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In dieser Kleinstadt darfst du niemandem trauen ...
Ein brennendes Haus. Eine Leiche in den Trümmern. Und eine Wahrheit, die so unfassbar ist, dass sie tötet.
In einer dunklen Winternacht sieht der Journalist Ben Harper das alte Gemeindehaus seiner Heimatstadt in Flammen stehen. Sofort eilt er zu Hilfe und befreit eine im Feuer eingeschlossene Person, die aber umgehend flieht. Schnell kursieren Gerüchte in der Gemeinde, und auch Ben lässt der Vorfall nicht los: Hatte der flüchtige Unbekannte etwas mit dem Feuer zu tun? Dann wird in den Trümmern eine Leiche gefunden, und DI Dani Cash übernimmt die Ermittlungen. Doch als bekannt wird, dass die Tote ihre Mutter ist, wird der Fall für Dani zum absoluten Albtraum. Ihr ist klar: Sie braucht die Hilfe ihres Freundes Ben, denn ihr bisheriges Leben scheint eine einzige Lüge gewesen zu sein ...
Das Thriller-Highlight für alle Leser*innen von Harlan Coben und Claire Douglas.
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Seitenzahl: 397
Veröffentlichungsjahr: 2025
In einer dunklen Winternacht sieht der Journalist Ben Harper das alte Gemeindehaus seiner Heimatstadt in Flammen stehen. Sofort eilt er zu Hilfe und befreit eine im Feuer eingeschlossene Person, die aber umgehend flieht. Schnell kursieren Gerüchte in der Gemeinde, und auch Ben lässt der Vorfall nicht los: Hatte der flüchtige Unbekannte etwas mit dem Feuer zu tun? Dann wird in den Trümmern eine Leiche gefunden, und DI Dani Cash übernimmt die Ermittlungen. Doch als bekannt wird, dass die Tote ihre Mutter ist, wird der Fall für Dani zum absoluten Albtraum. Ihr ist klar: Sie braucht die Hilfe ihres Freundes Ben, denn ihr bisheriges Leben scheint eine einzige Lüge gewesen zu sein …
Weitere Informationen zu Robert Goldsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.
Robert Gold
In dieser Kleinstadt darfst du niemandem trauen
Thriller
Aus dem Englischen von Sabine Thiele
Die englische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Eleven Liars« bei Sphere, Hachette UK, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung August 2025
Copyright © der Originalausgabe 2022 by Robert Gold
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München
Covermotive: © FinePic®, München
Redaktion: Ralf Reiter
KN · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-31388-3V002
www.goldmann-verlag.de
Im Gedenken an meinen Bruder James.
Und für meine Mum.
»Ich bin lange genug dabei, um zu wissen, wann es Zeit für mich ist abzutreten.«
DONNERSTAG
Mein Uber-Fahrer wirft mir im Rückspiegel einen resignierten Blick zu. In den letzten zehn Minuten haben wir uns kaum vom Fleck bewegt. Er deutet auf die durchgehende rote Linie auf seinem Navi, die Stau auf den nächsten zwei Meilen anzeigt. Der Verkehr am Fluss entlang ist zum Erliegen gekommen. In diesem Tempo brauche ich mehr als eine Stunde von Richmond bis zu meinem Haus im Londoner Bezirk Haddley.
Ich schaue durch das Fenster in den dunklen Oktoberabend. »Wahrscheinlich ist es schneller, wenn ich hier rausspringe«, sage ich. »Den restlichen Weg kann ich am Fluss entlanglaufen.« Mein Fahrer hebt die Hände und zuckt mit den Schultern. »Hoffentlich können Sie in die andere Richtung dann noch einen Fahrgast mitnehmen«, entschuldige ich mich halbherzig, bevor ich die Beifahrertür öffne und aussteige.
»Na ja, mal sehen«, meint er müde. Vom Fußweg aus sehe ich ihm nach, wie er wendet, beschleunigt und den stehenden Verkehr in West London hinter sich lässt.
Es ist so kalt, dass mein Atem weiße Wölkchen bildet. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und schiebe die Hände tief in die Taschen. Laub knirscht unter meinen Füßen. Ich folge dem Trampelpfad bis nach St. Marnham, um dann über den Sportplatz an der Nordseite des Dorfs Richtung Haddley Common weiterzugehen.
Mein Handy vibriert, eine Nachricht leuchtet auf dem Display. Sie ist von Madeline Wilson, meiner Chefin beim landesweit größten Online-Nachrichtenmagazin. Die letzten sechs Stunden habe ich mit ihr in ihrer Wohnung mit Ausblick über den Richmond Park verbracht und dem Skript für einen True-Crime-Podcast den letzten Schliff verpasst, mit dessen Aufnahmen ich in einer Woche anfangen werde. Jetzt schreibt sie mir noch mehr Vorschläge. Typisch Madeline – sie ist unerbittlich und unermüdlich, hat ständig neue Ideen. Journalismus liegt ihr im Blut, die Leidenschaft hat sie von ihrem Vater Sam geerbt, einem Reporter alter Schule. Sie wollte es nie zugeben, aber ich weiß, dass sie ihre wilde Entschlossenheit, die großen Storys als Erste zu entdecken, von ihrem Dad hat. Und ich habe sie von ihr.
In den letzten Wochen vor der Aufzeichnung des Podcasts hat Madeline mir felsenfest zur Seite gestanden. Vor sechs Monaten habe ich mithilfe von PC Dani Cash, einer Polizistin aus dem Bezirk, die Wahrheit über den Tod meiner Mutter und den brutalen Mord an meinem Bruder Nick aufgedeckt. Fast ein Vierteljahrhundert übte sein Tod im Alter von vierzehn Jahren eine morbide Faszination auf weite Teile des Landes aus. Der Podcast wird Nicks Geschichte erzählen.
Ich war acht, als mein Bruder umgebracht wurde, und der Verlust wird mich bis zu meinem eigenen Lebensende begleiten. Viele Jahre konnte ich ihn gar nicht begreifen. Wegen der schrecklichen Umstände seiner Ermordung erlangte auch mein Name, Ben Harper, nationale und internationale Bekanntheit, und einen Großteil meines Lebens verbrachte ich im Schatten seines Todes und der Trauer meiner Familie. Nach dem Tod meiner Mutter, einem scheinbaren Selbstmord, war mein einziger Weg nach vorne, nicht zurückzuschauen. Doch vor einigen Monaten kamen neue Informationen über meine Familiengeschichte ans Licht. Nachdem ich endlich die Wahrheit herausgefunden hatte, sollten sie auch alle anderen erfahren. Ich veröffentlichte die Story auf unserer Nachrichtenseite, wo sie internationales Interesse erregte und – zu Madelines Entzücken – die Zugriffszahlen in bisher unerreichte Höhen schnellen ließ. Ich weiß, dass der Podcast noch mehr schmerzliche Aufmerksamkeit auf meine Familie lenken wird, doch mein Wunsch, dass die Wahrheit bekannt wird, ist stärker. Nick war mein Held, und das ist meine einzige Möglichkeit, dass ihm Gerechtigkeit für das Leben widerfährt, das ihm so brutal genommen wurde. Ich vermisse ihn und meine Mum immer noch jeden Tag.
