Elbe aufwärts - Janna Hagedorn - E-Book

Elbe aufwärts E-Book

Janna Hagedorn

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Beschreibung

Zauberhafter Dorfgasthof sucht Großstädterin mit Herz

Eigentlich will Harmony im Wendland nur Urlaub machen. Als sie vor einem verlassenen Dorfgasthof steht, bleibt ihr Herz für einen Augenblick stehen. Ist das vielleicht ein Wink des Schicksals? Schon lang träumt sie von einem Neuanfang, und plötzlich hat sie die perfekte Idee: Ein Feinschmeckerrestaurant bräuchte diese Gegend! Harmony sieht das Lokal mit stilvollen Vintage-Möbeln schon vor sich. Die niedersächsischen Gartenzwergsammler und Öko-Bauern haben jedoch nicht auf die stilbewusste Hamburgerin gewartet – aber vielleicht Paul, der Koch?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Über dieses Buch

Mit 45 hat Harmony Schlüter-Hansen alles erreicht, was sie im Leben wollte: den Chefredakteursposten bei einem glamourösen Hamburger Modemagazin, die Eppendorfer Altbauwohnung, den dekorativen jüngeren Mann an ihrer Seite. Aber Männer und Jobs sind flüchtig, und so entschließt sich Neu-Single Harmony zu einer radikalen Kehrtwende: als Besitzerin des edlen Landgasthofs »Elbliebe« im niedersächsischen Wendland. Leider hat dort keiner auf Variationen vom Elbfisch-Sushi gewartet, und auch das Sozialleben zwischen Schützenverein und Öko-Bauernhof folgt anderen Regeln als das der Großstadt-Medienszene. Aber dann erlebt Harmony zum ersten Mal in ihrem Leben, was Freundschaft bedeutet. Da ist die Nachbarin Wiebke mit der Seele eines Kindes und dem Herzen einer Frau. Und Paul, auf dessen Winterkartoffelsuppe Harmony bald nicht mehr verzichten möchte. Aber warum erzählt der Koch so wenig aus seiner Vergangenheit? Warum ist diese Landschaft Harmony auf diese gespenstische Weise vertraut? Und ist Hamburg wirklich schon fertig mit Harmony – oder nur Harmony mit Hamburg?

Über die Autorin

Janna Hagedorn, Jahrgang 1969, ist Journalistin und schreibt u. a. für Merian, Myself und Petra. Unter dem Namen Verena Carl hat sie bereits sehr erfolgreiche Romane und Kinderbücher herausgebracht. Im Diana Verlag sind auch ihre Romane Yogis küsst man nicht und Friesenherz erschienen.

Sie erhielt zweimal den Hamburger Literaturförderpreis und lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in Hamburg.

JANNA HAGEDORN

Elbe aufwärts

ROMAN

Originalausgabe 10/2015

Copyright © 2015 by Verena Hagedorn

Copyright © 2015 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion  |  Carola Fischer

Umschlaggestaltung  |  t.mutzenbach design, München

Umschlagmotiv  |© shutterstock

Satz  |  Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-16471-3

www.diana-verlag.de

1

Es war an einem Dienstagabend im September gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig, als ein unspektakuläres »Pling« Harmony Schlüter-Hansen unbarmherzig zurückschleuderte auf den harten Boden der Tatsachen. Äußerlich unbewegt stand sie vor der englischen Vintage-Kommode auf dem Flur, zwischen Badezimmer und Schlafzimmer, und starrte auf die Nachricht, die eben auf dem matt glänzenden Display des iPad mini aufgepoppt war. Eines iPads, das nicht ihr gehörte. Sondern Mo. Dem Mann, dessen Name an ihrer Tür und dessen Zahnbürste in ihrem Badezimmer stand. In ihrer Wohnung. Sie war nicht sicher, ob ihr das auch das Recht gab, seine Nachrichten zu lesen. Sie hätte nie heimlich seinen Posteingang durchsucht. Aber eine Message, die ihr derart aufdringlich ins Gesicht sprang? Gegen die war sie machtlos.

Sie starrte darauf wie ein hypnotisiertes Wild angesichts näher kommender Scheinwerferlichter und wartete darauf, dass jetzt noch irgendetwas passierte, etwas, das besser zu ihrem Zustand passte als der leise Ton, mit dem der Computer die Ankunft einer neuen Facebook-Nachricht ankündigte. Wenigstens eine Sirene wäre jetzt angemessen gewesen oder ein Hardrock-Riff aus den Achtzigern. Aber wie zum Hohn blieb es um sie herum ganz still, bis auf das tiefe Singen in den Wasserleitungen, das genauso zur normalen Geräuschkulisse in ihrem Eppendorfer Altbau gehörte wie der Hall von Schritten in den minimalistisch möblierten Räumen.

Noch einmal las sie die Nachricht auf Mos Tablet, aber es konnte keinen Zweifel geben. Es waren nicht die Worte selbst, die hätten sie nicht misstrauisch gemacht. Es war die Uhrzeit. Eine Frau, die um kurz vor Mitternacht eine solche Nachricht verschickte, bedeutete Gefahr. Alarmstufe orange, mindestens.

Nur einen winzigen Augenblick später begann in ihrem Kopf ein Film abzulaufen, und während sie noch immer wie festgefroren im Flur stand, mit unbewegter Miene, auch weil sie eine sauteure Gesichtsmaske mit Hyaluronsäure aufgetragen hatte, dachte sie: irgendwie logisch. Auch im Augenblick des Todes, so sagte man ja, blitzten noch einmal im Zeitraffer die Highlights des eigenen Lebens auf wie bei einer zu schnell eingestellten PowerPoint-Präsentation. Dann war es nicht minder stimmig, wenn das auch in Momenten passierte, in denen auf brutale Weise etwas zu Ende ging. Und dass dies hier ein solcher Moment war, daran gab es keinen Zweifel. In diesen Dingen konnte sich Harmony felsenfest auf ihren Instinkt verlassen, auf ein Bauchgefühl, das so zuverlässig war wie eine Atomuhr.

Harmony starrte weiter blicklos auf das Display und ließ die Bilderflut vor dem inneren Auge über sich ergehen. Den Liebesfilm ihres Lebens. Da musste sie jetzt wohl durch, auch wenn es mit Sicherheit nicht gesund war, jetzt diese schönen Szenen vorgeführt zu bekommen wie auf einer Großleinwand. Mo und sie damals an der Bar bei »Da Matteo«, Mo und sie unter dicken blau-weiß karierten Federbetten mit Blick auf den Hafen von Hörnum auf Sylt, Mo und sie am ersten Abend in ihrer Wohnung, unter der Regenwasserdusche zwischen den dunklen Marmorwänden.

Dann noch ein ganz altes Bild, beinahe schwarz-weiß. Der Abend, nachdem der Verleger sie gefragt hatte, ob sie die Chefredaktion des Style-Magazins übernehmen wollte. Wie sie spätabends über regenglänzendes Kopfsteinpflaster gelaufen war, hin zu Mos abgerocktem Apartment in St. Georg. Mo, der damals noch nicht ihr Lebensabschnittsgefährte gewesen war, nicht ihr Partner oder wie die Ausdrücke alle hießen in einem Alter, in dem »Freund« endgültig zu sehr nach »Bravo Girl« klang. Nein, damals war Mo noch ihr Lover gewesen. Ihr junger Lover. Keine Brille, kein Bauch, keine Geheimratsecken. Vor allem das. Volle Haare waren fast das wichtigste Körperteil bei einem Mann.

Sie konnte sich selbst sehen, wie sie die abgelaufenen Treppenstufen hochstolperte, durch Knoblauchdunst und Putzmittelgestank hindurch, und wie verblüfft er in seiner Wohnungstür stand, grünen Zahnpastaschaum vor dem Mund, das unternehmungslustige Funkeln in seinen Augen. Tief hängende Jeans und nackte Füße. Aus irgendeinem Grund war diese Kombi für Harmony schon immer der Inbegriff männlicher Sexyness gewesen. Und es gab nicht viele Männer, die das so selbstverständlich tragen konnten wie Mo.

