Elefantenwinter - Michael Morpurgo - E-Book

Elefantenwinter E-Book

Michael Morpurgo

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lizzie lebt mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in Dresden, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Während ihr Vater an die Front muss, nimmt Lizzies Mutter eine Stelle im Dresdner Zoo an. Das Elefantenmädchen Marlene schließt sie sofort ins Herz. Als die Stadt 1944 von den Aliierten bombardiert wird, flieht die Familie – mit Marlene im Schlepptau. Die Flucht ist beschwerlich und stets begleitet von Hunger und Angst. Alle sind am Ende ihrer Kräfte. Aber dann treffen sie Peter, einen kanadischen Piloten, der ihnen seine Hilfe anbietet. Doch können sie ihm, dem Feind, vertrauen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2013

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.www.aladin-verlag.de Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2013 Originalcopyright © Michael Morpurgo 2010 Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd., London Originaltitel: An Elephant in the Garden Aus dem Englischen von Birgit Salzmann Umschlagbild von Joachim Knappe Lektorat: Svenja Drewes Herstellung und Satz: Steffen Meier Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg E-Book-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8489-6011-8

Für Bella, Freddie und Max

Teil 1

Glaubens

frage

Eins

Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass Lizzie uns ihre Geschichte jemals erzählt hätte, wenn Karl nicht Karl hieße.

Aber vielleicht sollte ich das lieber erklären.

Ich bin Pflegerin in einem Altenheim gleich bei uns um die Ecke. Eine Weile habe ich nur halbtags gearbeitet, weil ich Zeit genug für meinen neunjährigen Sohn Karl haben wollte. Wir hatten nur uns beide und deshalb musste ich zu Hause sein, um ihn zu verabschieden, wenn er zur Schule ging und um mich um ihn zu kümmern, wenn er wieder heimkam. An den Wochenenden bat man mich jedoch manchmal, Überstunden zu machen, was ich nicht immer ablehnen konnte, denn wir kamen alle abwechselnd an die Reihe, die Wochenendschichten zu übernehmen. Und das Geld konnten wir natürlich auch gut gebrauchen. So kam es, dass ich Karl mit zur Arbeit bringen durfte, wenn ich niemanden hatte, zu dem er gehen oder der auf ihn aufpassen konnte.

Anfangs war ich ein bisschen in Sorge, dass es jemanden stören könnte und ich machte mir Gedanken, wie er wohl mit den alten Leuten auskommen würde. Doch es gefiel ihm und bald schon stellte sich heraus, dass es den alten Leuten auch gefiel. Außerdem hatte er den ganzen Park zum Spielen. Manchmal brachte er ein paar Freunde mit und sie kletterten auf Bäume, kickten einen Fußball herum oder sausten auf ihren Mountainbikes durch die Gegend. Für die Heimbewohner entwickelten sich die Besuche der Kinder schon bald zu einem festen Bestandteil des Wochenendes, zu etwas, worauf sie sich freuen konnten. Sie scharten sich immer um die Wohnzimmerfenster und sahen den Kindern oft stundenlang zu. Und wenn es einmal regnete, kamen Karl und seine Freunde herein, um mit ihnen Schach zu spielen oder im Fernsehen einen Film anzuschauen.

Vor ein paar Wochen dann, an einem Freitagabend, begann es plötzlich heftig zu schneien. Am darauffolgenden Morgen musste ich zur Arbeit – an jenem Wochenende hatte ich Frühschicht – und Karl musste mich ins Altersheim begleiten. Das machte ihm nicht das Geringste aus. Er lud noch ein halbes Dutzend seiner Freunde ein und ging mit ihnen im Park rodeln. Dabei besaß kein Einziger von ihnen einen Schlitten. Stattdessen hatten sie einfach alles mitgebracht, was irgendwie rutschte: Plastiktüten, Surfbretter, ja sogar einen Schwimmreifen. Und wie sich zeigte, funktionierte der blanke Hosenboden genauso gut wie alles andere. An diesem Vormittag schallte fröhliches Lachen durch das Heim, während die alten Herrschaften dabei zusahen, wie die Jungs im Schnee herumtobten. Nach und nach verwandelte sich die Rodelpartie dann in eine Schneeballschlacht, welche die Heimbewohner offensichtlich ebenso genossen wie Karl und seine Freunde. Ich war die meiste Zeit über beschäftigt, doch als ich einmal aus dem Wohnzimmerfenster blickte, sah ich, dass die Jungs zur allgemeinen Begeisterung gerade dabei waren, direkt davor einen riesigen Schneemann zu bauen.

