« Ein Student, der eben noch lässig an seiner Tischkante gelehnt hatte, kam auf ihn zu.

Jona straffte die Schultern. »Hier findet gleich die Veranstaltung zu mathematischer Modellierung statt? Oder?« Er tätschelte den Oberarm des anderen. »Dann bin ich richtig.«

In der zweiten Reihe fand er einen freien Platz und ließ seine Tasche zu Boden gleiten. Hinter sich hörte er verhaltenes Lachen und einen leisen Wortwechsel. Die Sache mit dem Tätscheln war ein Fehler gewesen, das würde der Kerl nicht auf sich sitzen lassen.

»Hey. Kleiner.«

Ja. Da stand er schon mit seinen gut eins neunzig und diesem vom Dreitagebart umrahmten, schiefen Lächeln, auf das Mädchen üblicherweise flogen. Eine teure Uhr trug er allerdings nicht.

Kleiner, na klar. Wie originell. »Ich heiße Jona.«

»Aha. Okay, Jona, hör zu: Du bist hier falsch. Heute ist weder Schnuppertag, noch ist es bei uns üblich, jüngere Geschwister mitzubringen, also wer auch immer dich angeschleppt hat, soll dich wieder abholen.«

Jona lächelte, so herzlich er konnte. »Entschuldige bitte, ich habe deinen Namen nicht verstanden.«

Er konnte das winzige Zucken im Mundwinkel des anderen sehen – entweder er würde loslachen oder richtig unfreundlich werden. Doch Jona wurde enttäuscht. Sein Gegenüber blieb völlig ernst.

»Aron. Ich heiße Aron.«

Jetzt einfach die Hand ausstrecken, herzlich lächeln und auf höflich-bescheidene Weise sagen, was Sache war. Das war möglich, andere konnten es doch auch.

Aber schon als Jona den Mund öffnete, wusste er, dass seine vernünftige Seite eine weitere Niederlage würde einstecken müssen.

»Das freut mich sehr, Aron. Und zu deiner Information: Ich bin hier keineswegs falsch. Ich greife höchstens ein bisschen vor, denn eigentlich bin ich Erstsemester, aber das Curriculum der ersten beiden Jahre ist ein Witz, da wirst du mir wahrscheinlich zustimmen. Also dachte ich mir, ich höre mir eine Vorlesung an, in der ich vielleicht irgendetwas Neues erfahre.« Er strich sich die Haare aus der Stirn. »Falls mein Alter dich stören sollte – ich bin erst siebzehn, das ist wahr. Aber ich bin verdammt schlau und man hat mir ein Vollstipendium für diese angebliche Eliteuni aufgedrängt.« Er wusste, es wäre klüger gewesen, sich an dieser Stelle zu bremsen. Zu lachen und so zu tun, als sei alles ein Scherz gewesen. Aber er schaffte es nicht, er schaffte es einfach nicht. »Mal sehen, was ihr hier so könnt. Im Übrigen gebe ich dir gern Nachhilfe, falls du mit dem Stoff Schwierigkeiten haben solltest. Meine Preise sind ausgesprochen fair, also keine Sorge deswegen.«

Aron hatte die Arme vor der Brust verschränkt und war einen Schritt zurückgetreten. »Du hast einen richtig heftigen Knall, oder?«

»Nicht schlimmer als die meisten.« Aus den Augenwinkeln sah Jona, wie jemand den Hörsaal betrat, der deutlich älter war als der Rest der hier Versammelten. Der Dozent vermutlich.

Auch Aron hatte ihn bemerkt. »Na gut, dann wird dich eben Dr.Lichtenberger rausschmeißen. Wenn dir das lieber ist …« Er zuckte belustigt mit den Schultern und ging zu seinem Platz zurück.

Jona entspannte sich. Mit Erwachsenen kam er normalerweise viel besser zurecht als mit Leuten, die in seinem Alter waren. Dieser Lichtenberger wirkte okay, auf den ersten Blick. Ein großer, gut aussehender Mann in Jeans und Pulli, mit dunklem Haar und breiten Schultern. Nur seine Bewegungen passten nicht ganz zu seiner Erscheinung, sie waren ein wenig fahrig, er rückte alle paar Sekunden seine Brille zurecht. Der Rahmen war aus blau schimmerndem Kunststoff und es war ein Stück herausgebrochen, wie Jona beim zweiten Blick irritiert bemerkte. Die Stelle war mit transparentem Klebeband repariert worden, aber wenn man genau hinsah …

»Guten Morgen.« Lichtenberger stellte eine braune Ledertasche auf dem Tisch ab und blickte in die Runde. »Wenn Sie so nett wären, mir zu sagen, wo wir beim letzten Mal stehen geblieben sind, ich bin heute nicht ganz –« Sein Blick blieb an Jona hängen. »Oh. Wir kennen uns noch nicht. Sind Sie sicher, dass Sie nicht im falschen Hörsaal gelandet sind?«

Leises Gelächter. Lauteres von Aron, der schräg hinter Jona saß. »Das habe ich auch schon versucht, ihm klarzumachen.«

Fast genüsslich langsam stand Jona auf. Er liebte Gelegenheiten wie diese und konnte ihnen einfach nicht widerstehen. Es saßen rund zwanzig Leute im Hörsaal, hauptsächlich junge Männer, und keiner von ihnen würde ihm im Anschluss noch freundlich gesonnen sein. Aber es würde ihn auch keiner je wieder vergessen, der Professor inbegriffen.

»Mein Name ist Jona Wolfram und ich bin nicht irrtümlich hier. Mich interessiert mathematische Modellierung, ich habe mich in den vergangenen Jahren intensiv damit beschäftigt.«

Lichtenberger zog ein Blatt Papier aus seinen Unterlagen. »Jona Wolfram? Sie stehen nicht auf der Liste der angemeldeten Studenten.«

»Das liegt daran, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, mit dem Rektor zu sprechen. Ich wollte ihn bitten, mich die Einführungsphase des Studiums überspringen zu lassen, aber leider hatte er heute keine Zeit für mich.«

In einer ratlosen Geste wischte Lichtenberger sich über die Stirn. Blickte auf seine Studentenliste, dann wieder auf Jona.

Seine Unsicherheit war überraschend. Jona hatte damit gerechnet, dass der Dozent ihn freundlich, aber bestimmt zum Gehen auffordern würde, und sich bereits genau zurechtgelegt, was er dann tun würde.

