Eleana - Josephine Phillis - E-Book

Eleana E-Book

Josephine Phillis

0,0

Beschreibung

Als Eleana an ihrem 19. Geburtstag zufällig erfährt, dass sie ein Mädchen mit besonderen Fähigkeiten ist, wird ihre perfekte, idyllische Welt auf den Kopf gestellt. Schweren Herzens beschließt sie, sich auf die Reise zu begeben, um nicht nur ihre eigene Herkunft, sondern auch die ihrer magischen Kräfte zu finden. Durch die Hilfe des mysteriösen Kriegers Arash gelangt sie schließlich an den Ort, der vor langer Zeit ihre Heimat gewesen sein soll: der Palast. Doch statt dem Gefühl von Geborgenheit und Liebe erwarten sie innerhalb der Palastmauern nur Intrigen und Lügen. Bald weiß sie nicht mehr, wem sie noch vertrauen kann. Eleana ahnt nicht, dass es einen guten Grund dafür gab, warum sie einst von dort fortgebracht wurde. Gelingt es ihr nicht, das Rätsel ihrer Vergangenheit zu lösen, bringt sie nicht nur ihr eigenes Leben in Gefahr, sondern auch die Zukunft des ganzen Landes.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 360

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


PLAYLIST

Guardian – Lindesy Stirling

The Call – Regina Spektor

Breathe – Fleurie

Man or a Monster – Sam Tinnesz, Zayde Wolf

Empire – Neoni

My Moon and Stars – Ekaterina

Secrets and Lies – Ruelle

Monster – Beth Crowley

Warrior (Remix) – Beth Crowley

Never Say Never – The Fray

Your are the Reason – Calum Scott

You Say – Boyce Avenue

Game of Survival – Ruelle

Fire on Fire – Sam Smith

Before – Ulrik Munther

Look what you made me do – Hugo Kurt Schneider, Kirsten Collins

APEROS

Und Asteria ließ Sterne vom Himmel regnen, die ihren Kindern heilige Fähigkeiten schenkten, mit deren Hilfe sie die Dunkelheit bezwingen sollten.

Inhaltsverzeichnis

PLAYLIST

APEROS

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DANKSAGUNG

PROLOG

Die Stimmen kamen immer näher. Bald würden sie hier sein, das wusste sie. Und auf keinen Fall durften sie das Mädchen in ihren Armen in die Finger bekommen.

Sie flehte ihre Beine an, noch schneller zu laufen, obwohl das in diesen Klamotten fast unmöglich war. Lediglich ein dünnes Nachthemd bedeckte ihre Haut. Auch Schuhe trug sie nicht. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich etwas Anständiges überzuziehen.

Das Baby in ihrem Arm quiekte hin und wieder. Es musste furchtbar frieren. Hoffentlich würde sie bald eines der Dörfer erreichen, denn dort würde sie bestimmt Hilfe bekommen.

Als ihr Herz vor Anstrengung zu zerspringen drohte, hielt sie an, um sich gegen einen der Baumstämme zu lehnen. Sie war jetzt schon mehrere Tage unterwegs und hatte es bisher nicht geschafft zu entkommen.

Sie drückte ihre Tochter noch enger an sich und rang nach Atem. Die kühle Nachtluft umhüllte sie und ließ sie ruhiger werden. Auch dem Baby tat der kurze Rast gut. Unter normale Umständen hätte sie ihm vor dem Kamin einLied vorgesungen. Es in den Schlaf gewogen und die ganze Nacht lang angesehen. Doch es waren dunkle Zeiten. Und sie würden vermutlich noch dunkler werden. Sie kannte die Bestimmung dieses Kindes. Die Zeit dafür war noch nicht gekommen.

In der Ferne tauchten flackernde Lichter auf. Fackeln. Trotz Mitternachtssonne waren sie deutlich zu erkennen. Bald würden sie hier sein.

Ein letztes Mal sog sie die Nachtluft in sich hinein, bevor sie weiterlief. Sie keuchte und wimmerte. Wo, um alles in der Welt, befand sich das nächste Dorf? Gab es denn nirgends Menschen, die ihr helfen konnten?

Blätter und Äste peitschten ihr ins Gesicht, der Boden war an einigen Stellen gefährlich rutschig. Nur ein falscher Schritt, nur ein Sturz und der weite Weg durch den Wald und über die vielen Hügel wäre umsonst gewesen.

Nach unzähligen, weiteren Schritten lichtete sich der Wald. Irgendwo in der Ferne glaubte sie einige, wenige Hütten zu erkennen. Ein erleichtertes Seufzen kam ihr über die Lippen. Ihre Tochter würde bald in Sicherheit sein.

Irgendwann erreichte sie völlig außer Atem den Rand des Dorfes im Tal der Hügel. Auf einer dieser Schwellen würde sie ihre Tochter ablegen.

Ihr Blick huschte hektisch von einem Haus zum anderen und blieb schließlich an dem kleinsten von ihnen hängen. Sie eilte darauf zu und spähte durch eines der Fenster. Im Inneren sah sie einen Mann und eine Frau, die durchs Wohnzimmer tanzten. Die Frau lachte, als der Mann sie an der Hüfte packte und hochhob. Ein Paar, das sich liebte. Da gab es keine Zweifel. Diese beiden würden bestimmt gut für ihre Tochter sorgen.

Sie rannte auf die Tür zu und legte ihre Tochter behutsam auf der Strohmatte ab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich herunterbeugte und dem Säugling einen zarten Kuss auf den Kopf hauchte. Dann befestigte sie ein zerknittertes Stück Papier zwischen den Decken und hämmerte mit aller Kraft gegen die Holztür. Sie versteckte sich hinter einem der anderen Häuser und beobachtete, wie die Tür aufging und das Paar sich verwundert über das Kind beugte. Die Frau nahm es sofort in ihre Arme. Ihr Mann schaute sich suchend in alle Richtungen um.

Sie hatte es geschafft. Ihre Tochter würde von nun an hoffentlich in Sicherheit sein. Jetzt musste sie nur den letzten Teil des Plans erfüllen. Dafür musste sie aber dorthin zurück, wo sie hergekommen war und das war riskant und sehr gefährlich. Denn schließlich war man immer noch auf der Suche nach ihr. Wenn man sie fand, würde das schlimme Folgen haben.

Ein letztes Mal betrachtete sie das Paar, das ihre Tochter liebevoll im Arm hielt und schließlich ins Haus zurückkehrte. Dann kehrte sie dem Dorf den Rücken.