St. Marnham ist hell von Straßenlaternen erleuchtet, doch sobald ich den Sportplatz am anderen Dorfende erreiche, stehe ich wieder im Dunkeln. Die Kälte dringt durch meine Schuhsohlen. Vor mir in der Ferne sehe ich blinkende Lichter, die sich rasch auf dem Weg nähern. Ich trete zur Seite, als zwei Fahrradfahrer auf dem Nachhauseweg an mir vorbeirasen. Ich komme an einem beleuchteten Joggingpfad vorbei, auf dem eine einsame Sportlerin mit schnellen Schritten dem arktischen Wind trotzt. Aus dem neu gebauten Sportcenter aus Backstein dringen die Rufe eines beunruhigend energiegeladenen Fitnesskurses.
Um die Abkürzung zu meinem Haus am Haddley Common, dem alten Dorfanger, zu nehmen und mir dadurch die Meile an der Straße entlang zu sparen, gehe ich zu dem Wäldchen am anderen Ende des Sportplatzes. Dort klettere ich die Böschung hinunter, die über die Rückseite des Friedhofs von St. Stephen’s führt. Unten angekommen sehe ich das Eisengitter, über das ich in den letzten dreißig Jahren sicher tausend Mal geklettert bin, wie so viele Anwohner des Haddley Common und von St. Marnham, die diese unorthodoxe Abkürzung zur Lower Haddley Road nehmen. Ich schlinge meine Tasche über die Schultern und packe das dünne Gitter. Es ist überfroren und glitzert, und als meine Hände kalt werden, höre ich die Stimme meiner Mutter, die mich fragt, warum ich mir keine Handschuhe kaufe. Ich ziehe mich hoch und über das Gitter, rutsche dabei jedoch mit der Hand ab. Vergeblich versuche ich, mich festzuhalten, und stürze nach unten in den alten Friedhof.
Ich wappne mich gegen den Aufprall, der allerdings ausbleibt. Der Taschengurt hat sich am Gitter verhakt. Fluchend greife ich nach oben und versuche, ihn zu lösen, was mir aber nicht gelingt. Ich werfe mich nach vorn, um den Gurt abzureißen, und komme hart auf dem Boden auf. Dabei verdrehe ich mir den Knöchel und schreie vor Schmerz auf, während ich in die dunkelste Ecke des Friedhofs rolle.
Einen Moment bleibe ich benommen liegen. Meine Kleidung ist verdreckt, mein Knöchel pocht. Als ich wieder klarer im Kopf bin, sehe ich, dass der Laptop aus der Tasche gerutscht ist. Vorsichtig stütze ich mich auf das rechte Knie, bevor ich den linken Fuß belaste. Zischend atme ich die kalte Luft ein und halte den Atem an, lehne mich gegen einen moosbewachsenen Grabstein und schiebe den Laptop zurück in die Tasche. Plötzlich bemerke ich ein helles orangefarbenes Licht zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Friedhofs.
Ich humpele von einem Grabstein zum nächsten bis zu dem Schotterweg, der an der Rückseite des Friedhofs verläuft. Mit jedem Schritt wird das Licht heller, irgendwo brennt es, doch St. Stephen’s, die aus dem 16. Jahrhundert stammende Kirche, wird nur von der Laterne über der schweren Eichentür beleuchtet. Den Schmerz in meinem Knöchel ignorierend, eile ich daran vorbei, bis ich geblendet stehen bleibe: Das leer stehende alte Gemeindezentrum brennt lichterloh.
Rauch quillt durch das Dach mit den schmutzigen roten Ziegeln, Flammen lecken an den von Efeu bewachsenen Mauern. Ich lasse die Tasche fallen und suche hektisch nach meinem Handy. Da zerplatzt ein Fenster vor mir, Funken sprühen über den Weg. Der Friedhof ist hell erleuchtet und die Hitze so stark, dass ich zurückweichen muss. Als ich endlich das Handy aus der Hosentasche gezogen habe und die Feuerwehr rufen will, sehe ich eine flüchtige Bewegung in dem Gebäude.
Ich zucke zusammen.
Da, noch eine Bewegung, ein schwarzer Schatten in den lodernden Flammen.
Dann sehe ich durch das geborstene Fenster einen Menschen.
Adrenalin pumpt durch meinen Körper, und ohne nachzudenken renne ich auf die mit Graffiti verschmierte Tür zu. Sie ist verschlossen. Ich brülle der eingesperrten Person zu, sie soll einen anderen Weg nach draußen finden. Die Gestalt zieht sich zurück, tiefer in das Inferno hinein.
Mit der Schulter werfe ich mich gegen die Tür, die sich allerdings nicht bewegt. Ich weiche zurück, hole aus und trete mit voller Kraft dagegen.
Die Tür fliegt auf, und ich stolpere nach vorn in die brüllende Hitze.
Der Rauch ist so dicht, dass ich nur eine schlanke Gestalt ausmachen kann, die auf dem Boden kauert und hektisch nach etwas zu suchen scheint.
»Was tust du da?«, rufe ich und bedecke den Mund gegen den beißenden Rauch. »Raus hier, sofort!«
Doch die Person zieht nur die Kapuze übers Gesicht und kriecht weiter über den Boden, ignoriert den von mir geschaffenen Fluchtweg.
»Raus hier, oder das Feuer bringt dich um!«, brülle ich.
Plötzlich springt die Person auf und wirbelt zu mir herum. Einen Moment wirkt sie unentschlossen, dann stürzt sie an mir vorbei und rennt aus dem Gebäude. Flammen schlagen hoch, die Hitze ist unerträglich. Ich eile nach draußen auf den Friedhof.
Nach Luft schnappend, sinke ich auf dem Weg auf die Knie, blicke hinüber zur Lower Haddley Road, über die die flüchtende Gestalt gerade rennt. Ein Auto muss abrupt abbremsen, seine Hupe schrillt laut durch die stille Nacht. Die Person schlägt mit der Handfläche auf die Motorhaube, und im Scheinwerferlicht sehe ich deutlich den schlaksigen Körperbau. Verzweifelt versuche ich, meine Lunge mit der kalten Nachtluft zu füllen, und sehe den auffallend orangefarbenen Sneakers der flüchtenden Gestalt nach, die im dunklen Wald hinter dem Haddley Common verschwindet.
PC Dani Cash stockte der Atem, als sie die Räume des Criminal Investigation Departments auf der Rückseite des Polizeireviers von Haddley betrat. Ein Blick auf die Uhr an der Wand sagte ihr, dass sie immer noch zehn Minuten zu früh für ihren Termin um acht mit Chief Inspector Bridget Freeman war. Seit sie am Nachmittag die Termineinladung bekommen hatte, war die Zeit wie im Schneckentempo vergangen. Ursprünglich hätte sie um sieben kommen sollen, doch dann hatte Bridget Freeman das Treffen verschoben.
Es war Donnerstagabend und die Abteilung fast leer. Das Pub am Ende der Hauptstraße lockte die meisten Detectives vor sechs aus dem Gebäude. Nur zwei Kollegen waren noch da, die gerade mexikanische Tacos aßen, deren würziger Geruch schwer in der stickigen Luft lag. Die beiden sahen flüchtig zu Dani auf, bevor der eine dem anderen sein Handy hinschob und dreckig lachte. Sie bezweifelte, dass sie sich über den Witz auch amüsieren könnte.
