Electric Dreams - Philip K. Dick - E-Book
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Philip K. Dick

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Beschreibung

Die zehn Stories der Erfolgsserie Zehn Stories von dem visionären Kopf hinter den Filmen »Blade Runner«, »Total Recall«, »The Man in the High Castle« und »Minority Report«. Lesen Sie und Ihr Denken wird neu programmiert! Von der Geschichte einer Frau, die den Verdacht hat, ihr Mann sei als ein anderer von der Weltraumreise zurückgekehrt, bis zu der Story eines Agenten, der eine?r? neue?n? Welle von illegalen, telepathie-begabten Wesen auf der Spur ist: Jede Erzählung untersucht, was es bedeutet, in? einer? sich rasant verändernden Welt Mensch zu sein. Diese zehn Stories stehen hinter den 10 Episoden von »Electric Dreams«, nach »The Man in the High Castle« die zweite Erfolgsserie ?nach ?Philip K. Dick? - ?von Sony Pictures Television und Channel Four.

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Seitenzahl: 272

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Philip K. Dick

Electric Dreams

Die 10 Stories der Erfolgsserie

Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr, Klaus Timmermann, Ulrike Wasel und Bettina Wohl

FISCHER E-Books

Inhalt

AusstellungsstückDer PendlerDer unmögliche PlanetDer GehenkteEine todsichere MascheDas Vater-DingDer HaubenmacherFoster, du bist totMenschlich ist …AutofabEinzelnachweise

Ausstellungsstück

EPISODE Real Life

»Sie tragen einen wirklich sonderbaren Anzug«, bemerkte der Nahtrans-Fahrroboter. Er ließ die Tür aufgleiten und hielt am Bordstein an. »Was sind das für kleine runde Dinger?«

»Das sind Knöpfe«, erklärte George Miller. »Sie sind teilweise funktionell, teilweise zur Zierde. Das ist ein alter Anzug aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Ich trage ihn aus beruflichen Gründen.«

Er bezahlte den Roboter, nahm seine Aktentasche und eilte die Rampe hinunter zum Amt für Geschichte. Das Hauptgebäude war bereits für Besucher geöffnet; überall schlenderten Männer und Frauen in langen Gewändern umher. Miller betrat den PRIVAT-Lift, zwängte sich zwischen zwei riesige Aufseher aus der Vorchristlichen Abteilung und war einen Moment später auf dem Weg zu seiner eigenen Ebene, der »Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts«.

»Mor’n«, nuschelte er, als Aufseher Fleming ihm bei dem Exponat einer Atommaschine begegnete.

»Mor’n«, entgegnete Fleming barsch. »Hören Sie, Miller. Um es einmal klipp und klar zu sagen. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder sich wie Sie kleiden würde? Die Regierung schreibt strenge Bekleidungsregeln vor. Können Sie Ihre verdammten Anachronismen nicht hin und wieder mal vergessen? Was, in Gottes Namen, halten Sie da für ein Ding in der Hand? Es sieht aus wie eine zerquetschte Eidechse aus der Zeit des Jura.«

»Das ist eine Aktentasche aus Krokodilleder«, erklärte Miller. »Ich habe darin meine Studienspulen. Die Aktentasche war ein Autoritätssymbol der Managerklasse des späten zwanzigsten Jahrhunderts.« Er öffnete den Reißverschluss der Aktentasche. »Versuchen Sie, das zu verstehen, Fleming. Dadurch, dass ich mich an Alltagsobjekte aus meiner Forschungsperiode gewöhne, verwandelt sich mein Verhältnis dazu von bloßer intellektueller Neugier zu echtem Verständnis. Sie haben schon häufig festgestellt, dass ich manche Wörter merkwürdig ausspreche. Der Akzent ist der eines amerikanischen Geschäftsmanns der Eisenhower-Ära. Gerafft?«

»Häh?«, brummte Fleming.

»Gerafft ist ein Ausdruck aus dem zwanzigsten Jahrhundert.« Miller breitete seine Studienspulen auf dem Schreibtisch aus. »Wollten Sie etwas Bestimmtes? Wenn nicht, fange ich jetzt mit dem heutigen Arbeitspensum an. Ich habe faszinierende Indizien entdeckt, die dafür sprechen, dass der Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts wohl seine Bodenfliesen selbst verlegt, nicht aber seine eigene Kleidung gewebt hat. Ich möchte meine Exponate dahingehend ändern.«

»Niemand ist so fanatisch wie ein Akademiker«, knirschte Fleming. »Sie hinken Ihrer Zeit zweihundert Jahre hinterher. Versunken in Ihren Altertümern und Gebrauchsgegenständen. Ihren verdammten authentischen Nachbildungen von banalem Kleidungskram, der in Vergessenheit geraten ist.«

»Ich liebe meine Arbeit«, entgegnete Miller sanft.

»Niemand beschwert sich über Ihre Arbeit. Aber es gibt noch etwas anderes als Arbeit. Sie sind ein politisch-soziales Element hier in dieser Gesellschaft. Hüten Sie sich, Miller! Der Zentralbehörde liegen Berichte über Ihre Schrullen vor. Arbeitseifer wird zwar geschätzt …« Seine Augen verengten sich wichtigtuerisch. »Aber Sie gehen zu weit.«

»Loyalität bezeuge ich nur meiner Kunst«, sagte Miller.