Deshalb war ich auch völlig überrascht, als ich kurz darauf in Lizzies Zimmer kam und Karl dort vorfand. Er saß in Jacke und Mütze an ihrem Bett und die beiden plauderten miteinander, als seien sie alte Freunde.

»Ach, da sind Sie ja«, sagte Lizzie und winkte mich herein. »Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie einen Sohn haben. Und dass er Karl heißt! Kaum zu glauben. Und er sieht auch noch genauso aus wie er. Diese Ähnlichkeit, wirklich verblüffend. Ich habe ihm auch von dem Elefanten im Garten erzählt. Und er glaubt mir.« Sie drohte mir scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Sie dagegen glauben mir ja nicht. Das weiß ich. Niemand hier glaubt mir, außer Karl.«

Ich schob Karl aus dem Zimmer und ein Stück den Flur entlang und schimpfte ihn ordentlich aus, weil er einfach so ungebeten bei Lizzie hereinmarschiert war. Eigentlich war das kein Wunder. Karl machte sich immer irgendwie selbstständig. Was mich allerdings wunderte, war, dass er so wütend reagierte.

»Sie wollte mir gerade von ihrem Elefanten erzählen«, protestierte er lautstark und versuchte sich von mir loszureißen.

»Es gibt keinen Elefanten, Karl«, erwiderte ich. »Sie bildet sich nur etwas ein. Alte Menschen tun das manchmal. Sie geraten einfach ab und zu im Kopf ein bisschen durcheinander. Jetzt komm schon.«

Erst als wir am Nachmittag wieder zu Hause waren, hatte ich Gelegenheit, mich in Ruhe mit ihm hinzusetzen und ihm alles über Lizzie und ihre Elefantengeschichte zu erzählen. Ich erklärte ihm, dass ich aus ihren Unterlagen wusste, dass sie zweiundachtzig Jahre alt war. Dass sie bereits seit einer ganzen Weile im Altersheim lebte und dass wir uns und unsere kleinen Eigenheiten deshalb schon ganz gut kannten. Dass sie manchmal ein bisschen kratzbürstig, ja bei den anderen Pflegerinnen sogar ziemlich störrisch, sein konnte. Bei mir jedoch sei sie immer höflich, zurückhaltend und recht kooperativ – na ja, meistens jedenfalls. Aber selbst mir gegenüber könne sie ab und zu ziemlich starrköpfig werden, vor allem, wenn es darum ging, die Mahlzeiten, die ich ihr servierte, aufzuessen. Außerdem trinke sie nie genug, egal wie gut ich ihr auch zuredete.

Karl stellte immer mehr Fragen. »Wie lange genau ist sie schon im Pflegeheim?« »Was hat sie denn?« »Warum liegt sie alleine in ihrem Zimmer und ist nicht bei den anderen?« Er wollte einfach alles wissen und ich erzählte ihm alles … dass sie und ich uns ganz besonders ins Herz geschlossen hatten, dass sie mir immer sagte, was sie dachte, manchmal sogar allzu direkt, und dass mir das gefiel. An ihrem ersten Tag im Pflegeheim hatte sie mir verkündet: »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Es passt mir gar nicht, dass ich hier sein muss. Aber wo ich nun mal da bin und wir beide uns sicher öfters begegnen werden, dürfen Sie mich Lizzie nennen.«

Und das tat ich. Für alle anderen Pflegerinnen war sie Elisabeth, doch für mich war sie Lizzie. Sie schlief viel, hörte oft Radio und las eine Menge Bücher. Und sie mochte es gar nicht, beim Lesen gestört zu werden, auch nicht wenn ich ihr Medikamente geben wollte. Krimis hatte sie besonders gern. Einmal verkündete sie mir stolz, dass sie sämtliche Bücher von Agatha Christie gelesen hätte.