Dann wurde der Film gnädigerweise endlich abgeblendet. Was danach passiert war, wäre zu schmerzlich gewesen, zu schön, zu kostbar, um es jetzt anzurühren. Auch das war so ein Augenblick gewesen, in dem sie instinktsicher gewusst hatte: Mo und sie gehörten zusammen. Auch wenn eine realistische Seite in ihr immer unbarmherzig darauf bestanden hatte, dass ihr Duo-Auftritt eine befristete Veranstaltung war, ein Zeitvertrag, eine Liebe mit Sollbruchstelle. Was die Leidenschaft nur intensiver gemacht hatte und dem Genuss eine gewisse tragische Note gegeben hatte, wie ein schweres Abendparfüm an einem Frühlingsmorgen.

Harmony wusste, dass diese tragische Note ihr stand, sie verlieh ihr eine gewisse Grandezza. Nie hatte sie mehr Komplimente für ihr Aussehen bekommen als in den vergangenen fünf Jahren. Obwohl sie gerade vierzig geworden war, damals, als Mo und sie sich verliebten. Dabei hatte sie nicht einmal etwas machen lassen, anders als die meisten Chefredakteurinnen artverwandter Modemagazine. Na gut, ein paar Filler, gelegentlich eine homöopathische Dosis Botox. Aber das war ja heutzutage ähnlich normal wie regelmäßige professionelle Zahnreinigung.

Harmony wartete noch einen Moment, ob das unfreiwillige Kopfkino wirklich vorbei war. Dann fiel ihr die »Lust & Liebe«-Doppelseite ein, die die Jungredakteurin ihr heute auf den Server gestellt hatte. »Zehn Punkte, an denen Sie merken, dass er Sie betrügt (oder wenigstens mit dem Gedanken spielt.)« »Gar nicht so blöd, die Kleine«, hatte die Textchefin gönnerhaft kommentiert, und Harmony hatte ihr recht gegeben. Jetzt, ein paar Stunden später, gleich doppelt. Denn unversehens betraf das Thema sie selbst.

Statt der erwartbaren Merkmale (»Er riecht auffällig nach Duschgel, wenn er nach Feierabend nach Hause kommt«) hatte die Nachwuchs-Schreiberin wirklich originelle Ideen gehabt. Und, das musste Harmony zugeben, mit jeder Einzelnen ins Schwarze getroffen. Innerlich ging sie die Punkte durch. Plötzlich mehr Lust auf Sex mit der eigenen Frau? Harmony machte im Geist einen Haken. Wenn auch auf niedrigem Gesamtniveau, ergänzte sie. Erklärt besonders ausführlich seinen Tagesablauf? Exakt, dachte Harmony.

Eigentlich war Mo immer vage, was sein Abendprogramm anging, und Harmony hatte auch kein Bedürfnis nachzufragen. Seitdem sie ihm den Job als Restaurant- und Bartester für ein wichtiges Food-Magazin verschafft hatte, vor allem aber seitdem er mit seinem Restaurant-Blog im Netz bekannt geworden war, musste er häufig kurzfristige Reisen und Termine wahrnehmen. Harmony war es recht. Schließlich hatte sie selbst häufig geschäftliche Abendessen und war zufrieden, wenn Mo und sie sich irgendwann spätabends zu Hause trafen. Aber in den letzten Wochen erstattete er ihr jeden Morgen eifrig Bericht wie ein Schulkind, das seiner Mutter keine Sorgen bereiten möchte. Dabei konnte er umgekehrt sicher sein, dass sie ihn nicht kontrollierte. Sein Handy ortete, heimlich Quittungen überprüfte. So etwas hätte sie stillos gefunden. Vielleicht hielt er sie auch für zu unbedarft. Oder technisch zu uninformiert. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen.

Auch für morgen wusste sie genau Bescheid. Angeblich. Tagsüber flog er nach Bordeaux zu einer Weinverkostung, abends italienische Landküche bei »Da Matteo«, friends and family only. Letzteres stimmte jedenfalls, sie selbst hatte auch eine persönliche Einladung bekommen.

Nur bei Punkt zehn der Jungredakteurinnen-Liste war Mo offensichtlich nachlässig gewesen. »Besorgt sich entweder ein zweites Handy oder stellt die Push-Funktion aus, sodass neue E-Mails und Facebook-Nachrichten nicht mehr automatisch auf dem Display erscheinen.« Möglichkeit b: Er war seinerseits technisch so unbegabt, dass er an der Aufgabe gescheitert war.

Endlich gelang es Harmony, ihren Blick von den zwei Zeilen auf dem Display des iPads zu lösen. Stattdessen fixierte sie sich selbst, das maskenstarre Gesicht in dem Flurspiegel. Weiße, gipsartige Masse vom Kinn bis zur Stirn, ein weißes Frotteeband, das die Haare zurückhielt, ein weißer Bademantel. »Die Mumie III«. Sie versuchte, einen Fuß zu heben und ihre Beine ins Bad zu lenken, damit sie sich wenigstens diese Maske des Grauens aus dem Gesicht wischen konnte. Auch wenn die Hyaluronsäure ihren zellverjüngenden Effekt erst nach einer optimalen Wirkzeit von fünfundzwanzig Minuten entfalten würde. Egal. Das, was hier gerade passierte, würde Harmony ohnehin innerhalb kürzester Zeit um Jahre altern lassen. Dagegen half wahrscheinlich nicht einmal die neue Stammzellentherapie aus L. A., von der ihre Beauty-Chefin erzählt hatte. Bye-Bye, Happiness. Bye-Bye, Harmony.

Aber zunächst einmal musste sie feststellen, dass sie ein noch viel akuteres Problem hatte: Sie konnte sich nicht rühren. Ihre Beine fühlten sich an wie mit Blei ausgegossen. Genau wie ihre Lunge.

Musste sie am Ende weinen?

Sie versuchte sich zu erinnern, wie es sich anfühlte, wenn die Tränen kamen. Es wäre das erste Mal seit Jahren. Nicht einmal im vergangenen Frühjahr, an Bord eines Schiffes gemeinsam mit einer Urne, die die Reste ihrer Mutter enthielt, war ihr diese Erleichterung vergönnt gewesen. Es hatte nichts mit Willenskraft zu tun, mit übermenschlicher Selbstbeherrschung. Harmony hatte schlicht vergessen, wie man so etwas machte. Wenn sie denn überhaupt noch Tränen übrig hatte, dann lagen sie gefroren in der hintersten Ecke dieses Tiefkühlfachs, das sie ihre Seele nannte.

Sie wartete noch kurz, aber nichts Außergewöhnliches passierte. Jedenfalls keine Tränen. Nichts bis auf diese vorübergehende Lähmung. Einen Moment lang spürte sie Panik aufkommen, aber schon gleich danach wurde ihr klar, wie sie diese Bremse lösen konnte. Kein körperliches Problem, höchstens ein psychosomatisches. Es war ganz einfach: Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Einen Plan machen. Dann würde sich die Starre lösen.

Sie sah sich im Spiegel in die Augen. »Harmony«, sprach sie stumm zu sich selbst, »beschwer dich nicht. Du hast es nicht anders gewollt.«

So war eben das Leben. Menschen kamen und gingen genauso wie die Mode. Mo, der nebenan bereits im Bett lag, den Kopf so dekorativ auf seinen muskulösen Unterarm gebreitet, dass sein Tattoo perfekt zur Geltung kam. Harmony erinnerte sich gut an die kryptische Titelzeile, für die sie vor fünf Jahren so viel Lob vom Verleger bekommen hatte. Junge Männer sind das neue Schwarz. Wenn überhaupt, dann waren junge Männer die neue Schlaghose. Ein Trend, der genauso schnell kam, wie er wieder ging. Der gelegentlich auf den Laufstegen aufpoppte wie eine Facebook-Nachricht zur Unzeit und dann auch rasch wieder in den Altkleidercontainern verschwand. Kein Vergleich mit Schwarz, dieser zeitlosen Coco-Chanel- und Prada-Farbe. Mo würde nicht bleiben, allen Beteuerungen zum Trotz. Auch wenn sein Luxuskörper noch dort drüben lag, sein Geist war längst woanders.