»Loya-was? Was soll das heißen?«

»Ein Ausdruck aus dem zwanzigsten Jahrhundert.« Unverhohlene Überheblichkeit lag auf Millers Gesicht. »Sie sind nichts anderes als ein kleiner Bürokrat in einer riesigen Maschinerie. Sie sind eine Funktion in einer unpersönlichen sozialen Totalität. Sie besitzen keine individuellen Eigenschaften. Im zwanzigsten Jahrhundert besaßen die Menschen handwerkliches Können. Hatten künstlerische Fähigkeiten. Bemühten sich um Bildung. Aber diese Worte sagen Ihnen nichts. Sie haben keine Seele – noch so ein Begriff aus den goldenen Tagen des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Menschen frei waren und ihre Meinung sagen konnten.«

»Nehmen Sie sich in Acht, Miller!« Fleming erbleichte nervös und senkte die Stimme. »Ihr verdammten Gelehrten. Vergessen Sie mal lieber Ihre Bänder und blicken Sie der Realität ins Gesicht. Sie werden uns alle in Schwierigkeiten bringen mit Ihrem Gerede. Idealisieren Sie die Vergangenheit, wenn Sie wollen. Aber merken Sie sich eins – sie ist vergangen und vergessen. Die Zeiten ändern sich. Die Gesellschaft macht Fortschritte.« Er wies ungeduldig auf die Exponate, die auf der Ebene ausgestellt waren. »Das ist nur eine unvollkommene Nachbildung.«

»Sie ziehen meine Forschung in Zweifel?« Miller schäumte. »Diese Ausstellung ist absolut akkurat! Ich passe sie jeder neuen Erkenntnis an. Es gibt nichts, was ich nicht über das zwanzigste Jahrhundert weiß.«

Fleming schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck.« Er wandte sich um und trat müde von der Ebene auf die Rampe, die nach unten führte.

Miller brachte seinen Kragen und die handbemalte, bunte Krawatte in Ordnung. Er glättete sein blaues Nadelstreifenjackett, zündete sich geschickt eine Pfeife mit zwei Jahrhunderte altem Tabak an und widmete sich wieder seinen Spulen.

Warum ließ Fleming ihn nicht in Ruhe? Fleming, der diensteifrige Repräsentant der großen Hierarchie, die wie ein klebriges, graues Netz den gesamten Planeten überzog. Jede industrielle, berufliche, jede Wohn-Einheit. Ach, die Freiheit des zwanzigsten Jahrhunderts! Er verlangsamte seinen Bandabtaster einen Moment, und ein träumerischer Ausdruck glitt über seine Gesichtszüge. Das aufregende Zeitalter der Männlichkeit und Individualität, als Männer noch Männer waren …

Ungefähr in diesem Augenblick, als er gerade immer tiefer in der Schönheit seiner Forschung versank, hörte er die unerklärlichen Geräusche. Sie kamen mitten aus seinem Exponat, aus der Tiefe des komplizierten, systematisch angeordneten Innern.

Irgendjemand war in seinem Exponat.

Er konnte sie von weit hinten hören. Irgendjemand oder irgendetwas war an den Sicherheitsschranken vorbeigegangen, die aufgestellt worden waren, um das Publikum fernzuhalten. Miller schaltete seinen Bandabtaster aus und stand langsam auf. Er zitterte am ganzen Körper, als er sich vorsichtig auf das Exponat zubewegte. Er stellte die Schranke aus und stieg über das Geländer auf einen Bürgersteig aus Beton. Ein paar neugierige Besucher blinzelten, als der kleine, seltsam gekleidete Mann zwischen den authentischen Nachbildungen aus dem zwanzigsten Jahrhundert umherschlich, aus denen das Exponat bestand, und darin verschwand.

Schwer atmend ging Miller über den Bürgersteig und einen sorgsam gepflegten Kiesweg hinauf. Vielleicht war es einer von den anderen Theoretikern, ein Speichellecker von der Zentralbehörde, der herumschnüffelte und nach etwas suchte, womit er ihn in Misskredit bringen konnte. Eine Ungenauigkeit hier – ein kleiner belangloser Fehler dort. Schweiß trat ihm auf die Stirn; Wut wurde zu Furcht. Zu seiner Rechten war ein Blumenbeet. Paul-Scarlet-Rosen und niedrig wachsende Stiefmütterchen. Dann der feuchte grüne Rasen. Die leuchtendweiße Garage, das Tor halb geöffnet. Das schnittige Heck eines 1954er-Buick – und dann das Haus.

Er würde vorsichtig sein müssen. Wenn es wirklich jemand von der Zentralbehörde war, hatte er die offizielle Hierarchie gegen sich. Vielleicht war es jemand Wichtiges. Vielleicht sogar Edwin Carnap, Leiter der Zentralbehörde, der höchstrangige Beamte in der N’Yorker Außenstelle des Weltdirektorats. Zittrig stieg Miller die drei Zementstufen hinauf. Jetzt war er auf der Veranda eines Hauses im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts, das das Herzstück des Exponats bildete.

Es war ein hübsches kleines Haus; wenn er damals gelebt hätte, hätte er sich so eins gewünscht. Sechs Zimmer, Küche, Bad; ein typisch kalifornischer Bungalow mit leicht abgeschrägtem Dach. Er öffnete die Haustür und betrat das Wohnzimmer. Kamin in der Ecke. Dunkle, weinrote Teppiche. Moderne Couch und Sessel. Niedriger Couchtisch aus Hartholz mit Glasplatte. Kupferaschenbecher. Ein Zigarettenanzünder und ein Stapel Illustrierte. Glänzende Stehlampen aus Kunststoff und Stahl. Ein Bücherregal. Fernsehapparat. Panoramafenster mit Blick auf den Vorgarten. Er durchquerte den Raum und gelangte zum Flur.