„Ich liebe dich, Eleana. Du wirst es hier guthaben, das weiß ich“, flüsterte sie und verschwand zwischen den Bäumen.

EINS

Der Duft von etwas Süßem stieg mir in die Nase. Etwas, das ich nur zu gut kannte: Aluras Apfelkuchen. Mit Butterstreuseln und viel Zimt. Mein Magen meldete sich mit einem lauten Knurren und mit einem Mal war ich hellwach.

Ich kniff die Augen zusammen, um den hellen Sonnenstrahlen zu entkommen, die durch das kleine runde Fenster gegenüber, direkt in mein Gesicht fielen.

Normalerweise liebte ich das Licht und die Wärme. Und das war schließlich auch kein Wunder, wenn man bedachte, dass ich ein Kind der Sonne war.

In meiner Heimat, den Sonnenhügeln, wurde es niemals richtig dunkel. Allein die Vorstellung daran ließ mich erschaudern. Die Sonne war immer da, auch nachts. Bestieg man einen der Hügel, konnte man Sonnenuntergang, Mitternachtssonne und Sonnenaufgang beobachten. Natürlich nur, wenn man Lust hatte, die ganze Nacht lag aufzubleiben. Für jemanden, der dieses Phänomen nicht kannte, musste das unvorstellbar faszinierend und sein. Ich selbst war zwar damit aufgewachsen, wurde aber nie satt von dem wunderschönen Anblick des Nachthimmels, wenn die wenigenStrahlen der Mitternachtssonne den Himmel in rosafarbenes und orangenes Licht tauchte.

Ich schlug die Decke beiseite und linste auf die kleine, tickende Uhr auf meinem Nachttisch. Es war schon kurz vor Mittag. Normalerweise war ich niemand, der bis in die späten Morgenstunden schlief. Dieser Morgen war jedoch eine Ausnahme. Ich war bis spät in die Nacht aufgeblieben, um meinen Geburtstag zu feiern.

Seit Mitternacht war ich neunzehn Jahre alt und somit laut Gesetz erwachsen. Alt genug, für die Ehe und alt genug, um Kinder in die Welt zu setzen.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich war noch lange nicht bereit dafür. Glücklicherweise hatte ich Eltern, die mich zu nichts drängten, wovon ich nicht selbst überzeugt war. Die Männer in meinem Dorf waren entweder zu jung, zu alt oder zu dünnhäutig. Außerdem gab es jenseits der Sonnenhügel noch so viel, das ich sehen wollte. Jetzt, wo ich volljährig war, würde ich mir den Traum einer Reise durch Aperos auch ermöglichen. Alura und Vayus waren ganz und gar nicht begeistert von dieser Idee. Im Weg stehen würden sie mir aber auch nicht, das wusste ich. Mein ganzes Leben lang hatte ich davon geträumt den Mond zu sehen. Nur aus meinen Büchern wusste ich davon. Dafür musste ich aber durch das ganze Land reisen, bis an die Grenze der Mondwüste, womöglich noch weiter. Denn nur dort konnte man ihn sehen. Dann gab es da noch die grünen Lichter, die man nur auf den Eisinseln zu Gesicht bekam.

Alura hatte mir vor langer Zeit ein altes Buch aus der Bibliothek, in der sie arbeitete, geschenkt. Es war von einem Reisenden geschrieben und mit Zeichnungen versehen worden. Seitdem gingen mir die Bilder dieser magischen Erscheinungen nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte alle Königreiche in Aperos bereist. Die Sonnenhügel, die Mondwüste, die Eisinseln und das Schattental. Leider gab es zwischen den Ländern gewissen Spannungen. Warum das so war, wusste niemand so genau. Viele behaupteten, es hätte mit unserer Königin zu tun. Sie war leider keine besonders gute Herrscherin und kümmerte sich wenig um ihr Volk. Vermutlich waren ihr die Beziehungen zu den anderen Ländern auch nicht sonderlich wichtig.

Ich stand auf und ging in das kleine Badezimmer, das sich direkt neben meinem Schlafzimmer befand. Dort wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser und warf anschließend einen Blick in den trüben Spiegel an der Wand. Nasse Strähnen meines honigblonden Haars klebten mir in der Stirn. Winzige Wasserperlen glitzerten auf meiner Haut. Ich lächelte und flocht mein langes Haar zu einem Zopf. Oft fragte ich mich, von wem ich mein Aussehen geerbt hatte. Meine leiblichen Eltern kannte ich nicht. Mir blieb also nur die pure Vorstellung an sie. Das Einzige, was mir wirklich von ihnen geblieben war, war das Armband an meinem Handgelenk.

Mit den Fingern fuhr ich über die silbernen Buchstaben, die meinen Namen bildeten. Eleana. Seitdem ich denken konnte, trug ich es immer bei mir. Zu gerne hätte ich gewusst, wer sie waren. Ob sie oft an mich dachten oder ob sie überhaupt noch lebten. Wieso nur hatten sie mich weggegeben? Alura und Vayus hatten mich als Baby vor ihrer Tür gefunden und bei sich aufgenommen. Vayus war sich sicher, er habe kurz drauf eine Frau in die Dunkelheit des Waldes flüchten sehen.

Ich seufzte und schlüpfte in mein weißes Lieblingskleid, das Alura für mich genäht hatte. Auch wenn ich oft an meine leibliche Familie dachte, so waren Alura und Vayus für mich meine richtigen Eltern. Sie hatten immer alles in ihrer Machtstehende getan, um mir ein schönes und sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Und dafür war ich ihnen unendlich dankbar.

Als ich die Tür mit lautem Quietschen öffnete, wurde der Duft nach Aluras Apfelkuchen noch intensiver. Langsam kroch er mir die Nase hoch, bis in meinen Kopf, in dem sämtliche Glücksgefühle auf einmal explodierten.

Alura drehte ihren Kopf in meine Richtung, als sie das Knarren der Holztreppe hörte.

„Gut, du bist wach.“ Sie nahm mich fest in den Arm und drückte einen Kuss auf mein Haar. „Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst.“ Mit einem Grinsen im Gesicht deutete sie auf den Tisch, auf dem der noch dampfende Kuchen stand. Ich schloss meine Arme um ihren schmalen Körper und sog ihren Duft in mich ein. Mit diesem Geruch in der Nase, einer Mischung aus Holz und Gewürzen, war ich an fast jedem Abend meines Lebens eingeschlafen. Oft saß sie an meinem Bett und wir unterhielten uns. Früher hatte sie mir immer Geschichten und Märchen vorgelesen. Mittlerweile war ich dafür etwas zu alt.

