Elchtest für das Weihnachtsfest - Annette Herzog - E-Book

Elchtest für das Weihnachtsfest E-Book

Annette Herzog

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Beschreibung

Weihnachtsurlaub in Norwegen, und es könnte alles so schön sein: wilde Schneeballschlachten bis zum Umfallen, gemütlich faulenzen vor dem knisternden Kaminfeuer und in der Vorratskammer traditionellen Reisbrei aufstellen für die Wichtelmänner … Doch die Zwillinge Anna und Bella haben alle Hände voll zu tun, den wackeligen Familienfrieden zu wahren, die schwerverliebte Tante samt Cousine im Zaum zu halten und ihren elchbegeisterten Vater auf der Pirsch vor Pannen zu bewahren. Na dann, frohes Fest!

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Seitenzahl: 234

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Annette Herzog

Elchtest für das Weihnachtsfest

Mit Illustrationen von Stefanie Scharnberg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage 2016

© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag- und Innenillustrationen: Stefanie Scharnberg

Umschlaggestaltung: Susanne Ulhorn

MI · Herstellung: TG

Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-19377-5V001www.cbt-buecher.de

Hallo, wir sind Anna und Bella. Eigentlich wollten wir diese Geschichte zusammen aufschreiben, aber das ging nicht. Wir haben uns immerzu darüber gestritten, was wichtig ist und was nicht. Anna glaubt, dass sie soooo viel schlauer ist und deshalb alles bestimmen darf. Bei jedem Fehler von mir hat sie sich aufgeregt, vor allem wegen der Kommas. Wir sind zwar Zwillinge, aber im Gegensatz zu mir ist Anna furchtbar penibel. Sie schreibt so langsam, dass sie mich wahnsinnig macht. Wir wären NIEMALS fertig geworden, jedenfalls nicht vor Weihnachten. Und das hier ist ja eine Weihnachtsgeschichte, deshalb sollt ihr sie auch pünktlich zu Weihnachten haben. Sonst ergibt das ja keinen Sinn.

Ich hatte dann die gute Idee, dass wir die Geschichte abwechselnd erzählen. Das ist auch viel gerechter, denn Bella wollte immer nur schlechte Sachen über MICH schreiben und nie über sich selbst. Sie wollte auch alles löschen, was von Thomas Müllermann handelt, in den sie heimlich verknallt ist (übrigens immer noch).

Erst wollte Bella nicht. Sie sagt immer erst mal NEIN, wenn eine Idee von mir kommt. Aber als ich ihr klargemacht habe, dass es nur halb so lange dauert, wenn wir uns die Arbeit teilen, hat sie sich überreden lassen. Bella ist nämlich ziemlich faul. Aber es war dann IHR Vorschlag, dass wir jede vierundzwanzig Mal dran sind. Sie sagt, dann kann man die Geschichte wie einen Adventskalender lesen, wenn man will.

Diese Idee fanden wir dann beide gut. Manchmal sind wir uns nämlich auch einig. Also dann: viel Spaß und frohe Weihnachten!

»Hast du eigentlich deine Schuhe geputzt?«

Anna klappt ihr Buch zu. Ihre Zwillingsschwester Bella, die im Doppelstockbett über ihr liegt, hat schon vor einer ganzen Weile das Licht ausgemacht. Es ist der fünfte Dezember, der Abend vor Nikolaus, und eigentlich hatte Anna sich vorgenommen, ihre Schwester nicht daran zu erinnern. Sie wollte einfach mal sehen, was passiert, wenn sie es nicht tut. Ob Bella es tatsächlich vergisst, und ob ihre Stiefel in diesem Fall wirklich leer bleiben, so wie Papa es immer behauptet. Aber nun tut es ihr auf einmal doch leid. Außerdem hat sie Angst, dass Bella am Ende ihre Süßigkeiten klaut, wenn sie selbst keine bekommt.

»Und warum sagst du das erst jetzt? Das war mit Absicht, gib’s zu!« Bella klettert die Leiter hinunter und schießt wie der weiße Blitz in den Flur.

Typisch. Bella hat zwar einen großen Mund, aber das Wort Danke kommt selten daraus hervor. Aber macht nichts, Anna hat sich daran gewöhnt. Genauso wie sie sich daran gewöhnt hat, im Prenzlauer Berg in Berlin zu wohnen, fünf Tage in der Woche früh um sieben Uhr aufzustehen, um zur Schule zu gehen, spätestens um neun das Licht ausmachen zu müssen, eine Brille zu tragen und keinen Hund haben zu dürfen. Manche Dinge sind halt so, wie sie sind, obwohl sie natürlich auch anders sein könnten.