Das Haus war wunderbar vollständig. Unter seinen Füßen verströmte die Fußbodenheizung einen Hauch von Wärme. Er sah in das erste Schlafzimmer. Das Boudoir einer Frau. Seidige Bettdecke. Weiße gestärkte Laken. Schwere Vorhänge. Ein Toilettentisch, Flaschen und Tiegel. Großer runder Spiegel. Kleider, die im Schrank zu sehen waren. Ein Morgenmantel über die Rückenlehne eines Sessels geworfen. Pantoffel. Nylonstrümpfe ordentlich am Fußende des Bettes platziert.

Miller ging den Flur hinunter und sah in das nächste Zimmer. Bunt bemalte Tapete: Clowns und Elefanten und Seiltänzer. Das Kinderzimmer. Zwei kleine Betten für die beiden Jungs. Modellflugzeuge. Eine Kommode mit einem Radio darauf, zwei Kämme, Schulbücher, Wimpel, ein Parken-verboten-Schild, Schnappschüsse an den Spiegel geklemmt. Ein Briefmarkenalbum.

Auch hier war niemand.

Miller sah in das moderne Badezimmer, selbst in die gelbgekachelte Dusche. Er ging durch das Esszimmer, warf einen Blick die Kellertreppe hinunter, wo die Waschmaschine und der Trockner standen. Dann öffnete er die Hintertür und überprüfte den Hof. Eine Wiese und die Heizungsanlage. Ein paar kleine Bäume und dann der dreidimensionale projizierte Hintergrund mit anderen Häusern, die sich bis zu unglaublich echt wirkenden blauen Bergen erstreckten. Und noch immer niemand. Der Hof war einsam und verlassen. Er schloss die Tür und ging zurück.

Aus der Küche drang Lachen.

Das Lachen einer Frau. Das Geklapper von Löffeln und Geschirr. Und Gerüche. Er brauchte einen Moment, um sie zu identifizieren, Fachmann, der er war. Schinken und Kaffee. Und Pfannkuchen. Jemand frühstückte. Ein Frühstück des zwanzigsten Jahrhunderts.

Er ging den Flur hinunter, an dem Schlafzimmer eines Mannes vorbei, wo Schuhe und Kleidungsstücke verstreut herumlagen, und gelangte zur Küchentür.

Eine gutaussehende Frau Ende dreißig und zwei Jungen im Teenageralter saßen um den kleinen Frühstückstisch aus Chrom und Kunststoff. Sie waren mit dem Essen fertig; die beiden Jungen zappelten ungeduldig. Sonnenlicht fiel durch das Fenster über der Spüle. Auf der elektrischen Uhr war es halb neun. Das Radio dudelte fröhlich in der Ecke. Eine große Kanne mit schwarzem Kaffee stand in der Mitte des Tisches, umgeben von leeren Tellern und Milchgläsern und Besteck.

Die Frau hatte eine weiße Bluse und einen karierten Tweedrock an. Beide Jungen trugen verwaschene Bluejeans, Sweatshirts und Tennisschuhe. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt. Miller stand wie angewurzelt in der Tür, während Gelächter und Geplauder vor sich hinplätscherte.

»Du wirst deinen Vater fragen müssen«, sagte die Frau gerade mit gespielter Strenge. »Warte, bis er zurückkommt.«

»Er hat schon gesagt, wir dürfen«, protestierte einer der Jungen.

»Dann frag ihn noch mal.«

»Morgens ist er immer muffelig.«

»Heute nicht. Er hat gut geschlafen. Sein Heuschnupfen hat ihn nicht mehr plagen können. Das neue Antihistamin, das der Doktor ihm verschrieben hat.« Sie blickte rasch zur Uhr. »Sieh mal nach, was er so lange macht, Don. Er kommt zu spät zur Arbeit.«

»Er hat nach der Zeitung gesucht.« Einer der Jungen schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Sie ist mal wieder an der Veranda vorbeigeflogen und in den Blumen gelandet.« Er drehte sich zur Tür um, und plötzlich stand Miller ihm direkt gegenüber. Flüchtig zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf, dass der Junge ihm bekannt vorkam. Verdammt bekannt – wie jemand, den er gekannt hatte, nur jünger. Er bereitete sich auf den Schock vor, als der Junge abrupt stehenblieb.

»Mann«, sagte der Junge. »Hast du mich erschreckt.«

Die Frau blickte rasch auf und sah Miller an. »Was stehst du da denn rum, George?«, fragte sie. »Komm rein und trink deinen Kaffee aus.«

Miller kam langsam in die Küche. Die Frau trank ihren Kaffee aus; beide Jungen waren aufgestanden und fingen an, sich um ihn zu drängeln.

»Du hast doch gesagt, dass ich übers Wochenende mit der Schulgruppe am Russian River zelten darf, stimmt’s?«, fragte Don. »Du hast gesagt, ich könnte mir einen Schlafsack aus der Sporthalle leihen, weil du meinen alten der Heilsarmee geschenkt hast, weil du gegen den Kapok darin allergisch warst.«

»Ja«, sagte Miller verunsichert. Don. Das war der Name des Jungen. Und sein Bruder, Ted. Aber woher wusste er das? Die Frau war vom Tisch aufgestanden und räumte das Geschirr ab, um es zur Spüle zu tragen. »Sie haben gesagt, du hast es ihnen versprochen«, sagte sie über die Schulter. Das Geschirr klapperte in die Spüle, und sie fing an, Seifenpulver darüber zu streuen. »Aber weißt du noch, als sie den Wagen fahren wollten, und so wie sie’s gesagt haben, hätte man meinen können, sie hätten deine Erlaubnis gehabt. Und die hatten sie natürlich nicht.«

Miller sank schwach am Tisch nieder. Er spielte nervös mit seiner Pfeife. Er legte sie in den Kupferaschenbecher und untersuchte seinen Jackettärmel. Was ging hier vor? In seinem Kopf drehte sich alles. Er stand abrupt auf und eilte zum Fenster über der Spüle.

