Elbgold - Eckhard Bruns - E-Book

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Eckhard Bruns

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Beschreibung

Der Ursprung dieses amüsanten Regionalkrimis liegt in einem Mord vor schlappen fünfhundert Jahren: Klaas Tidemeyer, frustrierter Ex-Kriminalkommissar mit Resthumor, findet auf seiner Reise des Vergessens am nordsächsischen Elberadweg zufällig ein Skelett mit umgeschnalltem Harnisch und kurz darauf einen halb toten Wissenschaftler aus der Neuzeit. Der Beginn einer abwechslungsreichen Story: um Gold oder nicht Gold. Um eine leere Kiste und eine selbstbewusste Frau. Und mit einer überraschenden Erkenntnis. Quasi als Bonusmaterial bietet das Buch einen nicht zu anstrengenden Einblick in die spätmittelalterliche Vergangenheit der Region: vom Hofnarren Claus Narr über die Torgauer Geharnischten bis zur Schlacht bei Mühlberg. Die stimmige Mischung aus kurzweiligen Dialogen und überraschenden Wendungen bis zur vorletzten Seite ergibt einen lockeren Krimi für den Urlaub, das Wochenende oder einfach zwischendurch und beileibe nicht nur für Sachsen.

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Seitenzahl: 476

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ein riesenhaftes Dankeschön

Ohne fleißige und pfiffige Helferlein geht es nicht. Ich danke (in alphabetischer Reihenfolge) allen, die mich bei der Arbeit an diesem Roman unterstützt, zusammengeschissen, wieder aufgerichtet und bei Laune gehalten haben:

Frauke, Ines, Josef, Natalie und, nicht zuletzt,

Giulia und meiner Schwester Sabine.

Liebe Lesende!

Die folgenden Seiten enthalten weder einen Tatsachenbericht noch eine Dokumentation. Folglich sind alle Personen frei erfunden: seien es die Wirtin der fiktiven Elbklause, fleißige Staatsdiener auf Schloss Hartenfels (das gibt es immerhin!) und in Dresden, oder auch ein Torgauer Sheriff: sie alle sind Produkte meiner Fantasie. Falls ihr doch etwas in diesem Buch entdeckt, was euch an die Wirklichkeit erinnert, und sei es nur eine rote Ampel, so nehmt es bitte mit einem toleranten Lächeln hin, denn eine eventuelle Ähnlichkeit ist rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

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1. Tag

Klaas bewegte seinen dunkelgrünen Kastenwagen nicht sonderlich rasch über die nordsächsische Landstraße, eher in dem Tempo, das hinterherfahrende Eilige zur Weißglut treibt.

Gegen Mittag bog er von der Bundesstraße in eine schmale Straße Richtung Elbe ab. Die Vormittagssonne strahlte ihm frontal ins Gesicht. Ohne anzuhalten, wühlte er mit einer Hand auf dem Beifahrersitz, bis er zwischen Handy, Hundeleine, Pfefferminzbonbons und Taschentüchern seine speckige Baseballmütze ertastete, die er sich über die kurzen grauen Haare stülpte und tief ins Gesicht zog.

Er ließ eine verschlafene Ortschaft mit vielleicht einem Dutzend gepflegter Häuser mit ebenso gepflegten Vorgärten hinter sich und blickte auf eine weitläufige, von Getreidefeldern dominierte Ebene. Dahinter erstreckte sich der Deich.

Obwohl erst Mitte Juni, überwogen auf den Feldern und Wegrändern die Gelb- und Brauntöne. Grün waren nur noch einzelne wie zufällig zwischen den Äckern verteilten Baumkronen. Auch an diesem Tag brannte die Sonne wieder wie sonst nur Ende August und die Hitze lag satt und lähmend über der Landschaft.

Oben, auf der Deichkrone, ging der Straße das Pflaster aus.

Klaas stoppte und überlegte, ob er den Feldweg, zu dem die asphaltierte Piste verkümmerte, seinem Lieferwagen zumuten sollte. Er folgte den ausgewaschenen Fahrspuren mit den Augen bis zu der von einer ausladenden alten Eiche überschatteten Anhöhe und beantwortete sich die Frage mit einem eingeschränkten „Ja“.

Dann holperte der Transporter mit dem Klapprad auf dem Heckträger im ersten Gang durch das vertrocknete Grasland und den flachen Hügel hinauf, bis in die Wendeschleife um den altehrwürdigen Baum herum.

Der einsame Fleck im Schatten der Eiche, mit freiem Blick zwischen den vereinzelten Büschen hindurch auf den Fluss, war exakt der Ort, den er sich für seine Siesta gewünscht hatte.

Klaas erhob er sich ohne Eile aus dem Fahrersitz. Viel Platz hatte er nicht: Er benötigte nur einen Schritt bis in Küche oder Wohnzimmer des Wohnmobils, je nachdem, ob er sich gerade links oder rechts herum wandte.

Als Erstes öffnete er die Schiebetür, um den Sommer hineinzulassen, dann zog er sein Flanellhemd, ohne die Knöpfe zu öffnen, wie einen Pullover über den Kopf. Darunter kam ein verwaschenes T-Shirt zutage, welches vor ewigen Zeiten einmal dunkelblau gewesen sein könnte.

Hinter sich vernahm er ein aufdringliches Gähnen. Ein schwarzes Ungetüm kam unter dem Ess- und Wohnzimmertisch hervorgekrochen, reckte sich und streckte die Nase zur Tür hinaus.

Jeder andere Hund wäre losgestürmt und hätte sich den Frust der langen Fahrt aus dem Leib gerannt. Dieser hier setzte sich erst einmal, begutachtete, in das grelle Sonnenlicht blinzelnd, ohne Hast die neue Umgebung und gähnte abermals in aller Ausführlichkeit. Dann erst hob er seinen Hintern und sprang aus dem Wagen, um gleich davor im Gras stehen zu bleiben und sich ein weiteres Mal in Zeitlupe zu recken. Anschließend schritt er bedächtig quer über das Plateau von einem Busch zum nächsten, bis er den richtigen gefunden hatte, um daran das Bein zu heben.

Klaas war inzwischen ebenfalls ausgestiegen, hatte im Gehen den Reißverschluss seiner Jeans geöffnet und erledigte sein Geschäft breitbeinig am Stamm der mächtigen Eiche. Der Hund schaute von weitem einen Moment andächtig und dreibeinig zu, dann setzte er das gehobene Bein wieder ab, trottete zu seinem Herrchen hinüber und wartete, bis es fertig war, um an dieselbe Stelle des Baumstamms zu pinkeln.

Klaas zog grinsend er den Reißverschluss wieder hoch und ordnete mit einem Griff in den Schritt den Inhalt der Jeans. Er schlenderte zum Wohnmobil zurück und setzte sich in die Schiebetür. Aus dem Sitzen öffnete er den Kühlschrank, um ein Bier heraus zu angeln. Mit der anderen Hand langte er nach dem Flaschenöffner, schnippte den Kronkorken von der Flasche und genoss den ersten ausgiebigen Schluck.

Eine Musterung der Umgebung bestärkte ihn in dem Entschluss, für den heutigen Tag genau an dieser Stelle seinen Zweitwohnsitz anzumelden.

Seit zwei Wochen war er jetzt unterwegs. Zu Beginn in einem Stück von Hamburg nach Dresden, inklusiver einiger gemütlicher Stunden im Stau. Anschließend sollte es in handlichen Etappen elbabwärts Richtung Heimat gehen. Allerdings war er bisher nicht sonderlich weit gekommen. Gerade einmal bis zu dieser bejahrten Eiche am Ufer der Elbe in Nordsachsen, irgendwo in der Pampa zwischen Mühlberg und Torgau.

Sein in den letzten Tagen vernünftigster – da einziger – Gesprächspartner war Stöver, ein zu groß geratener Riesenschnauzermischling mit eigenwilliger Auffassung von Autorität und Dominanz.

Seit dem Umzug ins Wohnmobil hatte Klaas überraschend wenige Gegenstände des ehemaligen Haushalts und keine Menschen seines zurückgelassenen Umfelds vermisst. Außer vielleicht die Clique aus Sonderlingen, die sich jeden Abend in Freund Holgers Eckkneipe einfand. Ja, diese belanglosen alkoholgeschmierten nächtlichen Plaudereien am Stammtisch in der „Kurve“ fehlten ihm ein wenig.

Klaas ließ seinen Blick mehrmals ausgiebig über die Flusslandschaft wandern, bevor er sich erhob, um etwas gegen das hohle Gefühl in der Magengegend zu unternehmen.

Eine gute halbe Stunde später pellte er brühendheiße Kartoffeln und leerte ohne schlechtes Gewissen das zweite Bier des Tages, während auf dem Herd eine Konservendose in heißem Wasser schwamm. Durch die offene Schiebetür verfolgte er nebenbei, wie Stöver die Umgebung erkundete.

Klaas hatte keine Sorge, den Hund hier frei herumstromern zu lassen. Stöver war einfach zu bequem, um ein Karnickel weiter als zwanzig Meter zu verfolgen, und zu cool, um sich auf Rangeleien mit fremden Hunden einzulassen.

Das Menü bestand für heute aus einem Sambuca als Aperitif, dem Hauptgericht Königsberger Dosenklopse auf Pellkartoffeln, einem Bier und wieder einem Sambuca als Dessert. Direkt im Anschluss ließ Klaas sich im hinteren Teil des Wohnmobils in seine Koje fallen.