Hinter uns ertönte eine tiefe Stimme. „Kaum zu glauben, dass du jetzt erwachsen bist.“ Vayus kam mit geöffneten Armen auf uns zu und wir schmiegten uns an ihn, ohne uns dabei loszulassen.

„Es kommt mir so vor, als wäre es noch gar nicht so lange her, dass wir dich vor unserer Tür gefunden haben.“ Alura ließ von mir ab und schaute mich mit glänzenden Augen an. Dann strich sie mir eine lose Strähne meines Haares hinter das Ohr, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte

Gemeinsam machten wir uns über den Apfelkuchen her, der noch besser schmeckte, als der Duft versprochen hatte. Als nur noch wenige Krümel davon übrig waren, überreichte Vayus mir ein Holzkästchen, das einer kleinen Schatzkiste glich.

„Was ist das?“ Mit den Fingern fuhr ich die verschnörkelte, goldene Verzierung und den glatten Stein nach.

„Es ist dein Geburtstagsgeschenk. Öffne es.“

Ich tat was er sagte und erblickte einen goldenen Anhänger, der auf einem smaragdgrünen Kissen lag. Unser Wappen: Eine Sonne mit fünf geschwungenen Strahlen. Vorsichtig nahm ich das Schmuckstück heraus und bemerkte dabei, dass es an einer Kette befestigt war.

„Hast… hast du die etwa gemacht?“, fragte ich mit erstickter Stimme und er nickte.

„Sie soll dich immer daran erinnern, woher du kommst.“ Vayus betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Er wirkte stolz und auf der anderen Seite fast ängstlich, als befürchtete er, mich irgendwann zu verlieren.

„Wie könnte ich jemals mein Zuhause vergessen? Sie ist wunderschön. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Der Kloß in meinem Hals wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Es war nichts Neues, dass Vayus schönen Schmuck herstellte. Schließlich verdiente er dadurch einen Teil unseres Lebensunterhalts. Oft kamen wohlhabende Frauen in seinen Laden, die Schmuck für einen bestimmten Anlass suchten. Doch kein Anhänger, kein Armband und keine Brosche konnte jemals so schön sein, wie diese Sonne es war.

Alura stand auf, um mir die Kette umzulegen. Ich tastete mit den Fingern an den kleinen Anhänger, der von jetzt an meinen Hals schmücken würde. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich ihn niemals wieder ablegen würde. Komme was wolle.

„Tretet näher! Seht euch diese wunderschönen Stoffe an!“, hallte die Stimme einer der Marktschreier über den Dorfplatz.

„Blumen! Frische Blumen für eure Liebsten!“, rief ein anderer. Der Wochenmarkt war heute noch voller als sonst. Ich fragte mich, ob es wohl etwas Besonderes zu kaufen oder einen anderen Grund dafür gab.

Alura hatte sich mit der einen Hand bei mir eingehakt. Mit der anderen trug sie ihren Einkaufskorb, der schon zur Hälfte mit frischen Kräutern gefüllt war.

„Ich werde nachsehen, ob es noch ein paar schöne Blumen für den Garten gibt.“ Sie ließ mich los und entfernte sich ein paar Schritte. „Möchtest du mitkommen?“

„Nein, ich warte hier“, gab ich freundlich zurück. Große Menschenmengen und Gedränge mied ich meistens. Ich konnte es nicht leiden ständig angerempelt zu werden. Dabei wusste ich mich eigentlich ganz gut zu verteidigen. Vayus hatte mir schon früh beigebracht stets meine Meinung zu sagen. Er und Alura fanden es wichtig zu wissen, dass ich mich zu wehren wusste. Und nicht nur das. Seit meiner Kindheit gehörte das Bogenschießen zu einer meiner liebsten Beschäftigungen. Vor einigen Jahren hatte ich sogar einen eigenen Bogen geschenkt bekommen. Nicht, dass ich je vorgehabt hätte auf jemanden zu schießen. Doch zu wissen, dass ich mich im Notfall zur Wehr setzen konnte, beruhigte mich.

Ich stellte mich an den Wegrand, um einem der Händler, der einen Holzkarren vor sich herschob, Platz zu machen. Mit lautem Geklapper fuhr er an mir vorbei.

„Eleana, wie geht es dir?“, rief er und hob dabei freundlich die Hand.

„Gut. Danke, Sergas. Liebe Grüße an deine Familie!“ Ich nickte ihm zu und lächelte. Es war immer schön ein bekanntes Gesicht anzutreffen. Dabei gab es hier wenige Menschen, die ich nicht kannte. Unser Dorf war sehr klein, wie die meisten anderen Dörfer im Süden des Landes. Die Gemeinschaft und der Zusammenhalt waren stark. Hier konnte man sich aufeinander verlassen, das war wichtig. Viele Familien hatten mit Armut zu kämpfen, was hauptsächlich an der Königin und ihrer Missachtung gegenüber den kleinen Leuten lag. Seit Jahren hoffte man vergeblich auf etwas Unterstützung aus der Hauptstadt. Auf Nahrung, Rohstoffe und die Möglichkeit auf Arbeit.

Ich hielt nach Alura Ausschau und entdeckte sie an einem der Obststände. Sie war mit der Verkäuferin in ein Gespräch vertieft. Vermutlich würde es noch eine ganze Weile dauern.

Langsam ließ ich meinen Blick über die Marktstände schweifen. Und dann, etwas abseits der anderen Verkäufer, entdeckte ich sie. Eine junge Frau mit silbernem Haar. Sie saß auf einer Decke vor ihrem Zelt und beobachtete mich. Ein dunkelblaues Band schmückte ihre Stirn und ihr schmaler Körper war von einem ebenfalls blauen Umhang umhüllt. Ich hatte sie noch nie zuvor hier gesehen. Was sie wohl verkaufte?

Sie bemerkte, dass ich sie ebenfalls anstarrte und winkte mich zu sich. Ich lächelte unsicher und ging dann vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu. Kurz vor ihrem Zelt blieb ich stehen.

„Hallo“, begrüßte sie mich mit heller Stimme. Jetzt erkannte ich auch ihre blauen Augen und die rosigen Wangen.

„Hallo. Ich habe dich noch nie zuvor hier gesehen“, sagte ich schüchtern und sie lachte.