Haddley war eines der letzten viktorianischen Reviere in der Hauptstadt, das noch in Betrieb war. Im Lauf der Jahre war es um einen schlecht geplanten Anbau nach dem anderen erweitert worden. Man hatte das Gebäude ständig angepasst, Wände eingerissen, Einzel- durch Großraumbüros ersetzt oder einfach Schreibtische in die Nischen gequetscht, in denen früher Schränke gestanden hatten. Doch das CID befand sich immer noch auf der Rückseite des alten Gebäudes, weit entfernt vom allgemeinen Trubel. Im Sommer wurden die Büros unerträglich heiß, im Winter erzeugten die Heizkörper mehr Lärm als Wärme. Die Fenster reichten fast bis zur Decke, und trotzdem fiel wenig Licht in die Räume, da die nächste Backsteinwand nicht weit entfernt war.
Doch nirgendwo fühlte Dani sich mehr zu Hause.
Sie ging zu dem Schreibtisch am hinteren Ende des Raums und strich mit den Handflächen über das zerkratzte Holz, spürte die Kerben und abgeriebenen Stellen nach vielen Jahren der Benutzung. Sie zog den alten Bürostuhl hervor, dessen Kunstleder abgewetzt war, die Rückenlehne voll alter Schweißflecken. Sie fuhr mit den Fingern über die Tastatur, deren Beschriftung nur noch undeutlich lesbar war. Als Kind hatte sie immer mit einem Finger ihren Namen geschrieben, während ihr Dad hinter ihr stand, der selbst kaum schneller tippen konnte. Sie schloss die Augen und dachte daran, wie er sie auf dem Stuhl herumgedreht, wie sie die kurzen Beine ausgestreckt und den Kopf in den Nacken gelegt hatte, wie ihr die blonden Locken übers Gesicht gefallen waren. Er hatte sie herumgewirbelt, bis ihr schwindelig war und ihr vor Lachen Tränen über die Wangen liefen.
Plötzlich sah sie das Gesicht ihres Vaters so deutlich vor sich wie vor zwanzig Jahren. Sie sah ihn, das Haar schon leicht ergraut, wie er ein Team von Junior Officers briefte, die aufmerksam jedem Wort von Jack Cash lauschten. Sie war so stolz gewesen.
Dann klingelte das Telefon, jemand rief etwas durch den Raum, und er eilte davon. Vom Schreibtischstuhl aus sah sie ihrem Vater nach, wie er den Raum verließ und den anderen noch Anweisungen zurief. Sie liebte die Aufregung und wünschte sich immer, ihn begleiten zu können. Auf seine Rückkehr zu warten, wann auch immer das sein würde, war normal für sie. Manchmal gab ihr ein freundlicher Beamter Papier und ein paar Filzstifte. Einmal war ihr Gesicht ganz verschmiert, weil sie die eingetrockneten Stifte abgeleckt hatte. Eine nette Frau säuberte sie, die Chefin ihres Vaters, Chief Inspector Anders. Danach nahm die hochrangige Polizistin sie an der Hand und ging mit ihr in den Laden, wo sie sich zwei verschiedene Packungen Buntstifte aussuchen durfte – eine für zu Hause und eine fürs Büro. Dani wählte eine Packung dicke Filzstifte und eine mit leuchtend bunten Wachsmalkreiden.
»Danke, Chief Inspector«, sagte sie, als sie zurück zum Revier gingen.
»Sag es nicht weiter, aber eigentlich heiße ich gar nicht Chief Inspector. Du kannst Christine zu mir sagen, aber das bleibt unter uns, ja?«
Dani war traurig gewesen, als Christine ihr ein Jahr später erzählt hatte, dass sie in Rente gehen würde. Doch dann war sie unglaublich stolz gewesen, als ihr Vater die Leitung des Reviers übernahm. Sie hatte ihn so fest umarmt, als er es ihr sagte, dass sie zu zerspringen glaubte.
Das zusammengeknüllte Papier eines mexikanischen Imbisses prallte vom Mülleimerrand ab und riss Dani aus ihren Erinnerungen. Sie sah zu dem Detective, der so ungeschickt geworfen hatte. Er machte keine Anstalten, den Müll vom Boden aufzuheben, sondern wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Dani sah auf die Uhr. Fast acht. Sie ging durch den Raum, hob das Einwickelpapier auf und warf es in den Mülleimer.
Ihr Dad hatte von seinen Leuten immer erwartet, dass sie für Ordnung im Büro sorgten.
Dani stand allein in dem schwach beleuchteten Flur vor dem Büro des Chief Inspectors, dem letzten Einzelbüro auf dem Revier. Sie zögerte, die Hand schon zum Klopfen erhoben.
Über fünfzehn Jahre hatte es Jack Cash gehört. Im nächsten Frühjahr würde es drei Jahre her sein, dass Dani das letzte Mal den klappernden Türknauf gedreht und zu ihrem Vater, der hinter seinem Schreibtisch voller Kaffeeflecken gesessen hatte, hineingegangen war. Bis heute dachte sie jedes Mal an jenen Tag, wenn sie an der Tür vorbeiging.
»Man sollte nicht glauben, dass es Frühling ist«, hatte sie gesagt, als sie das Büro ihres Vaters zum letzten Mal betrat. Er blickte von einem Stapel Berichte auf und lächelte, als sie ihre Hände an dem gusseisernen Heizkörper wärmte. In der Woche fand das University Boat Race statt, die jährliche Ruderregatta zwischen den Universitäten von Oxford und Cambridge, und Dani war zur Unterstützung der Marine Policing Unit auf der Themse im Einsatz gewesen. Ein kalter Nordwind hatte geweht, während sie in einem kleinen Boot die Brücken überprüft hatte.
»Gab es Probleme?«, fragte er.
»Nein, alles in Ordnung«, antwortete sie und zog einen Stuhl dicht an die Heizung. »Nichts Ungewöhnliches. Wir sollten vielleicht die Zuschauermenge auf der Hammersmith Bridge im Auge behalten.«
»Wir schicken ein paar zusätzliche Beamte hin, um die Leute am Ufer zurückzuhalten. Das wird sicher kein Problem sein. Kaffee?«
»Das wäre toll«, sagte sie, während er den Wasserkocher einschaltete, der auf seinem Aktenschrank stand. Er gab Pulverkaffee in zwei Tassen und goss Milch hinzu, nachdem er das kochende Wasser eingeschenkt hatte.
»Keks?« Er griff nach der Packung, die immer offen auf seinem Schreibtisch lag.
»Nur einen. Und du solltest auch nicht mehr essen«, sagte sie, als ihr Dad zwei für sich aus der Packung nahm, um sie in seinen Kaffee zu tunken, wie er es schon getan hatte, solange sie zurückdenken konnte.
»Also?« Mit ihrer Kaffeetasse setzte sie sich ihm gegenüber. Sie hatte schon immer gewusst, wenn er ihr etwas zu erzählen hatte.
Jack Cash nahm seine Tasse, stellte sie dann jedoch wieder ab. »Ich wollte nur hören, wie es läuft, sonst nichts.«
»Das stimmt nicht, und das weißt du«, antwortete sie. Seit fast zwanzig Jahren war ihre Mutter tot und sie und ihr Vater allein. Wie bei allen Vätern und Töchtern gab es manchmal Streit, doch die meiste Zeit waren sie füreinander da. »Raus damit.«
Ihr Vater stand auf, atmete schneller und zog seinen Stuhl neben ihren.