Er lauschte mit geschlossenen Augen zufrieden auf die beruhigende Geräuschkomposition aus Wind in trockenem Gras, raschelnden Blättern und knarrenden Ästen der ehrwürdigen Eiche, zirpenden Grillen und schnarchendem Hund. Denn Stöver hatte ebenfalls beschlossen, auf seinem Schlafplatz unter dem Tisch eine Siesta einzulegen.

Klaas lauschte nicht lange. Bier und Sambuca bewirkten in kürzester Zeit die Schlafstellung seiner Augen.

Als er aufwachte, hatte er mindestens zwei Stunden geschlafen. Die Sonne war ein gutes Stück weiter gerückt, der Schatten der Eiche hatte sein Wohnmobil im Stich gelassen. Die Geräuschkulisse um ihn herum hatte sich, bis auf das fehlende Schnarchen des Hundes, nicht verändert.

Klaas fühlte sich trotz der Hitze frisch und erholt. Er reckte sich mehrmals, rutschte vom Hochbett herunter, trat an die Tür und blickte hinaus in die Flusslandschaft. Weit entfernt, Richtung Elbe, erkannte er einen sich bewegenden schwarzen Punkt. Das musste Stöver sein. Jedenfalls war der Hundeplatz unter dem Tisch verlassen.

Er wühlte in den Tiefen des Wohnmobils nach Schlappen und Baseball-Mütze. Dann wanderte er Richtung Fluss, um seinen Hund ein Stück zu begleiten. Klaas hatte erst wenige Meter zurückgelegt, als der Boden sich unter ihm auftat und er, vernehmlich „Scheiße!“ brüllend, um eine Etage in die Tiefe rauschte.

Nachdem sich der dickste Staub verzogen hatte, fand Klaas sich in Omas Keller wieder. Zumindest sah hier unten alles aus wie anno dunnemals in Omas Keller, fand er. Seine Oma lebte damals in einem uralten Bauernhaus im Alten Land. Unter dem Boden der Küche versteckte sich ein niedriger Kellerraum, in dem die Vorräte dunkel und frostfrei lagerten, um über den Winter bis weit ins Frühjahr zu reichen. Und genau so sah es hier aus, wo er sich nach einer harten Landung auf dem Hosenboden wiedergefunden hatte und um ein Haar hätten die Königsberger Klopse sich zurückgemeldet.

Sein Blick wanderte nach oben. Die Balkendecke über ihm war zum Teil eingestürzt. Das durch das Loch einfallende Lichtbündel blendeten seine tränenden Augen.

Alles um ihn herum war gleichmäßig mit einer dicken graubraunen Schicht bedeckt. Klaas nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger. Der Schmutz pappte wie eine Mischung aus Ruß und Mehl zusammen.

Er betrachte seine Umgebung. Mauern aus unregelmäßig gebrannten Ziegeln, ein knochentrockener Lehmboden, Regale, Tontöpfe und -krüge, ein paar hölzerne Obstkisten, ein Fass. Alles wie seinerzeit bei Oma. Bis auf das Skelett.

Er schluckte. Kein Zweifel: Ihm gegenüber, in der dunkelsten Ecke, hockte jemand. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, zusammengekrümmt, die angezogenen Beine zur Seite gekippt, der Schädel mit den leeren Augenhöhlen auf die Schulter gesunken. Ein jämmerlicher Anblick.

Der Hintern tat weh. Klaas erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht und knallte mit der Stirn an einen Deckenbalken. „Scheiße“, fluchte er erneut und rieb sich den schmerzenden Kopf. Eine Überprüfung der Beweglichkeit aller Gliedmaßen verlief positiv: bis auf die Beule am Hinterkopf war er unverletzt.

Sachte, als könnte er jemanden wecken, tapste er in gebückter Haltung über den Lehmboden, kniete sich vor dem Toten hin und zog das Handy aus der Tasche. Er schüttelte es, um die Taschenlampe zu aktivieren, und richtete den bläulichen Lichtstrahl auf sein Gegenüber.

Diese Leiche war älter als alle, die er in seiner kriminalistischen Laufbahn bisher „erlebt“ hatte. Erleichtert berührte er einen Arm des Toten und ertastete unter der Dreckschicht groben, leinenartigen Stoff. Er schnippte mit dem Finger an mehreren Stellen behutsam den Schmutz vom Ärmel und brachte blassrotblau gemusterte Stoffreste zum Vorschein, zwischen ihnen lugte ein skelettiertes Ellenbogengelenk hervor.

Der Schein der Handytaschenlampe wanderte aufwärts. Auf dem Schädel hing, nach hinten verrutscht, eine altertümliche Kopfbedeckung, wie er sie auf Darstellungen von Landsknechten in seinem Geschichtsbuch gesehen hatte. Er schnippte fleißig daran herum und legte nach und nach eine breite, eingerollte Krempe aus roten und blauen Streifen, als Letztes die Reste einer darin steckenden Gänsefeder frei.

Der Lichtstrahl fiel auf den zentimeterbreiten Spalt mittig in der Stirn. Klaas nickte gedankenversunken angesichts der Gewalt, mit der dieser Schädel gespalten worden war. Nein, seinem ehemaligen Beruf als Kriminalpolizist war er noch lange nicht entkommen.

Der Oberkörper des Gerippes steckte in einem Panzer, dessen Brust- und Rückteil über der Kleidung seitlich am Körper und oberhalb der Schultern zusammengeschnallt waren. Als er mit der Hand über den Harnisch wischte, schimmerte es unter dem Dreck metallisch.

Die ledernen Stiefel des Toten waren, wie die Lederriemen des Panzers, nahezu unversehrt, von den Beinkleidern jedoch nur Fetzen auf Oberschenkel und Hüfte erhalten geblieben. Klaas erhob sich und trat einen Schritt zurück. Die Haltung des Toten erregte posthum Klaas’ Mitleid: So, wie der Tote hier zusammengekrümmt hockte, war er äußerst qualvoll verendet.

Von oben erklang wohlbekanntes Jaulen und Bellen. Durch das Loch in der Decke rutschten Erde und Grasbüschel nach, frische Staubwolken trieben durch den Keller.

„Hau ab, du Spinner! Draußen bleiben!“ Die Vorstellung, das Riesenzottelvieh mit seinen mindestens 45 kg Lebendgewicht aus dem Kellerloch hochhieven zu müssen, behagte ihm nicht.

Der Hund ließ sich widerwillig auf den Bauch fallen und die Vorderläufe über den Rand der Grube hängen. Von da aus beobachtete er sein Herrchen mit schief gelegtem Kopf und gespitzten Schlappohren, soweit er in der Lage war, diese Lappen zu spitzen.

Klaas wandte sich erneut der Möblierung des Kellers zu. Außer dem toten Landsknecht fiel ihm ein zweiter Unterschied zu Omas Keller ins Auge: eine Truhe, etwa von den Ausmaßen eines mittelgroßen Wäschekorbs. Eine massiv gezimmerte Kiste, mit breiten, rostigen Eisenbändern beschlagen, im Übrigen schlicht und schmucklos. Der Deckel stand offen und Klaas leuchtete hinein. Das Behältnis war leer. Absolut leer. Nicht einmal die allgegenwärtige Ruß-Mehl-Pampe hatte sich darin breitgemacht.

Klaas kratzte sich hinter dem linken Ohr, indem er den rechten Arm über den Kopf legte. „Vorsicht, der Tidemeyer denkt nach“, hatten die Kollegen bei der Polizei früher angesichts dieser Verrenkung geflüstert.

Der Deckel der Kiste ließ sich widerstandslos schließen, auch wenn der Rost in den Scharnieren knirschte, stellte Klaas fest.

Stöver war nicht der Geduldigste, er hatte es auf seinem Platz nicht ausgehalten und sprang, in allen Tonlagen randalierend, ungestüm um das Loch herum.

„Ruhe, du Spinner!“, schnauzte Klaas ihn an, während er ein paar Handyfotos von Leiche, Truhe, der dürftigen Einrichtung des Kellerlochs und den Abdrücken seiner Turnschuhe aufnahm.

Klaas war weder besonders ungelenkig noch beleibt, nur total unsportlich. Sein skeptischer Blick wanderte hinauf zu dem Loch, durch das er diesen Keller wohl oder übel verlassen musste und er seufzte. Einen anderen Ausgang, einen für Nichtsportler, konnte er nicht entdecken.

Mit einem weiteren Seufzer rollte er das Fass unter das Loch in der Decke, rückte es solange hin und her, bis es einigermaßen fest stand, und kletterte vorsichtig darauf. Der Fassdeckel machte nicht den vertrauenswürdigsten Eindruck. Vorsichtshalber belastete er nur den Rand und war erleichtert, dass dieser seine 85 Kilo aushielt.

Er erreichte mit den Händen eine armdicke Baumwurzel, vermutlich der ehrwürdigen Eiche zugehörig, und zog sich daran, ein Regal als Trittstufe missbrauchend, mühsam und fluchend aus dem Loch. Währenddessen sprang Stöver um ihn herum und schleckte ihm mit der langen tropfenden Zunge immer wieder durch das Gesicht, so überschäumend war die Wiedersehensfreude.

Dann lag Klaas, einigermaßen außer Atem, neben dem Loch und rief, mehr lachend als wütend: „Aus! Verschwinde! Hau ab, du verrückter Köter!“ Stöver benahm sich, als wäre sein Herrchen monatelang verreist gewesen. Klaas hielt sich, immer noch prustend, die Arme vor das Gesicht, aber vergeblich: Es gelang ihm nicht, die schlabbernde Hundeschnauze abzuwehren.