„Das liegt vermutlich daran, dass ich auch noch nie zuvor hier war.“

„Es finden selten fremde Menschen ihren Weg zu uns.“ Verlegen zuckte ich mit den Schultern. „Wir sind ein kleines Dorf.“

„Ich bin Nomadin. Ein Freigeist. Ich liebe es neue Orte zu entdecken. Ihr habt es wirklich schön hier.“

„Hast du keine Familie?“, wollte ich wissen und bereute sogleich diese viel zu persönliche Frage. Vermutlich war sie alt genug, um selbst zu entscheiden mit wem sie wohin gehen wollte.

Die junge Frau senkte ihren Blick. „Doch, die habe ich. Wir haben unsere… Differenzen. Aber ich bevorzuge das Alleinsein. So fühle ich mich frei.“

„Entschuldige. Das war unpassend.“ Ich ließ mich ihr gegenüber auf der Decke nieder.

„Nein, überhaupt nicht.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war. „Es gibt nicht viele Menschen, die allein umherziehen.“

Ich beäugte ihr silbernes Haar, die blasse Haut und ihre stahlblauen Augen. Sie hatte das Wort Nomadin benutzt. Das konnte nur Eins bedeuten: Sie kam von sehr weit her.

„Du bist ein Kind des Mondes, nicht wahr?“

„Ich bin beeindruckt. Woran hast du das erkannt?“ Ihr Blick erhellte sich und ich zuckte mit den Schultern.

„Du bist Nomadin. Hast silbernes Haar und blasse Haut. Ich lese sehr viel. Wie heißt du?“

„Alba.“

„Ein schöner Name. Ich bin Eleana.“

„Die Strahlende.“ Alba griff nach meiner Hand und betrachtete sie.

„Die… Strahlende?“ Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Dein Name. Er bedeutet die Strahlende und ist ein Name der Adligen und Reichen.“ Mit ihrem Finger fuhr sie die zarten Linien in meiner Handfläche nach.

„Nein. Das glaube ich weniger“, murmelte ich. „Wir sind alles andere als Reich. Mein Vater ist Schmuckverkäufer, meine Mutter Bibliothekarin.“

„Deine Vergangenheit und deine Zukunft sagen aber etwas anderes. Du bist nicht die, für die du dich hältst. Und da ist noch etwas… Tief in dir schlummert ein großes Geheimnis.“

Ich schluckte. Das war definitiv nicht das, was ich hören wollte. Wie war es überhaupt möglich, dass sie sowohl Zukunft als auch Vergangenheit aus den Linien meiner Hand lesen konnte?

„Bist du eine Seherin oder so etwas in der Art?“, wollte ich wissen. Kurz schien sie zu überlegen, dann nickte sie.

„Das könnte man so sagen, ja.“

„Was ist das für ein Geheimnis, das da in mir verborgen ist?“ Vorsichtig zog ich meine Hand weg. Mir war ganz und gar nicht wohl dabei.

„Komm mit!“, befahl sie mir und deutete auf ihr Zelt. Ich zögerte. Schließlich kannte ich Alba erst seit wenigen Minuten. Auf der anderen Seite war es nur ein Zelt und kein gruseliges Kellergewölbe.

„Ich werde dich bestimmt nicht auffressen.“ Albas Augen blitzten amüsiert auf. Sie hielt einen Teil des schweren Stoffes hoch, sodass eine kleine Öffnung entstand. Ich atmete hörbar aus und folgte ihr dann ins Innere des Zelts.

„Bitte, setz dich doch.“ Alba begann in einer kleinen Kiste zu kramen, während ich auf einem Kissen Platz nahm und mich umsah. Auf dem dunklen Stoff glitzerten kleine Sterne, ein Windspiel aus Holz hing von der Decke. Es roch nach ätherischen Ölen und nach etwas anderem, das ich nicht zuordnen konnte.

Alba ließ sich mir gegenüber ebenfalls auf ein Kissen nieder. In der Hand hielt sie ein Messer. Ich erstarrte.

„Ich werde dir nichts tun. Himmel nochmal“, sagte Alba, die meinen panischen Blick bemerkt haben musste. Dann schob sie den Umhang zur Seite und legte damit ihren Arm frei. Mit einer schnellen Bewegung schnitt sie sich ins Fleisch. Ich zuckte zusammen und wandte sofort den Blick ab.

„Gib mir deine Hand“, bat sie mich, doch ich reagierte nicht. Stattdessen presste ich die Lippen fest aufeinander.

„Wieso hast du das getan?“ Meine Stimme klang belegt.

„Das wirst du gleich sehen. Dafür musst du mir aber deine Hand geben.“ Alba griff nach meinem Arm und führte ihn sanft zu ihrem eigenen. Dorthin, wo dunkelrotes Blut austrat und auf den Boden tropfte. Ich kniff die Augen zusammen, als sie meine Hand auf ihre Verletzung legte und versuchte mit aller Kraft auszublenden, was sich unter meiner Handfläche befand.

Plötzlich kam starker Wind auf. Er wehte durch die Öffnung des Zeltes, brachte es zum Wanken und blies mir ins Gesicht. Die Töne des Windspiels wurden wild durcheinander gewürfelt.

In meinen Fingern begann es unangenehm zu prickeln und anschließend zu brennen. Hitze wanderte meinen Arm hinauf und genau an die Stelle, an der Alba sich geschnitten hatte.

Ich sah zu ihr, doch ihre Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und doch wirkte sie, als hätte man eine schwere Last von ihr genommen.

Erschrocken zog ich die Hand weg und der Wind hörte schlagartig auf. Ich schluckte und starrte auf meine Hand. Was zur Hölle passierte hier gerade?

Die Stelle an Albas Arm glühte weiß und Lichtstrahlen traten aus. Der Schmerz, der mich eben noch gequält hatte, war weg. Alba sagte etwas, doch ich nahm ihre Stimme nur gedämpft war. Ich hörte lediglich meinen eigenen Puls und meine Atmung, die viel zu schnell ging.

„Eleana!“ Alba schüttelte mich grob an der Schulter.

„Was ist gerade passiert?“, krächzte ich. Mein Mund fühlte sich staubtrocken an.

„Verstehst du nicht? Das hier ist dein Geheimnis!“

„Nein… Ich… Ich muss gehen.“ Ich rappelte mich auf und verließ fluchtartig das Zelt. Was auch immer gerade passiert war, konnte nicht wahr sein. Alba hatte ein übles Spiel mit mir getrieben. Mich reingelegt. Eine andere Erklärung gab es dafür nicht.

