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Der pensionierte Kriminalkommissar Klaas Tidemeyer kommt einfach nicht dazu, seine Radtour entlang des Elberadwegs fortzusetzen. Ein Hilferuf aus Belgern erreicht ihn und schon steckt er mitten in einer kuriosen Story um Blut und Schweifhaare mit frischem DNA Material eines vor über achtzig Jahren gestorbenen Trakehner Hengstes. Natürlich steckt eine Schurkerei dahinter und der Tod eines braven Stallknecht wirft neue Fragen auf. Klaas bringt mithilfe des kauzigen Wissenschaftlers Eberwein und einer jungen Bereiterin Licht in die illegalen Machenschaften eines Tierarztes und der dubiosen Betreiber eines Immobilienprojektes. Die Aufklärung, bei der ihn die lieb gewonnene Wirtin der Elbklause in gewohnt tatkräftiger Manier unterstützt, führt ihn vom Friedwald bei Wermsdorf bis in eine ostpreußische Schlossruine. Nach "Elbgold" ein weiterer humorvoller Elbekrimi aus Nordsachsen.
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Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ein herzliches
Dankeschön
an die verlässliche Natalie!
Liebe Lesende!
Auch dieser zweite Roman der Reihe ist weder ein
Tatsachenbericht noch eine Dokumentation. Alle Personen
und „Tatorte“ auf den folgenden Seiten sind frei erfunden:
von der resoluten Wirtin der fiktiven Elbklause bis zur
geheimnisvollen Laborantin des LKA, sie sind genauso wie
ein Gestüt oder Immobilienprojekt Ausbund meiner
Fantasie.
Falls ihr doch etwas in diesem Buch entdeckt, was euch an
die Wirklichkeit erinnert, und sei es lediglich eine Leiche in
einem Teich, so nehmt es bitte mit einem toleranten
Lächeln hin, denn die eventuelle Ähnlichkeit mit dem
Teich, den ihr kennt, ist rein zufällig.
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Ein Dutzend Pferde trotteten gemächlich auf den Wegen der Reitanlage umher oder grasten, ab und zu friedlich schnaubend, auf Grünflächen, die eigentlich dem Rasenmäher vorbehalten waren.
Der dunkle Geländewagen, welcher trotz der frühen Morgenstunde auf den Hof des Gestüts eingebogen war, lavierte im Schritttempo zwischen den Pferden hindurch, kam vor dem geöffneten Stalltor zum Stehen und die Fahrertür öffnete sich.
Die anspruchsvoll im englischen Landhausstil gekleidete Frau mit Kurzhaarschnitt, sie mochte um die fünfzig sein, warf mit der einen Hand die Autotür hinter sich zu, zog mit der anderen ein Handy aus der Gesäßtasche und wählte einhändig.
„Bartenstein hier. Flitz mal rasch zum Haupteingang und verschließe das Tor. Auf dem Hof laufen Pferde frei herum. Bleib bitte am Tor stehen, damit niemand es wieder öffnet. Und schick mir die anderen zum Stutenstall, um die Pferde einzufangen.“
Während des Gesprächs war die elegante Frau in der verwüsteten Stallgasse angekommen. Alle Boxentüren standen offen und der Beton der Stallgasse war unter zertrampeltem Heu, Stroh und Pferdemist kaum zu sehen, so, als hätte seit Tagen niemand Schaufel oder Besen geschwungen. Es stank eindringlich nach einer Mischung aus Urin und frischem Pferdedung. Frau von Bartenstein eilte kopfschüttelnd und grimmig dreinblickend an den beidseitigen Boxenreihen entlang, umschiffte breitgetretene Pferdeäpfelhaufen, Urinpfützen und eine umgekippte Mistkarre, bis sie den Aufenthaltsraum des Stallpersonals erreichte und die Tür aufriss.
Auf dem Feldbett schien lediglich ein zerknautschter Schlafsack zu liegen. Erst auf den zweiten Blick fielen rotblonde Locken am Kopfende auf.
„Svenja!“ Der Name wurde scharf, voller Entrüstung und vergeblich gerufen, denn nichts rührte sich.
„Svenja! Aufstehen! Was ist hier los?“ Sie trat an das Feldbett und ruckte energisch am Kopfkissen unter dem rotblonden Schopf. Zögernd kam Bewegung in das Etwas. Zwischen Locken und Schlafsack erschien eine sommersprossige Nase. Das dazu gehörige Mädchen drehte sich mit einem gepressten Stöhnen auf den Rücken.
„Svenja! Warum zertrampeln die Stuten die Rabatten auf dem Hof? Warum liegst du hier faul herum? Es ist heller Vormittag, du hättest längst Hafer geben müssen!“
Zögerlich öffneten sich hellblaue Augen zwischen Sommersprossen.
„Ach du meine Güte … die Chefin! …. Scheiße … Wie spät ist es?“, fragte das Mädchen mit belegter Stimme.
„Ich glaub, ich spinne! Statt Stallwache zu halten, liegst du im Nest und pennst!“
Svenja setzte sich umständlich auf und rieb sich die Augen. „Was ist los? Die Pferde laufen frei herum?“
„Ja, hörst du schlecht? Was ist hier passiert? Warum stehen alle Boxen offen?“
Svenja wischte sich mit einer fahrigen Bewegung rotblond gelockte Strähnen aus dem Gesicht. „Ich weiß es nicht. Ich habe nachts wie immer meine Runde gedreht und da war alles in Ordnung.“ Ihre Stimme klang nicht nur verschlafen, sondern undeutlich, nuschelnd. Zwischendurch stöhnte sie und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf.
„Wie redest du denn? Hast du getrunken?“ Die Bartenstein sah sich um, als erwarte sie, eine Batterie leerer Schnapsflaschen vorzufinden. „Mein liebes Fräulein, da kommt was auf dich zu.“
Svenja starrte sie stumm an. Zur Verständnislosigkeit in Ihrem Gesichtsausdruck gesellte sich Angst.
Die Bartenstein packte das Mädchen an den Schultern und schüttelte sie. „Los jetzt! Raus aus dem Bett! Pferde einfangen! Und dann ab in den Stall, Ordnung schaffen!“
Das Mädchen stellte die Füße samt Schlafsack auf den Boden, seufzte, rieb sich erneut die Augen und fuhr sich mit der Hand durch die helle Mähne.
Charlotte von Bartenstein musterte sie kopfschüttelnd. Ihr Ärger war nicht zu übersehen. „Wie kannst du dich mit deinen bald 18 Jahren derartig gehen lassen? Hast du allein gesoffen oder habt ihr ne Party gefeiert?“
„Ich habe nichts getrunken.“ Svenja zog mit fahrigen Bewegungen den Reißverschluss auf und pellte sich aus dem Schlafsack. „Ehrlich! Ich habe um eins den letzten Rundgang gemacht und mich dann hingelegt. Mein Wecker hätte um fünf klingeln müssen.“ Sie wühlte auf dem Stuhl neben dem Feldbett, fand zwischen Reithose, Flanellhemd, BH und einer angerissenen Tüte Kartoffelchips ihr Handy und starrte es an. „Der Akku ist raus! Jemand hat den Akku rausgenommen …“
„Ne blödere Ausrede hab ich lange nicht gehört. Wie gesagt, das hat ein Nachspiel …“
„Aber Chefin! Sehen Sie doch! Da: der Akku liegt daneben!“
Die Bartenstein schüttelte unwillig den Kopf. „Egal. Jetzt erst mal los und die Pferde einsperren. Die Lehrlinge von der Frühschicht helfen dir. Dann wird der Stall in Ordnung gebracht. Währenddessen solltest du dir überlegen, was passiert ist. Wenn dir nichts sensationell Gutes einfällt, kannst du dir den Rest deiner Lehre in die Haare schmieren.“ Sie drehte sich um und verschwand. Wenig später hörte Svenja den Motor ihres Wagens anspringen.
Glücklicherweise war nichts Ernsthaftes passiert. Alle Stuten konnten auf dem Gelände des Gestüts unversehrt eingefangen werden.
Zusammen mit Marco und Kristin, den beiden Azubis aus dem ersten Lehrjahr, verpasste Svenja dem Stall eine Grundreinigung. Zwischendurch trottete Marco mit der Schaufel in der Hand auf sie zu, stützte sich vor ihr auf den Schaufelstiel und grinste sie provokativ an.
„Na Svenja? Hast du etwa Stress?“
„Ach lass mich in Ruhe, du Blödmann.“
„Sei nicht so spröde. Ich will dir doch nur helfen.“ Er versuchte, einen Arm um ihre Schulter zu legen.
Svenja tauchte unter seinem Arm hindurch, indem sie sich einmal um die eigene Achse drehte, und trat einen Schritt zurück. „Lass das. Ich mag dein Gegrapsche nicht! Hab ich dir schon tausend Mal gesagt.“
Marco sah sie immer noch an, aber das Grinsen verblasste und seine Augen wurden schmal. Dann senkte er den Kopf, drehte sich um und fuhr mit verbissener Miene fort, die stinkende Mischung aus Pferdeexkrementen, nassem Heu und Stroh in die Mistkarre zu schaufeln. Kristin hatte die Szene beobachtet, atmete einmal tief durch und beschäftigte sich wieder mit ihrem Besen.
Als Svenja die erste volle Schubkarre zum Stall hinaus Richtung Misthaufen schob, fielen ihr unter dem Hebel, mit dem ein Flügel des Stalltors in der Mitte der Stallgasse arretiert wurde, ein dunkler, schillernder Fleck auf. Sie stellte die Karre ab und sah genauer hin. Am Griff hatten sich einige Schweifhaare verfangen und eine dunkelrote Flüssigkeit rann, von Fliegen belagert, in schmalen Bahnen am Tor herunter.