»Also …« Lichtenberger zögerte. »Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«

»Siebzehn und so hochbegabt, dass es kaum noch auszuhalten ist. Vollstipendium, persönliche Einladung des Rektors und des Beirats der Schule, die wahrscheinlich hofft, sich einen künftigen Nobelpreisträger unter die Absolventen zu holen.«

Wieder ein Satz, den er sich ebenso gut hätte verkneifen können. Verdammt, er lernte es einfach nicht. Besser, er trat jetzt schnell den Beweis dafür an, dass er nicht nur eine große Klappe hatte.

Ohne die Entgegnung des Dozenten abzuwarten, ging er nach vorne an dessen Tisch, warf einen Blick auf die dort liegenden Papiere und fand sofort, was er suchte. »Ist das der Stoff für heute? Ja? Dann sehen wir uns das doch einmal an.«

Unter dem fassungslosen Schweigen der Anwesenden ging er mit dem Blatt zum Whiteboard an der Stirnseite des Hörsaals und griff sich einen der Stifte.

»Also. An einer stark befahrenen Straße soll eine Ampel installiert werden. Wie lang sollen die Ampelphasen sein, damit sich während der Grünphase der Stau vor der Ampel vollständig abbaut?«

Nun trat Lichtenberger doch zu ihm. »Herr, äh, Herr Wolfram, würden Sie bitte …«

Jona ignorierte ihn völlig. »Wir müssen hier ein Strömungsmodell erstellen. Dazu sind Vereinfachungen nötig, wir nehmen also eine einspurige Straße an und ignorieren Überholvorgänge. Außerdem modellieren wir die Autos nicht als individuelle Fahrzeuge, sondern nehmen eine Fahrzeugdichte Rho an, die zwischen den Punkten a und b am Ort x zu einer Zeit t größer gleich null gilt.« Er war jetzt völlig in seinem Element, die Gedanken, die logischen Schlussfolgerungen flossen fast ohne sein Zutun, so schnell, dass er mit dem Sprechen kaum nachkam. Mit dem Schreiben am Whiteboard ohnehin nicht.

»V bezeichnet die Geschwindigkeit der Autos, die in das Intervall a-b einfahren, die Anzahl der Autos, die den Punkt x zur Zeit t passieren, lässt sich damit einfach berechnen, sobald wir den Wert Rho kennen, also die Fahrzeugdichte. Dafür gilt es nun, eine Bewegungsgleichung aufzustellen.«

Er notierte die Gleichung auf dem Whiteboard, wischte dabei zweimal Zeichen weg und schrieb sie neu – nicht weil er sich geirrt hatte, sondern weil seine Schrift unter dem rasenden Tempo unleserlich wurde.

»Herr Wolfram«, versuchte Lichtenberger es erneut. »Egal, ob Sie hier wirklich Student sind oder nicht, Sie können nicht einfach die Vorlesung an sich reißen …«

Jona achtete nicht auf ihn. Er hatte alle Mühe, seinen vorausgaloppierenden Gedanken die nötigen Erklärungen folgen zu lassen.

»Wir benötigen nun eine Gleichung für die Geschwindigkeit v und setzen voraus, dass sie von der Fahrzeugdichte abhängt und folgenden Bedingungen unterliegt: v ist eine monoton fallende Funktion von Rho – logisch, da die Autos bei dichterem Verkehr langsamer fahren. Wir nehmen außerdem an, dass die Autos auf einer leeren Straße mit der maximal erlaubten Geschwindigkeit unterwegs sind und dass die Autokolonne ab einem gewissen Mindestabstand steht. Das einfachste Modell, das alle diese Bedingungen erfüllt, ist eine lineare Beziehung zwischen Rho und v …«

Jona unterbrach sich. Lichtenberger hatte ihm wortlos den Stift aus der Hand genommen. Seine eigene Hand hatte dabei leicht gezittert – aber nicht aus Wut, wie Jona seinem Gesichtsausdruck entnahm. Dort las er eher etwas wie Anspannung. Oder Angst? Nein, warum auch.

»Vielen Dank, Herr Wolfram. Wir haben nun alle begriffen, wie unglaublich schlau Sie sind. Was Ihre charakterliche Reife angeht, scheinen Sie allerdings noch Aufholbedarf zu haben. Ich möchte jetzt, dass Sie meine Vorlesung verlassen und sich an das Curriculum für Studierende der Einführungsphase halten, so wie alle anderen auch.«

Jona verbeugte sich stumm, erst zu Lichtenberger hin, dann zu den anderen Studenten im Hörsaal, bevor er seine Tasche holen ging. Das Hochgefühl, das ihn jedes Mal überkam, wenn er komplizierte mathematische Aufgaben löste, erfüllte und wärmte ihn immer noch. Als wäre er völlig im Einklang mit dem Universum.

Vermutlich würde dieser Auftritt irgendwann wie ein Bumerang zu ihm zurückgeschossen kommen, im ungünstigsten Moment. War bisher fast immer so gewesen.

Aber für heute würde er am Institut Gesprächsthema Nummer eins sein.

3

Draußen war es warm, einer dieser Herbsttage, an denen man nicht glauben konnte, dass die Ferien schon vorbei waren. Jona schlenderte über den Campus und merkte allmählich, wie das Triumphgefühl in ihm beklommener Ernüchterung wich. Er hätte einen anderen Start wählen sollen. Freundlich sein. Bescheidenheit vortäuschen, statt allen seine Überlegenheit um die Ohren zu hauen.

Es war ja noch nicht einmal sicher, dass er wirklich überlegen war. So schwierig war die Aufgabe nicht gewesen, es war also gut möglich, dass in dem Hörsaal zwei oder drei andere gesessen hatten, die sie ebenso schnell und korrekt hätten lösen können wie er, sich aber zurückgehalten hatten.

Unwahrscheinlich, aber möglich.

Er kickte ein Steinchen vom Weg. Vermutlich war es am besten, jetzt doch noch in die richtige Vorlesung zu gehen. In die, die auf seinem Stundenplan vermerkt war. Nur dass er dort erst recht anecken würde, das wusste er genau, er kannte sich selbst schließlich schon lange genug. Langeweile machte ihn angriffslustig und Beherrschung war nicht seine starke Seite. Das hatte er ja eben wieder bewiesen.