Ich erzählte Karl, dass sie nach Meinung des Arztes schon wochenlang bevor sie eingeliefert wurde, nicht mehr richtig gegessen hätte. Und genau so sah sie auch aus, als ich sie zum ersten Mal in ihrem Bett liegen sah: ganz ausgezehrt und hutzelig, die Haut auf den Wangenknochen bleich und durchscheinend und die Haare kalkweiß. Doch selbst in diesem Zustand hatte sie etwas Besonderes, etwas sehr Lebendiges an sich – mit ihrem festen Blick und einem unerwarteten Lächeln, das ihr ganzes Gesicht zum Strahlen brachte. Über ihr Leben wusste ich nichts – Verwandte, die sie besucht hätten, kamen keine. Sie schien vollkommen allein auf der Welt zu sein.

»Sie ist ein bisschen wie Großmutter«, versuchte ich Karl ihren Geisteszustand zu beschreiben. »Du weißt schon, wie alte Leute häufig so sind, ein wenig vergesslich und durcheinander – wenn sie von ihrem Elefanten anfängt zum Beispiel. Dann hört sie gar nicht mehr auf, davon zu erzählen, und zwar nicht nur mir, sondern einfach jedem, der ihr über den Weg läuft. ›Wir hatten einen Elefanten im Garten, wissen Sie‹, sagt sie immer. Alles Unsinn, Karl, ich schwör’s dir.«

»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte Karl, immer noch wütend auf mich. »Und außerdem ist es mir egal, was du sagst. Ich glaube, es stimmt, was sie mir über den Elefanten erzählt hat. Sie flunkert nicht, sie hat das nicht bloß erfunden. Das würde ich merken.«

»Warum würdest du das merken?«

»Weil ich selbst manchmal flunkere. Ich spüre, wenn jemand das macht. Sie flunkert nicht. Und so durcheinander im Kopf wie Großmutter ist sie auch nicht. Wenn sie sagt, sie hatten einen Elefanten im Garten, dann stimmt das auch.«

Ich wollte mich nicht mit ihm streiten und ihn noch mehr gegen mich aufbringen, also sagte ich nichts weiter. In der darauffolgenden Nacht lag ich jedoch wach und überlegte, ob Karl vielleicht Recht haben könnte. Und je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr glaubte ich, dass Lizzies Elefantengeschichte vielleicht doch ein Quäntchen Wahrheit enthielt.

Als ich am nächsten Vormittag an der Arbeit war und Karl mit seinen Freunden im Schnee herumtobte, wäre ich am liebsten zu Lizzie hineingegangen und hätte sie nach ihrem Elefanten gefragt, doch es schien mir irgendwie nie der passende Augenblick. Ich wollte nicht aufdringlich sein und hielt es für besser nicht weiter nachzubohren. Sie machte immer einen recht verschlossenen Eindruck auf mich und schien ganz zufrieden, wenn man sie in Ruhe ließ. Wir hatten uns inzwischen aneinander gewöhnt und kamen gut miteinander aus. Das wollte ich nicht aufs Spiel setzen. Als ich zu ihr ins Zimmer ging, beschloss ich deshalb, sie nur dann nach dem Elefanten zu fragen, wenn sie selbst das Thema wieder aufbringen würde. Doch sie sprach nicht mehr davon. Sie erkundigte sich allerdings nach Karl. Sie wollte alles über ihn wissen. Vor allem wann er sie denn wieder besuchen käme. Sie sagte, sie wolle ihm etwas ganz Besonderes zeigen. Sie schien ganz aufgeregt deswegen, bat mich jedoch, ihm nichts davon zu sagen. Es sollte eine Überraschung sein.