Svenja lief es vor Schreck kalt über den Rücken. Sie sah sich verstohlen um. Ihre Kollegen waren beschäftigt, keiner achtete auf sie. Auch draußen, auf dem Hof, war niemand zu sehen.
Sie wühlte ein Papiertaschentuch aus der Westentasche, tupfte es in die dickflüssige Brühe und schnupperte daran. Ja, es war Blut. Sie steckte das Taschentuch in die Innentasche ihrer Weste, zerrte die vier, fünf Schweifhaare vom Verschlusshebel, drehte sie um den Finger und stopfte sie zu dem Tuch. Ein schneller Blick hinüber zu Kristin und Marco … nein, niemand hatte sie beobachtet.
Kurz darauf schob sie die Karre zum Misthaufen. Es war verlockend, Haare und Taschentuch unter dem Mist zu entsorgen aber sie tat es nicht.
Auf dem Rückweg zum Stall durchzuckte sie die Angst wie ein Stromschlag und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das Blut! Die wertvollen Zuchtstuten! Wenn auch nur eines der Pferde eine Verletzung davon getragen hatte, würde das Donnerwetter riesengroß ausfallen.
Nach einer Stunde war der Stall sauber wie geleckt, so, wie es einem renommierten Pferdezuchtbetrieb anstand. Aus den Boxen klangen die Mahlgeräusche friedlich fressender Pferde und ab und zu ein entspanntes Schnauben. Es könnte alles wie immer sein, wären da nicht das Blut und die Haare vom Stalltor.
Nachdem die Stuten ihren Hafer intus hatten, würden sie, wie jeden Tag, auf die Weide geschickt werden, wo sie bis in die Abendstunden blieben. Wenn Svenja die Pferde nach Verletzungen absuchen wollte, so musste sie es jetzt, vor dem Weidegang, tun.
Sie sah sich um. Marco drückte sich ausnahmsweise nicht in ihrer Nähe herum, sondern war mit Kristin verschwunden. Sicherlich saßen sie beim Frühstück und zerrissen sich die Mäuler. Kristin wohl nicht so arg, Marco umso gehässiger.
Svenja arbeitete sich von Box zu Box und musterte jede der hochwertigen Zuchtstuten: Sie inspizierte jedes Bein, jede Schulter, jede Flanke, jeweils besonders sorgfältig auf Höhe des kantigen Riegels, unter dem das Blut am Tor herunter gelaufen war. Bei den drei Schimmelstuten reichte logischerweise ein flüchtiger Blick. Bei den zwei Füchsen war es schon umständlicher, bei den Braunen und Rappen musste sie besonders aufmerksam hinsehen, während sie immer wieder Richtung Aufenthaltsraum peilte, um nicht überrascht zu werden.
Nachdem sie alle Pferde durchgesehen hatte, lehnte Svenja sich an eine der mächtigen Heurollen in der Stallgasse, richtete den Blick in die Spinnweben an der Decke und atmete tief durch.
Ihre Suche war erfolglos. Nicht einen einzigen noch so kleinen Kratzer hatte sie gefunden. Kein Blut. Nichts.
Inzwischen ging es ihr besser. Kopfschmerzen und Sehstörungen hatten nachgelassen. Der Kreislauf war wieder stabil. Nur die Angst vor der Bartenstein schwebte nach wie vor durch ihr Hirn. Und in ihrer Beklommenheit wirbelten bohrende Fragen durch ihren Kopf: Woher kamen das Blut und die Schweifhaare? Wer hatte den Akku aus ihrem Handy genommen und die Stuten rausgelassen? Warum fühlte sie sich, als hätte sie die ganze Nacht gekifft und gesoffen? Gleichzeitig versuchte sie beharrlich, sich selbst gut zuzureden: Keines der teuren Pferde war verletzt. Sie hatte nichts Verbotenes getan. Und trotzdem vermochte die Erleichterung über die unversehrten Stuten ihre Angst nicht zu übertünchen. Sie griff in die Westentasche und zog das Taschentuch zur Hälfte heraus. Das Blut war inzwischen getrocknet und fast so schwarz wie die Schweifhaare, die sie gedankenverloren immer wieder um ihren Finger wickelte.
Das Geräusch eines sich nähernden Autos holte Svenja zurück in die Gegenwart. Einen Augenblick später verdunkelte ein bedrohlicher Schatten das Stalltor und eine herrische Männerstimme brüllte ihren Namen. Sie schob Taschentuch und Schweifhaare hastig in die Tasche zurück und löste sich vom Heuballen. Die Stimme war ihr bekannt. Eine Stimme, die schon unangenehm war, wenn nichts passiert war. Hans Dietmar Olufsen. Besitzer zweier Zuchtstuten. Reinste Trakehner Linien und fürchterlich wertvoll.
Olufsen hatte eine Vorliebe für blasskarierte Kleidung mit roten Halstüchern, verstand wenig von Pferdehaltung, war arrogant und autoritär, tauchte für gewöhnlich mehrmals täglich auf, sah nach seinen Pferden und meckerte rum. Das blöde war, er fand immer etwas, meist Kleinigkeiten, die nicht in Ordnung waren: Das Halfter war nicht abgenommen. Das Heu war nicht korrekt aufgeschüttelt. Oder die Stalldecke hing schief. Einerseits hatte er immer recht, andererseits war er ein meckernder Pedant, der Spaß daran hatte, Leute zu demütigen. Bei nächster Gelegenheit war er wieder so schleimig freundlich, dass Svenja und die anderen Mädchen im Stall sich hüteten, allein mit ihm in einem Raum zu sein. Blöd nur, dass ausgerechnet Almwiese, eine der beiden Stuten Olufsens, Svenjas erklärtes Lieblingspferd war. So war das mit Olufsen, der jetzt breitbeinig in der Stallgasse stand und ihren Namen brüllte.
„Ich weiß nicht, warum du hier noch rumhängst. Ich mache der Bartenstein die Hölle heiß, wenn du Schlampe nicht sofort hinausfliegst!“
„Bitte, Herr Olufsen, ich habe nichts getan. Ich weiß …“
„Erzähl keine Märchen. Ich sorge dafür, dass du fliegst!“
Es war nur logisch: Selbstverständlich hatte die Chefin sofort alle Pferdebesitzer informiert. Informieren müssen. Ob sie selber Svenja als Schuldige gebrandmarkt hatte oder jemand anderes es ihm gesteckt hatte, wusste sie nicht und machte auch keinen Unterschied.
Olufsen stapfte an ihr vorbei und Svenjas Erleichterung über die unverletzten Pferde war endgültig der Angst vor dem Rauswurf gewichen.
Wie auf Kommando meldete sich ihr Handy. „Sofort in mein Büro“ lautete die bedrohliche Nachricht. Svenja seufzte und machte sich auf den Weg über den Hof zum Verwaltungsgebäude, dem prächtigen Gutshaus aus der guten alten Zeit. Der Weg war lang genug, um unterwegs Tante Gabi anzurufen und ihr in Kurzform die schlechten Neuigkeiten zu überbringen.
Klaas erwachte, weil die tiefrote Morgensonne den Weg durch das Fenster der Schiebetür gefunden hatte und ihm ins Gesicht brüllte. Er drehte sich gähnend auf den Rücken und reckte sich unter der dünnen Decke. Wenn er sich lang machte, berührte er mit den Zehen eine Seitenwand des Wohnmobils, mit dem Kopf die gegenüberliegende und seine Hände den Staukasten über ihm. Die ganze Inneneinrichtung der Minna, wie er seinen zum Wohnmobil umgebauten dunkelgrünen Transporter nannte, leuchtete dunkelrot. Es konnte höchstens fünf Uhr sein, denn Klärchen war gerade erst hinter dem Horizont hervorgekrochen.
Stöver jedenfalls war es eindeutig zu zeitig. Der zottelige schwarze Hund blieb zusammengerollt unter dem Tisch liegen und hielt die Augen konsequent geschlossen.
Klaas setzt sich auf und schob das Rollo am Heckfenster nach oben. Draußen herrschte Windstille. Ein dünner Nebelfilm verhüllte das Bett der Elbe. Die Bäume am gegenüberliegenden Ufer ragten aus der weißen Suppe, als lägen ihre Kronen ohne Stamm auf den Nebelschwaden. Klaas reckte sich abermals, bevor er die Füße aus dem Nest schwang.
Eine Stunde später waren die obligatorischen morgendlichen Herausforderungen bewältigt: Der Riesenschnauzermischling hatte, nachdem er sich doch noch bequemt hatte, aufzustehen, seinen Auslauf gehabt, die Kaffeemaschine gurgelte dampfend vor sich hin und Klaas hatte eine rudimentäre Körperpflege absolviert.
Der weitere Tagesablauf gestaltete sich fakultativ. Rasieren zählte höchstens jeden dritten Tag dazu. Klaas musterte die grauen Stoppel im Spiegel. Nein, heute ging es noch. Er zwinkerte sich selber zu und fuhr sich mit der freien Hand durch die ebenfalls stoppelige Kopfbehaarung. Er genoss den Luxus, auf sein Äußeres keinen besonderen Wert legen zu müssen. Und als pensionierter Kriminalkommissar der Hamburger Polizei oblagen ihm nur wenige Verpflichtungen, von denen die Versorgung seines Hundes die angenehmste war. Dazu gehörte der Start der Kaffeemaschine − schon der Duft und das Schnorcheln verfeinerten jeden Tag zu einem Feiertag. Das war es dann auch mit den Verpflichtungen.