Erstmals, seit er aus dem Institut gelaufen war, sah er sich bewusst auf dem Campus um. Da, ziemlich abgelegen, in einiger Entfernung zu seiner Rechten, war eine Baustelle, inklusive Baggern und Kran. Abgesperrtes Gelände. Sah aus, als bekäme die Uni ein großes neues Gebäude dazu. Der Lärm der Maschinen war nur leise zu hören und auch nur, wenn man hier draußen war.

Auf der linken Seite sah es freundlicher aus, dort war jede Menge los. Gruppen von Studierenden saßen zusammen und lachten oder lernten oder taten beides gleichzeitig. Er glaubte, ein paar Fetzen Russisch zu hören, von drei Studenten, die unter einem Baum auf der Wiese saßen. Ja, das Publikum war international. Töchterchen und Söhnchen stinkreicher Eltern, oder Genies wie er selbst. Ein Stück weiter entdeckte er zwei Jungs, die arabisch aussahen. Juniorscheichs vermutlich. Und ein paar Meter links von ihnen …

Jona blieb stehen. Wahnsinn. Egal, was ab jetzt passierte, allein für diesen Anblick hatte es sich gelohnt, nach Rothenheim zu kommen.

Das Mädchen war beinahe so groß wie er, und im ersten Moment fiel ihm weder ihre Figur noch ihr Gesicht noch ihre Haarfarbe auf, sondern einzig und allein die Art, wie sie sich bewegte. So harmonisch und fließend, als wäre das Leben ein Tanz.

Dabei hatte sie nichts Besonderes getan, sondern nur ihre Tasche von der Schulter genommen, sie auf der Parkbank abgestellt und sich dann auf die Lehne dieser Bank geschwungen. Nun hielt sie ihr Gesicht in die Sonne. Die Augen hatte sie geschlossen, also konnte Jona sie ungestört betrachten.

Sie war blond, ihre Haare hatten die Farbe von hellem Bernstein, der im Licht leicht rötlich schimmerte. Ihre ausgewaschenen Jeans steckten in ausgetretenen Raulederstiefeletten, das schwarze Shirt war eben im Begriff, ihr über die linke Schulter zu rutschen. Und sie lächelte. Als würde sie an jemanden denken.

Mit einem Ruck wandte Jona sich ab. Er wusste genau, was er tun wollte, aber das war falsch, falsch, falsch. Er würde sie nicht ansprechen, nicht einfach so. Nicht ohne Vorbereitung.

Sie kannte ihn noch nicht. Er hatte die Chance auf einen guten ersten Eindruck, aber die würde er vermasseln, wenn er sich auch nur eine Sekunde lang unsicher fühlte. Und das würde er bei ihrem Anblick, außer er hatte sich vorher genau zurechtgelegt, was er sagen wollte.

Jona nahm die Abzweigung nach rechts, da ging es zum Institut für Wirtschaftswissenschaften, wenn man dem Wegweiser vertrauen wollte. Zwei amerikanische Studentinnen kamen ihm lachend entgegen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Das Mädchen auf der Bank würde genauso auf ihn reagieren, nämlich gar nicht. Er würde sie nicht mit einer schnellen Aktion oder ein paar coolen Sprüchen für sich gewinnen können, dafür fehlte ihm das Aussehen.

Nicht, dass er hässlich gewesen wäre, nein, aber er wirkte eben sehr … jung. Selbst wenn er sich vier Tage lang nicht rasierte, sprossen nur einzelne Haare an seinem Kinn und entlang des Unterkiefers. Immerhin war er relativ groß, aber das allein rettete den Eindruck nicht.

Er musste es anders angehen. Das Mädchen kennenlernen, ihm sympathisch sein und dann nach und nach zeigen, was für ein außergewöhnlicher Kerl er war. Klug, das sowieso, aber auch witzig, loyal und ein guter Zuhörer, wenn er wollte. Sie würde sich erst langsam in ihn verlieben, er musste Geduld haben, aber sie war es wert. Keine Frage.

Jona umrundete das Gebäude, in dem die Fakultät für Medienwissenschaften untergebracht war. Er brauchte einen Aufhänger. Einen Vorwand für ein richtiges Gespräch, nicht nur einen kurzen Wortwechsel. Sie bloß nach dem Weg oder der Uhrzeit zu fragen, war zu wenig und außerdem völlig banal.

Wieder kam ihm eine Gruppe Studenten entgegen, die ihn diesmal nicht ignorierte, sondern verwundert musterte. Als fragten sie sich, ob er sich verirrt hatte. Oder seine Eltern suchte.

Die dritte Runde um das Gebäude brachte Jona dann endlich die ersehnte Eingebung. Er wusste, wie er das Mädchen ansprechen und dafür sorgen würde, dass sie ihm zuhörte. Es war eine perfekte Idee, in jeder Hinsicht. Er würde aus dem Fehler, den er vorhin begangen hatte, einen Trumpf machen.

Blieb nur zu hoffen, dass sie immer noch auf der Bank in der Sonne saß und nicht mittlerweile in irgendeinem Hörsaal verschwunden war.

Sie war noch da, wie er erleichtert feststellte, als die Bank wieder ins Blickfeld kam. Doch jetzt hatte sie Kopfhörer auf und spielte mit ihrem Smartphone.

Langsam ging er auf sie zu. Er würde sie nicht einfach ansprechen, sondern versuchen, es so zu drehen, dass sie das Gespräch eröffnete.

Sie blickte nur kurz auf, als er sich neben sie setzte. Ein bisschen genervt, wie Leute es häufig taten, wenn sie vergeblich gehofft hatten, ein paar ruhige Augenblicke für sich selbst zu haben. Rückte ihre Tasche ein Stück zur Seite; eine hellgrüne Ledertasche mit bronzefarbenen Nieten und Schnallen, so vollgestopft mit Büchern, dass der Reißverschluss sich nicht zuziehen ließ.

Jona nickte dem Mädchen zu, tat, als würde das Lächeln, das er dabei aufsetzte, ihm große Mühe bereiten. Dann starrte er einfach geradeaus. Schluckte. Stützte schließlich die Ellenbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Es dauerte keine zehn Sekunden, bis er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie hatte die Kopfhörer abgesetzt; nun hingen sie um ihren Hals. Leise und undeutlich drang Paradise Circus von Massive Attack bis an Jonas Ohren. Der Song war alt, aber sie beide kannten ihn. Mochten ihn. Wenn das kein Zeichen war.