Das heißt nicht, dass Anna nicht manchmal davon träumt, dass einiges anders sein könnte. Wie oft hat sie sich beispielsweise gewünscht, dass sie und Bella nicht zweieiige, sondern eineiige Zwillinge wären. Dann wäre Bella nicht so laut und nervig, sondern genauso wie sie. Dann könnten sie beste Freundinnen sein und sich alle Geheimnisse erzählen. Sie könnten viel mehr zusammen unternehmen. Sie könnten ihre Namen tauschen, alle an der Nase herumführen und sich hinterher schief- und krummlachen. Sie würden sich nicht ständig in die Haare geraten, und Mama und Papa bräuchten nicht immerzu meckern.

Anna schließt die Augen, sie will gern schlafen. Wo bleibt Bella so lange? Putzt sie die Schuhe der ganzen Familie? Das sieht ihr eigentlich nicht ähnlich …

Und als sie endlich wieder auftaucht, führt sie sich seltsam auf. Sie kommt auf Zehenspitzen angeschlichen, zieht leise die Tür hinter sich zu und kriecht zu Anna unter die Decke. Sie hat eiskalte Füße.

»Mach mal ein bisschen Platz«, fordert sie.

»Was ist denn los? Hast du ein Gespenst gesehen?«

»Schön wär’s.« Bella schüttelt ihre dicken roten Drahtbürstenlocken. »Mama und Papa wollen sich scheiden lassen!«, stößt sie hervor.

»Quatsch«, sagt Anna. »Du spinnst.«

Natürlich spinnt sie. Bella ist die geborene Dramaqueen, der man nie etwas glauben darf. Man muss mindestens fünfzig Prozent von allem abziehen, was sie erzählt, denn Bella übertreibt immer. Diesmal glaubt Anna ihr kein einziges Wort, auch nicht nach Abzug von hundert Prozent.

Aber Bella ist sich ganz sicher. »Doch!«, beharrt sie. »Ich stand doch vor der Wohnzimmertür und hab jedes Wort gehört.«

»Dann sag mal ganz genau, was sie gesagt haben. Ohne zu übertreiben.«

»Na dass sie sich trennen wollen! Du sollst zu Papa ziehen und ich zu Mama.«

»Wie? Sie sind schon dabei, uns aufzuteilen?«

»Na ja!«, schnieft Bella. »Das sag ich ja.«

Durch Annas Kopf wirbeln hundert Gedanken auf einmal, wie Flocken in einer Schneekugel. Scheidung? Das kann nicht wahr sein. Klar streiten sich Mama und Papa hin und wieder, aber kommt das nicht in jeder Familie vor? Auch Bella und sie streiten sich, reichlich sogar. Sie kloppen sich sogar und ziehen sich an den Haaren, und nicht selten tragen sie Kratzer und Beulen davon.

Trotzdem. Anna war sich immer sicher, dass Scheidung nur in anderen Familien vorkommt, aber doch nie im Leben bei ihnen!

»Du hast dich bestimmt verhört«, sagt sie. »Vielleicht haben sie einen Film gesehen, und du hast die Stimmen verwechselt.«

»Glaubst du, ich bin total bescheuert?«, faucht Bella. »Mama hat geweint! Papa hat gesagt, dass es ihm sehr leidtut, aber dass es sicher das Beste ist. Dann haben sie über eine neue Wohnung geredet, die eigentlich zu groß und ziemlich teuer ist. Bestimmt hat Mama kein Geld, wenn sie auseinanderziehen. Sie verdient ja nicht so viel wie Papa. Zum Schluss haben sie sich noch darauf geeinigt, dass Papa sich um dich kümmern soll und sie sich um mich.«

»Aber warum denn? Haben sie das auch gesagt?«

Bella schüttelt den Kopf.

»Und du bist wirklich ganz sicher?«

Anna liegt stumm da und weiß nicht, was schlimmer ist. Dass sich ihre Eltern trennen oder dass Mama sie so einfach abgeben will. Zieht sie Bella vor? Anna hat immer geglaubt, sie sei ihr heimlicher Liebling. Schließlich ist sie besser in der Schule als Bella und macht längst nicht so viel Dreck und Lärm.