Ich begann zu laufen. Schneller und immer schneller, bis unser kleines Häuschen in Sichtweite war. Als ich ankam riss ich mit voller Wucht die Tür auf, nur um sie hinter meinem Rücken unsanft zuzuschlagen. Völlig außer Atem lehnte ich mich dagegen, die Augen zusammengekniffen. In meiner Brust brannte es und mein Herz war kurz davor herauszuspringen. Wenn ich die Situation im Zelt richtig gedeutet hatte, würde das mein komplettes Leben verändern. Konnte das sein? Hatte ich einen Menschen geheilt?

ZWEI

Ich starrte den Becher in meiner Hand an. Der Beruhigungstee aus Kräutern, den ich mir gekocht hatte, war mittlerweile kalt geworden. Alura und Vayus waren noch immer nicht zu Hause. Ob sie mir glaubten, wenn ich ihnen davon erzählte?

Immer wieder rührte ich mit dem Löffel in dem Becher und erzeugte damit kleine Strudel. Mein Kopf war völlig leergefegt.

Plötzlich wurde die Haustür geöffnet. Ich sah auf und bemerkte, dass meine Eltern hereinkamen. Alura wirkte ziemlich irritiert, sodass ich den Blick wieder senkte und den kleinen Strudel in meinem Becher beobachtete, der langsam verebbte. Ich ahnte bereits, dass sie außer sich vor Sorge gewesen sein musste. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie nicht wusste wo ich war.

Erst als Alura dicht vor mir stand und ihren vollen Korb auf dem Tisch abstellte, wagte ich es, ihr in die Augen zu sehen.

„Eleana, wo warst du? Ich habe nach dir gesucht!“ Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüften. Das letzte Mal als sie das getan hatte, war ich als Kind nachts heimlichim Garten umhergelaufen, um alle reifen Beeren zu verputzen, die ich finden konnte. Danach hatte ich den ganzen nächsten Tag mit Bauchschmerzen im Bett verbracht.

„Rede mit uns“, forderte Vayus sanft. „Ist etwas passiert?“ Er war schon immer gelassener gewesen als Alura.

„Ich glaube mit mir stimmt etwas nicht“, sagte ich leise.

„Wie kommst du denn darauf?“ Alura setzte sich auf den Stuhl neben meinem und nahm behutsam meine Hände in ihre.

„Da war diese Frau. Sie war verletzt und ich… ich weiß nicht. Es war seltsam.“ Mit aller Mühe versuchte ich das eben Erlebte zu beschreiben. Leider gelang mir das nicht gut. Meine Eltern wechselten einen ernsten Blick. Dann fuhr Vayus sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er sich das Kinn rieb.

„Was genau ist passiert, Eleana?“ Alura sah noch immer besorgt zu meinem Vater, der nun nervös im Wohnzimmer auf und ab lief.

„Na, was glaubst du wohl? Das, was wir all die Jahre versucht haben geheim zu halten ist passiert.“ Vayus ging hinüber zur Fensterseite und schloss sämtliche Fensterläden. Dann zündete er die Kerzen auf dem Tisch und die kleine Lampe an, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Selten war es in diesem Raum so dunkel gewesen.

„Hat dich jemand gesehen?“, fragte er, doch ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Nur Alba, die junge Frau mit der Schnittverletzung.“ Dass sie sich diese Verletzung vorsätzlich zugefügt und etwas sehr Ungewöhnliches vorhergesehen hatte, behielt ich lieber für mich.

„Wenigstens das ist eine gute Nachricht.“ Auch Vayus nahm auf einem der Stühle Platz. Eine unangenehme Stille legte sich über uns. Alura starrte auf die Tischplatte, Vayus kaute auf seiner Lippe. Und ich saß mittendrin, immer noch unfähig zu verstehen, was gerade vor sich ging.

„Es wird Zeit das Schweigen zu brechen. Sie hat ein Recht darauf es zu erfahren. Es geht dabei schließlich um ihr Leben.“ Alura warf meinem Vater einen flehenden Blick zu. Vayus legte eine Hand vor den Mund und schloss nachdenklich die Augen, als stünde er vor der schwersten Entscheidung seines Lebens. Ich hätte nicht ahnen können, dass dies tatsächlich der Fall war.

„Was soll ich erfahren? Ihr wisst von dem, was mit mir passiert ist?“

Alura stand auf, verließ den Raum und kam mit einer kleinen Holzkiste zurück, die sie mir zögerlich überreichte. Verwundert runzelte ich die Stirn und betrachtete sie von allen Seiten. Was immer sich darin befand, war leicht.

„Es ist kein Geheimnis, dass du nicht unsere leibliche Tochter bist. Als wir nicht mehr daran glaubten, schenkten uns die Götter eine Tochter. Jemand hat dich auf unserer Türschwelle abgelegt und uns somit zu Eltern gemacht. Dafür sind wir unendlich dankbar.“ Aluras Augen glänzten im fahlen Licht der Kerzen. Vayus starrte auf seine verschränkten Hände, die auf dem Tisch lagen. Mein Blick wanderte langsam zwischen den beiden hin und her, bevor ich die eisernen Verschlüsse öffnete. Auf einem sorgsam zusammengefaltetem Tuch lag ein vergilbtes, zerknittertes Stück Papier. Ich faltete es auseinander und erkannte die Linien eines Briefes darauf. Einige Buchstaben waren verschwommen. Wer auch immer ihn geschrieben hatte, musste dabei geweint haben.

„Es ist ein Brief deiner leiblichen Mutter“, erklärte Vayus, der meinen fragenden Blick bemerkt haben musste. „Er steckte zwischen dir und der Decke, in die du eingehüllt warst.“

„Der ist von meiner leiblichen Mutter?“, wiederholte ich mit bebender Stimme, nur um ganz sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte. Alura nickte zaghaft und senkte dann den Blick.