»Es ist … mein erster Tag hier.« Zufrieden stellte er fest, dass es ihm gelang, seiner Stimme einen erstickten Klang zu geben. »Mein erster Tag, und ich habe schon alles vermasselt.«

Sie blickte ihn ernst an. Ihre Augen waren braun, mit bernsteinfarbenen Sprenkeln, die die Farbe ihres Haars wiederholten. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Doch. Ich bin ein Idiot.« Der Satz kam ihm erstaunlich schwer über die Lippen. Wenn er etwas nicht war, dann dumm, aber das würde das Mädchen früh genug herausfinden.

Ihre Augen verengten sich, sie musterte ihn genauer. »Du studierst hier? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja.«

»Entschuldige, aber … wie alt bist du?«

Er seufzte, als würde die Frage alles nur noch schlimmer machen. »Siebzehn.«

»Oh.«

»Ja. Ich bin jung und sehe noch jünger aus. Aber ich – na ja, ich bin ganz gut in manchen Sachen, deshalb habe ich ein Stipendium für die Victor-Franz-Hess-Universität bekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe.« Das zumindest entsprach der Wahrheit. »Und dann gehe ich heute in die erste Vorlesung und verderbe es mir sofort mit dem Professor …«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ach komm. So schlimm wird es nicht gewesen sein. Welcher Prof war es denn?«

»Einer von den Mathematikern. Lichtenberger.«

Ihr Lächeln erlosch, und obwohl sie sich nicht rührte, fühlte es sich für Jona so an, als würde sie ein Stück zurückweichen. »Lichtenberger? Ja, also … der ist eigentlich sehr nett. Aber ein bisschen merkwürdig in letzter Zeit. Wenn er dich angeschnauzt hat, lag es vielleicht gar nicht an dir.«

Das kam überraschend. Der Dozent hatte keinen übellaunigen Eindruck gemacht, bevor Jona ihm ins Handwerk gepfuscht hatte. »Ich fürchte, doch«, sagte er leise.

Sie ging nicht darauf ein. Fixierte stattdessen eine Birke, die ein paar Meter weiter stand und deren Blätter sich leicht im Wind bewegten. »Wie heißt du?«, fragte sie schließlich.

»Jona Wolfram.« Sie hatte zuerst gefragt, das war gut. »Und du?«

»Linda. Linda Koren. Ich studiere hier Marketing.«

Er nickte nur. Woher kannte sie dann Lichtenberger? Unterrichtete der noch an einer anderen Fakultät? Höhere Mathematik konnte doch bei Marketingleuten kein Thema sein.

Aber das war jetzt nebensächlich. »Du bist der erste Mensch an dieser Uni, der nett zu mir ist, Linda.« Okay, das war ein bisschen dick aufgetragen, aber sie schluckte es. Oder war in Gedanken ohnehin anderswo. Auch das ließ sich nutzen.

»Meinst du …« Er wischte sich übers Gesicht, als müsse er sich überwinden, eine Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag. »Also, würdest du mir deine Handynummer geben? Keine Angst, ich werde dich nicht mit Anrufen bombardieren, aber es wäre schön zu wissen, dass da jemand ist, den ich im Notfall ein paar Dinge fragen kann.«

Es dauerte einige Sekunden, bis sie antwortete. »Na klar.« Sie diktierte ihm die Nummer und er speicherte sie sofort in sein Smartphone ein.

Wieder dieses Gefühl des Triumphs, stärker noch als vorhin im Hörsaal. Er hatte alles, was nötig war, und es war unfassbar einfach gewesen.

Damit gab es keinen Grund mehr, hier weiter Zeit zu verschwenden. Viel vernünftiger war es, Linda jetzt nicht auf die Nerven zu gehen – so, wie er es einschätzte, gab es vermutlich nur wenige Männer, die ein Gespräch mit ihr von sich aus beendeten. Eine gute Chance, aus der Masse herauszustechen.

»Ich will dich nicht länger stören«, begann er also. »Ich wünsche dir einen …«

Er unterbrach sich, denn sie achtete überhaupt nicht mehr auf ihn. Ihr Blick ging an ihm vorbei, sie atmete tief ein und wandte den Kopf zur Seite.

Jona drehte sich um und entdeckte sofort, was Lindas Aufmerksamkeit gefangen genommen hatte. Wer, genauer gesagt.

Der Kerl, der mit großen Schritten über den Weg auf sie zukam, war der gleiche, mit dem Jona vor etwas mehr als einer Stunde diesen wenig freundlichen Wortwechsel gehabt hatte. Aron. Das war wirklich Pech.

»Hallo, Linda.« Er umarmte sie zögernd und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange, streckte unmittelbar danach die Hand aus, um Jona zu begrüßen – doch dann erkannte er ihn.

»Ach nein. Der kleine Klugscheißer.«

Jona sackte demonstrativ ein Stück weiter in sich zusammen. Wortlos. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lindas Kopf herumfuhr. »Was ist denn mit dir los, Aron? Hast du es wirklich nötig, auf Jüngeren herumzuhacken?«

Aron zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wenn sie sich so benehmen wie der hier … du hättest die Vorstellung sehen müssen, die er bei Lichtenberger gegeben hat. Dummerweise war niemandem nach Applaus zumute.«

Wieder fühlte Jona, wie sich Lindas Hand sanft auf seine Schulter legte. »Es ist sein erster Tag«, sagte sie eindringlich. »Er war nervös, da kann man doch einmal etwas Dummes machen.«

Aron trat einen Schritt zurück. »Oh, hat er schon dein Herz gewonnen? Ist ja süß. Aber glaube mir, er ist eine kleine Ratte. Hat mir Nachhilfe angeboten und gleich danach Lichtenbergers Vorlesung an sich gerissen. Unter anderem. Ich habe so etwas noch nie erlebt.«

Jona hob den Kopf und legte alles Schuldbewusstsein in seinen Blick, das er vorzutäuschen fähig war. »Ich weiß doch, dass das Quatsch war. Aber es ist, wie Linda sagt. Ich war nervös und dann ist es mit mir durchgegangen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte Aron schüchtern an, woraufhin dieser in Gelächter ausbrach.