Sie muss sich vorstellen, wie es sein würde, allein mit Papa zu leben. Ihr ist nach Weinen zumute. Nicht, weil sie ihn nicht mag, aber allein mit ihm? Ja, sie streitet sich oft mit Bella, aber deshalb will sie doch nicht ohne sie sein!

»Du machst dich viel zu breit«, sagt sie und schiebt Bella ein Stück von sich weg.

Nun bereut sie doch, dass sie ihre Schwester an das Schuheputzen erinnert hat. Es wäre besser gewesen, gar nichts zu wissen. Wie soll sie nun schlafen können?

Bella liegt mit offenen Augen neben ihrer Schwester und kann hören, dass auch Anna nicht schläft. Vielleicht hätte sie ihr nicht alles erzählen sollen. Dass Mama lieber Bella haben will, zum Beispiel. Sie hat sofort gemerkt, wie traurig Anna wurde. Bella versteht das. Sie sind ja fast rund um die Uhr zusammen und kennen sich gut, auch wenn sie sehr verschieden sind. Sie selbst ist auch enttäuscht darüber, dass Papa sie so einfach gehen lassen will. Sie dachte bisher immer, dass sie es sei, die Papa vorzog – wenn er jemanden vorzog.

Draußen fährt summend die Straßenbahn vorbei. Kurz darauf streiten sich zwei Betrunkene.

»Das wird ein beschissenes Weihnachten«, sagt Bella. »Unser letztes zusammen.«

Anna fährt auf. »Glaubst du wirklich?«

»Na klar. Hast du vergessen, was Jennifer und Isabel immer erzählen? Wie sie sich jedes Jahr zu Weihnachten zerreißen müssen? Erst sind sie bei dem einen, dann bei dem anderen, dann müssen sie das eine Paar Großeltern besuchen, dann das andere … Und bei Jennifer sind sogar die Großeltern geschieden und wollen Weihnachten nicht zusammen sein. Das wird dann bei uns genauso. Wenn ich zu Weihnachten Papa besuche, bist du bei Mama und umgekehrt. Der einzige Vorteil ist, dass man mehr Geschenke kriegt.«

Erst während sie das so sagt, begreift Bella selbst so richtig, was eine Trennung bedeutet. Nicht nur zu Weihnachten wird es so sein, sondern immer. Sie wird nie mehr richtig mit Anna zusammen sein. Vielleicht mit Ausnahme der Ferien.

»Du übertreibst«, sagt Anna. »Du übertreibst immer!«

»Gar nicht. Bei uns wird es sogar noch viel schlimmer, denn Mama will bestimmt nicht in Berlin wohnen bleiben. Du weißt genau, dass sie Großstädte hasst.«

»Meinst du, sie will wegziehen?«, fragt Anna fassungslos.

»Was denn sonst? Sie redet doch ständig davon, wie schön es wäre, auf dem Land zu wohnen.«

»Aber sie hat ihre Arbeit hier«, wendet Anna ein.

»Als Lehrerin kann man überall arbeiten. Das hat sie selbst oft genug gesagt.«

Einen Augenblick lang weiß Anna nichts zu erwidern, bis ihr etwas noch Schlimmeres einfällt: »Aber dann gehen wir ja nicht mal mehr in dieselbe Schule!«

»Sag ich ja.«

Anna lässt sich neben Bella auf ihr Kopfkissen zurückfallen. Mit weinerlicher Stimme sagt sie: »Aber Papa hat Mama doch gerade erst eine Espressomaschine zum Geburtstag gekauft.«

»Alles Tarnung«, sagt Bella.

»Glaubst du? Erst eine teure Espressomaschine und zwei Monate später Scheidung? So eine Verlogenheit!«

Bella nickt. Anna hat recht. Ihre Eltern sind ein verlogenes Pack.

»Dieses Weihnachtsfest versauen wir ihnen«, beschließt sie. »Von mir bekommen sie jedenfalls kein Geschenk.«

»Von mir auch nicht«, sagt Anna trotzig und fügt hinzu: »Das ist aber nicht genug.«

»Nein. Das habe ich auch gerade gedacht. Wir müssen uns noch etwas Besseres einfallen lassen. Etwas richtig schön Gemeines.«

»Wir brennen den Weihnachtsbaum ab«, schlägt Anna vor.

»Wir stopfen Brennnesseln in ihre Weihnachtsgans.«

»Oder wir schenken Papa einen Hund. Papa hasst Hunde.«

Bella kichert. »Einen, der schön oft kackt.«

Im selben Augenblick geht die Tür auf. Papa ist schon im Schlafanzug.