Da bemerkte ich, dass sie wieder nichts von ihrem Wasser getrunken hatte und ich schimpfte sie freundlich aus, woran sie inzwischen schon gewöhnt war. Ich sah sie vorwurfsvoll an und ging um ihr Bett herum, um das Fenster zu schließen. »Lizzie, Sie sind wirklich unverbesserlich, was das Trinken anbetrifft«, ermahnte ich sie. Aber sie hörte mir gar nicht zu.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Fenster aufzulassen, meine Liebe?«, fragte sie. »Ich mag die frische Luft auf meinem Gesicht. Sie kühlt mich ein wenig ab. Hier drin ist es ziemlich überheizt. Eine ganz schöne Geldverschwendung ist das.« Ich tat, worum sie mich bat, und sie bedankte sich – ihre Manieren waren immer vorbildlich. Dann blickte sie hinaus zu den Kindern. »Ihr kleiner Karl mag wohl den Schnee. Wenn ich ihm da draußen so zuschaue, sehe ich meinen Bruder vor mir. An jenem Tag schneite es auch …« Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort. »Ich glaube, ich habe heute Morgen im Radio gehört, dass wir den 13. Februar haben. Stimmt das?«

Ich sah auf mein Handy und bestätigte es.

»Was meinen Sie, wird Ihr kleiner Karl mich heute wieder besuchen kommen?«, fragte sie weiter. Es schien ihr ziemlich viel daran zu liegen. »Hoffentlich. Ich würde ihm gerne etwas zeigen … ich denke, es würde ihn interessieren.«

»Er kommt ganz bestimmt«, antwortete ich, obwohl ich mir da nicht so sicher war. Ich wusste zwar, dass Karl noch mehr von ihrer Elefantengeschichte hören wollte, im Moment schien er jedoch viel zu viel Spaß draußen im Schnee zu haben. Als ich Lizzie daraufhin wusch und ihr die Kissen aufschüttelte, damit sie es wieder schön bequem hatte, verlor sie kein Wort mehr darüber. Ich war gerade damit beschäftigt, ihr ausgiebig die Haare zu bürsten – sie liebte es, wenn ich das tat – als es an der Tür klopfte. Zu ihrer offensichtlichen Freude war es Karl. Völlig außer Atem und mit glühendem Gesicht kam er herein und setzte sich zu ihr. Seine Jacke war überall voll Schnee und sogar seine Haare hatten etwas abbekommen. Sie streckte die Hand aus, um den Schnee wegzuwischen und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange. »Kalt«, sagte sie. »Kalt, wie am 13. Februar, am 13. Februar …«, und ihre Gedanken schienen in die Ferne zu schweifen.

»Ihr Elefant. Sie wollten mir von dem Elefanten in Ihrem Garten erzählen, erinnern Sie sich?«, sagte Karl.

Da wurde Lizzie plötzlich ganz aufgeregt und die Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich dachte, es wäre vielleicht besser, wenn Karl wieder ginge. »Er kann ein anderes Mal wiederkommen«, schlug ich vor.

»Nein«, erwiderte sie und beharrte darauf, dass wir blieben, dass sie uns unbedingt etwas erzählen müsse.

Also zog ich einen zweiten Stuhl heran und setzte mich zu den beiden. »Was denn, Lizzie? Hat es irgendwie mit dem 13. Februar zu tun?«

Sie wandte sich ab, ohne das Zittern in ihrer Stimme verbergen zu können. »Das war der Tag, der mein Leben für immer veränderte«, antwortete sie. Ich beugte mich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie erwiderte meinen Händedruck nur schwach, jedoch fest genug, um mich wissen zu lassen, dass sie wirklich wollte, dass wir dablieben. Sie blickte aus dem Fenster und zeigte nach draußen.

»Da, seht ihr das? Hört Ihr das? Wie der Wind durch die Bäume fegt. Wie die Zweige hin und her schwanken. Ob sie wohl Angst haben? Das sagte der kleine Karli an jenem Tag. Er meinte, die Bäume würden sich vor dem Wind fürchten und am liebsten weglaufen, aber sie könnten es nicht. Darüber wurde er sehr traurig.« Sie lächelte Karl an. »Karli war mein kleiner Bruder und du erinnerst mich sehr an ihn. Ich bin wirklich froh. Darüber, dass du hier bist, meine ich; noch dazu gerade heute. Nun kann ich dir Karlis und meine Geschichte erzählen. Aber es macht mich auch traurig. Am 13. Februar bin ich immer traurig. Der Wind in den Bäumen ruft meine Erinnerung wach.«

Mir war bereits früher aufgefallen, dass sie ein seltsames Englisch sprach. Sie formulierte stets ganze Sätze und artikulierte die Worte besonders genau und überkorrekt. Obwohl ihr Name englisch klang, hatte ich schon immer den Eindruck, dass sie auch aus den Niederlanden, aus Skandinavien oder vielleicht aus Deutschland stammen könnte.