»Du glaubst doch nicht, dass ich auf deine Show reinfalle? Spar dir die Mühe, Klugscheißer. Damit kochst du möglicherweise Linda weich, aber mich ganz sicher nicht.« Er kam wieder einen Schritt näher. »Alles, was du heute Morgen wolltest, war, dass wir mit offenem Mund dasitzen und nicht fassen können, was für ein Genie du bist. Nur ist der Schuss dummerweise nach hinten losgegangen.«

Tja, da lag Aron mit jedem Wort richtig, wie Jona widerwillig zugeben musste. Nun behielt er seine geknickte Haltung erst recht bei. »Es tut mir ja selbst leid«, murmelte er. »Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen.«

»Gib ihm doch eine Chance«, meldete Linda sich wieder zu Wort. »Er könnte jemanden brauchen, der ihm gerade am Anfang zeigt, wie es hier läuft.«

Wieder lachte Aron auf, diesmal bitter. »Wie es hier läuft? Denkst du, er sollte das wirklich wissen?« Mit dem Ellenbogen drängte er Jona ein Stück zur Seite und nahm Lindas Hand. »Ich bin für dich da, das weißt du, oder?«, sagte er leise. »Immer. Es liegt nur an dir. Erinnerst du dich nicht mehr, wie …«

Sie machte sich von ihm los. »Hör auf damit. Wir hatten das geklärt, es hat sich nichts geändert.«

Jona musste sich auf die Lippen beißen, um nicht loszulachen. Dass er heute auch noch Zeuge werden würde, wie Aron sich einen Korb holte, war fast zu schön, um wahr zu sein. Und er freute sich auf dessen Gesicht, wenn er ihn und Linda zum ersten Mal Arm in Arm über den Campus spazieren sehen würde.

Dass es dazu kam, war nur eine Frage der Zeit, denn Jona würde alles daransetzen, Linda für sich zu gewinnen.

Die perfekten Voraussetzungen dafür hatte er bereits geschaffen.

4

Kurz nach zwanzig Uhr. Silvia hatte zum Abendessen zerkochte Nudeln in einer blassen Soße serviert, selbst aber kaum etwas davon gegessen. Ebenso wenig wie Martin, der in Gedanken anderswo zu sein schien und recht bald aufbrach, weil er noch mit zwei Freunden auf ein Bier gehen wollte.

Blieb also umso mehr Essen für Kerstin und Jona, doch keiner der beiden hatte Lust, sich den Bauch vollzuschlagen. Jona saß ohnehin die ganze Zeit wie auf Kohlen. Er wollte heute noch loslegen, seine Ungeduld schnürte ihm die Kehle zu, doch Kerstin schien die Einzige zu sein, die das merkte.

»Kommt etwas Spannendes im Fernsehen? Warum bist du denn so zappelig?«

»Ich … habe mit einem Kumpel von zu Hause abgemacht, dass wir chatten wollen.« Er floh, sobald sich die erste Gelegenheit dazu ergab, lief in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich zweimal ab.

Sein Handy steckte noch in der Hosentasche, er holte es heraus. Der erste Schritt war die Textnachricht, die er über seine selbst entwickelte App schicken musste. Er tippte das Icon an – ein geflügeltes Wesen, das seinen Schatten auf den Boden warf. Dann schrieb er.

Liebe Linda! Ich wollte dir noch mal dafür danken, dass du heute so nett zu mir warst. Das ist nicht immer ganz einfach, da hat Aron schon recht. Manchmal kann ich ein ziemliches Ekel sein. Deshalb bin ich dir doppelt dankbar. Hab einen schönen Abend, viele Grüße, Jona.

Er drückte auf Senden und setzte sich an den kleinen Schreibtisch. Klappte das Notebook auf und begann, seine Mails durchzusehen. Für mehr reichte seine Konzentration gerade nicht, er wartete auf das Klingelgeräusch, mit dem Lindas Antwort hereinkommen würde.

Fünf Minuten vergingen. Zehn.

Was, wenn sie im Kino war? Oder in einem Lokal, mit Freunden, mit lauter Musik? Dann würde sie erst wer weiß wann auf ihr Handy schauen und er musste seine Pläne für heute Abend aufgeben.

Zweiundzwanzig Minuten nachdem Jona seine Nachricht gesendet hatte, kam endlich die Antwort.

Du musst mir nicht danken, ist doch selbstverständlich. Dass du ein Ekel bist, kann ich mir nicht vorstellen :-)

Dir auch einen schönen Abend, Linda

Jona sprang auf, riss triumphierend seine Faust in die Luft und warf sein Smartphone aufs Bett. Sie hatte geantwortet, damit war die Spyware installiert, es konnte losgehen.

Er holte den Aluminiumkoffer hervor, platzierte ihn in der Mitte des Zimmers, gab am Schloss den Zahlencode ein und klappte den Deckel hoch.

Elanus lag metallisch glänzend in seiner Schaumstoffhülle, wie ein winziges Ufo, gerade mal handtellergroß. An vier Armen, die jeweils fünfzehn Zentimeter nach außen ragten, waren die Rotoren angebracht. Jona nahm ihn vorsichtig heraus und steckte das Ladekabel ein, obwohl der Akku noch fast voll war. Die maximale Flugzeit betrug dreiundvierzig Minuten, das war nach heutigem Stand großartig, aber gerade jetzt wollte Jona auf keine Sekunde davon verzichten.

Er holte die HD-Kamera und den Flight Controller aus dem Koffer, obwohl er Letzteren voraussichtlich nicht brauchen würde. Elanus würde die Fährte selbst aufnehmen, er würde von seinem Ziel angelockt werden wie die Biene vom Honig.

Kaum zehn Minuten dauerte es, bis die Ladeanzeige grün leuchtete. Jona nahm Elanus aus der Station, schaltete ihn ein und warf ihn hoch, bis knapp unter die Decke.

Surrend erwachten die vier Rotoren zum Leben. Der scheibenförmige Körper der Drohne stabilisierte sich sofort, sie lag ruhig in der Luft. Keine Höhenschwankungen, auch kein seitliches Abdriften. Elanus war wendig und schnell, nur wenn der Wind zu stark wurde, gab es manchmal Probleme.

Mithilfe des Flight Controllers ließ Jona die Drohne sanft auf dem Bett landen, montierte die Kamera und öffnete dann auf dem Notebook das Programm, das er speziell für seine Drohne geschrieben hatte.

Lindas Nummer war dort schon gespeichert, der Computer hatte sich automatisch mit dem Handy synchronisiert. Jona wählte sie aus der Liste aus, damit würde Elanus dem Handy folgen, sobald er die Verbindung hergestellt hatte. In den Einstellungen wählte er die Option Autopilot, als maximale Annäherung an das Zielobjekt gab er drei Meter ein. Egal, ob Linda zu Hause oder unterwegs war, aus dieser Entfernung sollte sie ihren Verfolger weder sehen noch hören können.