»Dad, was ist los? Du machst mir Angst.«
Jack sah seine Tochter an. »Es ist an der Zeit, meinen Rücktritt einzureichen.«
Dani begriff erst nach einem Moment, was er da gerade gesagt hatte. »Was meinst du damit? Willst du wieder zurück in die Einheit?« Dani wusste, dass ihr Vater immer lieber aktiv in Fällen ermittelt hatte, als das Revier zu leiten.
»Nein«, antwortete er frustriert. »Ich meine, es ist an der Zeit, ganz aufzuhören. Ich verlasse die Polizei.«
Die Vorstellung war für Dani so lächerlich, dass sie laut loslachte.
Verärgert stand Jack auf und schob seinen Stuhl zurück hinter den Schreibtisch. »Ich meine es ernst, Dani. Ich reiche meine Kündigung ein. Es ist Zeit, Platz zu machen für jemand Jüngeren, der die Truppe voranbringt. Wir müssen moderner werden.«
»Versuchst du mir gerade zu sagen, dass du in Rente gehst? Moderner werden, die Truppe voranbringen. Das sind doch nicht deine Worte. Ich weiß nicht mal, was sie bedeuten sollen.«
»Ich bringe es einfach nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so wie früher.« Jack senkte den Kopf.
Da verstand Dani. »Es geht hier um Betty Baxter.«
»Man glaubt nicht mehr an mich, die Beamten vertrauen mir nicht mehr.«
»Das stimmt nicht. Du hast einen einzigen Fehler gemacht.«
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, vor zwanzig Jahren habe ich einen Fehler gemacht und jetzt denselben wieder. Wie vielen Officers habe ich gesagt, sie sollen nicht dumm sein und aus ihren Fehlern lernen? Jetzt bin ich der größte Dummkopf von allen. Ich bin eine Schande für die Polizei.«
»Wer hat das gesagt?«
»Das denken alle, das weiß ich. Ich habe ein Vermögen vergeudet und konnte den Fall nicht einmal vor Gericht bringen.«
»Dad, das passiert.« Dani wusste, dass monatelange teure Überwachung nicht zu einer Anklage gegen einen mutmaßlichen Drogenschmugglerring geführt hatte.
»Das Team hat das Vertrauen in mich verloren, und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich auch kein Vertrauen mehr in mich. Ich hätte alles gegeben, um sie endlich hinter Gitter zu bringen; vielleicht wollte ich es zu sehr, und das war das Problem. Ich habe mein Bestes gegeben, aber ich muss akzeptieren, dass das nicht mehr reicht.«
»Ich kann nicht glauben, dass du nach einem geplatzten Fall aufgibst.«
»Es ist Zeit, mich anderen Dingen zu widmen. Die Zeit zu genießen, die ich mir verdient habe.«
»Das ist doch Quatsch.« Sie sah ihren Vater direkt an. »Dad, das ist absoluter Quatsch. Dieser Ort hier ist dein Leben. Immer hast du gesagt, dass man dich entweder rauszerren oder im Sarg raustragen muss.« Sosehr Dani ihren Vater liebte, so klar war ihr auch immer gewesen, dass sie nur an einem guten Tag mit der Hauptpriorität in seinem Leben mithalten konnte. Mit neunzehn war er zur Polizei gegangen, und das war jetzt über vierzig Jahre her. »Die Zeit genießen, dich anderen Dingen widmen. Du kannst es ja noch nicht mal aussprechen. In den Ruhestand gehen. Du könntest noch mindestens fünf Jahre arbeiten.«
»Nein, das könnte ich nicht«, erwiderte er scharf. »Ich werde eine ordentliche Rente bekommen.« Dann sagte er sanfter: »Vielleicht werde ich ein bisschen reisen.«
Dani schwieg. Fast alle Schulferien hatte sie auf dem oder um das Polizeirevier herum verbracht. Am Sommeranfang waren sie immer eine Woche nach Yorkshire ans Meer gefahren, nach Filey. Am Ende dieser Woche war ihr Dad immer unruhig geworden, hatte zurück an die Arbeit gewollt. Reisen war ihm nie wichtig gewesen.
»Vielleicht fange ich auch an, Golf zu spielen.«
»Jetzt redest du aber wirklich Unsinn.« Sie sah ihren Vater an, sein Gesicht röter, als sie es in Erinnerung hatte. Als er nach einem dritten Keks griff, hielt sie seine Hand fest. »Sag mir die Wahrheit.« Sie fixierte ihn mit ihren leuchtend blauen Augen.
Jack lächelte kleinlaut. »Möglicherweise ist es nicht völlig meine eigene Entscheidung. Aber es stimmt, bei mir ist die Luft raus. Ich bin lange genug dabei, um zu wissen, wann es Zeit für mich ist, abzutreten. Vierzig Jahre ist eine gute Zeit.«
»Aber du kannst doch sicher noch weiterkämpfen?«
Jack schüttelte den Kopf. »Es ist Zeit, Dani. Jemand anders muss Haddley voranbringen. Nächsten Freitag ist mein letzter Tag. Freeman übernimmt meinen Posten.«
Dani wollte ihren Vater anschreien, doch sie sah, dass seine Entscheidung feststand. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Und trotz der Traurigkeit in seinem Blick musste Jack lachen.
»Deine Mum saß auch immer so da, wenn sie ihren Willen nicht bekam.«
Dani schwieg. An ihre Mutter hatte sie nur ein paar verschwommene Erinnerungen. Solange sie zurückdenken konnte, war er immer ihre Inspiration gewesen. Sie bewunderte die Leidenschaft und Hingabe, mit der er die Polizei von Haddley in den Kampf gegen die Drogenkriminalität im Bezirk geführt hatte. War die Leidenschaft zur Besessenheit geworden? Vielleicht. Doch jetzt musste sie akzeptieren, dass sein Kampfgeist erloschen war.
Am darauffolgenden Freitag verließ ihr Vater das Revier zum letzten Mal. Neben ihm auf der Eingangstreppe hielt sie seine Hand und drängte angestrengt die Tränen zurück, die in ihren Augen brannten. Inmitten seiner Kollegen ging Jack ins Pub am Ende der Hauptstraße und blieb bis spätabends dort. Am nächsten Abend war er wieder im Pub, dieses Mal mit weniger Leuten. Am Abend darauf mit noch weniger. Und dann schließlich allein.
Ein Jahr später war er tot.
Am Montag nach Jack Cashs letztem Arbeitstag war Bridget Freeman die Leitung der Polizei von Haddley übertragen worden. Dani hatte sie aufmerksam im Auge behalten, ob sie Jack das Wasser reichen konnte. Doch sie hatte zugeben müssen, dass Freeman das Revier effizient führte und für stabile Verurteilungsraten sorgte. Gleichzeitig hatte die sichtbare Polizeipräsenz auf den Straßen von Haddley allmählich abgenommen. Zweieinhalb Jahre waren mittlerweile seit Chief Inspector Bridget Freemans Amtsantritt vergangen. Jetzt klopfte Dani an ihre Bürotür.