Häuser, Straßen. Die fernen Berge jenseits der Stadt. Er sah und hörte Menschen. Der dreidimensionale projizierte Hintergrund war absolut überzeugend; oder war es kein projizierter Hintergrund? Wie konnte er da sicher sein? Was ging hier vor?

»George, was ist los?«, fragte Marjorie, während sie sich eine pinkfarbene Plastikschürze um die Taille band und anfing, heißes Wasser in die Spüle laufen zu lassen. »Hol lieber den Wagen raus und mach dich auf den Weg zur Arbeit. Gestern Abend hast du noch gesagt, der alte Davidson hätte darüber geschimpft, dass die Angestellten zu spät zur Arbeit kommen und während der Arbeitszeit um den Trinkbrunnen herumstehen und sich unterhalten und amüsieren.«

Davidson. Das Wort blieb in Millers Kopf haften. Er kannte den Namen, natürlich. Ein deutliches Bild stand plötzlich vor ihm; ein großer, weißhaariger alter Mann, hager und streng. Weste und Taschenuhr. Und das ganze Büro, United Electronic Supply. Das zwölfstöckige Gebäude im Zentrum von San Francisco. Der Kiosk im Foyer. Die hupenden Wagen. Überfüllte Parkplätze. Der Fahrstuhl, voller Sekretärinnen mit leuchtenden Augen, enge Pullover, Parfüm.

Er ging langsam aus der Küche, über den Flur, an seinem eigenen Schlafzimmer vorbei, an dem seiner Frau, ins Wohnzimmer. Die Haustür stand offen, und er trat hinaus auf die Veranda.

Die Luft war kühl, es roch gut. Es war ein klarer Aprilmorgen. Die Wiesen waren noch nass. Wagen fuhren die Virginia Street hinab in Richtung Shattuck Avenue. Frühmorgendlicher Pendlerverkehr, Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit. Auf der anderen Straßenseite schwenkte Earl Kelly gutgelaunt seine Oakland Tribune, während er den Bürgersteig entlang zur Bushaltestelle eilte.

In weiter Ferne konnte Miller die Bay Bridge sehen, Yerba Buena Island und Treasure Island. Jenseits davon lag San Francisco. In wenigen Minuten würde er in seinem Buick über die Brücke jagen, auf dem Weg ins Büro. Zusammen mit Tausenden von anderen Geschäftsleuten in blauen Nadelstreifenanzügen.

Ted schob sich an ihm vorbei hinaus auf die Veranda. »Dann ist es also okay? Du hast nichts dagegen, wenn wir zelten fahren?«

Miller leckte sich über die trockenen Lippen. »Ted, hör mir mal zu. Irgendwas ist seltsam.«

»Was denn?«

»Ich weiß es nicht.« Miller ging nervös auf der Veranda herum. »Heute ist Freitag, oder?«

»Klar.«

»Ich hab’s mir gedacht.« Aber woher wusste er, dass Freitag war? Woher wusste er überhaupt etwas? Aber natürlich war heute Freitag. Eine lange harte Woche – der alte Davidson hatte ihm im Nacken gesessen. Am Mittwoch vor allem, als sich der General-Electric-Auftrag wegen eines Streiks verzögert hatte.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte Miller zu seinem Sohn. »Heute Morgen – bin ich aus der Küche gegangen, um die Zeitung zu holen.«

Ted nickte. »Ja klar. Und?«

»Ich bin aufgestanden und aus dem Zimmer gegangen. Wie lange war ich weg? Nicht lange, oder?« Er suchte nach Worten, aber sein Kopf war ein Labyrinth aus zusammenhanglosen Gedanken. »Ich habe mit euch allen zusammen am Frühstückstisch gesessen, und dann bin ich aufgestanden, um nach der Zeitung zu suchen. Richtig? Und dann bin ich wieder reingekommen. Richtig?« Seine Stimme erhob sich verzweifelt. »Ich bin heute Morgen aufgestanden und habe mich rasiert und angezogen. Ich habe gefrühstückt. Pfannkuchen und Kaffee. Schinken. Richtig?«

»Richtig«, bestätigte Ted. »Und?«

»So wie immer.«

»Pfannkuchen gibt’s nur freitags.«

Miller nickte langsam. »Stimmt. Freitags Pfannkuchen. Weil mein Onkel Frank samstags und sonntags bei uns isst und er keine Pfannkuchen mag, deshalb essen wir am Wochenende keine mehr. Frank ist Marjories Bruder. Er war im Ersten Weltkrieg bei der Marineinfanterie. Er war Unteroffizier.«

»Tschüss«, sagte Ted, als Don aus dem Haus kam und sich zu ihm gesellte. »Bis heute Abend.«

Die Schulbücher unter dem Arm, schlenderten die Jungen davon, zu der großen modernen Highschool im Zentrum von Berkeley.

Miller ging wieder ins Haus und fing unwillkürlich an, im Schrank nach seiner Aktentasche zu suchen. Wo war sie? Verdammt, er brauchte sie. Der ganze Throckmorton-Vorgang war darin; Davidson würde sich die Kehle aus dem Hals schreien, wenn er sie irgendwo liegengelassen hatte, wie damals im True Blue Café, als sie alle den Sieg der Yankees gefeiert hatten. Wo zum Teufel war sie?

Er richtete sich langsam auf, als es ihm einfiel. Natürlich. Er hatte sie neben seinem Schreibtisch stehenlassen, wo er sie abgestellt hatte, nachdem er die Forschungsbänder herausgenommen hatte. Während Fleming mit ihm sprach. Im Amt für Geschichte.