Ein weiterer flüchtiger Gedanke galt dem Grund seiner Anwesenheit hier an der Elbe bei Roßlau: die Einlösung einer Wette. Oder die Quittung für seine große Klappe, das war Ansichtssache. Die blödsinnige Wette mit der Clique aus seiner Hamburger Stammkneipe, den Elberadweg mit einem Klapprad auszumessen. Keine weltrekordverdächtige Sache, zumal er das Rad mit Akku und Elektromotor hatte aufrüsten lassen. Und er dachte speziell an seine besten Freund Holger, Wirt und Inhaber jener Kneipe. Holger hatte am hartnäckigsten auf die Einlösung der Wette bestanden. Als Gastwirt war er Menschenkenner. Und als Menschenkenner wusste er, dass Klaas nach seiner Frühpensionierung nichts dringender benötigte als eine Luftveränderung.
Nachdem er, Klaas, die Notwendigkeit dieser Veränderung endlich eingesehen hatte, freute er sich sogar auf die Tour. Nicht, dass er ernsthaft Sorge gehabt hätte, in Depressionen zu verfallen. Eine gewisse Beunruhigung über fehlende Struktur in Tagesablauf und Kleiderordnung vermochte er auf Dauer jedoch nicht zu verdrängen. Neben einer latenten Ziellosigkeit oder auch Antriebslosigkeit. Falsch, korrigierte er sich. Antriebslosigkeit war schon seit vielen Jahren, auch vor der Pensionierung, sein Problem gewesen.
Er wischte sich mit der Hand über das bartstoppelige Gesicht und schüttelte den Kopf. Er war jetzt nicht in der Stimmung für psychologische Eigendiagnose und Vergangenheitsaufarbeitung. Er negierte sogar dessen Notwendigkeit, denn vom Grundsatz her war er seit dem Beginn der Reise guter Dinge. Wie gesagt, die Luftveränderung tat gut. Holger, der Althippie, lag richtig mit seiner Einschätzung.
Allerdings war Klaas in den vergangenen Monaten nicht besonders weit gekommen. Von Dresden gerade mal bis hierher, kurz vor Dessau. Von Mai bis Mitte August. Der Grund für das zögerliche Vorankommen war Wilfried, das geharnischte Skelett an der Elbe bei Belgern (siehe „Elbgold“). Das mittelalterliche Gerippe hatte ihn mehrere Wochen aufgehalten.
Klaas schenkte sich Kaffee nach und lud den Toaster mit zwei weiteren Weißbrotscheiben.
Seine Gedanken verweilten bei den Geschehnissen um Wilfried. Oder vielmehr bei Helena und Eberwein. Doktor Jens Eberwein, dem skurrilen Heimatforscher. Irgendwo jenseits der sechzig, freier LKA Mitarbeiter mit der Physiognomie einer vollbärtigen Spitzmaus, der im Laufe der ereignisreichen Wochen in Nordsachsen zum Freund geworden war.
Und Helena, der zartbraun gebrannten Wirtin der Elbklause zu Belgern, gleich neben dem Fähranleger. Helena mit ihrer widerspenstigen blonden Mähne und der Vorliebe für helle, penibel gebügelte Herrenoberhemden. Die Helena, die ihn mit ihrer burschikosen Art und der immer etwas heiseren Stimme von Beginn an in den Bann gezogen hatte. Die am letzten Abend erst im weißen Businesshemd mit nichts darunter, und dann ganz ohne Hemd vor seiner Koje in der Minna gestanden hatte. Er lächelte still vor sich hin und ihr unbeschreiblicher Duft schien plötzlich im Wohnmobil zu schweben.
Der Toaster spuckte perfekt mittelbraune Weißbrotscheiben aus und Klaas zog den Deckel von der Butterpackung. Weiter kam er nicht, denn sein Handy dudelte die Tatort-Titelmelodie.
Nach einem schnellen Blick auf das Display hielt er das Telefon lächelnd ans Ohr. „Woher wusstest du, dass ich gerade deine Oberhemden vor Augen habe?“
„Auch guten Morgen. Wenn du nur an mein Hemd gedacht hast, ist ja alles jugendfrei.“ Helenas Stimme klang wie gewohnt angeraut, aber doch sanfter zu ihm herüber, als ihre Kneipengäste sie erlebten. Ach so vertraut klang sie und Klaas fragte sich, innerlich den Kopf schüttelnd, warum er nicht bei ihr in Belgern am Frühstückstisch saß.
„Ach Helena, selbstverständlich nur an das Hemd, was denn sonst.“ Er schmunzelte, während sein Blick ziellos über die Flusslandschaft glitt.
„Okay, bevor das Gespräch entgleitet, erzähl ich dir, warum ich anrufe.“
„Ich höre.“
„Meine Freundin Gabi …“
Klaas unterbrach sie. „Die Gabi, die immer brav die Kneipe macht, während du Verbrecher jagst? Grüß schön.“
„Wenn du möchtest, kannst du persönlich grüßen. Ich bitte dich, zurückzukommen.“
Klaas hatte plötzlich ein angenehm behagliches Kribbeln in der Magengegend. Die Frage, warum er Belgern überhaupt verlassen hatte, schien sich in diesem Moment erledigt zu haben und er flötete ein: „Oh ja, selbstverständlich, liebste Helena“ in das Handy.
„Hallo! Nicht, was du jetzt denkst, du Spinner! Es ist was passiert. Wir brauchen deine Hilfe.“
Klaas wartete. Nach dieser Ankündigung müsste noch etwas kommen.
„Klaas? Bist du noch dran? Also, Gabi hat ne Nichte …“
„Och nee, wieder ne Nichte?“ Klaas hatte kurz die durchgeknallte Jessica, ihren Rambo-Onkel bei der Torgauer Polizei und den verrückten Pfarrer vor Augen (siehe „Elbgold“).
„Keine Sorge, diesmal nicht so eine verdrehte wie die vom Rütter. Also, die Nichte von Gabi macht ne Ausbildung zur Pferdewirtin in einem Gestüt auf der anderen Elbseite und hat seit gestern ein Problem.“
„Pferdewirt … Die lernt in `ner Kneipe, in der Pferde an der Theke stehen?“
„Nicht ganz.“ Helena lachte kurz auf. „In diesem Pferdestall sind nächtens merkwürdige Dinge passiert und Svenja soll schuld daran sein. Fliegt deswegen vielleicht sogar raus.“
„Svenja?“
„Jaha, so heißt Gabis Nichte. Du bist aber schwer von Begriff heut morgen.“
„Und warum geht ihr nicht zur Polizei?“
„Das ist nix für die Polizei. Wir brauchen jemanden mit Köpfchen und Fantasie.“
Klaas grinste bei dem Gedanken an Sheriff Rütter, der für ihn gleichbedeutend mit Polizei in Torgau war, und seufzte. Fantasie war dessen Stärke wahrlich nicht.
„Na wenn du meinst. Ich weiß zwar nicht, wie ich das der Clique in Hamburg klar machen soll. Die glauben bestimmt, ich will mich drücken.“
„Das erklär ich dem lieben Holger schon. Du weißt, der frisst mir aus der Hand.“ Klaas konnte sich denken, wie sie gerade hämisch grinste. Ja, sein Freund Holger, der mit Freude zweideutige Bemerkungen einstreute und immer wieder gern in Helenas prachtvollen Ausschnitt schielte.
„Na gut. Warum auch nicht.“ Er sagte es leichthin. So, als wäre es ihm völlig gleich, ob er heute Abend in der Elbklause zu Belgern neben Helena an der Theke sitzen würde oder nicht. „Dann bis nachher. Und vor Pferden hab ich Angst. Die sind groß, schreckhaft und schnauben zu laut.“
Klaas freute sich wie ein Schneider.
Klaas frühstückte in allerbester Laune zu Ende und jagte Stöver anschließend zum zweiten Mal an diesem Morgen in die Roßlauer Elbwiesen. Es brauchte nicht lange, bis die Minna reisefertig war. Er verpackte all sein Gerassel in den Staufächern, kurbelte die Stützen hoch und war abfahrbereit.
Einen Moment überlegte er, den schnelleren Umweg über die Autobahn zu nehmen, entschied sich dann aber für die gemütliche Landstraße. Er freute sich auf die Schlange der Eiligen hinter ihm, die auf eine Chance zum Überholen lauerten und ihm derweil die Pest an den Hals wünschten.
Auf den Straßen war an diesem herrlichen Spätsommermorgen wenig los und nichts hielt Klaas davon ab, während der Fahrt seinen Erinnerungen nachzuhängen.
Es war alles wieder da: Der Überfall auf Doktor Eberwein, die mit Rotwein verplauderten Abende in der Elbklause, die Gefangenschaft im Verlies und Claus, der sabbernde Narr aus dem Mittelalter: Die Ereignisse der vier Wochen in Belgern an der Elbe zogen vor seinem inneren Auge vorbei: Zum Schluss der Abend, an dem Helena vor ihm im Wohnmobil gestanden und Knopf für Knopf ihres blütenweißen Businesshemds geöffnet hatte (siehe „Elbgold“). Der Augenblick, in dem sie an sein Bett getreten war. Ihre kräftige, aber nicht zu füllige Statur. Die samtbraune Haut, in den Bikinizonen eine Spur heller. Dieser Duft. Dieser unbeschreibliche Duft nach purer Lebenslust. Sie hatte sich mit einer fließenden Bewegung den Haargummi aus dem Pferdeschwanz gezogen und sich geschüttelt, bis die rotblonden Haare Eigenleben entwickelten und ihr locker über die Schultern fielen. Die eine störrische Strähne, die sie aus dem Mundwinkel anpustete, um sie aus dem Gesicht zu scheuchen.