Schließlich rappelte er sich auf, klopfte sich notdürftig den Dreck aus der Hose und rieb sich die tränenden Augen. Erst jetzt ließ der Hund von ihm ab.

Bis jetzt hatte Klaas nicht darüber nachgedacht, was er mit seinem Fund anfangen sollte, fand aber, das Loch im Boden hätte zu verschwinden.

Er sammelte rund um die Eiche und im Buschwerk am Rand des Hügels einige abgefallene Äste zusammen und drapierte sie über der Öffnung. Nachdem er die Lücken mit Zweigen, Moosfladen und Grassoden ausgefüllt hatte, trat er ein paar Schritte zurück, betrachtete sein Werk und nickte zufrieden: Der Durchbruch war schon aus wenigen Metern Entfernung nicht mehr zu erkennen, die Tarnung passte farblich perfekt zu den beige-braunen Grasbüscheln rundherum.

Zurück am Wohnmobil, ließ Stöver sich hechelnd im Schatten der Eiche ins Gras fallen. Klaas wechselte sein dreckiges verwaschenes blaues T-Shirt gegen ein frisches verwaschenes blaues T-Shirt und fand sogar eine saubere Jeans. Anschließend holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich in die Schiebetür, seinen Schön-Wetter-Lieblingsplatz, um in Ruhe die veränderte Lage zu überdenken.

Die Option, sein Erlebnis aus der letzten halben Stunde zu ignorieren und die Reise entlang der Elbe wie geplant fortzusetzen, verwarf er sofort. Schließlich war ein freier Mann und hatte Zeit. Anstatt sich auf dem Klapprad abzustrampeln, konnte er ebenso gut herausfinden, wer hier wem, wann und warum den Schädel eingeschlagen hatte. Und weshalb die Truhe trotz des offenstehenden Deckels von innen reinlich wie geleckt war.

Im Übrigen hatte sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst nichts daran geändert, dass er erstens Kriminalist mit Leidenschaft und zweitens neugierig war.

Der Anblick von Toten hatte für ihn jahrelang zum Alltag gehört und brachte ihn nicht mehr aus der Fassung. In den letzten Jahren vor der Pensionierung war er immer öfter über seine Gleichgültigkeit erschrocken gewesen, wenn er wieder einmal im Morgengrauen eine blutbesudelte, in ihren Exkrementen liegende Leiche in einem verregneten Hinterhof hatte inspizieren müssen, während er sich auf sein Rührei zum Frühstück freute.

Die Leiche im Kellerloch war derartig abgestanden, dass sie eher archäologisch als pathologisch anmutete. Ein Gegenstand, mit dem er emotionslos umzugehen verstand.

Er zog das Smartphone aus der Tasche der abgelegten Jeans, befreite es vom gröbsten Dreck, öffnete den Fotoordner und blätterte zurück bis zu den Fotos der Truhe.

Ohne Zweifel war sie zur Aufbewahrung und zum Transport wertvoller Gegenstände bestimmt gewesen. Die Beschläge aus Eisenbändern mit fingerdicken Ösen und Überwürfen, um massive Vorhängeschlösser anzubringen, bekräftigten diese Vermutung. Wertvoll im Sinne von Geld, Gold, Schmuck? Oder wertvoll im Sinne von wichtig, also Dokumente, Beweise, Trophäen?

Dann die kriminalistischen Standardfragen: Wann trat der Tod ein? Womit wurde die Tat begangen? War der Fundort der Tatort?

Während seiner Dienstzeit hätte er in diesem Stadium der Ermittlung den Bericht des Gerichtsmediziners angefordert. Hier musste eher ein Historiker oder Archäologe ran.

Klaas zwang sich, alle weiteren Überlegungen aufzuschieben, um diesen Ort zu verlassen, bevor etwaige Neugierige auftauchten. Er beorderte Stöver auf seinen Platz unter dem Küchen-Wohnzimmer-Esstisch, schloss die Schiebetür und startete das Wohnmobil, um zurück Richtung Mühlberg zu fahren.

Direkt vor dem Deich hielt er an, stieg aus und schlenderte bis auf die Deichkrone, um sich die Umgebung einzuprägen und mit dem Handy ein paar Fotos aufzunehmen.

Erstaunt, nein, erschrocken starrte Klaas auf das Haus. Über der Stelle, an der er das Skelett im Harnisch gefunden hatte, auf dem Hügel mit der Eiche, erstreckte sich ein langer, einstöckiger, Stroh gedeckter Bau mit winzigen Fensteröffnungen in lehmverputzten Wänden. Daneben, in einem aus groben Brettern zusammengezimmerten Pferch, knabberten zwei Rinder an einem Heuhaufen. Hühner, Enten und Ziegen liefen frei umher und im Schatten des Giebels saß eine Frau am Tisch und pulte Erbsen aus. Eigentlich war die Entfernung viel zu groß, um zu erkennen, dass es Erbsen waren. Aber Klaas wusste, es waren Erbsen. Die Frau trug eine Schürze über dem langen grauen Kleid, die Haare unter einer Haube verhüllt.

Etwas fehlte und Klaas brauchte ein wenig, um es zu realisieren: Die Elbe war verschwunden. Dort, wo vorhin der tschechische Schubverband vorbei getuckert war, erstreckten sich unregelmäßige handtuchgroße Felder und Wiesen, dazwischen wand sich ein Feldweg unter einer beachtlichen Staubwolke.

Aus dem Staub löste sich ein mit Pferden bespannter Wagen und rumpelte auf das Haus zu. Keine zierliche Kalesche, sondern ein schmuckloses Lastenfuhrwerk, gezogen von zwei Kaltblütern. Der Kutscher hielt vor dem Haus, wandte sich zur Ladefläche und brüllte: „Kannst rauskommen, du Missgeburt!“ Eine Plane aus Sackleinen wurde beiseitegeschoben und ein Menschlein kletterte umständlich vom Wagen: klein, stämmig, buckelig und stiernackig, mit hängenden Mundwinkeln in einer hässlich verquollenen Visage.

Die Frau ließ ihre Erbsen im Stich und rannte dem Gnom entgegen.

Wo die Liebe hinfällt, sinnierte Klaas und beobachte kopfschüttelnd eine innige Begrüßung inklusive heftigster Umarmung. Der bucklige Zwerg löste sich von der Magd und forderte den Kutscher mit einer Geste zum Absteigen auf. Zusammen luden sie diverse Kisten und Bündel vom Wagen. Der Gnom schnippte dem Kutscher eine Münze zu, dieser fing sie auf, warf einen schnellen Blick darauf, stieg fluchend auf den Bock und ließ das Gespann anrucken.

Klaas gab sich einen Ruck, drehte sich um und schritt in Gedanken versunken zurück zur Minna. Beim Einsteigen warf er einen zögerlichen Blick über die Schulter. Auf der Elbe, die wieder dort vor sich hin mäandernde, wo sie hingehörte, näherte sich lärmend ein Sportboot und nirgendwo war ein Haus.

Wenig später durchquerte das Wohnmobil die weitläufige Ebene mit den Getreidefeldern und rollte an den gepflegten Häusern mit den gepflegten Vorgärten vorbei zur Bundesstraße.

Nachdem Klaas die Elbe von der sächsischen auf die ostelbische Seite überquert hatte, fuhr er nach Mühlberg hinein. Direkt am Fluss, mit Blick auf die Marina, fand er einen genehmen Parkplatz und schloss die Eroberung der Stadt mit einem Bummel durch die Straßen ab.

Die meisten der Häuser präsentierten sich liebevoll renoviert, und nach den Blumen in den Fenstern zu schließen, war Mühlberg bewohnt. Warum auch immer traute sich jedoch kein Mühlberger auf die Straße: Bürgersteige und Plätze waren menschenleer. Stöver profitierte davon: Er durfte das Städtchen ohne Leine erkunden.

Zurück im Auto, lümmelte Klaas sich in den umgedrehten Beifahrersitz, nahm sein Tablet zur Hand und tippte „Brustpanzer“ in die Suchmaschine, um sich an tollen Bildern von Insekten und Schildkröten zu erfreuen. Er ergänzte den Suchbegriff um „Mittelalter“ und „Sachsen“ und staunte nicht schlecht: Wenn er bisher der Meinung war, Nordsachsen wäre der langweiligste Landstrich Deutschlands, in der Rangordnung weit hinter Bielefeld und Paderborn, so musste er sich korrigieren: Hier war im Laufe der Jahrhunderte durchaus Weltbewegendes geschehen.

Als Erstes blieb Klaas bei den „Geharnischten“ hängen, einer Bürgerwehr des Städtebundes von Torgau, Oschatz und Wurzen aus dem Jahre 1344, deren Aufgabe es unter anderem war, die Diebe und Räuber aus den ostelbischen Heidegebieten um Triestewitz bei Arzberg im Zaume zu halten.

Weiter ging es mit der Leipziger Teilung von 1485, in deren Folge Torgau Residenz der ernestinischen Kurfürsten wurde.

Die Geharnischten waren zäh. Sie existierten auch nach zweihundert Jahren noch und mischten 1542 bei der Wurzener Fehde um die Türkensteuer mit, an deren Schlichtung immerhin der große Reformator höchst persönlich beteiligt war.

Dann war da der „Schmalkaldische Krieg“ von 1546 bis 1547 mit der Schlacht gleich um die Ecke, vor den Toren Mühlbergs.