„Ihr habt ihn all die Jahre vor mir geheim gehalten?“ Der Kloß in meinem Hals machte es mir beinahe unmöglich die Worte auszusprechen. „Wieso?“

„Lies.“ Vayus deutete auf das Schriftstück in meiner Hand. „Du wirst es verstehen.“

Ich hielt die Luft an und begann zu lesen:

„Ihr lieben Menschen, ich flehe euch an mir zu helfen. Das Mädchen ist meine Tochter. Sie heißt Eleana und hat vor wenigen Tagen das Licht dieser grausamen Welt erblickt. Seither sind wir auf der Flucht. In ihren Adern fließt besonderes Blut, denn sie besitzt die Gabe zu heilen. Sicher könnt ihr euch vorstellen, in welch großer Gefahr sie sich befindet. Es gibt Menschen, die sich an dieser wundervollen Fähigkeit zu vergreifen und zu bedienen versuchen. Ich bitte euch, nehmt sie auf. Zieht sie als euer Eigen groß. Niemand darf jemals erfahren, welch außergewöhnliches Mädchen sie ist. Auch nicht sie selbst. Es ist die einzige Möglichkeit, ihr ein normales, sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Das Armband, das sie trägt, ist mein letztes Geschenk an sie. Ich stehe auf ewig in eurer Schuld.“

Immer wieder sog ich die schwarzen, geschwungene Zeilen in mir auf. Die Initialen, mit denen sie den Brief gezeichnet hatte, waren verschwommen. Ich wusste also nicht einmal ihren Namen. Ich war so vertieft in die Botschaft meiner Mutter, dass ich gar nicht die Tränen bemerkte, die jetzt über meine Wangen liefen und auf die Tischplatte tropften. Meine Mutter hatte mich weggegeben, um mich zu schützen. Die Gabe, die ich tatsächlich besaß – daran gab es nun keine Zweifel mehr – war wertvoll und gefährlich zugleich. Sie hatte das gewusst und vermutlich am eigenen Leib erfahren, denn sonst wäre sie nicht auf der Flucht gewesen. Es gab Menschen dort draußen, die nach meiner Fähigkeit lechzten. Es war nicht auszudenken, was passieren würden, wenn sie mich in die Finger bekamen. Mein Leben, wie ich es kannte und liebte würde damit mit großer Sicherheit ein Ende finden. Alura und Vayus hatten neunzehn Jahre lang mit diesem Wissen gelebt und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht.

„Verstehst du es jetzt?“ Alura schniefte und nahm mir behutsam den Brief aus der Hand. „Verstehst du, wieso wir dir nie davon erzählt haben?“

Ich nickte und griff nach der Decke, die in der Kiste lag. Mit den Fingern fuhr ich über den weichen Leinenstoff, bevor ich sie auseinanderfaltete. Sie wirkte unfassbar klein. Es war kaum zu glauben, dass ich als Säugling vollständig darin eingehüllt worden war. Ich vergrub mein Gesicht in der kleinen Decke und sog den staubigen, hölzernen Duft in mir auf. Vor langer Zeit hatte es womöglich einmal nach meiner leiblichen Mutter gerochen.

„Was nun?“, flüsterte ich. „Was soll ich tun? Es gibt jetzt jemanden, der davon weiß.“ Tief in mir, kannte ich die Antwort meiner Eltern bereits. Doch es schmerzte mehr, als ich angenommen hatte, die Worte aus dem Mund meines Vaters zu hören.

„Du solltest gehen und für eine Weile von hier verschwinden. Solange, bis wir wissen, dass dein Geheimnis immer noch sicher ist.“ Vayus atmete tief ein und schien dann die Luft anzuhalten.

„Wolltest du nicht immer auf Reisen gehen?“ Alura bemühte sich um ein aufmunterndes, starkes Lächeln, was ihr leider nicht sonderlich gut gelang. „Du könntest endlich den Mond und die Sterne sehen. Nette Menschen kennenlernen. Ein Abenteuer erleben. Was sagst du? Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt dafür.“

Ich war verwirrt. Alle Gedanken in meinem Kopf waren wild durcheinandergewürfelt.

„Vielleicht sollte ich das“, hörte ich mich selbst leise sagen. Alura hatte Recht. Mein Leben lang hatte ich davon geträumt zu reisen. Doch ich fühlte mich nicht bereit dafür. Noch nicht. Ich hatte keine Zeit gehabt mich darauf vorzubereiten. Wusste nicht in welche Richtung ich gehen, oder welche Wege ich einschlagen sollte.

„Du solltest nicht zu lange darüber nachdenken, mein Kind.“ Vayus sah mich mit ernster Miene an. „Wer auch immer diese junge Frau ist, weiß jetzt, dass es dich gibt und wo du dich aufhältst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich hier findet. Und wer weiß, wem sie alles davon erzählt.“

„Dein Vater hat recht“, fügte Alura hinzu. „Du solltest so schnell wie möglich von hier weg.“ Sie drückte meine Hand an ihren Mund und küsste sie sanft. Noch nie hatte ich meine Eltern so niedergeschlagen erlebt. So voller Schmerz und Sorge. Und das traf mich mehr als die Tatsache, dass ich von hier fortgehen musste. Die Ungewissheit wo ich war und ob es mir gut ging, würde ihnen zusetzen. Und das brach mir das Herz. Ich selbst würde gut für mich sorgen und auf mich aufpassen können, das wusste ich. Vayus hatte mir oft früher bei unseren Ausflügen und Übernachtungen im Wald beigebracht, sich in der Wildnis und fernab aller Dörfer zurechtzufinden. Außerdem wusste ich mit Pfeil und Bogen umzugehen. Ihnen das begreiflich zu machen, würde aber so gut wie unmöglich sein. Ihr ganzes Leben hatten sie dafür gesorgt, mich in Sicherheit zu wiegen und mich vor Menschen zu schützen, die mir Böses wollten. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte sich alles verändert. Ein einziger unglücklicher Zufall, und unsere Leben nahmen eine komplett andere Wendung.

„Was ist mit euch?“ Mit aller Kraft versuchte ich, die Tränen zurückzuhalten, die in meinen Augen brannten.

„Mach dir keine Sorgen. Wir kommen zurecht. Das verspreche ich dir.“ Vayus sah mich mit festem Blick an. Was er sagte, meinte er so. Daran gab es niemals auch nur den kleinsten Zweifel.

Ich nickte und kniff die Augen zusammen. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als aufzuwachen und festzustellen, dass all das nur ein böser Traum gewesen war. Doch solche Wünsche gehen bekanntlich nie in Erfüllung. Und so stand mein Entschluss fest. Bei Sonnenuntergang würde ich meine Reise beginnen.

Geblendet kniff ich die Augen zusammen. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt am Himmel schon längst passiert und in wenigen Augenblicken begann die schönste Zeit des Tages: Der Sonnenuntergang. Wenn der Himmel helles Orange und zarte Rosatöne annahm und alles in goldenes Licht tauchte. Oft verbrachte ich diese Abende irgendwo auf einer weitläufigen Wiese, umgeben von duftenden Blumen und mit einem meiner Lieblingsbücher in den Händen. Ein Buch, in dem es um fremde Welten, geheime Orte oder tapfere Krieger ging.