Harmony wusste, dass nicht jeder ihre Definition von Liebe teilte. Und das war noch höflich ausgedrückt. Häufig hatte sie gehört, wie Kolleginnen hinter ihrem Rücken von ihrem »Trophy Man« tuschelten. Aber das, was sie für Mo empfand, kam den Beschreibungen von Liebe am nächsten, die sie gelegentlich in ihrem eigenen Magazin las. Davon abgesehen konnte auch der Verlust eines schönen Accessoires ausgesprochen schmerzlich sein. Das wusste wohl jede Frau, die aus Versehen schon einmal ein Paar besondere Schuhe in einem Hotelzimmer hatte stehen lassen.

Noch einmal versuchte Harmony, sich in Bewegung zu setzen, und diesmal gelang es ihr problemlos. Als sie vor dem Badezimmerspiegel mit der indirekten Beleuchtung stand und sich mit gleichmäßig kreisenden Bewegungen die bröckelnde Masse aus dem Gesicht wischte, fühlte sie, dass sie buchstäblich einen Schritt weiter war.

Vielleicht hatte der Gedanke an Schuhe geholfen. Oder an Hotels.

Sie dachte an die Unterzeile ihres Magazins: Move on! Das war immer ihr Lebensmotto gewesen. Weiter. Egal was passierte. Selbst wenn der Weg holprig wurde. Dann brauchte man vor allem eine gut durchstrukturierte To-do-Liste. Einen Plan für privates Changemanagement.

Einen Augenblick lang wägte sie ab, ob sie Mo sofort hinausschmeißen oder lieber selbst die Wohnung verlassen und sich woanders einquartieren sollte, und entschied sich dann für das Zweite. Man war immer in der besseren Position, wenn man ging, als wenn man blieb. Auch wenn es eigentlich unfair war, dass sie die Scherereien hatte, obwohl er der Bad Guy war. Sie würde ihm die Hotelrechnung schicken lassen. Für das teuerste Zimmer, das sie hatten.

Aber zuerst würde sie sich Mos iPad schnappen und das Geschäftliche regeln. Zwei Unterpunkte. Nein, drei. Dann ihr Outfit für morgen packen. Drittens: Morgen früh nicht vergessen, der Jungredakteurin in der großen Konferenz ein Lob für ihren Text über die Anzeichen eines Betrugs auszusprechen, vor versammelter Mannschaft. Die Mädels wussten genau, dass Harmony nur in begründeten Ausnahmefällen lobte. Und sich etwas darauf einbilden konnten, wenn sie es einmal tat.

Als Harmony die Balkontür öffnete, griff die Nachtluft mit kalten Fingern nach ihr. Es war diese verdammte Jahreszeit, die mittags so trügerisch schmeichelte, sodass die Mädchen aus der Grafik und die Redakteurinnen in Spaghettiträgertops auf der Dachterrasse des Verlagsgebäudes in der Sonne saßen und ihre Take-away-Salate verzehrten. Und die einen nachts so kühl und feucht einhüllte, mit diesem herbstlichen Grabeshauch, der signalisierte: Nur ein kleiner Aufschub, meine Liebe – bald fallen die Blätter, und dann kommt der Schneematsch und dann gar nichts mehr.

Harmony spürte die glatte Kälte des Balkonbodens unter ihren nackten Füßen, im ersten Moment unangenehm, im zweiten beruhigend, so wie ein kühler Wadenwickel, wenn man Fieber hatte. Sie warf einen Blick über die nächtlich stille Straße. Mehrmals kurvte ein hochbeiniger Audi um den Block, mit wütend aufheulendem Motor, und sie konnte sich vorstellen, wie der Fahrer darin zunehmend ärgerlich wurde, dass um diese Zeit nur noch wenige kamen, um ihre Parkplätze zu räumen. Wer jetzt einen hatte, kurz vor Mitternacht mitten in Eppendorf, der gab ihn nicht so schnell freiwillig wieder her. Nun, immerhin würde hier bald ein Auto weniger um die kostbaren Lücken buhlen. Sollte sich Mo mal schön ein anderes Stellplätzchen für seinen Old-School-Mercedes suchen.

Harmony zückte geschäftsmäßig ihr eigenes Smartphone. Zuerst das Einfache tun, dann das Schwierige, zuletzt das Zuckerl zur Belohnung. So hatte sie schon immer ihre To-do-Listen organisiert. Ein Freizeichen ertönte, im Hintergrund leiser Neunzigerjahre-Triphop. Nach dem zweiten Läuten hob jemand ab.

»Parkhotel Harvestehude, Sie sprechen mit Ann-Kathrin, was kann ich für Sie tun?«

Die Stimme klang nach frisch frisierter Diskretion, nach einer weißblusigen, Perlenkette tragenden Elblette, Jurastudentin vielleicht, die ein Praktikum absolvierte. Wahrscheinlich war der Hotelbesitzer ein alter Golfkumpel ihres Vaters. Oder ihr Patenonkel. Oder beides.

»Schlüter-Hansen«, gab Harmony knapp zurück. »Ich bräuchte kurzfristig ein Zimmer. Superior, Alsterseite. Und wenn Sie mir in etwa dreißig Minuten ein Taxi an meine Privatadresse schicken könnten, danke.«

Sie hielt das Telefon ein Stück von ihrem Ohr weg, bereit, grußlos aufzulegen, auch wenn sie wusste, dass sie es nicht tun würde, und genoss das verdatterte Schweigen am anderen Ende. Gleichzeitig spürte sie einen Anflug von Schuldgefühl. Gemein, die arme Rezeptionspraktikantin so zu überfahren. Andererseits: Wäre es nicht deren Job gewesen, sich rechtzeitig nach den Namen der wichtigsten Stammgäste und ihren Gewohnheiten zu erkundigen? So war das doch, wenn man in dieser Branche arbeitete. Augen auf bei der Berufswahl.

»Äh«, das Mädchen war hörbar aus dem Konzept gebracht, »könnten Sie – könnten Sie Ihren Namen bitte rasch buchstabieren?«

Harmony ließ eine bedeutungsvolle Pause verstreichen. »Schlüter-Hansen«, sagte sie dann noch einmal würdevoll. »Harmony.«

Verwirrtes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Harmony versuchte es noch einmal. Auf die staatstragende Tour.

»Die Schlüter-Hansen.«

»Tut mir leid«, gab das Mädchen kleinlaut zurück, »ich fürchte, ich bin nicht ganz …«

»Ja, haben Sie denn überhaupt keine Ahnung von Mode?«, blaffte Harmony zurück, aber wieder überrollte sie eine Welle des Schuldgefühls, und sie beschloss, sich ihre Gemeinheit für eine andere Stelle aufzusparen. Für einen anderen Menschen. Einen, der es verdient hatte. Nicht für ein Mädchen, das einfach nur das Pech hatte, sie an ein anderes Mädchen zu erinnern, das sie nicht einmal kannte. Mit dem Mo sie aber offensichtlich betrogen hatte. Die arme Rezeptionistin zu quälen, nur weil sie möglicherweise ein ähnlicher Typ war wie Mos neue Flamme, war nicht nur ungerecht, sondern vor allem stillos. Eine Eigenschaft, die Harmony sich nicht leisten konnte.

»Nichts für ungut«, lenkte sie deshalb ein, »ich bin ja bloß die Chefredakteurin der ›Style‹. Wenn ich aus irgendwelchen Gründen in Hamburg auf ein Hotel angewiesen bin, greife ich gerne auf Ihr Haus zurück. Meine Adresse sollten Sie in der Datenbank finden.«

»Amelie Schlüter-Hansen«, echote das Empfangsmädchen, und Harmony ließ es dabei bewenden. Schließlich hatte sie noch zwei weitere Punkte auf ihrer Liste. Sie beendete das Gespräch und öffnete ihre Facebook-App.

In Gedanken wiederholte sie die verräterische Nachricht von Mos iPad noch einmal: »Du hast dein blau gestreiftes Hemd vergessen. Das mit dem Anker am Kragen.« Harmony musste nicht lang überlegen, welches Hemd gemeint war. Sie selbst hatte es Mo geschenkt, in der Mittagspause bei der Media Future Convention in Los Angeles im letzten Sommer. Erst hatte er sich gewehrt und behauptet, er sehe darin wie ein Hamburger Reeder in Rente aus.