»Herein«, rief Freeman gleich darauf, und Dani trat ein. »Setzen Sie sich, Constable Cash.« Freeman deutete auf einen Stuhl. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Der Termin mit den Kollegen von Fulham und Hammersmith hat um einiges länger gedauert.«
»Kein Problem, Ma’am«, antwortete Dani und sah sich unauffällig im Raum um, der kaum wiederzuerkennen war. Der Holzschreibtisch ihres Vaters und seine verstaubten Aktenschränke waren durch einen modernen weißen Tisch ersetzt worden, auf dem ein großer Monitor und ein aufgeklapptes MacBook standen.
»In Detective Sergeant Barnsdale haben Sie eine außergewöhnlich starke Fürsprecherin«, begann Freeman. »Sie empfiehlt Sie aufs Überschwänglichste.« Dani senkte den Kopf, konnte ein Lächeln allerdings nicht unterdrücken. Anfang des Jahres hatten sie bei den Ermittlungen zum Tod von Claire und Nick Harper eng zusammengearbeitet. Nach der erfolgreichen Aufklärung dieses schwierigen Falls hatte sie gehofft, dass Barnsdale ihren Antrag auf Versetzung zur Kriminalpolizei unterstützen würde.
»Ihre Wertschätzung Ihrer Arbeit kommt von Herzen, und das respektiere ich. Sie sind noch jung, Cash, und haben im Fall Nick Harper ein paar Fehleinschätzungen getroffen, aber DS Barnsdale glaubt, dass Sie die nötigen Instinkte und das Potenzial haben, eine sehr erfolgreiche Ermittlerin zu werden. Diesem Urteil stimme ich weitestgehend zu.«
Dani sah ihre Vorgesetzte an. Ein Lob von ihr bedeutete viel. Dani konnte sich an keine Situation erinnern, in der Freeman sich nicht völlig souverän verhalten hätte. Sie hatte jederzeit alle Details eines Falles parat, sah immer makellos aus. Selbst jetzt nach einem langen Tag war ihre Jacke zugeknöpft, die Epauletten glänzten, und ihre Haare waren ordentlich frisiert. Weibliche Polizisten wurden immer noch nach so etwas beurteilt, und Dani vermutete, dass Freeman niemandem Anlass zu Kritik geben wollte. Sie vermisste ihren Vater immer noch sehr, doch ihr Respekt vor seiner Nachfolgerin war gewachsen.
»Nach eingehender Überlegung bin ich geneigt, Ihre Versetzung zum CID zu bewilligen.«
»Vielen Dank, Ma’am.«
»Sie haben bisher ausgezeichneten Einsatz gezeigt, Cash. Sie können gut mit Zivilpersonen umgehen und haben ein Talent für Vernehmungen. Mit diesen Fähigkeiten sind Sie hervorragend für Ihre Karriere gerüstet.«
Dani nickte. »Ja, Ma’am.«
»Ergebnisse sind entscheidend, aber auch die Art und Weise, wie wir sie erzielen. Das dürfen wir nicht vergessen. Ich will, dass Sie eine erfolgreiche, moderne Beamtin werden.«
Dani fragte sich, ob das eine versteckte Anspielung auf ihren Vater war. Jack Cash hätte alles getan, um zu einem bestimmten Ergebnis zu kommen. Doch Dani war nicht er, und sie wollte, dass Freeman ihre Arbeit bewertete, nicht die ihres Vaters. Sie schwieg.
»Wenn Sie sich so wie bisher weiterentwickeln und Ihrem Team hier in Haddley gegenüber loyal verhalten, dauert es sicher nicht lange, bis man Sie für den Posten eines Sergeants in Betracht zieht«, sagte Freeman.
»Das würde mich sehr freuen, Ma’am«, antwortete Dani. Freeman lächelte und nickte zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Dani stand auf, und im selben Moment klopfte es an der Tür.
»Herein«, rief Freeman.
»Tut mir leid, Ma’am«, sagte DS Lesley Barnsdale und trat in den Raum. Dani und sie lächelten sich kurz an.
»Ich habe der zukünftigen Detective Constable Cash gerade die guten Neuigkeiten mitgeteilt«, erklärte Freeman, die den Austausch zwischen den beiden bemerkte.
»Wohlverdient«, erwiderte Barnsdale. »Ma’am, bei St. Stephen’s an der Lower Haddley Road brennt es. Ein Officer ist vor Ort, aber ich würde gern PC Cash hinschicken, um bei der Zeugenbefragung zu helfen.«
An der Seite der Kirche sitze ich auf einer Holzbank und trinke aus einer Wasserflasche. Ich schmecke immer noch den Rauch in meiner Kehle. Das Blaulicht der Feuerwehr erleuchtet den Friedhof, der schwere Geruch von verbranntem Holz liegt in der Luft. Ich sehe zu dem schwelenden Gemeindezentrum. Das Dach ist zum großen Teil verbrannt, die Außenwände stehen noch.
Nachdem ich ins Freie entkommen und auf dem Schotterweg auf die Knie gesunken war, hatte ich schnell mein Handy wiedergefunden und die Feuerwehr gerufen. Fast sofort hatten sich Sirenen über die Lower Haddley Road genähert. Dank ihrem schnellen Eintreffen hatte das Feuer nicht auf die Kirche mit den jahrhundertealten Buntglasfenstern und dem mächtigen Glockenturm übergegriffen.
Eine junge Polizistin nähert sich von dem ausgebrannten Gebäude.
»Mr. Harper?«, fragt sie und setzt sich neben mich. »Ich bin PC Karen Cooke. Die Sanitäter sagen, Sie haben eine Betreuung abgelehnt.«
»Es geht mir gut, wirklich. Vielen Dank.« Ich winke ab.
»Es wäre aber ratsam, sich untersuchen zu lassen. Schon eine kleine Menge eingeatmeter Rauch …«
»Wirklich, es geht mir gut.« Ich trinke noch einen Schluck Wasser. »Ich möchte einfach nur heim und duschen.«
»Ich kann Sie zu Hause absetzen.«
»Das ist nicht nötig. Ich wohne fünf Minuten zu Fuß von hier. Ich muss nur über die Lower Haddley Road und den Common, dann bin ich schon da.«
»Wenn Sie meinen. Vorher hätte ich aber noch ein paar Fragen an Sie, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.« Ich nicke und warte, dass sie weiterspricht. »Mr. Harper, Sie haben das Feuer gemeldet, richtig?«
Ich erzähle ihr alles: meine Abkürzung über die Rückseite des Friedhofs, wie ich den Flammenschein gesehen habe, die Gestalt, die aus dem Gemeindezentrum entkommen und über die Straße davongerannt ist. Cooke macht sich ausführliche Notizen.
»Die Person, die Sie gesehen haben, wirkte schlank und hager, sagen Sie. Männlich oder weiblich?«
»Ich konnte sie nie gut sehen, und sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ich habe nur daran gedacht, wie ich sie aus dem brennenden Gebäude bekomme.« Cooke sieht von ihrem Notizbuch auf und wartet. »Ich würde vermuten, sie war männlich, ein Teenager, vielleicht sechzehn Jahre oder so. Aber das ist wirklich nur eine Schätzung.« Meine Augen brennen immer noch von dem Rauch, und ich reibe sie energisch.
»Die Sanitäter haben bestimmt Augentropfen.«
Lächelnd schüttele ich den Kopf. »Als das Scheinwerferlicht des Autos die Person erfasst hat, habe ich sie am besten gesehen. Knapp einen Meter achtzig groß, Jogginghose, Kapuzenpullover und leuchtend orangefarbene Sneakers. Tut mir leid, dass ich nicht mehr beisteuern kann. Der Fahrer des Autos hatte sicher einen besseren Blick.«
»Die Automarke haben Sie nicht erkannt?«, fragt Cooke.