Er versicherte sich, dass die radarbasierte Hinderniserkennung aktiv war – wenn er das vergaß, würde Elanus auf dem Weg zu Linda in kürzester Zeit gegen einen Baum oder eine Hausmauer knallen. Das durfte nicht passieren.

Ein letzter Check aller Systeme, dann öffnete Jona das Fenster. Er warf Elanus hinaus, als würde er ein Frisbee werfen – möglichst hoch und weit. Sah noch, wie die Rotoren sich anschalteten und die Scheibe sich in der Luft stabilisierte, bevor sie davonschoss, in die Richtung, in der Jonas Einschätzung nach die Uni lag.

Er schloss die Fensterflügel und setzte sich vor das Notebook. Die Kamera schickte bereits ihre Live-Aufnahmen und sie waren gut. Jona fegte mit Elanus durch die nächtliche Stadt, über blinkende Ampeln, hell erleuchtete Straßenzüge und dunkle Parks hinweg. Er liebte diese Flüge, diesen Blick aus der Vogelperspektive.

Auch die Tonübertragung war ziemlich deutlich. Im Moment bekam Jona zwar hauptsächlich Rauschen übertragen, aber das war logisch, es war wie Fahrtwind. Sobald Elanus seine Zielposition erreicht hatte, würde es aufhören.

Eine Kreuzung, an der Autos standen. Eine Frau, die ihren Hund spazieren führte. Ein Pärchen, das sich an einer Bushaltestelle küsste. Eine kleine Gruppe Raucher vor einem Restaurant.

Jona kannte die Stadt noch nicht gut genug, um sich orientieren zu können. Flogen sie auf den Campus zu? Oder würde Elanus gleich vor einem der Studentenlokale haltmachen, von denen es hier angeblich so viele gab?

Sechs Minuten bisher. Blieben im besten Fall siebenunddreißig, allerdings inklusive Rückflug. Jona hatte Elanus ein Failsafe-Programm installiert, das ihn eigenständig zum Startort zurückfliegen ließ, sobald es mit der Akkuladung eng wurde. Schließlich sollte er nicht irgendwann einfach abstürzen, bloß weil Jona ihn nicht rechtzeitig zurückgeholt hatte. Daher: Bumerangprinzip.

Acht Minuten. Okay, jetzt erkannte er die Umgebung, das war tatsächlich der Uni-Campus, allerdings eine Ecke, in der Jona noch nicht gewesen war. Hinter den meisten Fenstern brannte Licht, also flog Elanus vermutlich auf eines der Wohnheime zu.

Er wurde nun langsamer, senkte sich von fünfzehn Metern ab auf zehn, auf neun … immer weiter, bis er vor einem der erleuchteten Fenster zum Stillstand kam.

War er hier richtig? Jona zoomte mit der Kamera näher heran. Ein kleines Zimmer, mit einem hellgrün bezogenen Bett. Ein Schrank, auf dem unzählige Fotos klebten. Ein Schreibtisch, übersät mit Büchern und Papier, dazwischen zwei Kaffeetassen.

Aber keine Spur von Linda. Jona ahnte, woran das lag, das war eben leider der Schönheitsfehler an seinem System: Elanus ortete das Handy der Zielperson, nicht die Zielperson selbst. Und wenn die ihr Telefon nicht bei sich hatte …

Noch ein Stück näher heranzoomen. Ja, da lag es, ein weißes Smartphone, mitten auf dem grünen Kopfkissen. Verdammt, das war wirklich Pech. Die meisten Leute trugen ihr Handy ständig am Körper, als wäre es mit ihnen verwachsen, aber ausgerechnet Linda ließ es einfach liegen.

Jona lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er würde noch ein bisschen warten, vielleicht war sie ja nur kurz nach draußen gegangen und kam gleich wieder. Wenn nicht, würde er auf Handsteuerung umschalten und mal nachsehen, was sich so hinter den Fenstern der Nebenzimmer und der Gemeinschaftsküche tat.

Ein kleiner Kameraschwenk nach rechts. Lindas Schranktür stand offen, dahinter stapelten sich T-Shirts, Pullis, Jacken. Eine Jeans hing halb heraus.

Weiterschwenken, auf das schmale Bücherregal. Da fand sich jede Menge Zeug über Marketing, aber auch Krimis, hauptsächlich skandinavische. Ein paar Gedichtbände, das war ja süß. Wirtschaftswörterbücher für Englisch, Französisch und Spanisch. Und im untersten Fach standen …

Die Tür sprang auf, fast hätte Jona es nicht gesehen, so nah hatte er an das Regal herangezoomt. Nun ging er, so schnell er konnte, wieder in die Totale, sah Linda hereinstürmen, die Tür hinter sich zuknallen und aufs Bett sinken.

Was war da los? Er startete den Aufnahmemodus, holte sich Lindas Augen, ihr zerzaustes Haar, ihr ganzes Zimmer auf seine Festplatte – er würde das alles künftig abrufen können, so oft er wollte.

Sie rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, griff dann nach ihrem Telefon, wischte übers Display und hielt sich das Gerät ans Ohr.

Mach das Fenster auf, beschwor Jona sie stumm. Los, bitte, mach das Fenster auf.

Doch Linda dachte offensichtlich nicht daran. Sie sprach erst ruhig, dann hektischer, schüttelte immer wieder den Kopf, wurde von Sekunde zu Sekunde aufgebrachter. Zumindest sah das durch die Scheibe so aus. Erneut zoomte Jona näher heran, auf dieses wunderhübsche Gesicht, das er bald küssen würde.

Im Moment allerdings wirkte Linda, als wüsste sie nicht, ob sie weinen oder einen Wutanfall bekommen sollte. Hätte er bloß Lippenlesen gelernt …

Irgendwann sagte sie nichts mehr, sondern hörte nur noch zu. Ihre Lippen waren aufeinandergepresst und Jona sah eine einzelne Träne über ihre Wange laufen. Dann war das Gespräch beendet. Sie warf das Handy wieder aufs Kissen und krümmte sich nach vorn, das Gesicht in den Armen verborgen.

Jetzt weinte sie, daran bestand kein Zweifel.