Hat er gelauscht?

»Sagt mal, wisst ihr nicht, wie spät es ist? Ihr müsst morgen in die Schule«, meckert er.

Bella beißt sich auf die Unterlippe. So sieht also der Mann aus, der Mama zum Heulen bringt und ihre Familie in die Luft sprengen will. Er traut sich sogar noch, in ihr Zimmer zu kommen. Wegen so einem dünnen Mann in so einem blöden gestreiften Schlafanzug würde Bella jedenfalls keine Träne vergießen!

»Es ist ja nicht unsere Schuld, wenn ihr euch so laut im Wohnzimmer streitet, dass man nicht schlafen kann«, entgegnet sie. Hoffentlich fühlt er sich wenigstens ertappt!

Papa verschlägt es tatsächlich einen Moment lang die Sprache. Er steht da wie ein steifer Regenwurm und scheint zu überlegen, was Anna und Bella gehört haben könnten.

»Wenn wir uns streiten, ist das in der Regel wegen euch.«

»Wieso?«, protestiert Bella. »Was haben wir denn nun wieder ausgefressen?«

Papa wehrt ab, natürlich fällt ihm nichts ein. Nichts Konkretes.

»Wenn ihr nicht immer ganz so viel Lärm machen und nicht ständig überall eure Sachen verteilen und stattdessen auch mal helfen würdet, wäre es in dieser Familie eher auszuhalten«, sagt er nur.

»Ach, wir sind wieder schuld an allem. Wie immer!«, sagt Bella. »Ihr könnt uns ja einfach eine große Portion Schuld in die Schuhe schieben, mit vielen Grüßen vom Nikolaus.«

Sie merkt selbst, dass sie etwas vorlaut ist, aber das steht ihr wohl jetzt auch zu. Trotzdem ist es besser, sich ein bisschen zurückzuhalten. Papa ist in der Regel ein friedlicher Mensch, aber es geschieht, dass er ausrastet, und dann ist es nicht gerade feierlich.

Zum Glück bleibt ein Donnerwetter diesmal aus. Wahrscheinlich hat er ein schlechtes Gewissen.

»Pass bloß auf, Fräulein, sonst steckt morgen nichts in deinem Stiefel«, droht er nur und schließt ziemlich hart die Tür.

Einen Augenblick lang liegen Bella und Anna schweigend da und hören, wie ihre Eltern nacheinander ins Bad gehen.

»Hast du gemerkt, dass er sich ertappt gefühlt hat?«, fragt Bella mit Triumph in der Stimme.

»Er hat gesagt, dass es in unserer Familie schwer auszuhalten ist«, flüstert Anna und fügt hinzu: »Unseretwegen!«

»Als ob es andersrum nicht genauso wäre. Als ob es mit Eltern auszuhalten wäre, die …« Bella sucht nach etwas, das man an ihnen aussetzen kann.

»Die so vergesslich sind«, kommt Anna ihr zu Hilfe. Heute hat Mama mich bestimmt zum fünften Mal gefragt, was wir uns zu Weihnachten wünschen. Als hätten wir nicht hundert Mal gesagt, dass wir endlich ein Smartphone haben wollen. «

»Es nervt, dass sie ständig fragen, wie es in der Schule war«, sagt Bella.

Anna nickt. »Besonders, wenn sie dann nicht hinhören, wenn man antwortet.«

»Mama könnte mal ein bisschen abnehmen«, sagt Bella. »Hoffentlich komme ich nicht nach ihr.« Sie greift sich an ihr Kinn. Sie hat immer Angst, dass sie ein Doppelkinn bekommt.

»Und Papa ist geizig.«

»Genau. Immer kauft er den kleinsten Weihnachtsbaum, nur weil er einen Euro billiger ist.«

»Eine Glatze hat er auch bald.«

»Peinlich. Dabei ist er gerade mal vierzig.«

»Weißt du was: Wir schreiben eine Liste mit allem, was wir an ihnen doof finden«, schlägt Anna vor. »Und immer, wenn wir traurig werden, lesen wir sie uns laut vor.«

»Genau. Dann können wir uns darüber freuen, dass wir nur die Hälfte davon zu ertragen haben, wenn sie nicht mehr zusammen wohnen.«

Anna lacht, aber nur ganz kurz. »Aber wenn wir nicht mehr zusammen wohnen, können wir uns die Liste ja auch nicht vorlesen.«

»Wir können telefonieren. Lange. Und wir lassen sie die Rechnung bezahlen.«

»Das ist aber nicht dasselbe.«

»Nein.« Bella legt einen Arm um ihre Schwester. Das hat sie schon mindestens hundert Jahre nicht mehr getan.