Er ging zu seiner Frau in die Küche. »Hör mal«, sagte er heiser. »Marjorie, ich glaube, ich fahre heute Morgen vielleicht nicht ins Büro.«

Marjorie wirbelte erschrocken herum. »George, ist was nicht in Ordnung?«

»Ich bin – total durcheinander.«

»Schon wieder der Heuschnupfen?«

»Nein. Mein Kopf. Wie heißt der Psychiater, den der Eltern- und Lehrerverband empfohlen hat, als das Kind von Mrs Bentley diesen Anfall hatte?« Er strengte sein verwirrtes Gedächtnis an. »Grunberg, glaube ich. In dem Ärztehaus.« Er ging zur Tür. »Ich fahr da vorbei und spreche mit ihm. Irgendwas stimmt nicht – ganz und gar nicht. Und ich weiß nicht, was es ist.«

 

Adam Grunberg war ein großer, schwergewichtiger Mann Ende vierzig mit lockigem braunen Haar und Hornbrille. Nachdem Miller geendet hatte, räusperte sich Grunberg, wischte über den Ärmel seines Konfektionsanzugs und fragte nachdenklich: »Ist irgendwas passiert, während Sie draußen nach der Zeitung gesucht haben? Irgendein Zwischenfall? Versuchen Sie doch mal, sich an diesen Zeitraum zu erinnern. Sie sind vom Frühstückstisch aufgestanden, hinaus auf die Veranda gegangen und haben angefangen, zwischen den Büschen zu suchen. Und dann was?«

Miller rieb sich nervös die Stirn. »Ich weiß nicht. Es ist alles durcheinander. Ich erinnere mich nicht daran, nach irgendeiner Zeitung gesucht zu haben. Ich erinnere mich daran, wie ich ins Haus zurückgekommen bin. Ab da wird alles deutlich. Aber alles davor hängt mit dem Amt für Geschichte und mit meinem Streit mit Fleming zusammen.«

»Wie war das noch mal mit Ihrer Aktentasche? Wiederholen Sie das bitte.«

»Fleming hat gesagt, dass sie wie eine zerquetschte Eidechse aus der Zeit des Jura aussehe. Und dann habe ich gesagt –«

»Nein. Ich meine, dass Sie im Schrank danach gesucht und sie nicht gefunden haben.«

»Ich habe im Schrank nachgesehen, und da war sie nicht, natürlich. Sie lehnt an meinem Schreibtisch im Amt für Geschichte. Auf der Ebene für das zwanzigste Jahrhundert. Bei meinen Exponaten.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über Millers Gesicht. »Mein Gott, Grunberg. Ist Ihnen klar, dass das hier vielleicht nur eine Ausstellung ist? Sie und alle anderen – vielleicht sind Sie nicht echt. Nur Exponate dieser Ausstellung.«

»Das wäre nicht sehr angenehm für uns, nicht wahr?«, sagte Grunberg und lächelte schwach.

»Menschen in Träumen sind so lange sicher, bis der Träumer aufwacht«, erwiderte Miller.

»Also träumen Sie mich«, lachte Grunberg nachsichtig. »Vermutlich sollte ich mich bei Ihnen bedanken.«

»Ich bin nicht hier, weil ich Sie besonders mag. Ich bin hier, weil ich Fleming und das ganze Amt für Geschichte nicht ausstehen kann.«

Grunberg protestierte. »Dieser Fleming. Können Sie sagen, ob Sie an ihn gedacht haben, bevor Sie hinausgingen, um nach der Zeitung zu suchen?«

Miller stand auf und ging in der luxuriösen Praxis auf und ab, zwischen den lederbezogenen Sesseln und dem wuchtigen Mahagonischreibtisch. »Ich will mir über diese Sache klarwerden. Ich bin ein Exponat. Eine künstliche Nachbildung der Vergangenheit. Fleming hat gesagt, dass mir so etwas passieren würde.«

»Setzen Sie sich, Mr Miller«, sagte Grunberg freundlich, aber bestimmt. Als Miller sich wieder in seinen Sessel gesetzt hatte, fuhr Grunberg fort: »Ich verstehe, was Sie meinen. Sie haben das Grundgefühl, dass alles um Sie herum irreal ist. Eine Art Bühne.«

»Eine Ausstellung.«

»Ja, eine Ausstellung in einem Museum.«

»Im N’Yorker Amt für Geschichte. Ebene R, die Ebene für das zwanzigste Jahrhundert.«

»Und zusätzlich zu diesem Grundgefühl von – Unwirklichkeit, haben Sie sehr spezifische projizierte Erinnerungen an Personen und Orte jenseits dieser Welt. Einer anderen Welt, in der diese enthalten ist. Vielleicht sollte ich sagen, die Realität, innerhalb derer die unsere nur eine Art Schattenwelt ist.«

»Diese Welt erscheint mir nicht schattenhaft.« Miller schlug heftig auf die Lederlehne des Sessels. »Diese Welt ist völlig real. Das ist es, was nicht stimmt. Ich bin hier reingeraten, weil ich den Geräuschen nachgegangen bin, und jetzt kann ich nicht mehr raus. Großer Gott, muss ich für den Rest meines Lebens in dieser Nachbildung herumlaufen?«

»Sie wissen natürlich, dass dieses Gefühl den meisten Menschen vertraut ist. Besonders in Zeiten großer Anspannung. Wo – nebenbei bemerkt – war die Zeitung? Haben Sie sie gefunden?«

»Soweit ich weiß –«

»Ist das ein Punkt, der Sie irritiert? Ich sehe, dass Sie stark auf die Erwähnung der Zeitung reagieren.«