»Es ging alles so schnell«, antworte ich. »Ich war ziemlich mitgenommen.«
»Wir versuchen, den Fahrer ausfindig zu machen«, sagt sie. »Nachdem die Person die Straße überquert hat, ist sie im Wald verschwunden, richtig?«
Ich deute zu einer Lichtung an der Seite des Waldes. »Da ist sie durchgerannt«, sage ich. Ein zweiter Einsatzwagen hält in diesem Moment am Tor vor St. Stephen’s. Dani Cash, die Polizistin, mit der ich am Jahresanfang eng zusammengearbeitet habe, steigt aus. In den letzten sechs Monaten haben wir uns nur einmal auf einen schnellen Kaffee getroffen, ich hätte sie allerdings gern öfter gesehen. Am liebsten würde ich zu ihr laufen und sie begrüßen. Stattdessen sehe ich zu, wie sie im Scheinwerferlicht der Feuerwehrfahrzeuge den schmalen Weg an der Friedhofsseite zum Pfarramt entlanggeht.
»Mr. Harper?«, fragt PC Cooke und reißt mich aus meinen Gedanken.
»Entschuldigung. Ich kann Ihnen leider wirklich nicht mehr sagen. Die Person ist im Wald verschwunden, und direkt danach habe ich die Feuerwehr gerufen.«
Sie bittet mich, sie anzurufen, wenn mir noch etwas einfallen sollte. Ich sehe wieder zu Dani Cash, die gerade zurückkommt und zum Gemeindezentrum geht. Adrian Withers, der Pfarrer von St. Stephen’s, begleitet sie.
Bei unserer Zusammenarbeit habe ich schnell gemerkt, dass Dani einen scharfen Verstand hat und über eine gute Intuition sowie die Fähigkeit verfügt, Antworten auf schwierige Fragen zu finden. Und jedes Mal, wenn wir uns sahen, musste ich einfach lächeln.
Am Ende des Schotterwegs an der Rückseite des Friedhofs führte ein kleines Holztor in den Pfarrgarten. Dani konnte das Haus dahinter im schwachen Licht der Scheinwerfer nur schemenhaft ausmachen. Sie schauderte, umgeben von Gräbern und dunklen Bäumen. Als sie die Hand nach dem Tor ausstreckte und Reverend Adrian Withers im selben Moment im Pfarrgarten auftauchte, zuckte sie zusammen.
»Tut mir leid, Constable«, sagte er, bevor er sich vorstellte. »Was für ein schrecklicher Abend.« Er sah zum Himmel. »Bitte sagen Sie, dass niemand verletzt wurde. Ich kann mir kaum Schlimmeres vorstellen, als in einem Feuer gefangen zu sein.«
Dani schauderte. »Nein, zum Glück ist niemand zu Schaden gekommen.« Auf der kurzen Fahrt vom Revier hatte sie kurz mit PC Cooke gesprochen.
»Das ist gut zu hören«, antwortete der Pfarrer. »Nachdem es auf Kirchengrund passiert ist, muss man sich ja fast schuldig fühlen. Aber ich habe einen Krankenwagen auf dem Parkplatz gesehen, kann das sein?«
»Wir glauben, dass jemand in dem brennenden Gebäude eingeschlossen war, aber ein Passant hat die Person befreien können.« Dani blickte über die Schulter in Ben Harpers Richtung. Erleichtert sah sie, dass er jetzt neben Karen Cooke stand. »Der Krankenwagen war zum Glück nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Gut. Wollten Sie zu mir?«
»Ich habe nur ein paar Fragen.«
Adrian Withers deutete auf das Tor. »Natürlich. Wollen wir?« Langsam gingen sie den Weg zum Gemeindezentrum entlang. »Ich hatte Angst, dass das Feuer auf die Kirche übergreift. Nachdem sie fünf Jahrhunderte überlebt hat, wäre es wirklich schrecklich gewesen, wenn sie während meiner im Vergleich dazu kurzen Amtszeit zu Schaden gekommen wäre.«
Dani hatte den Eindruck, dass Withers mit seinem akkurat gestutzten Schnauzbart und dem ordentlich gescheitelten Haar ein wenig selbstverliebt war.
»Wann wurden Sie auf das Feuer aufmerksam?«
»An Sonntagen halte ich drei Gottesdienste ab und beginne gern am Donnerstagabend, mir dazu Gedanken zu machen. Ich war in der Sakristei im hinteren Bereich der Kirche. Ein kleiner Raum mit dicken Mauern, durch das Fenster fällt kaum Licht. Ich wurde erst auf das Geschehen aufmerksam, als die Feuerwehr eintraf.«
»Und dann?«
Withers überlegte. »Ich ging an der Vorderseite aus der Kirche – der Hinterausgang ist immer verschlossen – und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass die Feuerwehr bereits vor Ort war. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Feuer vollständig gelöscht war, ging ich kurz zurück ins Pfarrhaus, um nach meiner Frau zu sehen. Ich wollte gerade zurück zur Kirche gehen, als ich Sie am Tor traf.«
Dani roch den schweren Rauchgestank, der in der Luft hing. Sie biss sich auf die Lippe und legte eine Hand vor den Mund. Der Weg gabelte sich, und sie ließen das ausgebrannte Gemeindezentrum hinter sich. »Ein wunderschönes Gebäude«, sagte Dani, als sie an dem Buntglasfenster mit dem hohen Bogen vorbeikamen und vor den Eingangsstufen der Kirche stehen blieben.
»Danke«, antwortete Withers.
»Haben Sie jemanden auf dem Friedhof gesehen, als Sie von der Kirche zum Pfarrhaus gegangen sind?«
»Niemand Lebendiges.«
Dani lächelte. »Und Ihre Frau?«
»Meine Frau?«, fragte Withers.
»Ging es ihr gut?«
»Oh, jetzt verstehe ich. Sie war gerade vom Abendessen mit einem älteren Gemeindemitglied zurückgekommen.« Ein Löschzug rollte rückwärts von dem kleinen Kirchenparkplatz auf die Lower Haddley Road. »Ich werde dem Leiter der Feuerwache persönlich für den Einsatz seiner Mannschaft danken«, sagte Withers und sah dem Gefährt nach. »Ich kenne ihn gut, wir haben bereits einige gemeinsame Wohltätigkeitsveranstaltungen abgehalten. Wenn das dann alles wäre, Constable? Ich muss in die Kirche und überprüfen, ob alle Kerzen gelöscht sind. Nicht dass ich nach meinem hastigen Aufbruch etwas vergessen habe.«
Dani sah Withers nach, wie er die drei Stufen hinaufging und die Kirche durch die schwere Eichentür betrat. Sie stellte sich kurz vor, in einer heißen Badewanne zu liegen und sich den Rauchgestank von der Haut zu schrubben. Dabei merkte sie nicht, wie sie von einem Fenster im Obergeschoss des Pfarrhauses aus von einer dunklen Gestalt beobachtet wurde.
Als sich Dani und der Pfarrer voneinander verabschieden, laufe ich los, doch nach zwei Schritten keuche ich wegen der Schmerzen in meinem Knöchel auf.