»Ich will aber nicht ohne dich sein«, schluchzt sie auf einmal und erinnert sich an etwas, das Mama einmal gesagt hat: Man weiß immer erst dann, was man hatte, wenn man dabei ist, es zu verlieren.

Eins muss man ihren Eltern ja lassen, denkt Anna am nächsten Morgen. Im Sichverstellen sind sie wirklich gut.

Sie tun so, als sei alles in schönster Ordnung. Papa steht im Flur vor dem Spiegel und bindet seinen Schlips. Vor wenigen Wochen hat er eine neue Stellung als Abteilungsleiter bekommen und geht auf einmal mit Schlips zur Arbeit. Anna und Bella ziehen ihn normalerweise damit auf, denn eigentlich fühlt sich ihr Vater in T-Shirts viel wohler. Aber heute ist ihnen nicht nach Scherzen zumute.

»Was ist los – habt ihr vergessen, dass Nikolaus ist?«, lacht Mama. Es ist natürlich nur ein künstliches Lachen. Wie sollte man auch echt lachen, wenn man vorhat, seine Familie zu verschrotten?

Anna hat jedenfalls nicht vor, fröhlich zu tun. Dabei steckt sowohl in ihrem als auch in Bellas Stiefel etwas ganz Cooles: Kopfhörer! Die sehen sogar richtig teuer aus.

Ist das so eine Art Trostgeschenk?

»Freut ihr euch denn gar nicht?«, fragt Mama verdutzt.

»Wir haben ja nichts, wo wir sie reinstecken können«, sagt Anna.

Bella nickt: »Ein Handy.«

»Siehst du«, sagt Papa zu Mama. »Das habe ich doch gesagt.«

Er erklärt nicht, was er gesagt hatte, aber Anna ahnt es. Sicher war er gegen die Kopfhörer. Er findet immer, dass Mama Anna und Bella zu sehr verwöhnt. Seine Theorie ist, dass man nur durch Härte und Mangel zu einem ordentlichen Menschen werden kann, der sich im Leben durchbeißt. Wenn man alles auf dem goldenen Teller serviert bekommt, wird man verweichlicht, und das rächt sich später im Leben. Und wenn man als Einzige in der ganzen Stadt kein Smartphone hat, dann zeigt das nur, dass man macht, was man selbst für richtig hält, und nicht, was alle anderen vormachen. Ha! Als ob Anna und Bella es für richtig hielten, kein Smartphone zu haben. Er hält das für richtig, aber doch nicht sie!

Zufrieden, weil er wieder einmal recht gehabt hat, nimmt Papa seinen schwarzen Aktenkoffer, der genauso neu wie seine Arbeit ist. Noch ein Punkt für die Liste, denkt Anna. Seit er seine neue Stellung hat, kommt er sich immer furchtbar wichtig vor. Er schlüpft in seine ebenfalls neuen Büroschuhe, die nebenbei gesagt extrem hässlich sind, und zieht erschrocken seinen Fuß zurück. Als er gleich darauf einen Schokoladenweihnachtsmann daraus hervorzieht, blickt er Mama vorwurfsvoll an. Die kichert ein bisschen. Sie kichert. Anna kann es fast nicht glauben. Es ist natürlich ein schadenfrohes Kichern, alles andere ist ausgeschlossen. Der Schokoladenweihnachtsmann ist nur ein als Nikolausüberraschung getarnter Racheakt, weil Papa sich trennen will. In Wirklichkeit hat sie bestimmt gehofft, dass Papas Socken voller schmieriger, geschmolzener Schokolade sind, wenn er ins Büro kommt. Von Jennifer und Isabel weiß sie genau, wie gemein geschiedene Eltern zueinander sein können. Nicht alle, es gibt natürlich Unterschiede, aber Anna überrascht da nichts.

»Danke, lieber Nikolaus«, sagt Papa und lächelt auch noch. Er ist schon immer der naive Typ gewesen, der alles erst hinterher schnallt.