Miller schüttelte müde den Kopf. »Vergessen Sie’s.«

»Ja, eine Bagatelle. Der Zeitungsjunge wirft die Zeitung achtlos in die Büsche, nicht auf die Veranda. Es macht Sie wütend. Es passiert immer und immer wieder. Frühmorgens, wenn Sie sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen. Es scheint im Kleinen die ganzen alltäglichen Frustrationen und Niederlagen Ihres Jobs zu symbolisieren. Ihr ganzes Leben.«

»Die Zeitung ist mir, ehrlich gesagt, völlig egal.« Miller sah prüfend auf seine Armbanduhr. »Ich gehe jetzt – es ist fast zwölf. Der alte Davidson wird sich die Lunge aus dem Hals brüllen, wenn ich nicht im Büro bin, bevor –« Er brach ab. »Da ist es wieder.«

»Da ist was?«

»Das Ganze!« Miller wies ungeduldig aus dem Fenster. »Das Ganze hier. Diese verdammte Welt. Diese Ausstellung.«

»Ich denke mir Folgendes«, sagte Doktor Grunberg langsam. »Und ich überlasse es Ihnen, was Sie davon halten.« Er hob die klugen, erfahrenen Augen. »Haben Sie schon mal Kinder mit Raumschiffen spielen sehen?«

»Herrgott«, sagte Miller unglücklich. »Ich habe gesehen, wie Frachtraketen, die Ladungen von der Erde zum Jupiter geschafft haben, auf dem La-Guardia-Raumflughafen gelandet sind.«

Grunberg lächelte sanft. »Hören Sie mich zu Ende an. Eine Frage. Ist es der Arbeitsstress?«

»Wie meinen Sie das?«

»Es wäre in der Tat schön«, sagte Grunberg mit ruhiger Stimme, »in der Welt von morgen zu leben. Mit Robotern und Raketen, die einem alles abnehmen. Man könnte sich einfach zurücklehnen und das Leben genießen. Keinen Ärger, keine Sorgen. Keine Frustrationen.«

»In meiner Position im Amt für Geschichte habe ich jede Menge Sorgen und Frustrationen.« Miller erhob sich abrupt. »Hören Sie, Grunberg. Entweder ist das hier eine Ausstellung auf der Ebene R im Amt für Geschichte, oder ich bin ein Mittelschichts-Geschäftsmann mit Fluchtphantasien. Zurzeit kann ich nicht feststellen, was stimmt. Einmal denke ich, dies hier ist real, und im nächsten Augenblick –«

»Das lässt sich leicht feststellen«, sagte Grunberg.

»Wie?«

»Sie haben nach der Zeitung gesucht. Auf dem Weg, auf dem Rasen. Wo ist das passiert? War es auf dem Weg? Auf der Veranda? Versuchen Sie sich zu erinnern.«

»Ich muss es nicht erst versuchen. Ich war noch auf dem Bürgersteig. Ich war gerade über das Geländer gestiegen, an den Sicherheitsschirmen vorbei.«

»Auf dem Bürgersteig. Dann gehen Sie dorthin zurück. Finden Sie die genaue Stelle.«

»Warum?«

»Damit Sie sich selbst beweisen können, dass auf der anderen Seite nichts ist.«

Miller holte tief und langsam Luft. »Und wenn doch?«

»Da kann nichts sein. Sie haben selbst gesagt: Nur eine der beiden Welten kann real sein. Diese Welt ist real –« Grunberg klopfte auf seinen massiven Mahagonischreibtisch. »Ergo werden Sie auf der anderen Seite nichts finden.«

»Ja«, sagte Miller nach einem Moment des Schweigens. Ein eigentümlicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und verweilte dort. »Sie haben den Fehler gefunden.«

»Welchen Fehler?« Grunberg war verwirrt. »Was –«

Miller ging zur Tür. »Allmählich begreife ich. Ich habe die falsche Frage gestellt. Ich wollte feststellen, welche von beiden Welten real ist.« Er lächelte Doktor Grunberg ernst an. »Sie sind natürlich beide real.«

Er nahm sich ein Taxi und fuhr zurück zum Haus. Es war niemand da. Die Jungen waren in der Schule, und Marjorie war in die Stadt zum Einkaufen gefahren. Er wartete drinnen, bis er sicher war, dass auf der Straße niemand zusah, und dann ging er den Weg hinunter zum Bürgersteig.

Er fand die Stelle problemlos. Dort hing ein schwacher Schimmer in der Luft, eine durchlässige Stelle, genau am Rand des Parkstreifens. Durch sie hindurch konnte er undeutliche Gestalten sehen.

Er hatte recht. Da war sie – vollständig und real. So real wie der Bürgersteig unter ihm.

Eine lange metallische Stange wurde von den Rändern des Kreises abgeschnitten. Er erkannte sie; das Sicherheitsgeländer, das er übersprungen hatte, um in die Ausstellung zu gelangen. Dahinter war die Monitoranlage. Natürlich abgestellt. Und wiederum dahinter die übrige Ebene und die gegenüberliegenden Wände des Geschichtsgebäudes.

Er machte einen vorsichtigen Schritt in den dünnen Dunstschleier. Er schimmerte um ihn herum, neblig und undurchsichtig. Die Gestalten wurden klarer. Eine sich bewegende Figur in einer dunkelblauen Robe. Ein paar neugierige Personen, die die Exponate in Augenschein nahmen. Die Figur bewegte sich und war verschwunden. Er konnte jetzt seinen eigenen Arbeitstisch sehen. Seinen Bandabtaster und Berge von Studienspulen. Neben dem Schreibtisch stand seine Aktentasche, genau wie er erwartet hatte.