»Mr. Harper, soll ich Sie wirklich nicht nach Hause fahren?«, fragt PC Cooke, die mir nachkommt und ihre Hand sanft auf meinen Ellbogen legt.
»Nein, schon gut, alles in Ordnung, wirklich.« Ich drehe mich zu der Brandruine. Zwei Feuerwehrmänner bauen gerade die letzten Scheinwerfer ab. »Ich muss nur ein bisschen laufen, dann wird das schon wieder. Der Knöchel ist nicht mal verstaucht.« Karen Cooke lächelt, und ich muss lachen. »Nein, wirklich.« Ich beiße mir in die Wange, während ich ein paar Schritte gehe. Mit einem tiefen Atemzug drehe ich mich zu ihr um. »Sehen Sie? Alles in Ordnung.« Ich schaue zu dem weitläufigen Pfarrhaus, einem richtiggehenden Labyrinth aus Zimmern, das sich hinter dem Friedhof erstreckt. Ein Fenster im Obergeschoss ist schwach erleuchtet.
»Wir werden am Morgen noch mit anderen Zeugen reden«, sagt PC Cooke, die jetzt ebenfalls zum Pfarrhaus hinüberblickt. »Sie sind sich im Moment ganz sicher, dass Sie wirklich niemanden auf dem Friedhof gesehen haben, als das Feuer ausbrach?«
»Keine Menschenseele.«
»Niemanden bei der Kirche oder der durch das Tor hinausgegangen ist?«
Ich schüttele den Kopf. »Tut mir leid. Es war zu dunkel, um viel zu sehen.«
Wir stehen vor dem rauchgeschwärzten Eingang des Gemeindezentrums. Was hat der Unbekannte überhaupt da drin gemacht? Warum hat er nicht versucht, sich früher in Sicherheit zu bringen? Und warum ist er nicht geflohen, als ich gerufen habe? Die verkohlten Überreste der Tür hängen schief in den Angeln. Versengter Efeu klammert sich immer noch an den Rahmen, es riecht beißend nach Rauch. Ich schalte die Taschenlampenfunktion an meinem Handy ein, hole tief Luft und gehe ins Haus, bevor PC Cooke reagieren kann.
»Mr. Harper, was machen Sie denn da?«, ruft sie mir nach, doch ich bin schon in dem Raum, in dem ich den Unbekannten gesehen habe. In der Mitte liegen zusammengeklappte Holztische, schwarz verkohlt, daneben die Überreste eines Stapels Holzstühle.
»Warum war er hier?«, überlege ich laut und leuchte durch den Raum.
»Mr. Harper, bitte kommen Sie wieder nach draußen.« PC Cooke ist mir gefolgt. »Hier ist es nicht sicher.«
»Er war aus irgendeinem Grund hier«, erkläre ich. »Auf Höhe des Feuers ist der Unbekannte über den Boden gekrochen, als ob er nach etwas suchen würde.«
»Die Brandermittler werden hier morgen alles genau untersuchen.« Sie will mich beschwichtigen, doch ich habe gelernt, wenn möglich meine eigenen Fragen zu stellen. Ich gehe weiter. An einer Wand sind die Überreste eines Klettergerüstes zu sehen. Versengte Seile hängen von der Decke. »Was ist das hier? Eine Art Turnhalle?«
»Möglich, ja«, antwortet Cooke. »Das Gebäude steht schon seit Jahren leer, früher wurde es für alle möglichen Gemeindeaktivitäten verwendet.«
Ich steige über ein hölzernes Rudergerät und streiche mit den Fingern durch die Rußschicht auf einer alten Liege zum Bankdrücken.
»Mr. Harper, ich gehe jetzt wieder nach draußen. Bitte kommen Sie mit.«
Ich leuchte wieder durch den Raum. »Da habe ich den Unbekannten zuerst gesehen.« Mit der Schulter versuche ich, die geschwärzte Liege mit der Hantelhalterung zur Seite zu schieben, doch sie ist am Boden verschraubt. Der Lichtstrahl meines Handys fällt auf etwas Metallisches. Als ich mich bücke, entdecke ich ein Messer.
Ein lautes Krachen ertönt, als die Liege durch den Boden bricht und auf das Fundament unter uns fällt. Ich springe nach hinten und schreie auf, als ich schwer auf meinem verletzten Fuß lande.
»Mr. Harper!«, ruft PC Cooke. »Hier drin ist es zu gefährlich.«
Sie hat recht, und ich eile nach draußen. Das Feuer hat die rückwärtige Mauer zum großen Teil zerstört, weshalb wir das Gebäude relativ leicht verlassen können.
»Unter der Liege«, sage ich, »war ein Messer eingeklemmt.«
»Sind Sie sich sicher?«
»Ja. Die Klinge hat im Handylicht reflektiert.«
»Wenn da wirklich ein Messer lag, werden es die Brandermittler morgen finden.« Cooke leuchtet uns mit ihrer Taschenlampe den Weg durchs Gestrüpp.
»Hat man schon eine Theorie, wie das Feuer ausgebrochen ist?«, frage ich.
»Zum jetzigen Zeitpunkt wäre das nur Spekulation.«
»Könnte es gelegt worden sein?«
»Ich hoffe nicht.«
»Falls doch, könnte die Person im Haus das Ziel gewesen sein, richtig?«
Wir gehen an der Ruine vorbei und sehen den ganzen Schaden, den das Feuer angerichtet hat. Dann sagt Cooke leise: »Ich glaube, wer auch immer im Gebäude war, hatte großes Glück, dass Sie gerade vorbeigekommen sind.«
Ich bleibe stehen und betrachte das abgebrannte Gemeindezentrum. Ein Abflussrohr hängt noch an der Fassade. Ich leuchte auf eine gesprungene Glasflasche, die auf dem Gitter über dem Abfluss liegt. Ich nehme sie auf und rieche an der Öffnung. Der Geruch nach Kiefernholz ist unverkennbar.
»Terpentin«, sage ich. »Hochentzündlich.« Ich sehe Cooke an. »Wir müssen die unbekannte Person finden, die im Gebäude war.«
»Sie lebten nebeneinander her, und nichts, was sie tat, schien daran etwas ändern zu können.«
FREITAG
Pamela Cuthbert konnte sich nicht erinnern, wann sie morgens zuletzt erholt aufgewacht war. Die ganze Nacht hatte sie keine Ruhe gefunden. Ihre Füße kribbelten und stachen. Ihre Beine waren geschwollen, ihre Hände steif. Sie sah auf ihr Handy auf dem Nachttisch. Die Nachbarschafts-App war voller Posts zu dem Brand bei St. Stephen’s. Pamela hatte keine Lust, sich alles durchzulesen, und schaltete das Radio zu den Acht-Uhr-Nachrichten ein. Alles war schlimm. Nur Katastrophen: Überflutungen, Morde, korrupte Politiker, unschuldige Soldaten, die in Kriegen getötet wurden, die jemand anders führte. Nichts, was sie aufheitern könnte. Sie wechselte zu ihrem Lieblingsmusiksender, Absolute 80ies. Der spielte zwar immer wieder dieselben Songs, doch das war Pamela egal. Sie erinnerten sie an eine Zeit, in der sie glücklich gewesen war.