In der Tat war es Kalkül gewesen, dass das Kleidungsstück ihn ein wenig älter machte. Privat liebte sie seinen Rock’n’-Roll-Stil, in der Öffentlichkeit schämte sich Harmony manchmal ein wenig für ihn, für diesen knackigen Kerl mit seinen engen Shirts und seinen kunstvollen Tattoos zwischen den ganzen Krawatten- und Anzugträgern. In Hamburg, im Kreis der anderen Gastrokritiker, gab ihm sein Äußeres eine eigene Note, mit der er gerne spielte. Das Enfant terrible der Haute Cuisine. Dort, auf einer internationalen Konferenz, war es einfach nur daneben.

In den letzten Monaten hatte Mo das Hemd dann plötzlich freiwillig getragen. Und jemanden gefunden, der es ihm gerne auszog. Warum sollte man sonst sein Hemd vergessen? Und warum sollte eine Frau ihn um diese Uhrzeit darauf hinweisen? Sie dachte wieder an die frische Stimme der Hotelpraktikantin. Sofort stellten sich die Bilder dazu ein. Mo im heißen Clinch mit einer jungen, blitzblanken Frau auf einem blitzblanken Hotelbett. Dazu passte der Absender, der über der Nachricht gestanden hatte. Marie – wann war dieser Name in den Hitlisten der beliebtesten Vornamen aufgetaucht? Sie rechnete nach und merkte, wie ihr schwindlig wurde. Jung, ja – aber so jung?

Bei allem was sie tat, hatte sie ein seltsames Gefühl von Vertrautheit. Wahrscheinlich weil sie diese Szene so oder so ähnlich schon lange in Gedanken durchgespielt hatte, all die Jahre über. Weil sie gewusst hatte, dass es so kommen musste.

Sie tippte den Namen in das Suchfeld auf Facebook ein und hatte Glück. Es gab zwar Millionen von Maries, aber nur die eine war auf die Idee gekommen, ihren Namen in zwei getrennten Silben zu schreiben. So, wie es als Absender über Mos Nachricht gestanden hatte: »Ma Rie«. Wahnsinnig originell, dieser Trend zu verfremdeten Vornamen in Social Networks. Vielleicht würde Obamas Geheimdienst dann nicht wagen, die Statusmeldungen mitzulesen. Aber sie, Harmony, war skrupelloser als die NSA.

Sie klickte Ma Ries Profil an. »Kennst du Ma Rie?«, fragte Facebook säuerlich. »Um zu sehen, was sie mit Freunden teilt, sende ihr eine Freundschaftsanfrage.« Auf der öffentlich sichtbaren Profilseite waren nur sparsame Informationen. Die Frau lebte in Blankenese und war auf ein berüchtigtes Upperclass-Internat gegangen. Am Ende wohnte sie sogar noch bei ihren Eltern. Und Mo hatte sie in ihrem Mädchenzimmer mit Elbblick besucht. Harmony schüttelte sich. Fotos waren keine zu sehen. Die teilte sie offensichtlich nur mit ihren Freunden.

Aber was nicht war, konnte ja noch werden.

Harmony schickte ihr eine Freundschaftsanfrage heimlich erleichtert, dass sie noch kein Bild von ihr gesehen hatte. Auch Schmerz war leichter zu ertragen, wenn er in kleinen Wellen kam. Nicht alles auf einmal. Nun musste das Mädchen nur noch die Freundschaft bestätigen, aber das würde sie mit Sicherheit tun. Diese jungen Dinger schauten schließlich nicht zweimal hin, wer da mit ihnen Kontakt aufnahm. Wenn Mariechen genauso naiv in Sachen Mode war wie das Empfangsmädchen im Parkhotel, würde sie kaum ahnen, wer da ihre neue BFF, ihre neue Best Friends Forever werden wollte. Außerdem hatte Mo einen anderen Nachnamen als Harmony. Da würde die Kleine kaum die richtigen Schlüsse ziehen.

Während Harmony im Bad einige Kosmetikartikel packte, rief sie noch bei »Da Matteo« an.

Jetzt, so kurz vor Mitternacht, war der Wirt mit Sicherheit gut zu erreichen. Da saß er immer mit den Stammgästen an der Bar und erzählte Familiengeschichten aus dem Piemont. Von den Geheimrezepten seiner »Nonna« und Onkel Cesare, der in den Wäldern ohne Erlaubnis Wild erlegte. Die Gäste liebten diese Geschichten und seinen italienischen Akzent, viele kamen nur seinetwegen und weniger wegen des mittelmäßigen Essens. Mit seinem dunklen Schopf und seinen stechenden Augen sah Matteo auch noch genauso aus wie der exotische Italiener in einem Fünfzigerjahre-Heimatfilm. Täuschend echt. Nur wenige kannten Matteos Geheimnis. Harmony war eine von ihnen. Sie hatte es niemals ausgenutzt, bis zum heutigen Abend. Aber ungewöhnliche Situationen erforderten ungewöhnliche Maßnahmen.

Matteo ging persönlich ans Telefon. Im Hintergrund hörte sie Gläser klirren, jemand lachte, und es erklang die gleiche unpassende Lounge-Musik wie in der Warteschleife des Parkhotels.

»Haar-Moh-Ni-EE«, sang er begeistert in den Hörer, »wasse kann ich tun für dich, cara mia?«

»Du, sag mal, hat sich mein Mann für morgen Abend auch angemeldet?«

Es kam ihr leicht von den Lippen, diese kleine Hochstapelei, an die sie sich in den letzten Jahren gewöhnt hatte. Mein Mann. Vor anderen behauptete sie, es sei schließlich keine Frage des Trauscheins, wie man sich gegenseitig bezeichnete, und dass sie alle anderen Formulierungen für peinlich hielt, vor allem im Alter über fünfunddreißig. Dabei wusste sie es im Grunde ihres Herzens besser. Ein paar Jahre lang hatte sie vergeblich darauf gehofft, dass Mo sie fragte. Sie hätte gerne Ja gesagt, einmal im Leben. Auch wenn sie sich selbst im Verdacht hatte, dass es ihr eher um das Hochzeitsoutfit gegangen war. Vielleicht ein Kleid von Lala Berlin. Aber so war es eben immer gewesen mit Mo, seine Oberfläche und ihre Abgründe hatten sich perfekt ineinandergefügt. Als hätte sie ihn als Model gecastet, passend zu ihrer inneren Sehnsuchtslandschaft.

Aber egal ob gecastet oder geliebt oder beides: Dass er sie jetzt so behandelte, würde sie nicht auf sich sitzen lassen.

Auf der anderen Seite der Telefonverbindung hörte sie Matteo mit den Seiten eines Reservierungsbuches rascheln.

»Un attimo, per favore … Amico Moritze … Si, Mo ist auf der Liste … und deshalb rufste du anne, cara mia?«

Harmony rief sich innerlich zur Ordnung. Jetzt durfte sie sich nicht von Sentimentalitäten davontragen lassen.

»Matteo«, sagte sie und betonte jede Silbe extra, »wie lange kennen wir uns jetzt eigentlich?«

»Non lo so, weisse nichte«, schmeichelte er zurück, »ich kann mir gar nichte mehr vorstellen, wie es war ohne dich. Questa vita senza te.«

»Bene«, sagte sie trocken, »hör mir jetzt einmal gut zu.«

Dann erläuterte sie ihm ihrem Plan.

Als sie fertig war, hörte sie am anderen Ende noch immer das Gläserklirren aus der Gaststube. Von Matteo kam nichts außer einem trockenen Schnauben.

»Ma, bellissima!«, stammelte er schließlich, »du kannste doch nichte …«

»O doch«, sagte sie leise, »ich kann. Du weißt, was sonst passiert.«

»Aber cara …«

Sie machte eine Kunstpause, während sie ein Tübchen Augencreme in ihre Kosmetiktasche fallen ließ.