Er überlegte gerade, ob er über das Geländer steigen sollte, um seine Aktentasche zu holen, als Fleming erschien.

Instinktiv machte Miller einen Schritt zurück durch die durchlässige Stelle, als Fleming näher kam. Vielleicht war es der Ausdruck auf Flemings Gesicht. Miller trat jedenfalls zurück und stand sicher auf dem betonierten Bürgersteig, als Fleming knapp jenseits der Nahtstelle stehen blieb, mit rotem Gesicht und vor Empörung zuckenden Lippen.

»Miller«, sagte er heiser. »Kommen Sie da raus.«

Miller lachte. »Seien Sie so nett, Fleming. Reichen Sie mir meine Aktentasche. Das ist das seltsam aussehende Ding dahinten neben dem Schreibtisch. Ich habe sie Ihnen gezeigt – wissen Sie noch?«

»Hören Sie auf, rumzualbern. Hören Sie mir lieber zu!«, zischte Fleming. »Die Sache ist ernst. Carnap weiß Bescheid. Ich musste ihn informieren.«

»Gut für Sie. Der ergebene Bürokrat.«

Miller beugte sich vor, um seine Pfeife anzuzünden. Er inhalierte und stieß eine große graue Wolke Tabakrauch durch die durchlässige Stelle hinaus auf die Ebene R. Fleming hustete und wich zurück.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragte er.

»Tabak. Eine von den Sachen, die die Menschen hier haben. Sehr verbreitete Substanz im zwanzigsten Jahrhundert. Sie können das nicht wissen – Ihre Periode ist ja das zweite Jahrhundert vor Christus. Die hellenistische Welt. Ich weiß nicht, ob Ihnen die gut gefallen würde. Damals hatten sie keine besonders guten sanitären Anlagen. Die Lebenserwartung war verdammt kurz.«

»Wovon reden Sie?«

»Im Vergleich dazu ist die Lebenserwartung meiner Forschungsperiode ziemlich hoch. Und Sie sollten mal das Badezimmer sehen, das ich habe. Gelbe Kacheln. Und Dusche. In den Amts-Freizeitheimen haben wir nichts dergleichen.«

Fleming brummte mürrisch: »Anders ausgedrückt, Sie wollen da drinbleiben.«

»Es ist angenehm hier«, sagte Miller leichthin. »Natürlich ist meine Situation auch überdurchschnittlich gut. Ich möchte sie Ihnen gern beschreiben. Ich habe eine attraktive Frau: In dieser Ära ist Heirat erlaubt, wird sogar gern gesehen. Ich habe zwei prima Kinder – beides Jungen –, die dieses Wochenende zum Russian River fahren. Sie wohnen bei mir und meiner Frau – wir haben vollständiges Sorgerecht über sie. Der Staat hat über sie keine Macht, noch nicht. Ich habe einen nagelneuen Buick –«

»Wahnvorstellungen«, fauchte Fleming. »Psychotische Wahnvorstellungen.«

»Sind Sie sicher?«

»Sie Wahnsinniger! Ich habe immer gewusst, dass Sie zu egozentrisch sind, um sich wirklich der Realität zu stellen. Sie und Ihre anachronistischen Fluchten. Manchmal schäme ich mich, dass ich Theoretiker bin. Ich wünschte, ich wäre Techniker geworden.« Flemings Lippen zuckten. »Wirklich, Sie sind verrückt. Sie stehen da in einem artifiziellen Exponat, das dem Amt für Geschichte gehört, ein Haufen Kunststoff und Kabel und Stützbalken. Die Nachbildung einer vergangenen Zeit. Eine Imitation. Und Sie möchten lieber dort sein als in der realen Welt.«

»Seltsam«, sagte Miller nachdenklich. »Mir scheint, genau dasselbe habe ich eben schon mal gehört. Sie kennen nicht zufällig einen Doktor Grunberg? Psychiater.«

Unvermittelt tauchte Direktor Carnap in Begleitung seiner Assistenten und Experten auf. Fleming zog sich rasch zurück. Miller stand plötzlich einer der mächtigsten Figuren des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gegenüber. Er grinste und streckte die Hand aus.

»Sie verrückter Idiot«, grollte Carnap. »Kommen Sie da raus, bevor wir Sie rausholen. Wenn Sie uns dazu zwingen, sind Sie erledigt. Sie wissen, was wir mit Psychoten im fortgeschrittenen Stadium machen. Das bedeutet für Sie Euthanasie. Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance, aus diesem Exponat –«

»Tut mir leid«, sagte Miller. »Es ist kein Exponat.«

Auf Carnaps fleischigem Gesicht stand echte Überraschung geschrieben. Einen kurzen Augenblick lang verschwand die mächtige Pose. »Sie wollen ernsthaft behaupten –«

»Das hier ist eine Zeitschranke«, sagte Miller leise. »Sie können mich nicht rausholen, Carnap. Sie können mich nicht erreichen. Ich bin in der Vergangenheit, zweihundert Jahre in der Vergangenheit. Ich bin auf die Koordinate eines früheren Lebens gelangt. Ich habe einen Übergang gefunden und bin aus Ihrem Kontinuum in dieses hier entwischt. Und daran können Sie nichts ändern.«

Carnap und seine Experten steckten die Köpfe zusammen und führten ein rasches Fachgespräch. Miller wartete geduldig. Er hatte jede Menge Zeit; er hatte beschlossen, sich bis Montag nicht im Büro blicken zu lassen.