Der heutige Abend sah aber anders aus. Ich saß auf der Holztreppe hinterm Haus und genoss den Anblick, der sich mir hier bot. Vor mir lag mein persönliches Paradies: unser Garten. Hier gab es saftiges, grünes Gras, Beeren und Pflanzen aller Art und eine kleine Quelle, die friedlich vor sich hin plätscherte. Siebzehn Jahre lang hatte ich mich jeden Tag an diesen Anblick erfreut. Die ersten beiden Lebensjahre hatten wir in einem Dorf gelebt, das eine Tagesreise von hier entfernt lag. Doch daran erinnerte ich mich nicht. Dieses Haus und dieser Garten waren mein Zuhause. Hier war ich aufgewachsen. Vermutlich war es das letzte Mal für sehr lange Zeit, dass ich diesen Anblick genießen durfte. Ich war fast bereit zum Aufbruch. Mittlerweile hatte ich das hübsche, weiße Kleid gegen eine enge Lederhose, ein Leinenhemd, ein Mieder und einen Umhang getauscht. Die Montur war unbequem, aber praktisch für die Reise. So konnte ich ohne Probleme Bogen, Pfeile und einen Beutel mitnehmen, in dem sich Nahrung und Münzen befanden.

Hinter mir öffnete sich die Verandatür mit einem Quietschen. Vayus nahm neben mir Platz und richtete seinen Blick gen Himmel. Für einen Augenblick sagte keiner von uns beiden etwas. Seiner gleichmäßigen Atmung zu lauschen, seine Nähe zu spüren, ohne etwas sagen zu müssen, fühlte sich gut an. Erst, als die Sonne hinter den Hügeln verschwand, wandte er sich mir zu.

„Es ist soweit. Du solltest langsam aufbrechen. Um diese Zeit ist es ruhig auf den Wegen. So ist es am sichersten.“

Ich presste die Lippen aufeinander und holte tief Luft. Auch wenn ich mich nicht vor der Reise an sich fürchtete, so hatte ich doch Angst vor dem Unbekannten. Vor dem Gefühl allein zu sein. Davor, vielleicht nie wieder nach Hause zu kommen. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

„Ich weiß nicht, wo ich hin soll“, flüsterte ich, ohne meinen Vater dabei anzusehen.

„Geh in Richtung Norden. Im Süden werden die Hügel steiler. Folge am Abend dem dunkler werdenden Himmel. Wenn du am Horizont kleine Lichtpunkte entdeckst, bist du auf dem richtigen Weg…“ Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er nach etwas griff, das neben ihm auf der Treppe lag. Er übergab mir ein dickes Buch in ledernem Einband.

„Was ist das?“ Ich betrachtete es sorgfältig, bevor ich es aufschlug. In einer Nische auf der Innenseite des Einbands steckte ein kleiner Kompass.

„Es ist eine Art Tagebuch. Als ich so alt war wie du, habe ich mich ebenfalls auf eine lange Reise begeben. Mein Vater schenkte mir diesen Kompass. Er hat mir oft geholfen, wenn ich in der Klemme steckte. Das Gleiche soll er nun für dich tun. In meinem Reisetagebuch findest du unter anderem Zeichnungen von Orten und Bauwerken, die du auf deinem Weg mit Sicherheit passieren wirst. Du bist nicht allein, Eleana. Ich werde immer bei dir sein. Hier.“ Vayus deutete zuerst auf das Buch und anschließend auf seine Brust. „Und hier.“ Dann zeigte er auf seinen Kopf und grinste. „Und natürlich auch hier. Ich bin zwar nicht dein leiblicher Vater, aber deinen scharfen Verstand hast du trotzdem von mir.“

Ich schnaubte belustigt und presste das Buch an meine Brust. Vayus hatte Recht. In Gedanken waren sie immer bei mir.

„Danke. Es wird mir eine große Hilfe sein. Das macht es wirklich leichter zu gehen.“

„Wir haben dich zu einer starken, jungen Frau erzogen. Die Aufgabe, die deine Mutter uns einst übergab, ist vollbracht. Du bist alt genug, um auf dich allein gestellt zu sein. Und doch wirst du hier immer dein Zuhause vorfinden, wenn du uns brauchst.“ Mein Vater legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich und ich lehnte mich gegen ihn. Er und Alura würden mir fehlen. Es würde kein einziger Tag vergehen, an dem ich nicht an sie dachte.

Wenig später zog er ein zerknittertes, zusammengefaltetes Blatt aus seiner Westentasche, das er mir ebenfalls überreichte. „Den Brief deiner leiblichen Mutter solltest du auch mitnehmen. Vielleicht wirst du ihn irgendwann brauchen.“

Stumm nahm ich das Schriftstück entgegen, bevor ich es nickend unter den Ledereinband des Buches schob.

„Na komm, es wird Zeit.“ Vayus ließ mich los, erhob sich und ging zurück ins Haus. Ich betrachtete ein letztes Mal unseren idyllischen Garten, dann folgte ich ihm. Alura reichte mir die gepackte Tasche und meinen Bogen. „Das sollte für die nächsten Tage reichen.“ Sie lächelte matt, die Lippen zu einer dünnen Linie geformt. Im fahlen Licht der Kerzen wirkte sie unfassbar blass.

Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und schmiegte mich an sie. „Mach dir nicht so viele Sorgen. Ich schaffe das.“

„Das weiß ich.“ Sie strich mir liebevoll eine Strähne aus der Stirn. „Mir war klar, dieser Moment würde irgendwann kommen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell passiert.“

Vayus legte schützend seine Arme um uns. Sein Kinn ruhte auf meinem Kopf. Ich sog den Duft meiner Eltern in mich auf und schwor, ihn mir jeden Abend vor dem Schlafen ins Gedächtnis zu rufen und ihnen in Gedanken einen stillen Gruß zu schicken.

„Ich liebe euch beide. Bestimmt sehen wir uns bald wieder.“

„Wie lieben dich auch, Kind“, gab Vayus mit kratziger Stimme zurück und Alura wischte sich mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht.

Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, löste ich mich von meinen Eltern. Ich stopfte das Tagebuch in die Tasche und befestigte sie an meinem Gürtel. An das Gewicht, das ich mit mir trug, würde ich mich gewöhnen müssen. Zum Schluss schnallte ich mir die Bogenhalterung auf den Rücken.