Auch Mama lächelt, aber es sieht ein bisschen traurig und deshalb irgendwie echt aus. Und wenn der Weihnachtsmann in Papas Schuh nun doch kein Racheakt war? Vielleicht hofft sie einfach nur, dass Papa seine Meinung ändert, wenn sie sehr nett zu ihm ist. Sie muss das unbedingt mit Bella besprechen.

Aber dazu bekommt sie erst einmal keine Gelegenheit.

Erstens, weil sie unten auf der Straße gleich Thomas Müllermann aus ihrer Klasse treffen, und der lässt sie nicht zu Wort kommen. Er brabbelt den ganzen Weg von einem Computerspiel, das in seinen dreckigen Stiefeln gesteckt hat. Wahrscheinlich wollten ihn seine Eltern damit ruhigstellen, denkt Anna, denn Thomas Müllermann redet so viel und vor allem so viel Stuss, dass sie ihm beide Stiefel mit teuren Spielen zugestopft hätte, nur um sich eine halbe Stunde Ruhe vor ihm zu erkaufen. Ihre eigenen Eltern wissen ja gar nicht, wie gut sie es im Grunde haben!

Auch in der Schule gibt es keine Gelegenheit. Dort kann man nie mit Bella allein sein, so wie es natürlich der Fall wäre, wenn sie eineiige Zwillinge wären. Aber wer sich mit Thomas Müllermann unterhalten und dabei auch noch so tun kann, als sei das interessant, kann natürlich mit allen gut reden – und tut das auch. Auf dem Schulhof, beim Essen, in den Pausen. Sogar auf dem Klo quasselt Bella mit jedem, der zufällig neben ihr sitzt.

Auf dem Heimweg gehen sie wie immer in einer größeren Gruppe, und zu Hause wartet Mama bereits auf sie. Sie kommt als Lehrerin nämlich oft schon früh von der Arbeit. Eigentlich ist sie ja nur so eine Art Lehrerin. Sie unterrichtet nicht an einer normalen Schule, sondern arbeitet mit behinderten Kindern, also solchen, die anders oder langsamer denken.

Leider hat sie schon einen Berufsschaden, finden Anna und Bella, und sie ziehen ihre Mutter damit auf. Die glaubt nämlich, dass auch Anna und Bella etwas langsam sind. (Was nebenbei gesagt nicht der Fall ist, da sind sich Anna und Bella mal einig!) Das kann man daran erkennen, dass sie oft alles zwei oder sogar drei Mal sagt. Übrigens auch so ein Punkt für die Liste. Selbst zu Papa sagt sie vieles mehrmals. Vielleicht ist es einfach das, was ihn an Mama stört?

Bellas erster Gang, wenn sie von der Schule nach Hause kommen, ist immer zum Kühlschrank. Dort steht heute in einer Glasschüssel Teig.

Mama kommt aus dem Bad. »Da seid ihr ja, AnnaBella!«, sagt sie und gibt ihnen einen Kuss. »Und wie war es in der Schule?«

Bella hat sich daran gewöhnt, dass ihre Mutter sie meist AnnaBella nennt, als wären sie nur eine Person. Sie ist überzeugt, dass sie das tut, um beim Sprechen Zeit zu gewinnen, sodass sie sich öfter wiederholen kann. So wie auch jetzt: »Ich dachte, es ist an der Zeit, Weihnachtsplätzchen zu backen. Das wäre doch schön, oder? Hättet ihr nicht Lust dazu?«

Bella murmelt besorgt: »Wolltest du nicht abnehmen, Mama?«

Vielleicht ist es ja auch möglich, dass sie Papa einfach nur zu dick geworden ist?

Aber Mama winkt ab. »Das habe ich bis nach Silvester verschoben. Das ist mein neuer Vorsatz fürs nächste Jahr.«

So neu ist der nun auch nicht, denkt Bella. Aber gegen Plätzchenausstechen hat sie natürlich nichts einzuwenden. Das ist eins der besten Dinge in der Adventszeit überhaupt. Besonders die Ausstechform mit dem Weihnachtsengel liebt sie. Anna übrigens auch. Jedes Jahr streiten sie sich darum, und auch diesmal ist es dasselbe. Denn wie jedes Jahr ist Anna der Meinung, dass sie dieses Mal zuerst damit dran ist. Das stimmt aber nicht. Nicht dieses Jahr. Bella reißt Anna die Form aus der Hand.

Anna protestiert: »Du hattest sie schon letztes Jahr zuerst!«

»Du lügst!« Bella versteckt die Weihnachtsengelform hinter ihrem Rücken. Anna versucht, sie zurückzuerobern.