»Dann erzähle ich beim nächsten Mal allen deinen Stammgästen, dass du gar nicht Matteo heißt, sondern Matthias. Und dass deine Großmutter nicht im Piemont wohnt, sondern in Pirmasens. Und dass …«

Weiter kam sie nicht, denn während sie halblaut telefonierte und packte, hörte sie ein Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um. Im Türrahmen stand Mo, und sie erschrak. Beinahe hatte sie über all ihren Zukunftsplänen ganz vergessen, dass er ja immer noch da war, leibhaftig in ihrer gemeinsamen Wohnung, ohne zu ahnen, dass sie ihm auf die Schliche gekommen war. Da lehnte er wie ein kleiner Junge, verschlafen und zerzaust. Out-of-bed-Frisur, dachte sie automatisch, der Megatrend von 2003. Mit seiner behaarten Hand rieb er sich den Bauch. Makelloses Sixpack, nicht zu wenig und nicht zu viel. Es war erstaunlich, wie Mo trotz seiner Karriere in der Gastronomie noch immer scheinbar mühelos seinen Körper konservierte.

»Mach’ssn da?«, murmelte er und blinzelte.

Sie stand da und wartete. Dass er weiterfragen würde, warum sie ihre Kosmetiksachen packte, oder ob alles in Ordnung war mit ihr. Aber er schüttelte nur missbilligend den Kopf.

»Du weißt doch genau, dass ich morgen krass früh losmuss nach Bordeaux«, sagte er maulig und rieb sich mit den Fäusten die Augen. »Weil die ’ne richtige Kackverbindung haben, über Brüssel, mit Umsteigen, und abends ist noch der Empfang bei Matteo. Und du machst hier so’n Lärm um die Zeit.«

Matteo! Den hätte Harmony um ein Haar vergessen. Sie wollte nicht, dass er am anderen Ende der Telefonverbindung das Gespräch zwischen Mo und ihr belauschte. Hektisch tippte sie den roten Telefonknopf an und ließ das Smartphone in der Tasche ihres Morgenmantels verschwinden.

»Frühe Flugzeiten gehören zum Berufsrisiko«, sagte sie eisig. Dann drängte sie sich an Mo vorbei ins Schlafzimmer, zog ihren kleinsten Trolley aus der Ecke, ließ die Kosmetiktasche nachlässig hineinplumpsen und öffnete den Kleiderschrank.

Mo trottete hinter ihr her. »Was wird ’n das, wenn’s fertig ist?«, sagte er schnodderig, aber die Anspannung in seiner Stimme war kaum zu verbergen. Stumm legte sie ein passendes Outfit für den nächsten Tag in den Koffer, konnte sich nicht zwischen Killer-Stilettos und Cutout-Booties entschieden, nahm schließlich beide. Dann legte sie würdevoll ihren Morgenmantel über den Eames-Chair neben dem Bett und stand für einen Augenblick nackt vor Mo.

Es war ein seltsamer Moment, und sie konnte sich nicht entscheiden zwischen Stolz (sieh her, das hier wird dir von heute an entgehen) und Scham (sieh her, kein Wunder, dass du lieber eine zwanzigjährige höhere Tochter aus Blankenese vögelst). Etwas fahrig griff sie nach einem Body, ihrer Seven-for-all-Mankind-Jeans und einem zeitlosen Cashmere-V-Pulli und streifte sich alles über, keine Sekunde zu spät, ehe das Taxi klingelte. Die Praktikantin hatte wohl doch noch zwei und zwei zusammengezählt.

Im letzten Moment schnappte sie noch das schwarze Wollcape von der Garderobe im Flur und schlang es um sich herum. Die dramatische Geste – halb verlassene Frau, halb Held eines Mantel- und-Degen-Films – tat augenblicklich gut. Mit diesem Cape fühlte sie sich stärker, besser gerüstet für das, was kommen würde. Wenigstens für den ersten Schritt.

Sie baute sich vor Mo auf und tippte mit dem Zeigefinger gegen seine nackte Brust. Er stolperte ein paar Schritte zurück, als hätte sie ihn geschubst.

»Flieg nach Bordeaux, und verpass den Termin morgen Abend bei Matteo nicht«, sagte sie eisig. »Danach hast du eine Stunde Zeit zum Kofferpacken. Alles, was dann nicht weg ist, stelle ich vor die Tür.«

»Aber …«

Sie drehte sich brüsk um, zog ihren Rollkoffer über das Fischgrätparkett zur Tür, und Mo tappte ihr hilflos hinterher wie ein junger Hund, der nicht ganz versteht, warum er nicht auf den Teppich pinkeln darf. »Ich würde mal Facebook checken«, sagte sie kühl über ihre Schulter. »Du hast eine neue Nachricht.«

2

Irgendetwas stimmte nicht in Harmonys Büro, aber sie kam nicht darauf, was es war. Die Helmut-Newton-Bildbände auf dem gläsernen Beistelltischchen? Lagen am korrekten Platz und waren auch auf der richtigen Seite aufgeschlagen. Ein Vermächtnis ihres Vorgängers, der ihr damals erklärt hatte, großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien unnatürlich gestählter Frauenkörper würden die Mitarbeiterinnen gleichzeitig einschüchtern und inspirieren, wenn sie zu Besprechungen ins Chefzimmer kamen. Harmony war nicht ganz sicher, ob die Theorie stimmte, hielt sich aber in einer Art professionellem Aberglauben seit Jahren daran. Die frischen Blumen in der dänischen Designer-Vase? Waren ebenfalls da, auch wenn die Sonnenblumen für Harmonys Geschmack noch ein wenig zu verschlossen waren. Sie schätzte es mehr, wenn die Blüten sich bereits auf dem halben Weg zwischen Knospe und Prachtentfaltung befanden. Der Obstteller?

Der Obstteller! Endlich hatte Harmony den Fehler gefunden. Statt eines aufgeschnittenen Apfels lag dort eine aufgeschnittene Birne. Was war denn in Mandy gefahren? Eine Redaktionsassistentin konnte doch nicht einfach eigenmächtig die Bestellung ändern! Seit fünf Jahren waren die Eckdaten die gleichen: Apfel, leicht säuerliche Sorte, mit Schale, hauchdünn.

Misstrauisch hob Harmony einen der Birnenschnitze an und schnupperte. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Verdacht, Mandy könnte vielleicht irgendetwas mit dem Obst machen, ehe sie es Harmony hinstellte. Heimlich über die Schnittflächen lecken, draufspucken oder noch Schlimmeres. Heute waren die Gedanken besonders quälend, wahrscheinlich weil Harmony so schlecht geschlafen hatte im Superior-Zimmer unter den Decken aus ägyptischer, doppelt gekämmter Baumwolle. Auch weil es sie daran erinnerte, welchen Deal sie gestern Abend mit Matteo gemacht hatte. Heute früh, bei Tageslicht, war sie nicht mehr ganz sicher, ob ihr Plan wirklich so elegant und teuflisch war. Oder einfach nur kindisch. Mehr Cindy aus Marzahn als Glenn Close.

Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen den Knopf der mattsilbernen Gegensprechanlage. Sofort meldete sich am anderen Ende eine blecherne Stimme. »Frau Schlüter-Hansen? Können die Kolleginnen reinkommen?«

Das sind nicht meine Kolleginnen, hätte Harmony am liebsten gesagt. Das sind auch nicht meine Mitarbeiterinnen. Das sind meine Angestellten! Meine Untergebenen! Sie schüttelte sich ein wenig. In der Branche galt sie als streng, aber gerecht. Nicht als tyrannisch. Sie hatte einen Ruf zu verlieren. Und das wäre nicht gut gewesen. Vor allem wenn es in einem Augenblick passierte, in dem ihr Lebensgefährte, der Kult-Gastrokritiker Moritz Liebermann, mit einer Blankeneser Gymnasiastin durchbrannte. Das hätte man ihr als Charakterschwäche ausgelegt. Und der Verleger, Dr. Schwindtke, konnte keine charakterschwachen, hysterischen Chefredakteurinnen leiden. Die ersetzte er imHandumdrehen durch eine Dreißigjährige, die auch gleich den besseren Body-Mass-Index mitbrachte. Zwei Fliegen mit einer Klappe. In Harmonys Alter ein gefährliches Spiel.