Ein stakkatoartiges Aufblinken hinter seinem Transporter katapultierte ihn für einen Moment zurück in die Gegenwart und er sah in den Spiegel. Ein Geländewagen zog halb auf die Gegenfahrbahn und die Lichthupe kam wieder und immer wieder, ausdauernd und fordernd. Klaas checkte den Tacho. Von den erlaubten 100 fuhr er nicht einmal 90. Er grinste still vor sich hin und ging ein wenig vom Gas.
Es dauerte einige Zeit, bis die Fahrbahn wenigstens soweit zu überblicken war, dass ein Überholmanöver statt selbstmörderisch nur leichtsinnig war. Der schwarze Geländewagen zog mit aufheulendem Motor hupend an ihm vorbei und Klaas ließ seine Gedanken wieder wandern.
„Was ist, willst du mir nicht Platz machen?“, hatte Helena gefragt und Klaas musste sich von ihrem Anblick losreißen. Der Begriff „Vollweib“ war durch seinen Kopf geknallt und er zuckte, jetzt auf der Landstraße, nachträglich zusammen. Sexistisch? Möglicherweise. Sicherlich. Allerdings schloss das „Voll-“ den Grips und den Witz dieser besonderen Frau mit ein. Das Schnippische, diese hinterhältige Ironie, die er an ihr schon mochte, bevor er den Anblick der Rundungen genießen durfte.
Jedenfalls war Klaas nicht zur Seite gerückt und das hatte dem Verlauf der Nacht eine andere Richtung gegeben, wie er heute wusste. Statt ihr Platz zu machen, hatte er gesagt: „Links von mir lag vor ewigen Zeiten immer meine Frau. Komm bitte auf die rechte Seite.“
Helena hatte lächelnd mit den Schultern gezuckt und das Knie auf die Bettkante gestemmt, um über ihn hinweg zu steigen, aber nicht ganz. Mitten in der Bewegung hatte sie innegehalten, um ihm in die Augen zu sehen. Das war der Moment gewesen, in dem Klaas Herzklopfen bis zum Hals bekommen hatte. Dieser Anblick …
Dann hatte die Frau sich lächelnd herabgebeugt und ihn ganz leicht auf die Stirn geküsst, während zwei Brustwarzen sanft über seinen Oberkörper strichen.
„Verdammt!“, murmelte er vor sich hin, „Jetzt ist aber gut. Wie soll man denn da Auto fahren?“, und zwang sich, die phänomenalen Brüste im Interesse der Verkehrssicherheit auszublenden.
Jedenfalls gestaltete sich der Rest der Nacht nicht im Sinne der Arterhaltung, sondern verlor sich in Konversation. „Du warst verheiratet?“ Helena hatte sich hinter ihm fallengelassen, ihren Kopf auf seine Schulter gelegt und sich an ihn geschmiegt.
„Ja, bis vor zwei Monaten.“
„Gibt es einen Grund, warum du darüber nicht sprichst? Gab`s nen Rosenkrieg? Hat es dir das Herz gebrochen?“
„Nein, nichts von all dem. Die Beziehung scheiterte ganz profan an der Routine des Alltags. Jahr für Jahr wurde es in Wohn- und Schlafzimmer immer langweiliger. Als sie irgendwann vorschlug, wir sollten uns scheiden lassen, war das genauso belanglos, als hätte sie gefragt, ob ich den Müll mit runternehme. Wir haben zusammen durchgerechnet, wie sich das steuerlich auswirkt, macht aber keinen relevanten Unterschied. Also haben wir unseren gemeinsamen Anwalt gebeten, alles für die Beendigung des Lebensabschnitts in die Wege zu leiten.“
„Wie lange wart ihr verheiratet?“, „Wie habt ihr euch kennengelernt?“ und „Gibt es Kinder?“
In diesem Stil hatten sie weiter geplaudert. Mit einer Flasche Dornfelder und Knabberzeug zwischen sich im Bett. Sie plauderten und lachten und plauderten und schmiegten sich aneinander. Irgendwann war die Weinflasche leer geplaudert und Klaas vernahm ein überaus zartes Schnarchen neben sich. Wenn man es überhaupt so nennen konnte.
Der Transporter rollte nach Wittenberg hinein und Klaas hielt vor der ersten Ampel, die natürlich rot war. Fast wie in Torgau, dachte er schmunzelnd. Direkt vor ihm stand der protzige schwarze Geländewagen. Klaas grinste und verkniff sich die Betätigung der Hupe.
Ja, Helena war schließlich in seinem Arm eingeschlafen und er hatte noch lange wach gelegen, paradoxerweise mit ausgesprochen guter Laune. Die blaue Stunde war schon im Anmarsch, als auch er endlich weggedämmert war.
Es war also nix mit dem wilden, hemmungslosen Sex in dieser Nacht, dachte er, wieder schmunzelnd. Aber das typisch bittere Gefühl der Enttäuschung nach einer verpassten Gelegenheit war ausgeblieben. Und am Morgen war er aufgebrochen, um seine Reise entlang der Elbe mit vierwöchiger Verspätung fortzusetzen.
Seit seiner Abreise hatte sich nicht viel verändert: Das mit etwas Fantasie nach Bäderarchitektur anmutende weiße Gebäude, die ewig lange Reihe der Fahrradständer vor der Kneipe, das gurgelnde Geräusch der ablegenden Gierfähre, der wunderbare Blick über die Elblandschaft. Nur war die Luft noch drückender als bei seiner Abreise, die Vegetation rundherum noch vertrockneter.
Klaas schaltete zurück in den ersten Gang und ließ die Minna im Schneckentempo über Helenas Grundstück und auf „seinen“ Platz hinter dem Haus rollen. Als er den Motor abstellte, hockte Stöver schon ungeduldig an der Schiebetür und äußerte ein forderndes Jaulen. Sein Herrchen ließ ihn hinaus und der Riesenschnauzermischling verschwand wie der Blitz. Klaas schmunzelte. Der Hund mochte Helena, egal, ob mit oder ohne Buletten und er war nicht die Spur eifersüchtig. Er suchte seine Schlappen zusammen, schloss die Wagentür und folgte gemächlich dem schwarzen Zotteltier.
In der Tür zur Gaststube verharrte er. Sein Mund verzog sich zu einem leisen Lächeln. Helena stand mit einer Hand am Zapfhahn hinter der Theke, ein Geschirrtuch über der Schulter und feine Schweißperlen auf der Stirn. Eine widerspenstige rotblonde Strähne hing, wie eigentlich immer, im vertrauten Gesicht. Ihr weißes Herrenoberhemd leuchtete ihm entgegen und Klaas hatte das Gefühl, er wäre gerade einmal zehn Minuten weg gewesen. Sie erwiderte sein Lächeln quer durch die lärmende Gaststube und er hob beinahe schüchtern eine Hand zur Begrüßung.
Der große Bahnhof fiel aus. Sie zog ihn zu sich herunter und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. Das war es schon. „Würdest du die zwölf Radler zuende zapfen? Ich kümmere mich derweil um die Bratkartoffeln.“
Er fasste sie mit beiden Händen unterhalb des Kragens am Hemd, zog sie zu sich heran und erwiderte den Kuss auf die Stirn. „Steht dir, du solltest öfter Businesshemden tragen. Und selbstverständlich zapfe ich. Nur aus diesem Grund bin ich zurückgekommen“, sagte er todernst.
Helena lachte über das ganze Gesicht. „Klar. Warum auch sonst? In zwei Stunden kommt Gabi. Bis dahin haben wir die Gäste abgefertigt.“
Während dieser unkonventionellen Begrüßung, deren Herzlichkeit eher in den Blicken als den Worten lag, hatte Stöver schwanzwedelnd vor Helena auf dem Hintern gesessen und sie erwartungsvoll angehimmelt. Der Duft von frischen Buletten aus der Küchentür mochte der Grund dafür sein.
Mehrere Stunden später, zum Ende eines typischen umsatzstarken Gut-Wetter-Tages in der Elbklause, und nachdem der letzte Elberadwanderer die Gaststube verlassen hatte, war der ewig lange Fahrradständer wieder verwaist. Klaas wischte sich zum x-ten Mal den Schweiß aus dem Gesicht, entledigte sich des durchgeweichten Geschirrtuches und krönte das letzte, für ihn selbst gezapfte Bier mit einer wundervoll überlaufenden Blume. Er setzte den Humpen an und nahm einen mächtigen Schluck, der einen voluminösen Bierschaumbart in seinem unrasierten Gesicht hinterließ.
„Es hat sich nichts geändert. Helena spannt die besten Gäste zur Arbeit ein!“
Klaas blickte erfreut zur Tür, denn die Stimme kannte er. Dieses Männchen mit den verwüsteten weißgrauen Haaren, dem Gesicht einer Spitzmaus, dem grau-braun kariertem Polunder, dem Hemd mit Lederflicken auf den Ellenbogen und den ausgebeulten Knien in den braunen Cordhosen hatte er annähernd genauso vermisst wie Helena. Auf eine etwas andere Art, aber immerhin.