„Du bist bereit. Lauf jetzt los, bevor die Sonne ihren tiefsten Punkt erreicht und es noch dunkler wird. Im Wald ist es ohnehin sehr dunkel.“ Vayus öffnete die Tür und sah sich schnell in alle Richtungen um. „Die Luft ist rein. Es ist niemand mehr unterwegs.“

Ich nickte und schob mich an ihm vorbei nach draußen.

„Bis bald“, verabschiedete ich mich und meine Stimme brach. Der Schmerz, den ich in meinem Inneren fühlte, war anders als alles, was ich jemals zuvor gefühlt hatte.

„Gute Reise.“ Alura schniefte und Vayus hob die Hand. Ich kaute nervös auf meiner Lippe und richtete den Blick nach vorn. Die Reise, von der ich immer geträumt hatte würde beginnen. Und das an meinem neunzehnten Geburtstag.

DREI

Vayus hatte mir empfohlen in Richtung Norden zu wandern. Sonnenlicht gab es dort kaum. Doch obwohl die Dunkelheit ein mulmiges Gefühl in meinem Magen versursachte, faszinierte sie mich auf seltsame Weise. Außerdem war das die Gelegenheit endlich den Mond und die Sterne zu sehen.

Der Weg, auf dem ich mich befand, wurde zunehmend enger und die Bäume dichter. Das Sonnenlicht kam kaum noch gegen das dicke Blätterdach an. Meine Füße schmerzten, dabei war seit meinem Aufbruch nicht wirklich viel Zeit vergangen. Ich kam zu dem Entschluss, ein Nachtlager aufzuschlagen, um mich auszuruhen.

Ich sammelte einige Zweige ein, die ich vor mir auf dem Weg fand und tauchte anschließend noch dichter zwischen den Bäumen ein. Ich erreichte eine Stelle, die perfekt war, um ein Feuer zu entzünden.

Wenig später saß ich vor einem knisternden Lagerfeuer, die Hände über den Flammen ausgestreckt. Hier, mitten im Wald, wurde es langsam kühl. An diesem Ort versagten selbst die kräftigsten Sonnenstrahlen der niemals untergehenden Sonne.

Ich ließ mir das Essen schmecken, das Alura mir eingepackt hatte: Selbstgebackenes Brot und Obst vom Markt.

Hinter mir raschelte es. Ich fuhr zusammen und verschluckte mich. Hustend rang ich nach Luft und riskierte dabei einen Blick nach rechts und links. Nichts. Hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet? Da. Es raschelte erneut. Und dann sah ich einen Schatten. Das war definitiv keine Einbildung. Hier war tatsächlich jemand.

„Wer ist da?“, rief ich. Keine Antwort. „Zeige dich!“ Mein Hals war staubtrocken. Nicht nur von dem Stück Brot, das dort stecken geblieben war, sondern auch aus Angst. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen.

Es raschelte abermals. Direkt neben mir.

„Hallo!“

Mit einem Schrei fuhr ich herum und blickte direkt in ein Paar tiefblaue Augen. Alba.

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sie ließ sich mir gegenüber am Feuer nieder.

Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Was machte sie hier? Sie war schließlich der Grund, warum ich so schnell aufgebrochen war. Woher wusste sie, wo ich war?

„Was willst du?“

Alba schien meinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, denn sie schnaubte belustigt.

„Was ich will? Mich am Feuer wärmen und eine Runde schlafen. Du glaubst gar nicht, wie müde ich bin. So ein Tag auf dem Markt ist ziemlich anstrengend.“

Ich musste mich verhört haben. Das konnte unmöglich ihr Ernst sein.

„Du bist mir gefolgt. Wieso?“

Alba zuckte mit den Schultern und zog ihre Beine an sich. „Ich habe gesehen, wie du weggegangen bist. Das war mir nicht geheuer.“

„Nicht geheuer?“, zischte ich wütend. „Du bist der Grund dafür!“

Alba legte den Kopf schief. „Bin ich nicht. Vielleicht bin ich der Auslöser, aber ich bin sicher nicht der Grund für deine Reise.“

Entsetzt starrte ich sie an. „Ich glaube dir nicht.“

„Glaube, was du willst. Aber nachdem ich gesehen habe, wozu du in der Lage bist, war mir sofort klar, dass du nicht die Tochter deiner Eltern sein kannst. Du bist nicht von hier. Das hat mir schon dein Name verraten.“ Alba öffnete ihre große Tasche aus Leder und zog ein riesiges Stück Stoff heraus. Das Zelt. Als Nomadin hatte sie ihr Zuhause immer bei sich.

„Das beantwortet nicht meine Frage. Wieso bist du hier?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sie seufzte genervt.

„Ich habe gesehen, wie eine dunkle Gestalt dich beobachtet hat, als du aus meinem Zelt geflohen bist. Es ist nie gut, wenn man in den Blickpunkt einer solchen Person gerät. Daher dachte ich…“

„Was meinst du mit einer solchen Person?“, unterbrach ich sie.

„Sie trug einen schwarzen Umhang. Sei doch nicht so naiv. Glaubst du wirklich es gibt niemanden, der von deiner Fähigkeit weiß? So etwas bleibt nie geheim. Niemals.“

Ich sank wieder auf meinen Platz vor dem Feuer. Jemand hatte uns beobachtet. Mindestens eine weitere Person wusste über mich Bescheid.

„Ich bin dir gefolgt, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Es war sehr dumm von mir so leichtsinnig mit deiner Fähigkeit umzugehen“, versicherte Alba. „Die Neugierde war einfach zu groß. Jetzt auf dich aufzupassen ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Was, wenn sie mich finden? Wahrscheinlich würde ich nie wieder das Tageslicht erblicken dürfen? Sie würden mich einsperren und schreckliche Dinge mit mir tun.“ Ich schluckte und starrte in das flackernde Feuer.

„Mach dir nicht so viele Sorgen. Dir wird schon nichts passieren.“ Albas Gesicht leuchtete orange im Licht der Flammen. Sie hob einen Zweig vom Boden auf und fing an im Feuer herumzustochern. „Du hast es wirklich nicht gewusst?“, fragte sie und ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Meine Eltern haben es geheim gehalten, um mich zu schützen. Ich weiß weder woher ich die Fähigkeit habe, noch, wie ich sie bewusst einsetzen kann.“

„Du solltest eine Bibliothek aufsuchen“, schlug Alba vor. „Bestimmt findest du dort etwas darüber. In Untertal gibt es eine ziemlich große.“

„Untertal? Wo ist das?“ Ich runzelte die Stirn und erntete für die Frage einen entsetzten Blick von Alba.