Kurz ging ihr der Termin durch den Kopf, den sie nächste Woche mit Schwindtke hatte. Er selbst hatte um das Treffen gebeten, ohne nähere Gründe anzugeben. Aber Harmony konnte sich schon denken, was er wollte. Der Trend ging zu kleinen Führungsmannschaften, zu Chefredakteurinnen, die für mehrere Titel zugleich verantwortlich waren. Vermutlich würde er ihr neben der Style noch die Elsa aufs Auge drücken. Warum auch nicht. Auch diesem Hausfrauenblatt konnte man noch etwas Stilbewusstsein einimpfen.

Und für Überstunden hatte sie ja bald viel, viel Zeit.

Leider, leider.

»Frau Schlüter-Hansen?«, quäkte es erneut aus der Gegensprechanlage.

»Sag mal, Mandy?«, fragte sie zurück, »magst du eigentlich Obst?«

Im Hintergrund konnte Harmony ein verhaltenes Kichern hören. Offensichtlich standen die Ressortleiterinnen schon im Vorzimmer und hörten jedes Wort der Konversation.

»Ja, mögen schon«, antwortete Mandy blechern, »bloß, ich hab diese Allergie. Kann praktisch nichts Rohes essen. Außer Südfrüchten. Ananas, Kiwi, Orange. Das geht.«

»Keine Birne?«, fragte Harmony zurück, auch wenn ihr klar war, dass die anderen heute Mittag in der Kantine diesen skurrilen Dialog gackernd nachspielen würden. Aber das musste sie jetzt zu Ende bringen.

»Keine Birne«, bestätigte Mandy, »und auch keinen Apfel.«

»Und was passiert, wenn du rohes Obst isst?«

»Kratziger Hals, trockener Husten, Ausschlag«, zählte Mandy auf und räusperte sich wie zur Bestätigung.

Harmony zögerte. Bis eben gerade war die Antwort ungemein beruhigend gewesen, aber wenn Mandy ausgerechnet jetzt hüsteln musste, konnte es auch das Gegenteil bedeuten. Möglicherweise war genau das die Reaktion ihres Körpers auf das einmalige Ablecken eines Birnenschnitzes. Harmony schob den Obstteller angewidert zur Seite.

»Schick sie rein«, sagte sie.

Die Tür ging auf, vier Ressortleiterinnen staksten in das Chefbüro, um dort auf dem kleinen weißen Ledersofa Platz zu nehmen. Beauty-Chefin, Report-Chefin, Mode-Chefin, Feelings-Chefin. Klangvolle Titel waren das, ein Coup, auf den Harmony stolz war. Im Zuge der letzten Verlagsreform waren nicht nur Chefredaktionen zusammengelegt worden, sondern auch die Hälfte der Redakteurinnen entlassen worden. Die andere Hälfte war zu Chefinnen befördert worden. Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Sie waren Häuptlinge ohne Indianer. Sie mussten den ganzen Kram alleine stemmen, und mehr Geld verdienten sie dadurch auch nicht. Aber dafür bekamen sie neue Türschilder und Visitenkarten. »Weiche Faktoren«, so hatte das die Human-Resources-Frau aus dem achten Stock genannt.

Leider benahmen sich die Damen weder wie Häuptlinge noch wie Chefinnen. Warum nur, dachte Harmony, konnten die nicht einmal auf den Schuhen laufen, die sie auf ihren Modeseiten präsentierten, mit viel Weißraum drumherum und kernigen Bildunterschriften? Lediglich die Art Direktorin, in Chucks und Karohemd, unterwarf sich nicht dem Dresscode. Aber die war lesbisch. Die durfte das.

Im Hinsetzen musterte die Beauty-Chefin argwöhnisch die Report-Chefin. »Abgenommen?«, fragte sie.

Die Report-Chefin nickte glücklich. »Ja, ich hatte doch letzte Woche Magen-Darm.«

»Super«, die Feelings-Chefin hob anerkennend den Daumen, »das schafft echt was weg. Hatte ich neulich auch und drei Kilo minus in fünf Tagen.«

Mürrisch blickte Harmony in die Runde. »So«, schnarrte sie, »was haben wir?«

Die Report-Chefin nestelte an ihrer Lederkette mit dem Alu-Anhänger, und Harmony fragte sich, ob diese Art von Neunzigerjahre-Ethnoschmuck wirklich wieder im Kommen war, oder ob der Frau jegliches Stilbewusstsein abging. Gut, das hier war nicht die Vogue, wo den Redakteurinnen alles vorgeschrieben wurde, von der Absatzhöhe bis zum Hüftumfang. Aber ein wenig mehr Identifikation, ein wenig mehr Style hätte der Frau schon gut gestanden.

»Also«, sagte die Report-Chefin gedehnt, »es geht ja um die Zwölf. Dezemberheft. Weihnachten. Glamour to go, glamour to stay. Fest der Liebe und so.«

»Glamour to stay?«, fragte Harmony mäßig interessiert nach.

»Ja. Ist wieder total in, dieses retromäßige Großfamiliengefühl. So von wegen: Wir treffen uns mit mehreren Generationen und den besten Freunden noch dazu, schieben die Ente in den Ofen, dazu der gestylte Weihnachtsbaum.«

»Sagt wer?«

»Die Kolleginnen von der amerikanischen Vogue machen dieses Jahr eine riesige Weihnachtsbaumstrecke. Die lassen sich vom Tree-Stylisten von Rihanna beraten.«

»Tree-Stylisten? Profi-Weihnachtsbaumschmücker?« Harmony nickte anerkennend. »Recherchier doch mal, ob deutsche Stars so etwas auch haben.«

Die Feelings-Chefin schaltete sich ein. »Also, das ist mir ein bisschen zu kühl … zu edgy … ich finde, das ganze Heft sollte von so einem heimeligen Glanz durchzogen sein. Aber auch stilvoll. Mehr so: Heimat ist das neue Fernweh.«

»Absolut«, pflichtete ihr jetzt auch die Modechefin bei, »für unsere So-in-love-Modestrecke haben wir schon einige Promi-Paare gecastet. Ich seh das vor mir: Gehauchte Herzen in der kalten Winterluft, Anna Loos trägt einen Mantel im Men-Style und sonst nichts, Jan-Josef Liefers legt ihr von hinten ein Cape von Alberta Ferretti um die Schultern …«

»Love, love, love«, schmetterte die Feelings-Chefin, »wenn das nicht titeltauglich ist, weiß ich auch nicht.«

Harmony grub nacheinander alle vier Fingernägel in das Fleisch ihres Daumens, bis darin eine halbmondförmige dunkelrote Delle entstand. Dann zählte sie, wie lange es dauerte, bis die Delle verschwand. Nach fünf Sekunden gab sie auf. Alte Haut. Altes Fleisch. Es war einfach nur deprimierend.

»Ja, und vor allem«, das war wieder die Report-Chefin mit der Lederkette, »wir sollten ausnahmsweise mal weg von diesem ganzen urbanen Look and Feel. Vor allem für das Weihnachtsheft. Ich spür da was anderes: Landlust, Kutschfahrten auf Waldwegen, holzvertäfelte Hütten, dampfender Kakao, Wollsocken.«

Dampfender Kakao. Wollsocken. Harmony blickte über die Köpfe der Redakteurinnen hinweg. Draußen vor dem Fenster konnte sie die Hafenkräne auf der Elbe in der Vormittagssonne glitzern sehen. Ein riesiges Containerschiff schob sich langsam durch das Bild.

»Na klar«, bestätigte die Feelings-Frau, »weiß man doch: Land ist die neue Stadt. Gemütlich ist das neue Cool.«

Harmony steckte sich langsam einen Schnitz Birne in den Mund und kaute bedächtig. Es war sehr still geworden im Büro. Mit jedem Biss schienen die Kaugeräusche lauter anzuschwellen, bis sie schließlich in ihrem eigenen Kopf dröhnten wie ein Presslufthammer. Dann griff sie zu einer Papierserviette mit bunten Paul-Smith-Streifen und tupfte sich die Lippen ab.