Und natürlich diverse Verbindungen zum Namen Luther: „Wittenberg ist die Mutter, Torgau die Amme der Reformation“, lautete einer der am häufigsten zitierten und überlieferten Sprüche.

Klaas las und las immer weiter. Von Bünden und Verträgen. Von Verrat und Wortbruch. Von Schlachten und Seuchen. Über tausende gefallener Kriegsopfer hier und Abertausende dahingeraffter Pestopfer dort.

Zwischendurch der Gedanke, wie komfortabel er es heutzutage als Beamter in Hamburg erwischt hatte: Außer ab und zu ein wenig Randale im Schanzenviertel und hier und da ein Mord im Milieu hatte er doch ein friedliches und behagliches Zeitalter erwischt.

Er hatte sich festgelesen. Stunden später, die Sonne war am Abtauchen, meldete Stöver energisch seine Bedürfnisse an und Klaas riss sich notgedrungen von seinem Tablet los.

Der Hund erhielt die tägliche Futterration und eine kurze, erfolgreiche Verdauungsrunde, bevor Klaas den eigenen knurrenden Magen versorgte.

Er hätte sich nicht so tief in das Leid der Menschen im Mittelalter hineinlesen sollen: In dieser Nacht fand er keine Ruhe. Immer wieder schreckte er schweißgebadet hoch, um lange wach zu liegen.

2. Tag

Am nächsten Morgen erwachte er aus wirren Träumen. Rauchende Fackeln, die mit flackerndem Licht tanzende Schatten von rennenden und strauchelnden Gestalten an die feuchten Wände niedriger Gewölbegänge warfen. Er erinnerte sich an das Getöse aufeinanderprallender Schwerter und Harnische, an das qualvolle Stöhnen und die Schmerzensschreie von Menschen, die sich in Blut und Dreck wälzten. Dumpf, verhallt, unwirklich.

Beim Frühstück fühlte Klaas sich trotz der bescheidenen Nachtruhe wie ein waschechter Camper: Er saß ungeduscht, unrasiert und ohne schlechtes Gewissen am Tisch und entsprach annähernd dem bissigen Spruch, mit dem sein Frühstücksbrett, das Abschiedsgeschenk der Hamburger Clique, glänzte: „Camping ist der erste Schritt zur Verwahrlosung.“

Bei Spaziergängen mit dem Hund und idiotischerweise beim Autofahren hing Klaas vorzugsweise seinen Gedanken nach und schmiedete Pläne, so gefährlich das auch anmutete. Heute diente ihm der morgendliche Gang durch die verwaisten Straßen Mühlbergs, um den Kopf zu ordnen.

Klaas litt im Allgemeinen weder an Visionen noch an Wahnvorstellungen. Woher war plötzlich das Haus gekommen und wo die Elbe geblieben? Was hatte es mit den weiteren Merkwürdigkeiten auf sich: Zwischen ihm und den Leuten am Haus, der Frau, dem Kutscher und dem Gnom, hatten mehrere hundert Meter gelegen. Dennoch hatte er jedes Wort verstehen können, als stände er direkt neben ihnen. Wieso hatte er die Erbsen und die Gesichter erkannt?

Ihm blieb für diesen Moment nichts anderes übrig, als die Sache fürs Erste unter überschäumender Fantasie zu verbuchen und sich nicht weiter um seinen Geisteszustand zu sorgen.

Dann kreisten wieder die Überlegungen des Vortages durch seinen Kopf. Und jetzt war er sicher: Einfach die Tour wie vorgesehen entlang der Elbe fortzusetzen, war keine Option. Der Gedanke, irgendeine öffentliche Stelle – ob Polizei oder Denkmalschutz – zu informieren und sich nicht weiter kümmern, behagte ihm nicht. Er hatte Blut geleckt, wollte die „Ermittlungen“ nicht aus der Hand geben.

Diesen – seinen – Fall um das Skelett von der Elbe bei Mühlberg würde er auskosten. Ihn nicht, wie früher, während der Zeit als Kriminalkommissar der Mordkommission, irgendwie recht und schlecht, im Interesse der Statistik möglichst rasch abschließen. Es genießen, ihn stattdessen mit Bedacht und Intuition lösen zu dürfen. Das begann schon mit der sympathischen Perspektive, ausgiebig, ohne Zeitdruck zu recherchieren. Der Tote war seit einigen hundert Jahren tot. Da kam es auf ein paar Tage mehr oder weniger wirklich nicht an.

Er würde sich einen freundlichen Stellplatz in der Nähe suchen und systematisch zu arbeiten beginnen, ohne durch Vorgesetzte genervt oder von Kollegen behindert zu werden. Möglicherweise hatte der Mord an dem Mann im Harnisch sogar Auswirkungen bis in die Gegenwart. Diese Truhe war innerlich so verdammt makellos sauber …

Als Erstes benötigte er aufbereitete, gefilterte Informationen. Er brauchte jemanden, der all das, was er sich an mittelalterlicher Geschichte Nordsachsens mühsam im Internet oder in Bibliotheken erarbeiten müsste, per se abrufbereit hatte. Jemanden, der Sachverhalte nach seinem sächsischen Menschenverstand sortierte und nicht nach den Algorithmen einer Suchmaschine aus dem Silicon valley.

Bei Behörden oder Museen könnte er fündig werden. Damit stand Torgau als nächstes Reiseziel fest. Für seine Begriffe als Hamburger Großstadtkind eher eine Ansammlung von Häusern als eine Stadt. Aber mit Stadtverwaltung und Behörden des Landkreises, und darauf kam es ihm an. Auch gab es dort, laut Internet, einen Campingplatz, von dem aus er zu operieren gedachte.

An diesem Punkt der Planung war er an seinem Wohnmobil angekommen und wandte sich zufrieden der Gegenwart zu. Er klappte die Satellitenschüssel ein und verteilte von Kaffeemaschine bis Dosenöffner alles, was ihm bei einer Vollbremsung um die Ohren fliegen könnte, in den Staufächern der Minna.

Anschließend ließ er das verträumte Mühlberg hinter sich, um über die Elbbrücke von der brandenburgischen zurück auf die sächsische Seite zu wechseln und elbabwärts Richtung Torgau zu tuckern.

Während der Fahrt wanderten seine Gedanken immer wieder zum gestrigen Tag: Mal hatte er den eingeschlagen Schädel, mal die irreale Szene mit der Frau und dem hässlichen Zwerg vor Augen.

Der nächste Ort an der Bundesstraße Richtung Torgau, der gefühlt aus mehr als fünf Häusern bestand, hieß Belgern und war ihm schon während seiner Internetrecherchen untergekommen. Belgern hatte eine Elbfähre mit Kneipe daneben und wie Bremen einen Roland, hatte er gelesen.

Trotz allen kriminalistischen Eifers gab es für Klaas keinen Grund, sich nicht die Gegend anzuschauen. Zudem hatte er Appetit auf ein richtiges Mittagessen, also etwas anderes als Campingfraß aus Tüte oder Dose.

Kurz entschlossen folgte er den Hinweisschildern zu Fähre nebst Kneipe und rollte auf brutalem Kopfsteinpflaster abwärts zur Elbe. Die Straße führte ihn in einem weiten Bogen zum Fluss hinunter. In Sichtweite des Fähranlegers bog er rechts ab und gab einen Tick Gas, damit die Minna an der sanften Steigung zur Kneipe nicht verhungerte.

Vor sich hatte er ein schmuckes weißes Gebäude. Das alleinstehende Haus erinnerte ihn ein wenig an Bäderarchitektur der Jahrhundertwende, im Stil jedoch nicht so verspielt. Eine vorgesetzte überdachte Veranda mit weißgerahmten Fenstern in weißen Holzwänden erstreckte sich über die gesamte Länge des Gebäudes.

Der Aufschrift „Elbklause“ oberhalb der Veranda und der altmodischen Leuchtreklame einer Brauerei entnahm Klaas, dass er hier richtig war. Nach der Kurve in die Klause, sinnierte er mit dem Gedanken an seine Hamburger Stammkneipe und parkte die Minna vor einem blauen Schild mit großem weißen „P“ darauf, gegenüber zweier bemerkenswert langer Reihen von Fahrradständern rechts und links des Eingangs, die seines Erachtens eher vor einen Bahnhof gepasst hätten.

Als er die Wirtschaft durch die angelehnte Verandatür betrat, war Stöver bereits hinter der Theke angekommen. Das kann ja heiter werden, dachte Klaas, während er kopfschüttelnd und vergeblich seinem Hund hinterher rief.

Einen Moment später wurde ihm klar, warum Stövers Gehorsam stagnierte, und er schmunzelte nachsichtig.

Hinter der Theke stand eine Frau in Kittelschürze, die langen blonden Haaren nachlässig zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengerafft.

Die Frau blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf Stöver herab, hatte beide Hände erhoben, als wolle sie ein Orchester dirigieren, den rechten Zeigefinger ausgestreckt wie einen Taktstock. Es war aber nicht die Frau, welche Stöver faszinierte, sondern die stattliche Frikadelle in ihrer linken Hand.

Stöver kannte die Geste mit dem Zeigefinger sehr wohl. Er saß angespannt, aber artig vor der Frau. Seine Rute wischte wie ein Scheibenwischer über den Boden, während er auf das Fallen der Bulette wartete.

Einerseits konnte Klaas die Begeisterung seines Hundes für den Fleischklops nachvollziehen, andererseits wurmte es ihn ein wenig, welchen Eindruck von Renitenz Stöver bei der Frau hinterließ. Er legte keinen Wert auf Kadavergehorsam, etwas mehr Wertschätzung seiner Person als Hundesteuerzahler und Futterspender schien ihm in Gegenwart anderer Leute jedoch angebracht.