Nach einer Weile näherte sich Carnap erneut der Nahtstelle, wobei er darauf achtete, nicht jenseits der Absperrung zu gelangen. »Eine interessante Theorie, Miller. Das ist das Seltsame an Psychoten. Sie erklären ihre Wahnvorstellungen rational und ordnen sie in ein logisches System ein. A priori macht sich Ihre Vorstellung ganz gut. Sie ist in sich konsistent. Nur –«

»Nur was?«

»Nur stimmt sie leider nicht.« Carnap hatte sein Selbstvertrauen wiedergefunden; er schien das Gespräch zu genießen. »Sie denken, Sie sind wirklich in der Vergangenheit. Ja, dieses Exponat ist wirklich sehr originalgetreu. Ihre Arbeit ist immer gut gewesen. Die Detailgenauigkeit wird von keinem anderen Exponat hier erreicht.«

»Ich habe mich bemüht, gute Arbeit zu leisten«, murmelte Miller.

»Sie haben archaische Kleidung getragen und archaische Sprachmanierismen gepflegt. Sie haben alles Erdenkliche getan, um sich zurückzukatapultieren. Sie haben sich mit Leib und Seele Ihrer Arbeit gewidmet.« Carnap klopfte mit dem Fingernagel auf das Sicherheitsgeländer. »Es wäre schade, Miller. Wirklich jammerschade, eine so authentische Nachbildung zu vernichten.«

»Ich verstehe Ihr Argument«, sagte Miller nach einer Weile. »Ich stimme Ihnen zu, zweifellos. Ich bin sehr stolz auf meine Arbeit – ich fände es schrecklich, wenn alles zerstört würde. Aber es würde wirklich nichts nützen. Das Einzige, was Sie erreichen würden, wäre, die Zeitschranke zu schließen.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich. Das Exponat ist nur ein Übergang, eine Verbindung mit der Vergangenheit. Ich bin durch das Exponat gegangen, aber dort bin ich jetzt nicht. Ich bin jenseits des Exponats.« Er grinste angespannt. »Ihre Zerstörung kann mich nicht erreichen. Aber sperren Sie mich ruhig aus, wenn Sie wollen. Ich glaube nicht, dass ich irgendwann zurückkommen möchte. Ich wünschte, Sie könnten diese Seite sehen, Carnap. Es ist schön hier. Freiheit, unbegrenzte Möglichkeiten. Die Regierung hat nur eine begrenzte Gewalt, ist dem Volk verantwortlich. Wenn Ihnen hier eine Arbeit nicht gefällt, kündigen Sie. Hier gibt es keine Euthanasie. Kommen Sie rüber. Ich werde Sie meiner Frau vorstellen.«

»Wir kriegen Sie«, sagte Carnap. »Und all Ihre psychotischen Phantasieprodukte dazu.«

»Ich bezweifle, dass irgendeines meiner ›psychotischen Phantasieprodukte‹ sich darüber groß Sorgen macht. Grunberg jedenfalls nicht. Und ich glaube nicht, dass Marjorie –«

»Wir haben bereits die nötigen Vorbereitungen getroffen«, sagte Carnap ruhig. »Wir werden Schritt für Schritt vorgehen, nicht alles auf einmal vernichten. Damit Sie die Möglichkeit haben, sich an der wissenschaftlichen und – künstlerischen Art zu erfreuen, mit der wir Ihre imaginäre Welt auseinandernehmen.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte Miller. Er wandte sich um und ging weg, ging über den Bürgersteig, zu dem Kiesweg und hinauf zur Veranda des Hauses.

Im Wohnzimmer ließ er sich in den Sessel fallen und schaltete den Fernseher ein. Dann ging er in die Küche und holte sich eine eiskalte Dose Bier. Er trug sie gutgelaunt zurück in das sichere, gemütliche Wohnzimmer.

Als er sich vor den Fernseher setzte, bemerkte er etwas Zusammengerolltes auf dem niedrigen Couchtisch.

Er grinste schief. Es war die Morgenzeitung, nach der er so angestrengt gesucht hatte. Marjorie hatte sie zusammen mit der Milch hereingeholt, wie üblich. Und natürlich vergessen, es ihm zu sagen. Er gähnte genüsslich, beugte sich runter und nahm sie in die Hände. Zufrieden faltete er sie auseinander – und las die großen schwarzen Schlagzeilen.

Russland im Besitz der Kobaltbombe

Totale Zerstörung der Welt steht bevor

Der Pendler

EPISODE The Commuter

Der kleine Kerl war müde. Er schob sich langsam durch die Menschenmenge, mitten durch die Bahnhofsvorhalle zum Fahrkartenschalter. Ungeduldig wartete er, bis er an der Reihe war, seine Erschöpfung zeigte sich an den hängenden Schultern und dem schlaffen braunen Mantel.

»Der Nächste«, krächzte Ed Jacobson, der Fahrkartenverkäufer.

Der kleine Kerl warf eine Fünfdollarnote auf die Theke. »Geben Sie mir eine neue Monatskarte. Die alte ist abgelaufen.« Er spähte an Jacobson vorbei auf die Wanduhr. »Himmel, ist es wirklich schon so spät?«

Jacobson nahm die fünf Dollar. »Okay, Mister. Eine Monatskarte. Wohin?«

»Macon Heights«, gab der kleine Kerl an.

»Macon Heights.« Jacobson zog seinen Plan zu Rate. »Macon Heights. So einen Ort gibt es nicht.«

Die Miene des kleinen Mannes wurde misstrauisch. »Soll das ein Witz sein?«

»Mister, es gibt kein Macon Heights. Ich kann Ihnen keine Fahrkarte verkaufen, wenn es diesen Ort nicht gibt.«

»Was wollen Sie damit sagen? Ich wohne dort!«

»Das interessiert mich nicht. Ich verkaufe seit sechs Jahren Fahrkarten, und diesen Ort gibt es nicht.«