Jona stellte sich vor, wie er sich zu ihr setzen und ihr einen Arm um die Schultern legen würde. Er konnte fast fühlen, wie sie sich an ihn schmiegte, ihren Kopf an seiner Brust verbarg. Er würde ihr Haar streichen, ihr die Tränen vom Gesicht wischen und sie dann küssen, ganz vorsichtig, ganz zärtlich.

Es war gut zu wissen, wie sie sich in Wahrheit fühlte. Er konnte sich auf sie einstellen. Für sie da sein. Wahrscheinlich war Aron, dieser Widerling, schuld daran, dass es ihr so schlecht ging.

Als hätte der Gedanke an ihn Aron herbeigerufen, öffnete sich Lindas Tür und er steckte seinen Kopf herein. Sah sie dasitzen, schlüpfte ins Zimmer und zog schnell die Tür hinter sich zu.

Linda blickte auf. Sie wechselten ein paar Sätze, dann setzte Aron sich neben sie, woraufhin sie sofort aufsprang.

Gut so, dachte Jona zufrieden. Schmeiß ihn raus, Linda.

Sie ging ans Fenster, blickte hinaus in die Dunkelheit, was Jona einen Moment lang nervös werden ließ. Eigentlich sollte sie nicht mehr sehen können als ihr eigenes Spiegelbild, aber wenn sie allzu aufmerksam hinausspähte, war es nicht ausgeschlossen, dass sie Elanus entdeckte.

Oder … hatte sie etwa vor, das Fenster zu öffnen? Gab es endlich Futter für Elanus’ Mikrofon?

Nein. Linda legte bloß ihre Stirn gegen die Scheibe, als wolle sie sie abkühlen. Hinter ihr gestikulierte Aron, sprach offenbar ohne Punkt und Komma, bis sie sich doch wieder zu ihm umdrehte.

Jona konnte sie nur von hinten sehen, aber ihrer Körperhaltung nach war es gut möglich, dass sie Aron anschrie. Dieser grinste zuerst, dann wurde seine Miene ernst. Dann verärgert. Dann wütend.

Er stand langsam auf, richtete seinen Zeigefinger in einer drohenden Geste auf sie. Sagte zwei, drei knappe Sätze und ging aus dem Zimmer.

Einen Krach wie diesen hatte Jona schon mehrere Male mit angesehen, bei seinen Eltern. Es gab danach regelmäßig Versöhnungen, aber zuerst herrschte mindestens einen Tag lang Funkstille. Das würde hier hoffentlich ebenso sein und Jona hatte nicht die Absicht, diese Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen.

Apropos Zeit. Er warf einen Blick auf den Zähler; zweiunddreißig Minuten war Elanus schon unterwegs, blieben also elf. Das hieß, in ein bis zwei Minuten würde er sich eigenständig zurück zum Ausgangspunkt aufmachen. Das war Mist. Jona betrachtete Linda, die nun wieder auf ihr Bett gesunken war und eine Hand vor den Mund presste.

Er wollte sie nicht alleine lassen. Nicht so. Nicht jetzt. Auch wenn sie keine Ahnung von seiner Anwesenheit hatte, wäre er gern noch so lange geblieben, bis er sicher sein konnte, dass sie sich ein bisschen besser fühlte.

Unwillkürlich musste er grinsen. So viel Fürsorge war er von sich selbst nicht gewohnt, aber Linda war so … anders. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war – Fürsorge war nur ein Teil dessen, was er empfand. Er wollte, dass Linda ihn mochte, so richtig, und dazu brauchte er jede Information über sie, die er kriegen konnte.

Jetzt griff sie wieder nach ihrem Handy. Wählte, wartete. Doch offenbar ging niemand ran und sie warf es zurück aufs Bett, stand auf …

In diesem Augenblick setzte Elanus sich in Bewegung. Das Failsafe-Programm hatte den Rückflug gestartet, was ja eigentlich gut war, aber im Moment …

Jona stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und beobachtete frustriert, wie das helle Rechteck, das Lindas Fenster war, immer kleiner wurde. Nun konnte er genauso gut den Aufnahmemodus beenden.

Elanus nahm exakt den Weg zurück, den er gekommen war, Jona erkannte bereits einige der Straßenzüge, gleich da vorne würde ein Supermarkt kommen. Bingo.

Als er sah, dass das Haus der Helmreichs von Elanus’ Kamera erfasst wurde, öffnete er das Fenster. Die Drohne flog mit leisem Surren herein und blieb mitten im Zimmer in der Luft stehen.

Mit geübtem Griff packte Jona sie an der Unterseite, woraufhin die Propeller langsam zum Stillstand kamen. »Guter Junge«, murmelte er und schloss das Gerät an die Ladestation an.

Dann setzte er sich vor sein Notebook und sah sich die Aufnahme noch einmal von Beginn an. Linda allein, dann mit Aron, dann wieder allein.

Er hätte zu gern gewusst, worüber die beiden sich gestritten hatten.

5

Der nächste Tag war mit vier Vorlesungen ziemlich ausgefüllt. Jona hatte noch einmal versucht, zu Rektor Schratter vorzudringen, aber man hatte ihn wieder abgewimmelt, also musste er wohl oder übel seinem Stundenplan folgen.

Seinem todlangweiligen Stundenplan.

Die Studenten, mit denen er den Hörsaal teilte, waren nun bloß noch ein bis zwei Jahre älter als er, trotzdem stach er heraus wie eine Distel unter lauter Gänseblümchen.

Während die anderen sich über ihre Mitschriften beugten und die meisten sichtlich Mühe hatten, der Dozentin zu folgen, fand Jona den Stoff nicht viel schwieriger als das kleine Einmaleins.

Er saß still und versuchte, sich seine Langeweile nicht anmerken zu lassen. Nicht verächtlich zu schnauben, wenn jemand eine Frage stellte. Trotzdem zog er Blicke auf sich, denn er war der Einzige, der nicht mitschrieb.

Neben ihm saß ein Student namens Sergej, seinen Schuhen und seiner Uhr nach zu schließen wahrscheinlich der Sohn eines russischen Ölmilliardärs. Er hatte Jona in gebrochenem Deutsch, aber mit einem freundlichen Lächeln begrüßt und mühte sich nun sichtlich ab, den Erklärungen der Dozentin zu folgen.

Dabei waren doch gar keine Erklärungen nötig. Alles, was es zu wissen und verstehen gab, stand in völlig klaren Zahlen am Whiteboard.