„Haben Sie ihren Riesenköter darauf dressiert, harmlose Gastwirte zu erschrecken?“, fragte die Frau spöttisch und ohne den schwarzen Hund aus den Augen zu lassen. „Vielleicht sollten Sie ihm ab und zu etwas zu fressen geben, dann gehorcht er eventuell.“

Klaas schloss aus Tonfall und Gesichtsausdruck, dass die Frau nicht wirklich Angst vor dem Riesenschnauzermischling hatte. Er musterte sie genauer. Sie trug unter der Schürze ein weißes Herrenoberhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, dazu knallenge Jeans. Ihre resolute, ein wenig heisere Stimme passte gut in eine verräucherte Kneipe, fand Klaas. Er stellte sich vor, wie dieses Organ angetrunkene oder übermütige Kneipengänger unaufgeregt zur Ordnung rief. Gleichzeitig versuchte er, das Alter der Frau zu schätzen, was ihm nicht unmittelbar gelang.

„Ich sage ihm immer wieder, er soll sich in Kneipen nicht von fremden Frauen anquatschen lassen. Aber Sie haben es ja schon gemerkt: Er hört bisweilen schlecht.“ Klaas nahm eine Sitzbank am Ende der Theke in Beschlag. „Vielleicht gibt’s hier für mich ebenfalls was zu essen.“

„Selbstverständlich. Wir sind ja schließlich eine Gastwirtschaft und kein Museum oder Finanzamt.“

Bevor Klaas die passende Erwiderung einfiel, setzte sie nach: „Soll ich ihn gleich mit in die Küche nehmen, oder pflegen Hundchen und Herrchen gemeinsam vom Tisch zu speisen?“

„Der Hund heißt Stöver und wenn Sie ihm etwas Besseres als Dosenfutter servieren möchten – bitte schön. Kleine Kinder, Katzen und laktosefreie Schwarzwälder Kirschtorte lehnt er allerdings ab.“

Sie verschwand kopfschüttelnd durch eine Schwingtür, hinter der Klaas eine Kücheneinrichtung aus Edelstahl aufblitzen sah. Sicherlich über 35 Jahre. Aber keine 50. Die Frau, nicht die Kücheneinrichtung. Stöver folgte ihr mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er hier zuhause. Na super, dachte Klaas, ärgerte sich aber nicht wirklich. Welcher Tierfreund kann es seinem Hund schon übel nehmen, wenn er eine Frikadelle anhimmelt.

Durch die Spalten der Küchentür klang Stövers Schmatzen bis in die Gaststube. Kurze Zeit später kam die Bedienung zurück und trat an den Zapfhahn.

Klaas grenzte seine Schätzung zum Alter der Frau auf vierzig Jahre plus X ein und ertappte sich bei der Musterung ihrer Formen unter Jeans und Oberhemd. Sie hatte nicht die superschlanke Next-Top-Model-Titelblatt- Figur, konnte die enge Hose aber tragen, fand er, und schämte sich seiner abschätzenden Gedanken nicht.

Während sie wortlos begann, mit der einen Hand Bier zu zapfen, reichte sie Klaas mit der anderen eine äußerst übersichtliche Speisekarte, die ihn außerordentlich an die „Kurve“ im heimatlichen Hamburg erinnerte.

Klaas wählte einen strammen Max, der nicht auf der Karte stand. Die Wirtin stellte ihm unaufgefordert ein Bier vor die Nase und nahm seine Bestellung anstandslos entgegen.

Nachdem sie wieder in der Küche verschwunden war, ließ er den Raum auf sich wirken. Er war in einer Dorfkneipe im typischen DDR-Look der Achtzigerjahre gelandet. Jedenfalls sah es hier so aus, wie er sich als Westdeutscher eine Kneipe zu DDR Zeiten vorstellte. Stühle, Tische, Lampen, Fliegenfänger, alles im Charme und den gedeckten Farben, wie sie im Arbeiter- und Bauernstaat so üblich waren. Altbacken und nostalgisch, aber beileibe nicht ungemütlich. Und das Ganze mit einem herrlichen Blick über den Fluss und auf die Elbfähre. Irgendwo dudelte halblaut ein Radio. Klaas verstand zwischendurch „MDR“ und „Sachsen“, die Musikauswahl passte zum Outfit der Kneipe.

Trotz der sommerlichen Hitze herrschte in der Gaststube eine angenehme Kühle. Klaas spürte, wie ein freundliches Wohlgefühl Besitz von ihm ergriff. Die Mischung aus Distanz, Humor und Streitlust der Wirtin, ob gespielt oder echt, schreckte ihn nicht ab. Im Gegenteil. Gastwirte waren so. Zudem empfand er es als erfreulich, dass ihm als Fremden keine Löcher in den Bauch gefragt wurden.

„Fremd hier?“, fragte die Wirtin, als sie ohne Hund, aber mit strammem Max aus der Küche zurückkam.

Klaas atmete tief durch, verzichtete auf eine Diskussion über die Sinnlosigkeit dieser Frage und deutete zur Küchentür. „Darf ich Stöver nachher wieder mitnehmen? Ist es ihm gestattet, die Küche nach der Mahlzeit ohne Visum zu verlassen?“

Sie lächelte und stellte den Teller wortlos vor ihm auf die Theke. Klaas grinste zurück, trank einen nicht zu knappen Schluck Bier und griff zum Besteck.

Die Frau blieb hinter der Theke stehen und deutete Richtung Parkplatz. „Es sieht von außen nicht danach aus, ich schätze aber, das Ungetüm da draußen ist ein Wohnmobil. Gibt es darin keine Küche oder können Sie nicht kochen?“

„Das Ungetüm heißt Minna und ja, es hat selbstverständlich eine Küche, aber als wir den verwaisten Parkplatz hier sahen, meinte mein Hund, Sie könnten hier ein bisschen Umsatz brauchen“, konterte er mit vollem Mund und sah sich demonstrativ in der ausgestorbenen Gaststube um. „Oder ist heute Ruhetag?“

Die Wirtin war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ich hab den Rest der Welt ausgeladen, damit ich Zeit für Raubtierfütterungen und Sonderwünsche wie stramme Mäxe habe.“

„Zwei zu zwei“, gab Klaas kauend den aktuellen Spielstand des Redegefechts bekannt und spießte die Gabel wieder in den Max. „Was meint ihr Chef dazu, dass in seiner Küche verlauste Hunde gefüttert werden?“

Sie blickte in den Spiegel hinter der Theke, grüßte ihr Spiegelbild und sagte, wieder zu Klaas gewandt: „Die Chefin meint, es ist alles okay.“ Sie stellte ihm ein weiteres nicht bestelltes Bier neben den Teller. „Helena.“

Er revanchierte sich mit vollem Mund: „Tidemeyer, Komma, Klaas ... Du, Helena oder Sie, Helena?“

„Du ist okay. Jedenfalls, solange du mir weder Zeitschriftenabos noch Versicherungen andrehen willst.“ Sie verschwand wieder in der Küche und die erneuten Schmatz- und Schlabbergeräusche seines Hundes hinter der Schwingtür verkündeten ihm die Einsparung der abendlichen Futterration.

Klaas aß gemächlich zu Ende, schob den Teller beiseite und machte sich über das zweite Bier her.

Draußen, vor der Kneipentür, wurde es unruhig. Eine Gruppe Radfahrer war angekommen und Klaas überzeugte sich davon, dass die Anzahl der Fahrradständer sinnvoll war.

Etwa 20 Touristen stellten ihre Räder ab und drängelten quasselnd und schwitzend in die Kneipe. Dennoch boten sowohl Fahrradständer als auch Gaststube noch freie Kapazitäten. Helena schob drei Tische zusammen, zapfte eine Batterie Bier vor und verteilte Speisekarten. Klaas überlegte, den Leuten Strammen Max zu empfehlen, hielt aber die Klappe.

Stöver hatte eine Begrüßungsrunde durch die Gaststube gedreht, diverse „oh, ist der groß“ und „ah, ist der süß“ abgefasst und lag inzwischen, unbeirrt von Stimmengewirr und Durchgangsverkehr zur Toilette, verhalten vor sich hin schnarchend mitten in der Kneipe lang ausgestreckt auf dem Boden.

Die Wirtin hatte einige Zeit in der Küche hantiert und kam jetzt wieder hinter der Schwingtür hervor. „Einen Nordhäuser Absacker gefällig?“, fragte sie im Vorbeigehen.

„Besser nicht. Ich muss heute noch denken und fahren. Darf mein Wagen ein paar Stunden auf deinem Parkplatz stehen bleiben? Ich möchte mich ausruhen und mir den Ort ansehen. Und das haarige Monster hier“, er deutete auf Stöver, „muss sich irgendwo austoben.“

„Kein Problem, die Parkgebühr verrechnen wir mit dem Umsatz, den du hinterher an der Theke machst. Die meisten meiner Gäste kommen eh mit dem Rad. Dein Paketauto stört also nicht. Mit dem Hündchen gehst du am besten runter auf die Elbwiesen, da ist es in guter Gesellschaft.“

Klaas zahlte, weckte Stöver, holte die Hundeleine aus der Minna und trotte Richtung Elbufer. Der Hund lief ein gutes Stück voraus und hatte, kaum auf der Wiese unten am Ufer angekommen, in einem Schäferhundmischling den ersten Spielgefährten gefunden. Klaas war das ganz recht. Statt zu rennen, nahm er bei diesem Wetter gern das Angebot einer öffentlichen Sitzbank an, laut blitzblank poliertem Messingschild gestiftet von der Kreditbank Nordsachsen, und setzte sich.