»Gib sie her! Du kriegst sie danach!« Anna beugt sich über den Tisch, um sie ihrer Schwester aus der Hand zu reißen.

»Versuch doch!«, grinst Bella siegessicher. Es ist lustig, wenn Anna so wütend wird. Dann funkeln ihre Augen so schön wild. Nun greift Anna sogar nach der Teigrolle und hebt sie drohend in die Luft.

»Das traust du dich nicht«, sagt Bella.

»Doch, wenn du mir nicht sofort den Weihnachtsengel gibst.«

Bella schüttelt den Kopf. »Nie im Leben.«

Sie hört erst mit dem Kopfschütteln auf, als sie die Holzrolle an den Arm gedonnert bekommt.

»Au! Du spinnst wohl!«, kreischt Bella und macht es absichtlich schlimmer, als es ist. Sie schleudert ihrer blöden Schwester den Weihnachtsengel ins Gesicht und läuft laut heulend zu ihrer Mutter, die im Bad gerade Wäsche aufhängt.

Anna ist selbst erschrocken, mit welcher Wucht die Teigrolle auf den Arm ihrer Schwester gekracht ist. So fest sollte es gar nicht sein. Natürlich übertreibt Bella wieder einmal maßlos, denn ihr dicker Wollpullover federt so einen Schlag mit Leichtigkeit ab. Aber Bella heult, als wäre der ganze Arm zertrümmert.

Mama setzt eine Leidensmiene auf, als sie mit Bella an der Hand in die Küche zurückkommt und das viele Mehl auf dem Fußboden sieht. Das scheint sie mehr zu beunruhigen als Bellas Arm, also wird es so schlimm schon nicht sein.

»Ich dachte, ihr wärt inzwischen alt genug, dass man euch mal kurz allein lassen kann«, seufzt sie und wiederholt: »Wie alt seid ihr eigentlich, dass man euch nicht mal einen Augenblick aus den Augen lassen kann, ohne dass ihr euch streitet?«

In diesem Moment hören sie den Schlüssel in der Tür.

»Was ist denn hier schon wieder los?«, fragt Papa, als er sich seine Abteilungsleiterschuhe von den Füßen gestreift hat und in die Küche kommt.

»Anna hat mir mit der Teigrolle den Arm gebrochen«, petzt Bella.

»Sie übertreibt wie immer!«, ruft Anna.

»Auf jeden Fall gibt es einen fiesen blauen Fleck!«

»Oh Mann«, stöhnt Papa und lässt sich auf einen Stuhl fallen, ohne zu merken, dass der voller Mehl ist. Bella hat es aber entdeckt, sie grinst schon wieder.

»Wie wunderbar, nach Hause zu kommen und gleich zwei Streithammel vorzufinden.« Er nennt das Ironie, was bedeutet, dass man das Gegenteil von dem sagt, was man meint.

Da hat Bella es! Anna wirft ihrer Schwester Killerblicke zu, aber Bella guckt nicht mal hin. Sie kapiert rein gar nichts! Sie beide, Anna und Bella, sind schuld daran, dass Papa sich scheiden lassen will. Er hat es selbst gesagt. Da kann Mama noch so freundlich fragen, wie sein Tag gewesen ist und ob er eine Tasse Kaffee will. Obwohl das auch ganz schön doof von ihr ist, das muss man mal so sagen. Erst bringt er sie zum Heulen und will Scheidung, und dann macht sie ihm auch noch Kaffee. Das soll nun einer verstehen. Anna tut es jedenfalls nicht.

Aber genauso schnell, wie Anna und Bella sich in die Haare geraten, vertragen sie sich in der Regel auch wieder. Anna lässt ihre Schwester am Ende doch zuerst den Weihnachtsengel haben, denn Bella hat wirklich einen blauen Fleck, einen ziemlich großen sogar. Während sie die Plätzchen ausstechen, decken Mama und Papa den Tisch. Immer, wenn sie im Wohnzimmer sind, tuscheln sie miteinander. Leider verstehen weder Anna noch Bella, was sie sagen. Obwohl Bella ihnen hinterherschleicht und ihr Ohr dicht an die Tür hält. Es gibt keinen Zweifel: Sie sprechen davon, wie sie ihnen das mit der Scheidung verklickern sollen.

»Sicher haben sie Schiss davor«, flüstert Bella.

Zu Recht!