„Hallo Doktor! Wie heiß muss es noch werden, bis du dir wild und unbeherrscht den Polunder vom Leib reißt?“
„Keine Chance! Ich bleibe meinem Ruf treu. Der Polunder bleibt an!“
Spätestens, seit die beiden mehrere Tage als Opfer einer Entführung stinkend und mit Galgenhumor gemeinsam überstanden hatten, waren sie die dicksten Freunde (siehe „Elbgold“). Klaas ging Doktor Jens Eberwein entgegen, drückte ihm ausgiebig die Hand und nahm ihn anschließend einfach mal in den Arm.
„Ist ja gut! Was sollen die Leute denken?“ Eberwein befreite sich peinlich berührt. So viel menschlicher Körperkontakt schien ihm unheimlich.
„Stell dich nicht so an. Ich freu mich eben. Und es schaut eh niemand zu.“ Klaas hatte ihn wieder losgelassen und überließ seinem Hund das Feld für eine weitere stürmische Begrüßung, die den alten Heimatforscher und heimlichen LKA Mitarbeiter beinahe zu Fall gebracht hätte.
„Bin ich etwa niemand?“, klang es aus dem Hintergrund. Helena kam aus der Küche und begrüßte Eberwein etwas gesitteter als der Hund, aber im Tonfall ausgesprochen herzlich. „Hallo Doktorchen! Möchtest du Bier oder Wein?“
Eberwein entschied sich ebenfalls für Bier und wenig später saßen sie an ihrem angestammten Tisch mit dem grandiosen Panoramablick über die Elblandschaft.
Eberwein wandte sich an Klaas: „Bist du unterrichtet, aus welchem Anlass wir hierher zitiert wurden? Es scheint mir keine Einladung lediglich zu Speis und Trank zu sein.“
„Deine geschwollene Redeweise hat mir echt gefehlt, Alter. Und ja, irgendetwas ist im Busch. Fragen wir die Chefin.“ Er blickte Helena erwartungsvoll an.
„Nur die Ruhe. Beginnen wir mit einer Runde Sambuca, um auf das Wiedersehen anzustoßen.“ Sie schenkte ein, verteilte Kaffeebohnen in die Likörgläser und zückte das Feuerzeug. Einen Moment lang saßen sie andächtig in der Runde und betrachteten die kaum sichtbaren blauen Flammen über dem Anislikör. Dann wurde mittels Bierdeckel abgelöscht und vorsichtig an den heißen Gläsern genippt.
„Wie immer deliziös!“, stellte Eberwein schmatzend fest und blickte Helena auffordernd an.
„Meine Freundin Gabi….“ Helena wurde von Klaas unterbrochen. „Genau! Gabi. Die fehlt. Warum ist die nicht hier?“
„Lass mich ausreden. Also, Gabi hat eine Nichte …“
„Ja, namens Svenja. Und es geht um Pferde. Das sagtest du schon.“
„Ja, aber nicht dem Doktor. Und jetzt halte einfach mal die Klappe!“
Klaas zog mit gespielt erschrockener Miene den Kopf ein.
„Also, Svenja absolviert eine Ausbildung zur Pferdewirtschaftsmeisterin … Klappe halten! … in einem Gestüt auf der anderen Elbseite in der Nähe von Torgau. Vor zwei Tagen war sie zur Nachtwache eingeteilt. Als sie morgens aufgewacht ist, herrschte ein ziemliches Chaos im Stall.“ Helena erzählte ausführlich. Von den frei laufenden Pferden über den herausgenommenen Handy Akku bis zu den Blutspuren und Schweifhaaren am Stalltor.
„Und es ist tatsächlich kein Pferd aus dem Stall verletzt?“, fragte Klaas.
„Nein. Definitiv nicht. Svenja hat sich alle Pferde genau angesehen. Außerdem hätte sie mit Sicherheit zusätzlichen Ärger bekommen, wenn jemand anderes eine Verletzung entdeckt hätte.“
Eberwein schaltete sich ein: „Warum hat sie von dem nächtlichen Chaos nichts mitbekommen? Sagtest du nicht, sie hätte Stallwache gehalten?“
„Gute Frage. Ihre Chefin behauptet, sie hätte gesoffen. Gabi jedoch ist sicher, dass ihre Nichte auf keinen Fall so verantwortungslos ist, sich während der Nachtwache volllaufen zu lassen.“
„Na gut, ein paar Pferde sind frei herumgelaufen. Ist doch keine Katastrophe. Was erwartest du jetzt von uns?“, fragte Klaas.
„Ein frisch gezapftes Sieben-Minuten-Pils!“, warf der Doktor mit erhobenem Zeigefinger ein.
Helena schüttelte den Kopf. „Könnt ihr Kindsköpfe bitte einmal ernst sein? Ich erwarte, dass wir die Sache aufklären. Immerhin wird Svenja mit Kündigung gedroht. Das wäre für sie katastrophal. Niemand anderes würde sie nach so einer Geschichte noch einstellen, geschweige denn, ihr ermöglichen, die Ausbildung zu beenden.
Irgendwer hat dort im Stall eine gut geplante Aktion abgezogen. Svenja wurde außer Gefecht gesetzt, mit K.O. Tropfen oder wie auch immer. Die Pferde wurden freigelassen. Teure Pferde. Das sind Tatsachen. Wir sollten herausfinden, was und wer dahinter steckt, bevor Schlimmeres passiert.“
„Alles unterhalb von Mord finde ich langweilig. Ich könnte jetzt fragen, warum ihr nicht zur Polizei geht,“ meinte Eberwein und Klaas grinste, denn er kannte die Antwort. Ihre Erfahrungen mit der hiesigen Polizei waren nicht pauschal schlecht. Allerdings hatten sie in den Wirren um das Skelett im Harnisch immer wieder mit Kommissar Rütter zu tun (siehe „Elbgold“). Und dieser Polizist war in der Tat keine Zierde seiner Zunft.
Helena verdrehte die Augen und Klaas wusste, warum. Er kannte die Reibereien zwischen ihr und Stefan Rütter aus Jugendzeiten.
„Svenja hat natürlich in Erwägung gezogen, zur Polizei zu gehen. Aber was hätte sie anzeigen sollen? Dass ein paar Pferde frei herumliefen? Dass Schweifhaare am Stalltor hingen? Hätte doch niemand ernst genommen.“
Eberwein nickte nachdenklich. „Kann es sein, dass jemand einem der Pferde oder sogar allen schaden wollte? Da kursieren diese perfiden Pferderipper Geschichten.“
„Möglich. Oder es gibt ganz andere Motive, die sich uns bisher nicht eröffnen.“
„Das hast du aber schön gesagt.“ Klaas hatte immer noch Schwierigkeiten, ernst zu bleiben.
Eberwein dozierte in der für ihn typischen Art: „Meine Kenntnisse bezüglich Equiden ist marginal. Jedenfalls von solchen in vitaler Erscheinungsform. Wir benötigen diese Auszubildende für die Darstellung detaillierter Sachverhalte.“
„Kein Problem, sie ist vom Dienst suspendiert und kommt heut Abend vorbei. Ich wollte vorher nur mit euch klären, ob ihr mitmacht.“
„Mitmacht?“
„Ja, mitmacht. Denn ich helfe ihr auf jeden Fall. Schon wegen Gabi und Mädchenfreundschaft und so.“
„Also ich bin dabei, wenn ich meinen Humor behalten darf. Der Elberadweg kann warten. Vorausgesetzt, der Teenager missbraucht uns nicht, um eine nächtliche Stallparty unter Azubis zu vertuschen.“
Eberwein stimmte ebenfalls zu. „Mir war die letzten Wochen eine MÜ zu langweilig. Irgendwie hatte ich mich an den Trubel in dieser Gaststube und die Leute rund herum gewöhnt.“
Klaas klopfte ihm auf die Schulter: „Bravo, Doktor, das war fast ein normaler Satz.“
„Ich gebe mir Mühe, mich auf das Niveau meiner jeweiligen Gesprächspartner herabzulassen.“
Es klopfte an der inzwischen verschlossenen Kneipentür, Stöver spitzte die Schlappohren und Helena stand auf, um zu öffnen.
„Kommt ruhig rein, du hast doch nen Schlüssel.“
„Klar, nützt aber nichts, wenn deiner von innen steckt“ Gabi schob sich durch die Tür, gefolgt von einem schmalen Etwas mit wallender blonder, je nach Lichteinfall verhalten ins rötliche tendierenden Mähne. Das Mädchen trug braune Reithosen, Flipflops und ein zu großes hellblaues T-Shirt.
Klaas zuckte innerlich zusammen. So musste Helena als Teenager ausgesehen haben, durchfuhr es ihn. Eine Spur kräftiger vielleicht, aber zwischen den Locken blitzten dieselben lachenden Augen hindurch.
Er stand auf, um die Neuzugänge zu begrüßen, und Eberwein tat es ihm nach. Gabi fiel den beiden Männer als gute Bekannte nacheinander um den Hals und vergab Bussis, was Helena einen schrägen Blick entlockte und Eberwein rot anlaufen ließ.
Das Mädchen mit der Mähne und den Sommersprossen trat reservierter auf. „Hallo. Ich bin Svenja“, sagte sie kaum vernehmlich und Klaas hielt ihre Hand einen Moment zu lange, so gefangen war er von der Ähnlichkeit zu Helena.
„Klaas“, antwortete er und ließ die Hand erst los, als Helena ihm auf den Fuß trat.
„Nun übertreibt es nicht gleich mit den Begrüßungsritualen. Setzt euch lieber. Wer möchte etwas anderes als Bier?“ Helena stupste Klaas mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete grinsend zur Theke. Dieser äffte ihr Gegrinse nach und marschierte zum Zapfhahn.