Während Klaas den Hunden beim Spielen zusah, drängte sich zum xten Mal der geheimnisvolle Fund vom Vortag in seine Gedanken. Er nahm sich vor, heute noch ein wenig das Internet zu löchern, bevor er am folgenden Tag in Torgau nach analogen Suchmaschinen Ausschau hielt.

Nach annähernd einer Stunde Action kam das Hunderudel allmählich zur Ruhe. Klaas stand auf und reckte sich. Hund und Herrchen trotteten zurück zur Minna und genehmigten sich einen Mittagsschlaf.

Als Klaas aufwachte, hatte er ohne Beeinträchtigung durch geträumte blutige Kämpfe oder Schweißausbrüche zwei Stunden durchgeschlafen. Er spazierte mit Stöver in den Ortskern von Belgern, umrundete den Roland und kehrte mit ordentlich Lust auf Kaffee und Kuchen zur Elbklause zurück.

Der geruhsame Platz am Ende der Theke, abseits von Eingangs- und Klotür, wartete schon auf ihn und er bestellte Kuchen, egal welchen, und Kaffee wie früher. Er stand auf stinknormalen Filterkaffee.

Das Geschirr stammte, passend zur Einrichtung der Kneipe, aus VEB Zeiten, der Kaffee war tatsächlich echter Filterkaffee und der Kuchen frisch. Klaas nickte anerkennend. Die Kneipe hatte was.

Wirtin Helena blieb unsichtbar, seit sie eine weitere Horde von Fahrradtouristen abkassiert hatte. Dafür ertönten aus der Küche die beruhigenden Geräusche von klapperndem Geschirr und leise vor sich hin brummelnder Spülmaschine, derweil Klaas zu einem nostalgischen Schlager-Potpourri des sächsischen Heimatsenders sein Notebook anwarf und in die Tiefen des Internets abtauchte. Stöver war der ermüdenden Atmosphäre erlegen und lag schnarchend hinter der Theke.

Diesmal landete Klaas mit den Suchworten „Harnisch“ und „Nordsachsen“ am kurfürstlichen Hof in Torgau. Auf Schloss Hartenfels gab es um 1500 einen Hofnarren namens Claus Narr. Claus war zwar nicht so bekannt wie sein Kollege Till Eulenspiegel, gab aber laut Überlieferung ähnlich ketzerische Sprüche von sich und war derart begehrt, dass er auch schon mal an andere Fürsten ausgeliehen oder wie ein Sofa weitervererbt wurde. Eine Art der Leibeigenschaft wie heutzutage bei Profi-Fußballspielern.

Claus Narr hatte sprichwörtliche Narrenfreiheit. Er durfte also unbeschadet Sprüche klopfen, für die ernst genommene Zeitgenossen sofort in den Kerker, auf das Schafott oder in die geschlossene Psychiatrie gewandert wären, wenn es so etwas damals schon gegeben hätte. Wie Klaas lernte, gab es natürliche Narren: Menschen, die sich aufgrund körperlicher wie geistiger Behinderungen oder Besonderheiten zur Belustigung anboten. Und es gab angelernte Narren: entsprechend heutiger Clowns, Satiriker oder Komiker, welche die Leute bei Hofe mit Geist und spitzer Zunge unterhielten. Claus war anscheinend eine Mischung aus beiden gewesen. Irgendwann, um 1533 herum, verschwand Claus, der Narr, samt Hund namens Lepsch spurlos aus Torgau. Es ist nicht überliefert, warum, und wo sie geblieben waren. Jedenfalls fand Klaas im Internet keinerlei Hinweise auf ihren Verbleib. Für einen Moment hatte er die mittelalterliche Szene mit dem Haus an der Elbe und dem Gnom vor Augen, verdrängte den Gedanken aber mit einem kurzen Kopfschütteln.

Stattdessen überlegte er, aus welchen Anlässen heutzutage Leute spurlos verschwanden: Sie gingen mal eben Zigaretten holen und ab dafür. Oder waren tot. Oder saßen nach erfolgreichem Postraub in Brasilien an der Strandbar ...

Eine direkte Verbindung zwischen Claus Narr und einem Harnisch fand er nicht, abgesehen davon, dass er zu einer Zeit gelebt hatte, zu der die Geharnischten in Torgau stationiert waren. Er beschloss aber, die Sache mit Claus im Hinterkopf zu behalten. Möglicherweise war es ja die Namensverwandschaft, die ihn ansprach.

Während das Notebook runterfuhr, faltete Klaas die Hände über dem Kopf und reckte sich ausführlich im Sitzen. Stöver registrierte die plötzliche Aktivität des Herrchens und klopfte mit der Rute freudig auf den Fußboden, bevor er seinen Riesenschnauzerkörper einmal auf die gesamte Länge streckte, sich halb aufrichtete und Klaas weithin hörbar und auffordernd angähnte, als wollte er sagen: „wird auch Zeit, Alter, dass hier was passiert!“

Helena, die Bedienung und Chefin der Kneipe in Personalunion, wie Klaas jetzt wusste, hatte ebenfalls die Vorbereitungen zum Aufbruch bemerkt und kam an die Theke, um seinen Deckel zusammen zu rechnen. Sie rückte sich einen Barhocker zurecht und setzte sich ganz vorn auf dessen Kante. So, als wollte sie sich selber disziplinieren, gleich wieder aufzustehen und sich bloß nicht fest zu quatschen.

„Hast du einen Tipp für mich, wo ich in meiner Minna in der Nähe übernachten kann? Campingplatz oder was Ähnliches? Ich brauche nur etwas Wasser. Strom macht mir die Sonne. Ich würde auch morgen zum Frühstück kommen, damit du meinen Hund wieder füttern kannst.“

Sie blickte einen Moment versonnen an die Decke, musterte ihn anschließend mit einem halb zugekniffenen Auge demonstrativ von oben bis unten, verzog den Mund zweifelnd, wiegte den Kopf mehrmals von einer Seite zur anderen und rieb sich das Kinn. Nach dieser schauspielerischen Leistung blickte sie Stöver freundlich an und nickte. „Ihr könnt hinter dem Haus stehen bleiben. Sollte Klärchen dich im Stich lassen, gibt es da ne Außensteckdose. Im Seitengebäude findest du eine Dusche, falls du deiner völligen Verwahrlosung Einhalt gebieten willst. Aber nicht mit Zahnpasta rumklecksen und hinterher die Haare aus dem Abfluss sammeln!“

Klaas schob die Überlegung, wer Klärchen sein könnte, beiseite und nahm das Angebot ohne zu zögern an. Als Herrscherin über eine Jugendherberge würde diese Helena ebenfalls einen guten Job machen, fand er und kam auf den Absacker vom Mittag zurück.

Später bugsierte Klaas die Minna auf den zugewiesenen Platz hinter dem Haus. Von dort aus hatte er einen phänomenalen Blick über die Elbe, während die Hauswand und ein angrenzender Bretterverschlag ihm von der Straße her angenehmen Sichtschutz gewährten.

Nach einer ausgiebigen Dusche griff er sich Tablet und Handy, wechselte zurück in die Kneipe und nahm seinen Platz am Ende der Theke ein. Die Abendsonne überschwemmte den Raum mit weichem rötlichem Licht. Der größte Ansturm der Radwanderer schien vorüber und die hektische Betriebsamkeit des Nachmittags war einer unaufgeregten Geschäftigkeit gewichen. Stöver fühlte sich schon wie in Holgers Kurve, also wie zuhause. Bald war sein dezentes Schnarchen zu hören und Klaas schaltete das Tablet ein.

Als Erstes erstattete er bei einer gemischten Wurst- und Käseplatte "a la Helena" Bericht an seine Clique in Holgers Eckkneipe, einer fröhlichen Ansammlung skurriler Hamburger Originale vom Kiez und aus dem sogenannten Miljö. Allerdings berichtete Klaas lediglich von der Fahrradtour. Den Fund des Gerippes unterschlug er genauso wie sein Domizil in Helenas Garten, da ihm beides unter Garantie als erfundener Vorwand ausgelegt worden wäre, die Einlösung der Wettschuld wegen Faulheit hinauszuzögern.

Nach und nach trudelten noch acht bis zehn Gäste in der Elbklause ein. Zu durchradelnden Urlaubern in Tour-de-France-Montur gesellten sich vereinzelte Fußgänger in Zivil, vermutlich Eingeborene, und Helena hatte gut zu tun, ohne sich abhetzen zu müssen.

Das Radio dudelte Dauerbrenner der 80er und 90er Jahre. Aus den Tiefen der Gaststube drang verhaltenes Stimmengewirr herüber, ohne dass Klaas verstand, worüber gesprochen wurde. Es war nicht das Getöse aus Holgers Kurve zur Rushhour, sondern eine eher gedämpfte Geräuschkulisse mit entspannender Wirkung.

Klaas wühlte sich im Internet weiter durch die Geschichte Nordsachsens, während die Wirtin ihn erst mit Kaffee und später mit Bier versorgte.