»Gemütlich«, sagte sie und legte in die drei Silben sämtliche Verachtung, die sich seit gestern Abend um 23.30 Uhr in ihrem Kopf, ihrem Körper und ihrem Herzen gesammelt hatte. »Ich hasse gemütlich.«

Die Art Directorin fläzte sich rücklings in das Sofa, streckte die langen Beine von sich und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Kerl. Die vier Ressortleiterinnen nahmen dagegen eine kerzengerade Haltung ein wie brave Kinder, die gerade eine Standpauke bekommen hatten, und blickten auf den taubenblauen Teppich.

»Ich glaube«, legte Harmony nach, »ihr habt Style nicht verstanden! Wir machen hier doch nicht die Elsa!Und auch nicht die Landlust!«

»Aber …«

Die Feelings-Chefin versuchte, noch etwas zu sagen, aber Harmonys eisiger Blick brachte sie zum Schweigen.

»Morgen, gleiche Zeit, gleicher Ort«, sagte Harmony sehr leise, so, als müsste sie sich mühsam beherrschen. »Und dann möchte ich ein neues Konzept. Nichts mit Familie. Nichts mit Gemütlichkeit. Und schon gar nicht mit Love. Ihr könnt die Tür offen lassen.«

Harmony wandte sich ihrem E-Mail-Eingang zu, doch dann nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und hob den Blick. In der Tür stand Mandy, streichholzdünn und ganz in Schwarz, und beäugte sie auf eine schwer zu deutende Weise. So, als wisse sie nicht genau, ob Harmony gefährlich war oder zahm, ob man mit ihr Mitleid haben oder sich doch eher vor ihr fürchten musste.

»Vorhin gab es einen privaten Anruf für Sie, Frau Schlüter-Hansen«, sagte sie.

Harmony spürte, wie ihr Herz für einen Schlag aussetzte, und ärgerte sich gleichzeitig. Erstens hätte Mo auf ihrem Mobiltelefon angerufen, nicht im Sekretariat. Zweitens hatte er ihr schon in der Nacht eine Reihe Nachrichten hinterlassen.

Na gut, sie wollte jetzt nicht anfangen, sich in die Tasche zu lügen. Eine Nachricht war es gewesen.

Und drittens konnte er ohnehin tun, was er wollte, sie würde ihn nicht zurücknehmen. Es sei denn, es gab doch noch eine völlig harmlose Erklärung für alles. Und das Mädchen aus Blankenese war seine Cousine. Allerdings waren Mos Eltern beide Einzelkinder. Soweit sie wusste.

»Ihr Vater hat sich gemeldet«, setzte Mandy hinzu, und Harmony machte eine wegwerfende Handbewegung. Der Horst. Stadtbekannter Psychotherapeut, aber völlig unfähig, was die eigene Familie betraf. Der Mann, der sich nie Papa nennen lassen wollte, nicht einmal, als Harmony noch ganz klein gewesen war. Schuldig am Hippie-Namen seiner Tochter, für den sie ihre ganze Kindheit lang gehänselt worden war.

Und vermutlich der letzte Mensch auf Erden, der kein Handy besaß.

Stattdessen rief er Harmony noch immer auf dem Festnetz im Büro an. Sein Pech, wenn er sie auf diese Weise nie erreichte. Fünf Monate war es her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Auf Ingrids Bestattung. Im April. Zurückrufen würde sie jedenfalls nicht.

Sie erwartete, dass Mandy von selbst das Büro verließ, aber die dachte gar nicht daran. Stattdessen blickte sie Harmony jetzt wirklich bekümmert an.

»Sie sehen nicht gut aus, Frau Schlüter-Hansen«, sagte sie. Zum Glück für sie bemerkte sie ihren Fauxpas aber rasch und fügte hinzu: »Natürlich sehen Sie immer großartig aus … nur irgendwie müde und abgespannt. Richtung Burn-out.«

Harmony nickte ungeduldig, vielleicht eine Spur zu harsch. Es rührte sie ja doch, dass ihre Sekretärin sich um sie sorgte, und diese Rührung durfte sie nicht zulassen. Denn wie hätte sie weiterleben können, wenn sie sich auf all diese Gefühle der anderen einließ?

»Sie sollten einfach mal rausfahren«, sagte Mandy. »Ein paar Tage aufs Land. Ganz weit weg von all dem hier.« Mit großer Geste deutete Mandy auf den Obstteller, das Blumenarrangement und das Fenster mit Blick auf das Hafenpanorama.

»Land ist die neue Stadt«, witzelte Harmony und gab ein ersticktes Krächzen von sich, das eigentlich als spöttisches Lachen geplant gewesen war.

»Lustig«, Mandy sah angenehm überrascht aus, »genau das wollte ich auch gerade sagen.«

3

Um halb sechs rauschte Harmony entschlossenen Schrittes aus dem Büro, griff sich im Vorbeigehen einen der Orangenschnitze, die Mandy auf ihrem eigenen Tellerchen zwischen Telefon und Flachbildschirm hortete, und warf ihrer Sekretärin ein forsches »Ich bin dann mal weg« hin. Auf dem Weg zum Lift kam sie an halb geöffneten Bürotüren vorbei, durch die sie schemenhaft über Tastaturen gebeugte Köpfe erkennen konnte. Hinter der Tür der Feelings-Chefin hörte sie Frauenstimmen lachen, doch das Lachen erstarb einen kleinen Moment, nachdem Harmony mit ihrem schwarzen Cape vorbeigeflattert war wie ein weiblicher Dracula zur Unzeit. Die würden sich jetzt noch eine ganze Weile fragen, was Harmony von ihrem Büroklatsch mitbekommen hatte.

Als hätte sie keine anderen Sorgen.

Als sie auf den Liftknopf drückte, grinste sie in sich hinein wie ein Schulkind, das sich diebisch über einen gelungenen Streich freut. Nicht wegen der Redakteurinnen, da stand sie drüber. Aber einfach gehen, ohne Angabe von Gründen – das war etwas, das ihr noch immer ein Hochgefühl bereitete.

Allein dafür hatte sich der weite Weg gelohnt. Das Volontariat bei einem Haus- und Gartenmagazin, die langen, ermüdenden Interviews mit Herstellern von Gartenkrallen und Zierteichen. Danach die harten Jahre als Redakteurin bei einer Modezeitschrift, deren Chef dafür berüchtigt war, dass er mit Kugelschreibern nach seinen Mitarbeiterinnen warf. Seit sie Chefredakteurin bei der Style war, hätte keiner mehr gewagt, auf sie zu zielen. Und sie selbst hätte sich niemals derart unsubtiler Methoden bedient. Gegenstände werfen, das war Neandertaler-Stil. Typisch Mann. Als gäbe es nicht deutlich schärfere, effektivere und dabei völlig gewaltlose Methoden. Sie dachte an ihr spätabendliches Telefonat mit Matteo, der nicht Matteo hieß und nicht aus dem Piemont stammte, und lächelte wieder in sich hinein. Dann dachte sie wieder an Mo. Und lächelte nicht mehr.

Zwischen dem achten und dem sechsten Stock hatte sie einen Augenblick lang den Impuls, noch einmal umzukehren und ins Büro der Feelings-Chefin zu stürmen, um sie nach ihrer Meinung zu fragen. Die nachlässige Facebook-Nachricht – war sie ein unbewusstes Signal von Mo gewesen? Genauer gefragt: War er nur deshalb so nachlässig gewesen, weil er im Grunde seines Herzens wollte, dass seine Untreue aufflog? Fand er am Ende, dass man Harmony die Wahrheit vorher nicht hätte zumuten können – in der harten Zeit, die hinter ihr lag? Oder war einfach so wenig übrig geblieben von seiner Leidenschaft, von seinen Gefühlen, dass es ihn schlicht nicht mehr kümmerte, ob sie ihm auf die Schliche kam?