»Der Wind war feuerheiß«, fuhr sie fort. »Ich glaube ja nicht an Himmel oder Hölle. Aber er war wie der Windhauch der Hölle, wenn du dir das vorstellen kannst. Ich dachte, wir würden alle bei lebendigem Leib verbrennen.«

»Aber Sie haben doch gesagt, es war Februar«, fiel Karl ihr ins Wort. Ich warf ihm einen strengen Blick zu, doch Lizzie schien die Frage überhaupt nicht zu stören. »Das ist doch im Winter«, plapperte Karl weiter. »Ich meine, wo haben Sie denn gewohnt, etwa in Afrika oder so?«

»Nein, nicht in Afrika. Hatte ich das nicht schon erzählt?« Plötzlich wirkte sie ein wenig verunsichert. »Der Elefant war in unserem Garten, weißt du. Ehrlich. Und er fraß gerne Kartoffeln, Unmengen davon.« Mein gequältes Lächeln musste mich verraten haben. »Sie glauben mir immer noch nicht, stimmt’s? Nun ja, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Wahrscheinlich halten Sie und all die anderen Pflegerinnen mich für eine schrullige alte Schachtel, die nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Mag sein, dass meine alten Knochen nicht mehr so recht wollen – deshalb bin ich ja auch hier, oder? Meine Beine gehorchen mir manchmal nicht, und mein Herz schlägt auch nicht mehr so ganz im Takt. Es flattert und hat Aussetzer und denkt sich seinen eigenen Rhythmus aus, wovon mir ganz schwindlig wird, und das ist alles andere als angenehm. Aber eins kann ich Ihnen versichern, mein Hirn ist noch kerngesund und mein Verstand messerscharf. Und wenn ich sage, wir hatten einen Elefanten im Garten, dann war das auch so. Mein Gedächtnis ist noch absolut in Ordnung.«

»Ich finde nicht, dass Sie schrullig sind«, sagte Karl. »Oder verrückt.«

»Lieb von dir, dass du das sagst, Karl. Wir zwei werden bestimmt gute Freunde. Wenn ich allerdings genau darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass ich mich nicht mehr an besonders viel von dem erinnere, was gestern war. Nicht mal, was ich heute zum Frühstück gegessen habe, weiß ich noch. Aber das, worauf es wirklich ankommt, vergesse ich nie. Es ist, als hätten sich mir die wichtigen Ereignisse ins Gedächtnis gebrannt. Deshalb erinnere ich mich auch noch sehr gut an den Abend meines sechzehnten Geburtstages. Ich blickte aus dem Fenster und sah ihn. Zuerst schien er wie ein riesiger dunkler Schatten, doch dann bewegte sich der Schatten plötzlich und ich schaute noch einmal hin. Es war ein Elefant, ganz eindeutig. In diesem Augenblick wusste ich es natürlich noch nicht, doch dieser Elefant, der da in unserem Garten stand, sollte mein Leben für immer verändern, und nicht nur meines, sondern das meiner ganzen Familie. Er würde uns sogar das Leben retten.«

Zwei

Lizzie hielt für einen Moment inne und lächelte mich verständnisvoll an. »Nein, nein, meine Liebe. Sie haben viel zu viel zu tun, um hier rumzusitzen«, sagte sie mitfühlend. »Sie müssen sicher weitermachen, nach den anderen Patienten sehen. Ich kenne das. Ich war auch mal so etwas wie eine Altenpflegerin. Da hat man immer alle Hände voll zu tun. Aber ich kann mich ja mit Karl unterhalten. Ich kann ihm meine Elefantengeschichte erzählen.«

Auf keinen Fall wollte ich aber nun ihre Geschichte verpassen. Wenn Karl sie hören sollte, wollte ich das auch. Denn inzwischen hatte ich an ihrem Tonfall erkannt, dass sie sich nichts ausdachte und dass Karl Recht gehabt hatte, was sie betraf. »Sie können doch jetzt nicht mittendrin aufhören«, erwiderte ich. »Ich habe sowieso um zwölf Dienstschluss, und das ist ziemlich genau jetzt. Also habe ich ab sofort frei.«

»Und wir wollen alles über den Elefanten hören, stimmt’s, Mama?«, sagte Karl.