Später saßen sie mit Bier, Svenja mit Cola versorgt am Tisch und das Mädchen schilderte mit leiser, belegter Stimme die ganze Begebenheit von Anfang an. Stöver saß derweil neben ihr und hatte seinen Kopf auf ihrem Knie abgelegt. Sie endete mit den Sätzen: „Ich bin dann rüber ins Büro von der Bartenstein. Die hat mir lang und breit erklärt, warum sie mich vom Dienst freistellen müsse. Die Sorge der Einstaller um ihre Pferde und so weiter. Ich habe beteuert, dass ich nichts getrunken hatte, also keinen Alkohol. Sie hat mich lange angesehen und ich hatte sogar den Eindruck, sie glaubt mir. Aber trotzdem, ich darf die Stallungen erst einmal nicht betreten. Am wildesten hat sich wohl Olufsen bei ihr aufgeführt, dem die zwei teuersten Pferde im Stall gehören.“ Während der Schilderung erkannte Klaas, dass dieses Mädchen innerlich nicht halb so ruhig war, wie es sich nach außen gab. Svenja fühlte sich zutiefst ungerecht behandelt und hatte Wut im Bauch.
„Was ist dieser Olufsen für ein Typ?“, fragte Klaas.
„Ein unangenehmer. Meckert, hat Kohle und seine Finger nicht unter Kontrolle.“
Klaas nickte. „Na sauber. Hat der was gegen dich?“
„Wie man es nimmt: Ich lass mich nicht angrabschen. Das gilt für die anderen Mädchen aber genauso. Jedenfalls hat Arschloch Olufsen meinen sofortigen Rauswurf gefordert.“
Der Doktor mischte sich ein: „Kannst du dir vorstellen, junge Dame, was in der Nacht passiert ist?“ Stöver saß jetzt bei ihm und ließ sich hinter den Ohren kraulen.
„Ne, keinen Schimmer. Die jungen Leute auf dem Gestüt machen zwar ne Menge Blödsinn, aber so was … nein, bestimmt nicht.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Und rede nicht so geschwollen mit mir.“
Eberwein schmunzelte, ließ sich aber nicht irritieren. „Wer sind diese, wie du sagst, jungen Leute?“
„Na die Lehrlinge. Wir sind jeweils zu dritt im ersten, zweiten und dritten Lehrjahr, die alle auf den Hof wohnen. Zwei Kerle und mit mir sieben Mädchen.“
„Wer hat sonst noch Zutritt zum Stall? Nachts meine ich?“, fragte Klaas.
„Es gibt zwei ältere Stallknechte, die auf dem Hof ihre Wohnungen haben. Die Bereiter wohnen außerhalb, haben aber alle einen Schlüssel für die Hoftore. Die passen auch zu den kleinen Schlupftoren für Fußgänger und zu den Weiden. Ich kann mir aber wirklich nicht vorstellen, dass einer von denen so einen Quatsch macht.“
„Hat jemand von den Angestellten Stress mit der Chefin?“
„Nein, glaube ich nicht. Außer den kleinen Reibereien bei der täglichen Arbeit. Die Bartenstein ist ganz schön pingelig. Das nervt schon mal. Aber die Pferdebesitzer erwarten, dass alles picobello ist, und haben natürlich immer recht. Kostet ja auch genug.“ Sie schenkte sich aus der großen Colaflasche nach, die Helena der Einfachheit halber vor sie hingestellt hatte. „Trotzdem, die Leute arbeiten schon gern dort. Als letztes Jahr Gerüchte gingen, das Gestüt sollte geschlossen werden, waren jedenfalls alle froh, dass dank der Bartenstein alles weiter geht wie bisher.“
„Warum gab es diese Gerüchte?“
„Ach angeblich wollte jemand das Gelände kaufen, um irgend so ein Wellnessding da hinzusetzen.“ Sie blies sich eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht.
Eberwein wechselte das Thema: „Es war die Rede von Blut und Pferdehaaren?“
„Schweifhaaren.“ Svenja langte in die Innentasche ihrer Weste und zog ein Papiertaschentuch mit dunkelroten, beinahe schwarzen Flecken und ein paar zusammengerollte, kräftige schwarze Haare hervor.
„Zu welchem Pferd könnten die gehören?“
„Gute Frage, alter Mann. Im Stutenstall stehen zwei Schimmel- und zwei Fuchsstuten, die scheiden aus. Bleiben acht übrig. Dazu mindestens fünfzehn weitere mit schwarzen Schweifhaaren aus den anderen Ställen des Gestüts.“
„Wir sind keine Fachleute, junges Mädchen, deswegen musst du uns aufklären: Im Stutenstall stehen sicherlich Zuchtstuten, die Fohlen bekommen sollen. Logisch. Weshalb befinden sich die anderen Pferde auf der Anlage?“
Svenja schluckte die Retourkutsche auf den „alten Mann“ kommentarlos. „Es gibt zwei Deckhengste, die einen Stall für sich haben. Dann im Pensionsstall etwa dreißig Reitpferde von Leuten, die Stallmiete zahlen und die Reitanlage nutzen. Die haben natürlich ebenfalls Schlüssel zu den Hoftoren. Dann stehen von Frau von Bartenstein vier private Pferde dort. Und es gibt Herden mit Ein- und Zweijährigen. Die stehen auf der Sommerweide, kommen erst im Winter wieder rein. Das war es dann.“
„Also haben mindestens vierzig Leute Schlüssel zur Anlage“, resümierte Klaas. „Wahrscheinlich mehr. Und fast jeder von denen hat vermutlich Angehörige, die jederzeit an die Schlüssel kommen. Bringt uns das weiter?“
„Da ist ja noch die Sache mit dem Blut“, erinnerte Svenja, „da lief ordentlich was am Stalltor hinunter. Das war nicht nur von einer kleinen Schramme. Wer immer da hängen geblieben ist, der muss sich richtig wehgetan haben. Wenn ein Pferd vom Hof eine so schwere Wunde hätte, wäre das mit Sicherheit aufgefallen und hätte sich bis zu mir rumgesprochen. Es war an dem Tag auch kein Tierarzt auf dem Hof.“
„Wer weiß, ob das Blut überhaupt von einem Pferd ist“, meinte Helena nachdenklich und sah Klaas an: „Du bist der Kriminalist. Nun sprich, was wir unternehmen können.“
Gabi hielt sich aus der Diskussion komplett heraus. Jeder sah ihr an, dass sie sich Sorgen um ihre Nichte machte und deshalb erfreut über die Unterstützung war. Klaas hatte es sich auf der Eckbank bequem gemacht. Nun richtete er sich auf und legte die Arme auf den Tisch. „Ich würde mich auf dem Gelände gern umsehen. Aber als Fremder falle ich da sicherlich auf …“
„Nein, überhaupt nicht“, fiel Svenja ihm ins Wort und ihre Stimme erklang inzwischen eine Nuance kräftiger. „Es finden täglich Führungen für Touristen statt, für die sich jeder anmelden kann. Die Zeiten bekomme ich heraus, kein Problem.“
„Das passt ja für mich als Elberadwegtouristen.“
Eberwein hob den Finger wie in der Schule. „Ich komme mit. Pferde sind schließlich Kulturgüter. Aber erst warten wir die Auswertung der DNA Proben von Blut und Haaren ab.“
„Gleich das große Besteck? Okay, du kümmerst dich darum? Hast ja deine Verbindungen. Oder soll ich Seilschaften sagen?“ Damit meinte Klaas Eberweins Zusammenarbeit mit dem LKA und der Möglichkeit, dort jederzeit ohne eine besondere Begründung DNA Proben analysieren zu lassen. „Allerdings brauchen wir dazu Haare aller Pferde aus dem besagten Stall.“
„Kein Problem, die besorge ich“, sagte Svenja, der es sichtlich besser ging. Ihre Wut im Bauch war nicht verraucht. Aber die Gefahr der jederzeitigen Explosion schien sich abzuschwächen.
Klaas war einverstanden. Seine Zweifel bezüglich der Stallparty unter Lehrlingen waren inzwischen ausgeräumt. Und Eberwein ging es anscheinend ebenso.
Zwei Tage lang passierte nichts. Auch nicht in der Koje der Minna, Klaas՚ Wohnmobil. Einfach, weil in der Gastwirtschaft direkt am Elberadweg jeden Abend ein so enormer Andrang herrschte, dass Helena die Gaststube trotz der Hilfe von Klaas erst weit nach Mitternacht dicht machte und dementsprechend erledigt war. Er genoss die Spannung, die daraus wuchs und erfreute sich am sorgenfreien Leben zwischen Elbwiesen und Zapfhahn, Stöver und Helena.
Nur bei dem Gedanken an Svenja und das Blut am Stalltor meldete sich eine verhaltene Unruhe, eine Vorahnung. Dieses Gefühl, dass er aus seiner aktiven Tätigkeit bei der Hamburger Kriminalpolizei nur zu gut kannte: Etwas braute sich zusammen. Fälle, die banal begannen, peu a peu Fahrt aufnahmen, bis der Lauf der Ereignisse förmlich detonierte. Wie ein Gewitter, dass sich stundenlang hinter dem Horizont verdichtet und dann mit aller Macht losbricht. Oder wie ein Schwelbrand, der durch plötzliche Sauerstoffzufuhr zu einem Feuersturm auflodert.
Eberwein hatte diese zwei Tage nichts von sich hören lassen, bis er die Ergebnisse der DNA Proben brachte.
Er machte es spannend. Erst am Abend, wenn sie in der Klause zusammensaßen, wollte er mit dem Befund herausrücken. Und dann war es soweit: Svenja saß angespannt am Tisch, ihre Tante Gabi schien wieder äußerlich unbeteiligt, Helena verbarg ihre Neugier nicht.