Zum wiederholten Mal checkte Harmony den E-Mail-Eingang auf ihrem iPhone. Keine Nachricht von Mo. Nicht eine. Doch, die einzige, die bereits gestern Abend eingegangen war, kurz nach Mitternacht, als sie eben in ihr Hotelbett zurückgesunken war. »Was war denn das? Bekommst du deine Tage?«

»Hier wollen Sie aber nicht hin«, sagte eine Männerstimme, und Harmony hob verwirrt den Kopf. Sie blickte auf, erst in das glatt rasierte Gesicht eines Anzugträgers, dann auf die Digitalanzeige neben der Tür. Wo er recht hatte, hatte er recht. Blind war sie losgebrettert, als der Aufzug zum Halten gekommen war, den Blick auf das Display gerichtet, und war doch erst zwei Stockwerke weitergekommen. »Oh, danke«, stammelte sie, stolperte rückwärts und verkniff sich weitere Telefonblicke für die nächsten zweieinhalb Minuten.

Währenddessen zückte der Mann seinerseits ein Smartphone und nutzte die Reisezeit für einen kurzen Überblick über sein Leben. Oder vielleicht auch nur seine Finanzen. Irgendwann, dachte Harmony, irgendwann werden wir alle nur noch mit Sturzhelmen durch die Gegend laufen, weil wir verlernt haben, irgendetwas anderes wahrzunehmen als die paar Quadratzentimeter, die die Welt bedeuten. Bei jedem Stockwerk sank Harmony der Magen tiefer in die Kniekehlen.

Als sie im Erdgeschoss ausstieg und mit müder Geste den Gruß des Pförtners erwiderte, war von ihrem kurzzeitigen Hochgefühl nichts geblieben. Beim Einsteigen in den Lift hatte sie sich noch gut gefühlt, stark, selbstbewusst, kampfbereit: Sie war niemandem Rechenschaft schuldig, konnte kommen und gehen, wie sie wollte, und Mo, dem würde sie es zeigen. Hier, beim Anblick ihres Spiegelbildes in den zurückweichenden Glasscheiben der automatischen Tür, fühlte sich die neue Freiheit einfach nur bedrohlich an. Schon bald würde kein Hahn mehr danach krähen, wann sie abends nach Hause kam. Keiner würde sie mehr fragen, ob sie ihre Tage hatte. Ganz zu schweigen davon, dass sich diese Frage in den nächsten Jahren ohnehin erledigen würde.

Der Anzugträger aus dem Aufzug eilte an ihr vorbei, schnellen Schrittes auf ein Taxi zu, das mit Warnblinkanlage direkt vor der Tür wartete. Er riss die Hintertür auf, und Harmony konnte sehen, dass nicht nur der Taxifahrer auf ihn gewartet hatte. Etwas Blondes blitzte auf der Rückbank auf, und die Wiedersehensfreude war selbst im Verkehrslärm rund um die Landungsbrücken nicht zu überhören. Als das Taxi losfuhr, fühlte sich Harmony, als hätten ihre besten Freunde sie zurückgelassen, nicht mitgenommen zu einer Party, zu der alle eingeladen waren außer ihr.

Dabei konnte sie sich nicht einmal den Namen dieses Anzugschnösels merken.

Sie logen sich in die Tasche, alle miteinander. Fünfundvierzig, das war eben nicht die neue Fünfunddreißig. Das war allerhöchstens die letzte »So-gerade-noch«. Die letzte »Kurz-vor-Schluss«. Ein gnadenloser Schritt auf dem Weg zu jenem Jahrzehnt, in dem man eine Frau mit dem besten Willen nicht mehr als jung bezeichnen konnte. Und was der Markt für Frauen über fünfzig zu bieten hatte, sowohl der Arbeits- als auch der Liebesmarkt, das wusste Harmony gut. Zu gut.

Die wenigen Frauen, die Harmony als Freundinnen bezeichnete, waren entweder auf dem besten Weg vom coolen zum wunderlichen Single, züchteten ihre komplizierten Befindlichkeiten wie kostbare Haustiere, verbrachten Wochen im Schweigekloster, obwohl zu Hause ohnehin keiner war, der ihnen ein Ohr abkaute, oder sie hingen fest in Familien mit maulfaulen Teenagern, in freudlosen Ehen, in denen es bestenfalls noch Freundschaft gab und Gespräche über Vor- und Nachteile des G8-Abiturs. Und die Jobs? Mehr als eine Kollegin in der Branche war von einem lukrativen Chefredakteursposten erst in die luxuriöse Arbeitslosigkeit katapultiert worden und hatte sich dann, als die Abfindung zur Neige ging, mit einem Platz fünf Etagen tiefer begnügen müssen. Ihre Vor-Vorgängerin bei der Style leitete jetzt ein Kundenmagazin für den Sanitärbedarfsfachhandel. Aber die war wenigstens nicht allein in ihrem Einfamilienhaus in Wellingsbüttel. Die hatte einen Mann, zwei Kinder und einen Hund.

Immerhin, dachte Harmony. Das war auch für sie noch eine Option. Ein Golden Retriever würde sie zumindest nicht für eine blutjunge Blankeneserin verlassen. Der würde treu sein, auch wenn Frauchen nach nächtlichen Hitzewallungen morgens müffelnd aufstand. Schade eigentlich, dass sie noch nie eine besonders ausgeprägte Beziehung zu Hunden gehabt hatte. Aber vielleicht konnte man das ja ändern.

Harmony war so in ihren düsteren Gedanken versunken, dass sie auf dem Parkplatz um ein Haar einem Fahrradkurier vor die Reifen gelaufen wäre. Fröstelnd zog sie ihr Cape um sich herum und stöckelte dann über die Straßenbrücke hinüber auf die Uferpromenade. Um diese Jahreszeit waren dort nur noch wenige Touristen unterwegs. »Letzte große Hafenrundfahrt 17 Uhr« stand auf einem Schild an der Treppe, die zu den Pontons hinunterführte. Zu spät, dachte Harmony. Es war einfach für alles zu spät.

Sie blickte auf die glitzernden Reflexionen der tief stehenden Abendsonne auf dem Wasser der Elbe. Fünf Monate war es jetzt her, dass sie ihre Mutter, die Ingrid, den Fluten dieses Flusses anvertraut hatte. Oder wenigstens das, was von ihr übrig geblieben war, nach einem langen, harten Kampf, der die Mutter in ein dürres Geschöpf mit fleckiger, zu straff gespannter Gesichtshaut verwandelt hatte.

In Cuxhaven waren sie von der Elbmündung aus losgefahren, eine verschwindend kleine Trauergesellschaft an einem grauen Apriltag, und hatten vor der Insel Scharhörn die blumengeschmückte Urne ins Wasser gesenkt, unter dem aufgeregten Gekreische eines Möwenschwarms. Außer dem Horst, Ingrids geschiedenem Mann, Harmony und Mo war nur noch Tante Gerhild dabei gewesen, die ein Gartencenter in Osterholz-Scharmbek besaß. Tante Gerhild hatte behauptet, Harmony habe sich überhaupt nicht verändert. Harmony konnte sich dagegen nur vage an die Verwandte erinnern. Ein Gesicht war ihr kaum in Erinnerung geblieben, eher ein bestimmter Geruch. Trocken, staubig und mit einem Hauch von Mottenkugeln, als wäre Tante Gerhild nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dem gleichen Material wie Lavendelsäckchen, die man zwischen Wäschestücke legte und dann jahrelang vergaß.

Erst als Tante Gerhild eine knochige Hand auf Harmonys Schulter legte, während die sterblichen Überreste ihrer einzigen Schwester von den Wellen verschluckt wurden, regte sich in Harmony ein kurzes Wiedererkennen. Zwar hätte sie ihre Tante nicht auf der Straße erkannt, aber ihr Duft war ihr vertraut.

Als sie klein war, hatten die Ingrid und der Horst nicht viel von Verwandtschaft gehalten. Und die Verwandtschaft nicht viel von ihnen. Ihre Art zu leben, die Wohngemeinschaft in einem besetzten Haus in Hamburg-Eppendorf, mit langen, staubigen Fluren und einen konstanten Stapel aus schmutzigen Nudeltöpfen und halb vollen Aschenbechern in der Küche, die Mitbewohner, die ständig kamen und gingen und jeden Satz mit einem vertraulichen Du anfingen, hatten alle abgeschreckt.

Später, nach der Trennung, als der Horst ausgezogen war und irgendwann auch das ständig streitende lesbische Pärchen, das die Wände seines WG