Irgendwann, nachdem sie den letzten Gast abkassiert hatte, stellte sie zwei gefüllte Biergläser auf die Theke und setzte sich zu Klaas. Stöver fing sich von seinem Herrchen einen Anraunzer ein, weil er Helena an den falschen Stellen beschnupperte. Sie ignorierte die Schnüffelei und fragte: „Ich will ja nicht neugierig sein, aber wonach surfst du den ganzen Abend?“ Sie schob eines der Biergläser zu Klaas hinüber und trank einen mächtigen Schluck aus dem anderen.

Er verzichtete darauf, sie auf den Widerspruch in ihrer Frage hinzuweisen. „Für mich ist diese Gegend hier ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ich glaub, ich weiß mehr über die Türkei oder Hawaii als über Nordsachsen. Wo ich aber schon mal hier bin, will ich auch, wie es sich für einen anständigen Touristen gehört, über Land und Leute Bescheid wissen. Zum Beispiel habe ich im Ort euren Roland gesehen. Bisher war mir nicht bekannt, dass es, außer in Bremen, noch weitere Roland-Statuen gibt.“

„Wenn du über unseren weißen Fleck so desorientiert bist, was hat dich dann hier hergetrieben?“, fragte sie und wischte sich wie ein kleines Kind mit dem Handrücken den Bierschaum von der Oberlippe.

„Willst du die Kurzform oder tiefenpsychologischen Einblick in die verkorkste Persönlichkeit einer verkümmerten Großstadtpflanze?“

„Tolle Wortkombination. Von mir aus komplett. Mit verkorksten Persönlichkeiten hab ich dank des Spiegels über meiner Theke und vereinzelter durchgeknallter Gäste Erfahrung. Aber warte eine Minute. Für Gespräche mit Tiefgang bis hinter die Herzklappen braucht es ein besseres Schmiermittel als Bier.“

Sie schlurfte in die Küche und kam mit einer Flasche Rotwein, Gläsern und Knabberzeug zurück. „Geht aufs Haus. Es ist Feierabend. Ich will die Theke nicht mehr sehen. Folge mir in mein Privatleben.“ Sie steuerte einen Tisch mit Eckbank an.

Klaas folgte, sie setzten sich und Helena schenkte Wein ein. Der Tisch stand direkt am Fenster und Klaas hatte einen grandiosen Panoramablick über die abendliche Flusslandschaft.

Helena schob ihm ein Glas rüber. „Dann leg mal los. Aber bitte nix Anstößiges und nix Kriminelles.“

Klaas grinste. „Also, ich bin gebürtiger Hamburger und kaum einmal aus meiner Stadt rausgekommen. Zu meiner Pensionierung meinten meine Freunde aus der Kurve, – zur Kurve heißt meine Stammkneipe auf dem Kiez – ich könnte Gefahr laufen, vor Langeweile zu verkommen. Da habe ich unter Alkoholeinfluss leichtfertig geprahlt, ich würde mal eben nach Dresden fahren und mit dem Klapprad entlang der Elbe wieder zurückkommen. Das war zu vorgerückter Stunde und ich hatte ein paar ATÜ zu viel auf dem Kessel. Mit mehr Blut im Alkohol hätte ich keine so große Klappe gehabt. Bin ja kein Leistungssportler. Die täglichen Bummelrunden mit Stöver reichen mir zur körperlichen Ertüchtigung völlig aus. Aus der Nummer mit dem Klapprad kam ich nicht mehr raus. Gute Freunde können so grausam sein! Die Kumpel haben mich gnadenlos beim Wort genommen.“

Er unterbrach seinen Vortrag, um am Wein zu nippen, und gab Helena damit Gelegenheit zu der Bemerkung: „Für einen Rentner siehst du mir recht jung aus.“

Klaas überlegte einen Augenblick, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte, und entschied sich, wahrheitsgemäß zu antworten. „Na ja, ein paar Jahre Tretmühle habe ich mir erspart“, sagte er knapp und Helena blickte auf den Hund hinab.

„Apropos Stöver. Welchen Grund hat dieser seltsame Name?“ Sie verzog das Gesicht, als hätte sie Angst vor dem Fettnäpfchen, in dem sie möglicherweise gerade stand, und blickte verstohlen an die Decke.

„Bist wohl kein Krimi-Fan, was? Stöver hieß ein berühmter Fernsehkommissar. Gespielt von Manfred Krug. Der war auch im Osten ne große Nummer. Wenn ich schon nicht berühmt werde, soll mein Hund wenigstens einen berühmten Namen haben.“

„Umgekehrt: Manfred Krug war im Osten berühmt und wurde später im Westen ne große Nummer. Das ist ein immenser Unterschied. Wo wir schon bei den Namen sind: Minna ist für ein Wohnmobil eine seltsame Bezeichnung. Hat bei dir alles einen Namen? Wie heißt deine Zahnbürste?“

„Grüne Minna wurden die dunkelgrünen Kleinbusse der Polizei in Westdeutschland genannt, mit denen früher Randalierer nach Demos abtransportiert wurden. Und nein, mit der Zahnbürste rede ich zu selten, um ihr einen Namen zu geben.“

Er nippte den nächsten Schluck Rotwein. „Wie gesagt, aus der Nummer mit dem Klapprad kam ich nicht mehr raus. Inzwischen hatte ich mich mit dem Gedanken an die Radtour sogar angefreundet, es sollte nur nicht zu anstrengend werden. Also bin ich mit meinem Klapprad zu nem Typen, den ich mal verhaften musste, weil er geklaute Fahrräder umfrisiert hat. Seitdem sind wir gute Kumpel …“

„Du bist Bulle? Verzeihung, Polizist?“

Er grinste. „Keine Sorge, mit dem Bullen kann ich leben. Also, ich hab den Kumpel gebeten, das Gerät zum E-Bike umzubasteln und er hat das hervorragend gelöst.“

Während der vielen Jahre Polizeiarbeit hatte Klaas sich darin geübt, in Gesprächen mit Leuten, die er kennenlernen wollte, zweigleisig zu fahren: Er plauderte locker und erstellte sich gleichzeitig einen privaten Steckbrief seines Gegenübers inklusive Psychogramm. Helena hatte nicht unbedingt ein Titelblattgesicht: Dafür war die Nase mit ihrem sanften Buckel etwas zu groß, das Kinn eine Spur zu kräftig, die Wangenknochen dieselbe Spur zu ausgeprägt, aber die Gesamtkomposition hatte etwas. Große hellblaue Augen leuchteten Klaas aus dem gebräunten Gesicht unter dem ungeordneten strohblonden Haar entgegen und lenkten ihn davon ab, zu oft in ihren Ausschnitt zu schielen, was mehrere offene Knöpfe des Herrenoberhemdes durchaus zugelassen hätten.

Ihr Auftritt war wohltuend selbstbewusst, ohne arrogant zu wirken.

Apropos Nase: Sie roch gut. Nicht nach Deo oder Parfüm, sondern einfach so gut. Angenehm, frisch. Bemerkenswert, fand Klaas, da sie den ganzen heißen Sommertag in ihrer Kneipe auf und ab gerannt war und immer wieder an der Friteuse gestanden hatte.

Ihre Kratzbürstigkeit hatte nachgelassen, die professionelle Distanz nach wie vor spürbar. Er kannte diese berufsbedingte Art, Annäherungsversuche der Gäste schon zu verhindern, bevor sie überhaupt stattfanden, von vielen Servicekräften beiderlei Geschlechts.

Mit den Stammgästen aus der Nachbarschaft ging sie ähnlich um, wie Klaas beobachtet hatte: Sie war resolut, aber nicht unfreundlich, kannte jeden beim Namen, wirkte immer maßvoll distanziert und verstand es, unangebrachte Vertraulichkeiten auf eine lockere, burschikose Art zu überspielen, ohne die Leute vor den Kopf zu stoßen.

Immerhin hatte sie mich zum Rotwein eingeladen, überlegte er. Vielleicht ja nur, um mich auszuhorchen. Tidemeyer, starre nicht immer in diese Augen.

Mit Mühe konzentrierte Klaas sich wieder auf seinen Bericht: „Die ganze Tour an einem Stück, mit Übernachtungen in fremden Betten, das wäre nicht mein Ding. Daher die Idee mit der Minna: Ich fahre eine überschaubare, für Stöver und mich zumutbare Strecke mit dem Klapprad an der Elbe entlang, dann mit Bus und Bahn zurück zur Minna …“

„… und dann mit der Minna wieder ein Stück weiter?“

„Ein nicht zu großes Stück. Ich merke, du hast das Prinzip verstanden.“ Er lächelte.

Und nicht so tief in das Dekolleté …

„Die ersten zwei Nächte habe ich mit der Minna in Dresden auf dem Campingplatz mitten in der Stadt gestanden, dann in Meißen auf dem Stellplatz an der Elbe, gestern in Riesa. Und jetzt bin ich hier. Wie du siehst, bin ich nicht sonderlich weit gekommen. Aber das macht nichts, ich habe ja Zeit.“

„Und morgen geht’s weiter?“

„Ich weiß nicht“, log Klaas, „soweit plane ich nicht gern voraus. Mich drängt niemand, denn meine Freunde haben es versäumt, mich darauf festzunageln, wie lange ich für die Tour benötigen darf. Alkohol sei Dank ...“

Er griff zum Weinglas und ließ den Blick über die Elblandschaft im Abendlicht schweifen. „Die Gegend hat was und Stöver gefällt es hier ausgezeichnet.“

„Ja, der erste Eindruck kann täuschen“, sagte sie grinsend.