Eberwein gab den Oberlehrer: „Also, dass Ergebnis der Analyse der DNA Proben aus dem Stutenstall des Gestü …“
„Doktorchen! Komm auf den Punkt. Wir wissen, woher die Proben sind.“ Klaas lächelte ihn nachsichtig an.
Eberwein räusperte sich mit einem unwilligen Seitenblick und fuhr bedächtig und akzentuiert fort: „… des Gestüts liegt nun vor. Dabei half uns ein glücklicher Zufall: Die interessantesten Details kamen nur deshalb zutage, weil die bearbeitende Laborantin Pferdenärrin ist und Zugang zu DNA Datenbanken der Pferdezuchtverbände hat.“
Während einer künstlerischen Pause genoss er die ungeduldigen Mienen seiner Zuhörer.
„Die Pferdehaare deuten auf eine enge Verwandtschaft zu acht anderen Pferden hin …“
„Das kann nicht sein!“, unterbrach Svenja ihn. „Von den Stuten im Stall sind meines Wissens keine direkt miteinander verwandt.“
„Könnte die heranwachsende Dame mich bitte ausreden lassen?“ Eberwein räusperte sich abermals. „Diese anderen Pferde leben in ganz Deutschland verteilt, zwei davon sogar in Polen.“ Er legte erneut eine dramaturgisch wirksame Pause ein und blickte triumphierend in die Runde.
„Das ist aber noch nicht alles. Diese neun Pferde, deren Erbgut sich ähnlich ist, haben eine Gemeinsamkeit: Sie führen altes Trakehnerblut in sich.“
Allseitiges Gemurmel kam auf, denn auch Laien konnten etwas mit Trakehnern anfangen, jener traditionellen ostpreußischen Pferderasse. Eberwein klopfte mit demselben Salzstreuer, der schon einmal für eine denkwürdige Demonstration herhalten musste (siehe „Elbgold“), energisch auf den Tisch. „Ruhe bitte!“
Das Gemurmel verstummte.
„Das unbekannte Pferd, dessen Schweifhaare die junge blonde Dame am Stalltor gefunden hat, ist erstens männlich und hat zweitens von allen das engste Verwandtschaftsverhältnis zu diesem alten Trakehnerschlag.“
Klaas fragte: „Du betonst das Wort „alt“ so besonders?“
„Laut der exzellent arbeitenden Laborantin sind die heutigen Trakehnerlinien teilweise durch die Einkreuzung externer Hengste, also Hengste anderer Rassen, aufgefrischt worden. Diese Gene fehlen in der Probe.“
„Seltsam“, warf Svenja nachdenklich ein. „Die meisten Pferde im Stall sind sächsische Warmblüter. Zur Veredelung wurden immer mal wieder Vollblüter und seit der Wende auch Hannoveraner und Holsteiner eingekreuzt. Von Trakehnern weiß ich nichts. Und die heranwachsende Dame heißt übrigens Svenja!“
„Altes Trakehnerblut“ wiederholte Eberwein nachdrücklich, setzte sich und beschäftigte sich mit seinem Bierkrug, als ginge ihn die weitere Diskussion nichts mehr an.
Klaas’ Blick wanderte zum Fenster. Die Welt hatte ihre Farben verloren. Vor dem Haus parkten nebeneinander zwei hochbeinige Oldtimer aus den Zwanzigerjahren, ein Herr mit schmalem Oberlippenbart in dunklem Gehrock und Zylinder stand zwischen den Wagen. Die Szene aus Autos, Mensch und Landschaft erinnerten an altertümliche Fotos mit dieser weichen bräunlichen Sepia-Note. Ein schwarzes Pferd mit glänzendem Fell kam von der Elbe, auf der die Fähre fehlte, heraufgaloppiert und sogar Klaas als Laie wusste, dass es ein besonders wertvolles Pferd war. Groß und kraftvoll, gleichzeitig elegant, mit schwungvollen Bewegungen, als berührten die Hufe kaum den Boden, bevor sie schon wieder abfederten. Auf dem Rasen vor der Elbklause verharrte das imposante Tier, schlug mehrmals mit dem Kopf auf und ab, ließ die lange Mähne fliegen und ein weißer Stern blitzte auf der Stirn. Der Hengst stieg hoch auf und drehte sich, auf der Hinterhand stehend, in einer fließenden Bewegung. Dann war er mit zwei Galoppsprüngen am Gartenzaun und flog mit einem eleganten, scheinbar mühelosem Satz darüber hinweg.
„Klaas? Hallo?“ Helena hatte ihn mit dem Ellenbogen angestoßen und er schreckte hoch. Sie trug heute hellblau, wundervoll passend zu ihrem gebräunten Teint. Das prachtvolle Pferd war verschwunden und die Welt wieder farbig. Diese idiotischen Visionen aus der Vergangenheit. Ähnliches war ihm mehrmals passiert, als er zu den mittelalterlichen Ereignissen um Wilfried, das Skelett im Harnisch, recherchiert hatte (siehe „Elbgold“). Bis heute hatte er keine Erklärung für diese unheimlich realistischen Abbildungen der Vergangenheit, die wie Videos in seinem Kopf abliefen. Über eines war er sich sicher: die Visionen beruhten auf Tatsachen. Er hatte sich bisher nicht getraut, mit jemandem darüber zu reden, so verrückt war die Sache. Und jetzt waren sie wieder da, wegen eines blöden Gauls, und bestätigten seine Vorahnungen: Irgendetwas war im Busch.
Am nächsten Morgen, nach Bratkartoffeln mit Spiegelei in der Elbklause, machten sich die beiden reisefertig. Klaas bewaffnete sich mit seiner Kamera, Eberwein mit einem altmodischen Diktiergerät.
Dann traten sie hinaus auf den Parkplatz und Klaas stoppte in der Bewegung, als wäre er vor eine Wand gelaufen. „Das ist nicht dein Ernst!“, rief er beim Anblick des kleinen, eckigen Fahrzeugs vor der Tür. Diesen Trabant in schlüferblau hatte er schon einmal gesehen: bei Eberwein im Schuppen. Damals war er eingestaubt und abgemeldet gewesen. Jetzt war er blitzeblank geputzt und hatte frische Kennzeichen.
Eberwein grinste. „Da staunst du, was? Nach unseren Abenteuern war ich der Meinung, ein wenig Restmobilität wäre meiner Lebensqualität zuträglich.“
„Aber warum nicht mit einem Auto?“
„Na na! Beleidige meine Pappe nicht!“
Sie quetschten sich in die Duroplast-Karosse, der Doktor startete den Zweitakter und gab Gas. Knatternd und hustend rollte das Gefährt vom Hof. „Ich werde noch ein paar Turnschuhe auf die Hutablage legen, dann ist es eine Sportausführung“, murmelte er vor sich hin.
Klaas raufte sich die Haare. „Och ne, der älteste Trabbi Witz überhaupt. Und Turnschuhe heißen jetzt Sneakers. Mach mal die Klimaanlage an“, und Eberwein kurbelte ein Fenster herunter. Der Zweitakter röhrte mit knappen achtzig über die Landstraße, aber immerhin wehte eine frische Brise durch den Fahrgastraum.
Unterwegs hatte Klaas Gelegenheit zu einer Frage, an der er seit Tagen herum kaute: „Doktor, woher kann eure Laborantin wissen, dass das Pferd zu den ominösen Schweifhaaren so nah mit Trakehnern verwandt ist? Haben die beim LKA Original DNA von Trakehner Pferden aus alten Zeiten?“
„Nein, das nicht. Ich hab es mir erklären lassen. Es kommt vor, dass ein und derselbe Vererber in den Verzweigungen der Ahnenreihe eines Pferdes mehrmals vorkommt. Zum Beispiel als Großvater, Onkel, Urgroßvater und so weiter. So kann man die Enge der Verwandtschaft klassifizieren. Reine Statistik also.“
„Sagt das etwas Besonderes über die regionale Herkunft eines Pferdes aus?“
„Manchmal schon. Anderseits geht beispielsweise die gesamte weltweite Vollblutzucht auf nur drei Stammväter zurück, die arabischen Blüter auf nur fünf Stuten, habe ich mir erklären lassen. Die sind erwiesenermaßen alle miteinander verwandt. In der Reitpferdezucht in den letzten hundert Jahren wurden ebenfalls die besonders beliebten oder hoch angesehenen Linien immer wieder ingezüchtet. Ähnlich wie bei vielen Hunderassen.“
Klaas griff, einer Eingebung nachgebend, zum Telefon und wählte Helena an. „Klaas hier. Ich weiß noch nicht, wozu das gut ist, aber frag bitte Svenja, ob sie, vielleicht über ihre Mitlehrlinge, die Möglichkeit hat, die Abstammungen der Pferde aus dem Stutenstall und der beiden Deckhengste zu besorgen. Ahnentafeln oder Zuchtnachweise, verstehst du?“
Sie durchquerten Torgau, hielten wie gewöhnlich an jeder Ampel, der Doktor schaltete fleißig mit Zwischengas und schließlich tuckerten sie über die Elbbrücke. Eine Viertelstunde später erreichten sie das Gestüt, von dem sie fürs Erste nur eine mannshohe Ziegelmauer erblickten.
Gegenüber eines den Eingang umspannenden Torbogens bogen sie auf den Besucherparkplatz ein und hielten direkt unter einem ausladenden Schild mit dem Namen des Gestüts. Doktor Eberwein verschloss umständlich den Trabi, dann schritten sie durch das Tor und, entlang einer mit Kastanien gesäumten Allee, auf das Gestütsgelände.