Nun seufzte Jona doch. Statt hier sinnlos seine Zeit abzusitzen, wäre er viel lieber auf die Suche nach Linda gegangen. Wenn diese Vorlesung vorbei war, hatte er eine Stunde Zeit, und die würde er nutzen.

Doch sie war nirgendwo zu finden. Jona durchkämmte das Campusgelände, die Mensa, das Gebäude der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Irgendwann entdeckte er Aron, der eilig auf einen der Campusausgänge zulief, doch ihn würde er keinesfalls fragen.

Wahrscheinlich saß Linda in einer Vorlesung. So wie er selbst auch wieder, in zehn Minuten.

War ja okay. Er hatte Zeit. Das Semester hatte erst vor wenigen Wochen begonnen.

Wenn nur dieses Ziehen in seinem Inneren nicht gewesen wäre. Dieses unbezwingbare Bedürfnis, in Lindas Nähe zu sein. Von ihr angelächelt zu werden. Wieder ihre Hand auf der Schulter zu spüren.

Jona hatte bereits Freundinnen gehabt, zwei, um genau zu sein. Beide waren ihm ziemlich exakt nach vier Monaten auf die Nerven gegangen. Am Ende des fünften Monats hatte er die Beziehungen dann jeweils beendet.

Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es ihm mit Linda ebenso gehen würde. Schon allein, weil sie bisher mehr Mitgefühl als Interesse an ihm gezeigt hatte. Umso wichtiger war es, dass er jetzt nichts Unüberlegtes tat. Und sich nicht einfach Hals über Kopf in sie verliebte.

So etwas würde nur ein Idiot tun.

Ein völlig verschwendeter, sinnloser Tag war es gewesen, langweilig und frustrierend. Als einzige Ausbeute ließ Jona Sergejs Handynummer gelten – er war durchaus gespannt darauf, einen Blick durch das Fenster seines Kommilitonen zu werfen. Ob es auf dem Campus ein Wohnheim extra für Reiche gab?

Während Jona mit dem Bus nach Hause fuhr, schickte er Sergej die SMS mit der Spyware.

Hat mich gefreut, dass wir uns begegnet sind. Bis morgen dann!

Wenn er darauf reagierte, war es gut, wenn nicht – auch keine Katastrophe.

Doch Sergejs Antwort kam innerhalb von zwei Minuten.

Hat mich auch gefreut. Am 23. machen wir Party, kommst du?

Verblüfft betrachtete Jona die zwei Sätze in dem grauen Textfeld. Die Partys, auf die er bisher eingeladen worden war, konnte er leicht an einer Hand abzählen. Er las die Nachricht noch einmal und freute sich. Nicht nur, weil er Sergej nun in seiner Sammlung hatte.

Vielleicht lohnte es sich ja, wirklich hinzugehen. Vielleicht würde er Linda mitnehmen.

Die Haltestelle war knapp zweihundert Meter vom Haus der Helmreichs entfernt und Jona legte die Strecke beschwingt zurück. Er würde sich jetzt mal überlegen, was er Sergej antworten sollte, und dann, sobald es dunkel war, Elanus wieder losschicken. Dann würde er Linda sehen. Der Tag würde schön enden.

Jona suchte in seiner Jackentasche den Hausschlüssel, steckte ihn ins Schloss – doch das ließ sich nicht drehen. Er versuchte es mehrmals, in beiden Richtungen, aber ohne Erfolg.

War es der richtige Schlüssel? Er zog ihn noch einmal heraus – na klar war er das.

Noch ein Versuch, ebenso erfolglos wie der erste.

Jona sah sich um. Silvias Auto stand vor der Tür, vielleicht hatte sie ihren Schlüssel innen stecken lassen? Er drückte die Klingel, kurz erst, aber dann, als sich nichts rührte, mehrmals lang.

Niemand öffnete.

Ratlos ging Jona zur Terrassentür. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen, er konnte ins Wohnzimmer spähen, doch da war niemand.

»Hey!«

Er fuhr herum. Lässig an den Zaun gelehnt stand ein großer, dunkelhaariger Junge, etwa in Jonas Alter. Gut aussehend, Typ Sportler.

»Wenn du einbrechen willst, kann ich dir ein paar Häuser zeigen, wo sich das eher lohnt.«

»Ich will nicht einbrechen. Ich wohne hier, aber ich kriege die Tür nicht aufgesperrt und es ist offenbar keiner zu Hause.«

»Ah, du bist das! Stimmt, Kerstin hat mir erzählt, dass sie einen Wunderkind-Gaststudenten aufnehmen.« Er flankte mit einem Satz über den hüfthohen Zaun und streckte Jona die flache Hand entgegen. »Gib mir mal den Schlüssel.«

Jona überlegte kurz und kam zu dem Ergebnis, dass der Typ nicht so aussah, als würde er sich damit aus dem Staub machen. Er drückte ihm den Schlüsselbund in die Hand, doch auch bei ihm klappte es nicht. Er gab nach dem dritten Versuch auf.

»Weißt du was? Komm einfach mit rüber zu mir. Wir wohnen schräg gegenüber, in dem dünnpfifffarbenen Haus. Wir könnten eine Runde Call of Duty spielen, was hältst du davon?«

Jonas erster Impuls war, Nein zu sagen. Er hatte keine Lust auf Konsolenspiele, er wollte Elanus für seinen nächsten Flug vorbereiten. Nur dass das Zimmer, der Koffer und das Notebook im Moment unerreichbar waren. Immerhin schien der Gegenüber-Nachbar ein witziger Kerl zu sein.

»Ich heiße Pascal, übrigens«, erklärte er. »Falls du nicht mit Fremden mitgehen darfst.«

»Jona.« Er schulterte seine Tasche. »Okay, für eine Stunde oder so, aber ich sollte dann später noch ein bisschen arbeiten.«

Pascal riss die Augen auf. »Arbeiten?«

»Ja. Für die Uni.«

Ein nachdenklicher Blick von der Seite. »Du bist wirklich schon siebzehn?«

»Ja, verdammt, seit zwei Monaten.«

In einer übertrieben dramatischen Geste hob Pascal die Hände. »Sorry! Ich wollte dir nicht auf die Füße treten. Bin nur von Natur aus neugierig.«

Jona dachte an Elanus und den Ordner mit Videodateien auf der Festplatte seines Notebooks. »Kann ich verstehen. Da sind wir schon zwei.«

Bei Pascal war niemand zu Hause, sie lümmelten sich mit einer Packung Chips auf die Couch im Wohnzimmer und begannen zu spielen.