Nachdem Mama die letzten Plätzchen aus dem Ofen gezogen hat (ein Blech voll ist wie immer verbrannt), setzen sie sich an den Abendbrottisch. Die Gläser, Teller und Messer klappern, aber keiner sagt heute was. Nicht einmal Bella. Anna hasst dieses Schweigen, denn es bedeutet, dass schlechte Stimmung ist. Oder dass irgendetwas Wichtiges in der Luft hängt – etwas, das sie nicht hören will. Und da kommt es endlich. Nach einem kurzen Blick auf Papa sagt Mama mit einer Miene, die man fast feierlich nennen kann: »Wir haben eine Überraschung.«

Anna presst die Lippen zusammen. Überraschung nennen sie das!

Papa räuspert sich. »Wir werden Weihnachten nämlich nicht so wie immer verbringen«, erklärt er.

Wie bitte? Annas Messer fällt laut klappernd auf den Boden. Wollen sie sich noch vorher scheiden lassen? Sie haben es ja wirklich ziemlich eilig. Sie sieht, wie sich Bellas Augen sofort mit Tränen füllen. Grob und wild, wie sie sein kann, mit dem Heulen geht es bei ihr immer ruck, zuck.

»Mama hat die Nase voll …«, beginnt Papa.

Ist es also gar nicht Papa, sondern Mama, die sich trennen will?, schießt es Anna durch den Kopf.

»… von Großstadt und Dreck und Lärm«, fährt er fort.

»Ich wünsche mir einfach einmal ein anderes Weihnachten mit Stille und Schnee und viel Ruhe«, fällt Mama ihm ins Wort. Dabei sieht sie Anna und Bella an, als sei es deren Schuld, dass sie in Berlin wohnen, wo es seit Tagen regnet.

»Wir haben ein schönes Ferienhaus gebucht«, verkündet Mama.

Ein Ferienhaus? Und über Weihnachten noch dazu? Anna blickt Bella an, die viel zu geschockt ist, um irgendeine Reaktion zu zeigen. Ihr selbst geht es nicht viel anders. Da rechnet man damit, dass sie einem die bevorstehende Trennung beichten, und stattdessen erzählen sie etwas von Ferienhaus und Schnee.

Mama scheint auf einen Jubelausbruch zu warten. Als der ausbleibt, blickt sie Papa an – mit diesem Blick, der bedeutet, dass jetzt er an der Reihe ist.

Papa räuspert sich. »Weihnachten fällt dieses Jahr so günstig, dass ich nur fünf Tage Urlaub nehmen muss, um zwei Wochen verreisen zu können.«

»Wie jetzt noch mal?« Bellas Tränen sind wieder weg, auch das geht bei ihr immer schnell. »Soll das heißen, dass wir Weihnachten nicht zu Hause sind?«

»Ja.« Mama nickt ziemlich eifrig und lächelt. Es ist ganz klar, dass es sich um ihre Idee handelt. Die Puzzleteile in Annas Kopf setzen sich immer mehr zu einem Ganzen zusammen: Mama will ihre Familie retten und hat sich deshalb eine Reise ausgedacht. Eine Eherettungsreise. Davon hat Anna einmal gelesen. Bestimmt hofft sie, dass Papa dort alles so toll und wunderbar findet, dass er es sich noch mal überlegt.

»Gute Idee«, sagt Anna deshalb und gibt sich Mühe, begeistert zu klingen.

»Bist du bescheuert?« Bella tippt sich an die Stirn. »Was ist denn daran toll, Weihnachten weg zu sein?«

Anna verdreht die Augen. Bella kapiert mal wieder gar nichts.

Der größte Schock kommt aber erst, als Bella sich erkundigt, wohin sie fahren wollen.

»Nach Norwegen«, antwortet Mama mit heiterer Stimme, als sei das das normalste Reiseziel der Welt.

»Norwegen?« Bella hat gerade ein Stück Ei in den Mund geschoben. Nun verschluckt sie sich und spuckt es über den Tisch. »Liegt das nicht fast am Nordpol?«

»Es ist ein sehr hübsches Haus«, erklärt Mama, während sie Bella auf den Rücken klopft. »Ganz aus Holz, mitten im Wald. Überall gibt es Seen und Berge. Gleich, wenn man aus der Tür kommt, kann man in alle Richtungen Ski laufen.«

In Bellas Augen stehen schon wieder Tränen, die vielleicht vom Husten herrühren, vielleicht aber auch nicht.