Der erste Eindruck war der eines stattlichen gepflegten Gutshofs mit Stallungen, Wirtschaftsgebäuden und, am Ende der Allee, einem imposanten Herrenhaus aus der guten alten Zeit. Zu drei Seiten umschlossen weitläufige, durch kleine Tore in der Ziegelmauer erreichbare Weideflächen den Hof.
Unterwegs verschaffte Klaas sich einen Überblick über ungewollte Zutrittsmöglichkeiten zu den Stallungen. Die Mauer war kein großes Hindernis. Wer nicht gerade Hochleistungssportler war, benötigte aber zumindest eine kurze Leiter oder etwas Ähnliches, um sie zu überwinden. Und natürlich genauso, um das Gelände auf demselben Wege wieder zu verlassen. Das Haupttor sowie die kleineren Tore zu den Weiden bestanden aus solider, schmiedeeiserner Handarbeit, ebenso hoch wie die Mauer und oben mit pfeilspitzenartigen Enden verziert. Eine zerrissene Hose beim darüber klettern war vorprogrammiert, wenn nicht Schlimmeres. Klaas schmunzelte.
„Worüber amüsierst du dich?“, fragte Eberwein.
„Ich überlege, welche Möglichkeiten Unbefugte haben, das Gestütsgelände heimlich zu betreten und dachte an die Schäden, die ein Überwinden der spitzenbesetzten Hoftore verursachen könnte.“
„Autsch!“ Eberwein lachte ebenfalls. „Aber besonders schwer ist es nicht. Außerdem wäre ja jeder schwachsinnig, der die Tore riskiert, statt einfach über die Mauer zu klettern …“
„… was ohne Hilfsmittel schwer, aber möglich ist“, ergänzte Klaas. „So viel steht schon mal fest: Hier kann jeder rein und raus, die Überprüfung derer, die einen Schlüssel zur Anlage haben, können wir uns sparen.“
„Ja, leider. Oder zum Glück. Wie man’s nimmt. Dort, vor dem Stalltor stehen ein paar Leute. Das werden die Teilnehmer der Führung sein.“
Eberwein hatte recht. Sie wurden von einem freundlich dreinblickenden Mann jenseits der sechzig mit braun gebranntem tief gefurchten Gesicht begrüßt. Außer ihnen warteten etwa ein Dutzend Personen aller Altersgruppen auf den Beginn der Führung und vom Haupttor her näherten sich fünf weitere. Klaas nickte zufrieden. Je mehr Menschen teilnahmen, desto weniger Aufmerksamkeit fiel dem Einzelnen zu.
Der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht trat einen Schritt zurück und sagte: „Ich begrüße Sie im Namen der Leiterin, Frau von Bartenstein, auf dem Gestüt. Mein Name ist Herbert Adelwandsberger. Bevor Sie sich die Zunge brechen, sagen Sie einfach Herbert. Ehe wir beginnen, habe ich drei Bitten an Sie. Erstens: Füttern sie keine Pferde. Viele Besitzer mögen das nicht und Pferde haben, entgegen geläufiger Meinung, eine empfindliche Verdauung. Zweitens: Strecken sie Ihre Hände nicht zwischen den Gitterstäben hindurch: Ein Finger ist schnell abgebissen. Und als Letztes: Bitte bleiben Sie bei mir und erkunden die Anlagen nicht auf eigene Faust.“
Herbert drehte sich um und trat in die Stallgasse. „In diesem Stall stehen private Reitpferde …“ Klaas blickte in leere Boxen, „… welche zu dieser Jahreszeit natürlich tagsüber auf der Koppel herum laufen.“ Die Stallungen waren alt, mindestens hundert Jahre, schätzte Klaas, aber in hervorragenden Erhaltungszustand. Wuchtige Boxentüren an schmiedeeisernen verschnörkelten, in dunkelgrün dekorativ gepinselten Säulen. Alle Fenster standen offen und luden zum Einsteigen ein, denn sie waren in einer Höhe angebracht, in der Pferde bequem die Köpfe hinausstrecken konnten.
Herbert redete und redete. Sie verließen den Privatstall und wanderten, vorbei an einem von Mauern eingefassten Misthaufen, zum nächsten Gebäude. Ein grauhaariger Mann mit aufgedunsenem Gesicht schob langsam und schlurfend eine Schubkarre mit Pferdemist an ihnen vorbei, ohne aufzublicken oder in irgend einer Weise Notiz von der Gruppe zu nehmen. Klaas drehte sich um und hatte das Gefühl, einem zutiefst unglücklichen Menschen hinterherzusehen.
Eberwein bemerkte seinen Blick und meinte: „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, ein dem Alkohol verfallenes Individuum ansichtig zu sein.“
„Mensch Doktor, so geschwollen hast du lange nicht mehr geredet.“
„Bisweilen vergesse ich eben, dass der Umgang mit euch meine Ausdrucksweise ruiniert, und besinne mich auf meine humanistischen Bildungsideale.“
„Dann hoffe ich, dass dieser Anfall schnell vorübergeht. Und jetzt lunsche mal vorsichtig zum Misthaufen.“
Eberwein drehte sich in mehreren Schritten einmal um sich selbst, als wolle er das ganze Panorama der historischen Stallungen erfassen, und sagte: „Du hast recht, ganz so teilnahmslos ist der Bursche nicht.“
Der Bursche, wie Eberwein ihn nannte, hatte die Schubkarre abgesetzt und aufmerksam hinter ihnen her gesehen, dabei jeden Teilnehmer der Führung musternd, bevor er die Holme der Karre wieder aufnahm und sie in uneifrigem Tempo und mit gesenktem Kopf weiterschob.
„Merkwürdiger Kerl“, meinte Klaas. „Dieser Wechsel zwischen Teilnahmslosigkeit und hellwacher Aufmerksamkeit.“
„Und jetzt betreten wir den Stutenstall“, gab Herbert bekannt und blieb nach wenigen Metern auf der Stallgasse stehen. „Hier sind nur Stuten untergebracht, die ein Fohlen erwarten oder dem Hengst zur Bedeckung zugeführt werden sollen.“
„Der redet genauso geschwollen wie du“, flüsterte Klaas dem Doktor ins Ohr und laut fragte er: „Welchem Hengst? Ersetzt nicht heutzutage der Tierarzt meistens den Hengst?“
Ein paar Frauen in der Runde glucksten verhalten und Herbert schulmeisterte: „Meine Damen, es geht nicht um den Weg, sondern um das Ziel. Die Stuten sollen möglichst zuverlässig tragend werden.“
Mehreren der Angesprochenen war anzusehen, dass sie am liebsten Widerspruch eingelegt hätten, eine ältere Frau hatte schon den Mund geöffnet, wurde von ihrem Mann jedoch derbe angestoßen und verschluckte eine Bemerkung.
Klaas fragte: „Diese bunten Schilder an den Boxen, was hat es damit auf sich?“ Er deutete auf eine kleine grüne Tafel an der Boxentür vor ihm.
„Grün bedeutet: Die Stute ist tragend. Gelb: Der Hengst, oder von mir aus der Tierarzt, war da, der Erfolg ist aber noch nicht festgestellt, Rot bedeutet: nicht tragend.“
Klaas musterte die Schilder. Von den etwa zwanzig Boxen waren gerade einmal zwei mit grün markiert, weitere zwei mit Gelb, an der Mehrzahl der Boxen hingen rote Schilder.
„Der hiesige Tierarzt ist wohl nicht sonderlich fruchtbar“, meinte Eberwein leichthin und die Besitzer grinsender Gesichter setzten sich wieder in Bewegung.
Der kurze Aufenthalt der Reisegruppe hatte Klaas Gelegenheit gegeben, das Stalltor genauer zu inspizieren. Es war blitzblank gescheuert und wenn jemals Blut daran heruntergelaufen war, so hatte jemand es gründlich entfernt. Klaas versuchte sich vorstellen, wie ein vorbeistürmendes Pferd mit dem Hüftknochen den Riegel touchierte und lahmend weiterlief.
Er drehte sich um und sah im Geist ein Pferd nach dem anderen an ihm vorbei ins Freie galoppieren, aber diesmal war es keine seiner seltsamen Visionen, sondern das Bestreben, die Situation nachzuvollziehen.
Herbert führte die Gruppe weiter durch die Stallgasse. Auch hier bestimmten geschmiedete Gitter an opulent verzierten gusseisernen Pfosten das Bild, nur die eingehängten Hartholzwände waren neu. Die Boxentüren waren mit jeweils zwei Riegeln, jeder von ihnen mit zusätzlicher Sicherung, verschlossen. Auch diese Stallgasse war blitzblank geputzt. Nichts erinnerte an das von Svenja geschilderte Chaos.
„Sattelkammer“, „Futterkammer“, „Aufenthaltsraum“. Alle Türen am Ende der Stallgasse waren beschriftet und Klaas überlegte flüchtig, wofür eine Sattelkammer im Stutenstall diente. Die Tür zum Aufenthaltsraum stand offen und er warf einen kurzen Blick auf Spinde, Stühle, einen Tisch und ein Feldbett.
„Unergiebig“, sagte Eberwein und Klaas wusste, was er meinte. Die Führung brachte sie bezüglich Svenjas Problem nicht weiter und war darüber hinaus langweilig.
Nach drei weiteren Stallungen, einer Reithalle und vorbei an einem kreisförmigen Gehege namens, wie Herbert erklärte, Roundpen, gelangten sie zum Herrenhaus.