»Das werdet ihr, Karli. Ich denke, von nun an nenne ich dich Karli; wie meinen kleinen Bruder. Dann ist es, als gehörtest du mit zur Geschichte.« Sie legte den Kopf zurück in die Kissen. »Hinter mir liegt ein langes Leben, in dem viel passiert ist. Deshalb könnte es eine Weile dauern. Ihr müsst Geduld haben. Zuerst müsst ihr einmal all die Namen und Orte kennenlernen. Ich hieß damals Elisabeth, manche Leute nannten mich auch Lisbeth – den Namen Lizzie bekam ich erst viel später. Dann war da meine Mutter, wir nannten sie immer Mutti. Und, wie ich schon erwähnt habe, hatte ich einen kleinen Bruder, Karli, der ungefähr acht Jahre jünger war als ich. Er wollte immer alles wissen, fragte uns Löcher in den Bauch, und wenn wir ihm antworteten, hatte er gleich wieder eine neue Frage zu der Antwort, die wir ihm gerade gegeben hatten. ›Ja, aber warum?‹, fragte er jedes Mal. ›Wieso? Weshalb?‹ Am Ende riss uns oft der Geduldsfaden und wir sagten einfach ›weil es eben so ist‹. Damit gab er sich dann zufrieden – keine Ahnung, warum.

Karli hatte von Geburt an ein kürzeres Bein, deshalb mussten wir ihn häufig tragen, aber er war immer gut gelaunt. Ja, er war sogar der Familieclown und brachte uns ständig zum Lachen. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war das Jonglieren. Das konnte er selbst mit geschlossenen Augen! Unser Elefant sah ihm furchtbar gern dabei zu, beinahe wie hypnotisiert. Es war ein Mädchen und sie hieß Marlene. Mutti hatte den Namen für sie aussuchen dürfen, denn sie betreute die Elefanten im Zoo. Sie taufte sie nach einer Sängerin, die sie sehr mochte und die zu der Zeit ziemlich beliebt war: Marlene Dietrich. Vielleicht habt ihr von ihr gehört – ach, nein, wahrscheinlich nicht. Mittlerweile ist sie schon lange tot. Sie war sehr schlank und elegant, und außerdem blond, kein bisschen wie ein Elefant also. Doch Mutti schien das nicht zu stören. Sie taufte den Elefanten Marlene und damit basta.

Wir besaßen zu Hause ein Grammophon, so eins zum aufziehen mit einem großen Schalltrichter – wie man sie heute nur noch in Antiquitätenläden findet – und hörten Marlene Dietrichs Lieder durch das ganze Haus. Wir sind praktisch damit groß geworden. Ihre Stimme war wie dunkelroter Samt. Und wenn sie sang, kam es mir vor, als sänge sie nur für mich. Ich versuchte so zu singen wie sie, meistens im Bad, denn da klang es besser. Und Mutti summte manchmal bei ihren Liedern mit. Dann hörte es sich beinahe an wie ein Duett.«

»Und was war mit dem Elefanten?«, unterbrach Karl sie wieder, ohne sich große Mühe zu geben, seine Ungeduld zu verbergen. »Ich meine, wie kam es denn überhaupt, dass er bei Ihnen im Garten war? Wo haben Sie denn gewohnt? Ich verstehe das alles nicht.«

»Du hast ja Recht, mein Schatz. Ich war wirklich schon ein bisschen zu weit.« Sie dachte lange und angestrengt nach, sammelte ihre Gedanken, bevor sie wieder anfing zu erzählen.

»Ich sollte vielleicht lieber noch mal von vorne beginnen. Eine Geschichte muss ja schließlich am Anfang anfangen, stimmt’s? Mein eigener Anfang wäre da doch ein guter Einstieg …«