„Vielleicht schau ich mich für einige Tage hier um und mache in Kultur. Museen, altes Gemäuer und so. Du hast sicher ein paar Tipps parat.“

„Puh“, sagte sie, „ich bin nicht so der Kulturfreak, eher Banause. Außer Schloss Hartenfels gibt’s in Torgau noch jede Menge anderer Museen. Kenn ich aber nicht. Beim Landratsamt und bei der Stadtverwaltung Torgau liegen Flyer rum, da kannst du dich über unsere Highlights schlaumachen, wenn dein allwissendes Internet“ – sie deutete mit spöttischem Lächeln auf das Tablet – „nichts hergibt.“

Klaas behielt für sich, dass ihm diese Empfehlungen für sein Anliegen, der Herkunft eines beiläufig gefundenen Gerippes auf die Spur zu kommen, nicht weiterhelfen würden.

Sie plauderten die Flasche Wein ohne Hast zu Ende und Klaas ließ sich gern für den nächsten Morgen zum Frühstück einladen.

Als er an die frische Luft kam, machte sich der Rotwein vorbildlich bemerkbar: Eine gewisse Leichtigkeit ohne wirres Zeug im Kopf hatte von ihm Besitz ergriffen. Dies Art des Alkoholkonsums lag ihm: wenn er den richtigen Punkt zum Aufhören gefunden hatte.

Klaas konnte noch resümieren, wie sehr der Abend ihm gefallen hatte und dass diese Frau gefährlich für seine frisch errungene Freiheit werden könnte, dann war er eingeschlafen.

Kein böser Traum brachte ihn während der Nacht ins Schwitzen. Nur eine mickrige, buckelige, bunt bekleidete Eulenspiegel-Figur mit weiten Ärmeln und Zipfelmütze fuchtelte einmal lachend mit einem Schellenbaum vor seiner Nase herum, und Klaas wusste, dass sie Claus hieß.

3. Tag

Als er am nächsten Morgen erwachte, bestätigte sich der Rotwein vom Vortag als ein guter: Klaas freute sich mit schmerzfreiem Kopf auf das Frühstück mit Helena.

Während er dem Hund an der Elbe beim Spielen zusah, dachte er kurz darüber nach, warum er die Sache mit dem Skelett Helena gegenüber nicht erwähnt hatte. Berufsbedingte Schweigsamkeit, kein spezielles Misstrauen, lautete die beruhigende Eigendiagnose.

Als er später die Gaststube betrat, stand Helena bereits in blütenweißem Businesshemd unter dunkelblauer Schürze hinter der Theke und hantierte an der Kaffeemaschine herum. Stöver war sofort bei ihr, begrüßte sie schwanzwedelnd wie eine alte Freundin und hockte sich erwartungsvoll vor sie hin.

„Guten Morgen, Herr Kommissar“, begrüßte sie Klaas und zeigte auf die Kaffeedose: „Ist guter altmodischer Filterkaffee zum Frühstück in Ordnung?“

„Wie der von gestern? Auf jeden Fall. Das ganze neumodische Zeug, für das man einen Italienischkurs an der Volkshochschule belegen muss, um es bestellen zu können, kann mir gestohlen bleiben.“

„Dazu gibt es Rührei mit Speck, wenn es genehm ist“, gab sie bekannt und stellte die Kaffeemaschine an.

Stöver fixierte seine neue Freundin und Klaas grinste. „Seltsam. Als wenn der Spinner auf Buletten wartet.“

Helena verdrehte die Augen, sagte aber nichts.

Klaas setzte sich an den Tisch, an dem sie gestern Abend die Flasche Rotwein geleert hatten, und der jetzt reichhaltig zum Frühstück gedeckt war, während Stöver die Wirtin in die Küche verfolgte. Wenig später vernahm Klaas bekannte Schmatzgeräusche.

Helena kam zurück, stellte eine Pfanne mit Rührei auf den Tisch und setzte sich.

„Na dann guten Appetit“, sagte sie, griff sich ein Brötchen und begann, es sorgfältig in der Mitte durchzuschneiden. „Hast du eigentlich nur verwaschene blaue T-Shirts?“.

Klaas zog die Augenbrauen hoch, erwiderte aber nichts.

Sie frühstückten ausgiebig und ohne Eile.

„Ich glaube, ich werde mir heute ein bisschen die Gegend ansehen. Vielleicht ins Schloss Hartenfels schauen.“, überlegte Klaas laut, während er seine Serviette glatt strich und faltete.

„Wenn du möchtest, kannst du mit deiner Minna den Platz hinter dem Seitengebäude ein paar Tage nutzen. Vorausgesetzt, Stöver ruiniert mir nicht den Garten.“ Sie blieb ihrer Rolle treu. Ihr Tonfall war kühl, fast abweisend.

„Ich werde dafür sorgen, dass er nicht zu oft in deine Grünanlagen pullert.“

„Ja, schon gut. Und nun macht euch davon, ich muss mich sputen. In einer Stunde kommen die ersten Radfahrer, die für meinen Krankenkassenbeitrag sorgen.“

In keinem der Dörfer auf seinem Weg nach Torgau bemerkte Klaas einen Menschen. Nicht auf den Straßen, nicht in den Gärten, auf keinem Hof, auf keinem Dorfplatz. Genauso, wie er es am Vortag in Mühlberg erlebt hatte. Er fragte sich, ob die ganze Gegend tot war oder ob er nur zufällig eine tote Zeit oder die einzigen toten Dörfer in den gesamten neuen Bundesländern erwischt hatte.

Über einen Kreisverkehr und entlang eines ansehnlichen Teiches mit Fischimbiss rollte er nach Torgau hinein.

In Torgau gab es sogar Ampeln, jedoch ohne grüne Welle: Egal, wie schnell oder langsam er fuhr, Klaas musste an jeder Ampel halten. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, die Rotphasen seien extra lang, um allen Autofahrern, die jemals zufällig nach Torgau kamen, das Wiederkommen zu verleiden. Zumindest das Autofahren im Stadtgebiet.

Auf dem Weg zum Schloss machte er einen Schlenker durch die Altstadt und war positiv angetan: Die meisten Häuser waren ansprechend saniert. Intaktes Kopfsteinpflaster ergänzte das historische Flair des Stadtbildes. Und im Gegensatz zu den Dörfern rundherum lebte die Stadt.

Klaas trat hinaus auf den Marktplatz. Es waren Menschen unterwegs. Nicht gerade wie auf der Mönckebergstraße, aber immerhin. Sein Blick schweifte über belebte Straßencafés, kleine Läden und geschäftige Fahrer von Lieferwagen. Er schaute kurz auf sein Handy. Als er wieder aufblickte, waren Passanten, Cafés und Lieferwagen verschwunden.

Stattdessen hatten sich mitten auf dem Marktplatz etwa fünfzig Reiter in altertümlichen Kostümen versammelt. Aus den Seitenstraßen stießen Landsknechte zu den Reitern, jeder mit einem glänzenden Harnisch um die Brust, einem Schwert an der Seite, die meisten mit einer Lanze über der Schulter, und auf vielen Kopfbedeckungen wippten bunte Federbüsche. Klaas schüttelte den Kopf. Wie kann man nur mit bunt gestreiften Kniestrümpfen und schleifchenverzierten Pluderhosen in den Krieg ziehen?

Es herrschte ausgelassene Stimmung, alles brüllte und scherzte durcheinander. Ein wunderbar aufgetakelter Reiter mit einem Federbusch nach dem Motto „ich hab den Größten“ auf dem Helm, löste sich aus der Menge, nahm vor dem Fußvolk Haltung an und gab dem fetten Trompeter einen Wink. Dieser stellte sich breitbeinig auf, setzte sein Instrument so an, dass es schräg in den Himmel zeigte, und blies ein Signal. Dann sah er sich um, als müsste tosender Applaus einsetzen.

Stattdessen kehrte augenblicklich Ruhe ein. Fußsoldaten und Berittene versammelten sich um den Trompeter und der mit dem Riesenfederbusch begann, gestelzt und altmodisch eine Bekanntmachung vorzulesen: Nach Wurzen sollte es gehen. Um die Hilfsgelder für den Zug gegen die Türken einzutreiben. Die Meißner mit ihrem Bischof zur Raison zu bringen. Die Sache musste wohl wichtig sein. Der Kurfürst hatte Rüstungen und Waffen zur Verfügung gestellt. So viel entnahm Klaas dem Geplauder der bunten Truppe und fühlte sich zum Glück ignoriert.

Da war wieder dieses Gefühl körperlicher Abwesenheit, was die Vision nicht minder unheimlich machte. Er sah, hörte und roch das Mittelalter. Er selber war unsichtbar und unbeweglich. Spielte ihm die Fantasie einen Streich oder der Lauf der Zeit?

Der Einpeitscher hoch zu Ross hatte seinen Auftritt überstanden und erntete den Applaus, der dem Trompeter versagt gewesen war. Er steckte die Schriftrolle ein und setzte sich an die Spitze der Truppe, die als ungeordneter johlender Haufen den Marktplatz Richtung Wurzen verließ, der schwitzende Trompeter im Laufschritt nebenher. Innerhalb kürzester Zeit war der Platz bis auf ein paar streunende Hunde und Gänse verlassen.

Klaas drehte sich um und verließ den Marktplatz. Hinter sich hörte er das Hupen eines Lieferwagens und italienische Schlager aus der Pizzeria tönen.

Er wanderte nachdenklich zur Minna zurück. Unterhalb der Elbbrücke fand er in einer Straße namens Fischerdörfchen einen Parkplatz und spazierte ohne Stöver über die Brücke eines nicht mehr vorhandenen Burggrabens zum Schloss Hartenfels hinüber.