Das hier bringt euch in Stimmung fürs Wochenende, verkündete der Ansager. Pamela schlug die Decke zurück und fragte sich, wann die Leute eigentlich arbeiteten. Zur Mittagszeit würden die Bars am Fluss voller Gäste sein. Zu ihrer Zeit hatte man fünf Tage die Woche gearbeitet. Sie summte den Refrain des Songs mit. Bald war sie 75, und sie hörte immer noch Adam and the Ants. Sie lächelte. Wem wollte sie etwas vormachen?
Sie setzte sich auf den Bettrand und massierte sanft die Knoten in ihren Handflächen, die jeden Morgen schmerzten. Manchmal wachte sie auf, und ihre Hände waren fast steif. Als sie die Knoten einem Arzt gezeigt hatte, hatte der im Computer danach recherchieren müssen. Am Ende hatte er gesagt, dass es wahrscheinlich Alterserscheinungen waren und sie jeden Morgen zwei Paracetamol nehmen sollte. Fiel ihm wirklich nichts Besseres ein? Sie hatte sich gefragt, ob er überhaupt qualifiziert war, er sah nämlich kaum älter als zwanzig aus, auch wenn er das sein musste. Heutzutage sahen für sie alle so jung aus. Er war nur ein Vertretungsarzt, und sie vermutete, dass es seine erste richtige Stelle war. Wenigstens hatte er sich Mühe gegeben und sich ordentlich angezogen. Er hatte ihr leidgetan. Bei der Verabschiedung hatte sie sich bei ihm bedankt und gesagt, sie würden sich hoffentlich wiedersehen. Keine Ahnung, warum sie das gesagt hatte. Beim Hinausgehen hatte sie kichern müssen. Die Frau am Empfang musste sie für verrückt gehalten haben. Sie hatte einen neuen Termin vereinbart, nach der Rückkehr ihrer sonstigen Ärztin Dr. Jha, die einen Monat lang in Indien unterrichtete, in Meerut. Pamela hatte noch nie von dieser Stadt gehört und Dr. Jha gefragt, ob das in Delhi sei. Dr. Jha hatte geantwortet, nein, aber nicht weit davon entfernt. Insgeheim dachte Pamela, dass Dr. Jha in Delhi besser dran gewesen wäre. Die Ärztin war brillant, und Pamela fürchtete, dass ihre Fähigkeiten in Meerut nur verschwendet sein würden.
Ihre Nase kribbelte, und sie suchte in der Nachttischschublade nach einem Taschentuch. Zwei leere Miniflaschen Gin klirrten gegeneinander. Dr. Jha würde das nicht gefallen. Pamela putzte sich die Nase und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas neben ihrem Bett. Dann stand sie mühsam auf und streckte sich. Wenigstens das konnte sie noch. Als sie die Füße in die Pantoffeln schob, ertönte »Physical« von Olivia Newton-John im Radio. Sie drehte den Ton lauter, aber nicht zu laut, damit die Nachbarn nicht gegen die papierdünnen Wände hämmerten, und tänzelte durch das Schlafzimmer. Was würden die Leute sagen, wenn man sie so sehen könnte? Es war ihr egal, und wippend ging sie langsam ins Bad.
Seit fast fünfzig Jahren wohnte Pamela schon in dem kleinen Reihenhaus in der Haddley Hill Road. Jedes Mal, wenn ein Lastwagen vorbeifuhr, klapperten die Fenster. Heutzutage schien der Verkehr nie stillzustehen. Als sie in die Küche ging, spürte sie die kalte Morgenluft, die durch die Hintertür hereinzog. Sie würde gern Fenster und Türen austauschen lassen, doch das konnte sie sich nicht leisten. Eine Witwenrente reichte nicht für neue Schiebefenster. Sie zog den Morgenmantel eng um sich und drehte die Heizung ein kleines Stück weiter auf. Die Küchenuhr zeigte Viertel nach acht. Sie musste sich beeilen, wenn sie nicht zu spät kommen wollte. Rasch schaltete sie den Flachtoaster ein und nahm ihr Lieblingswalnussbrot aus dem Brotkasten. Zwei Scheiben waren noch übrig. Ein Blick in den Kühlschrank sagte ihr, dass auch die Butter fast aufgebraucht war. Sie würde heute noch zu dem kleinen Supermarkt gehen müssen. Bei dem Gedanken, dass sie dann die Marmelade mit den Fruchtstücken ein wenig großzügiger auf das Brot streichen konnte, lächelte sie. Dr. Jha wäre nicht begeistert. Zu viel Zucker, würde sie sagen. Doch sie war in Meerut und würde es nie erfahren. Pamela kaufte ihre Marmelade immer an einem Stand auf dem Bauernmarkt von St. Marnham, den sie meistens am Samstag besuchte. Er war ein ganzes Stück zu Fuß entfernt, doch so kam sie aus dem Haus, und das Laufen tat ihr gut. Wenn es trocken war, ging sie immer am Fluss entlang. Der Weg war etwas länger, aber sie sah gern den Bootsfahrern auf dem Wasser zu.
Der Bauernmarkt fand auf dem Parkplatz der Arztpraxis statt, mitten im Ort. Eines Samstags hatte sie gerade ihre Marmelade kaufen wollen und verblüfft Dr. Jha an der Kasse gesehen. Es hatte sich herausgestellt, dass Dr. Jhas Mann der Besitzer war und alle möglichen Marmeladen, Chutneys und Senfsorten produzierte. Englischen Senf zu Pamelas Überraschung. Dr. Jhas Mann hätte sie sich völlig anders vorgestellt. Er hieß Edward. Sie hatten keine Kinder, weshalb sie vermutlich auch jedes Wochenende auf dem Markt stehen konnten. Sie wollte die beiden unterstützen, und Dr. Jha war immer so nett zu ihr, weshalb sie zwei Gläser Marmelade kaufen wollte. Da hatte Dr. Jha ihr erklärt, dass diese viel Zucker enthielt und nur dünn aufgetragen werden sollte. Wenn die Marmelade nicht so gut schmecken würde, würde sie stattdessen bei Tesco einkaufen gehen. Dort sagte einem keiner, wie dünn oder dick man sie aufstreichen durfte. Sie hatte Dr. Jha angelächelt und gesagt, sie würde immer auf ihren Zuckerkonsum achten. Leider hatte Dr. Jha sie fünf Minuten später gesehen, wie sie am Kuchenstand ein halbes Dutzend Kirschtörtchen gekauft hatte. Gut, dass Dr. Jha nichts von den zwei Flaschen Rotwein in ihrem Rucksack wusste, hatte sie gedacht und der Ärztin zugewinkt.
Sie nahm das Walnussbrot vom Toaster und strich Butter und eine dicke Schicht Marmelade darauf. Dann goss sie Tee in ihre blau-weiße Lieblingstasse, stellte alles auf ihr Frühstückstablett und ging damit ins Wohnzimmer. Sie setzte das Tablett auf dem kleinen Glastisch am Fenster ab, das zur Haddley Hill Road hinausging. Ein Blick auf die Uhr am Kaminsims sagte ihr, dass es kurz vor halb neun war. Genau rechtzeitig, dachte sie und setzte sich in ihren Sessel. Sie biss in das Brot und sah zur Straße, wo ein paar Schüler der Mittelschule gerade den Hügel hinuntergingen. Sie trank von dem Tee, während ein paar ältere Schüler an ihrem Haus vorbeiliefen. Die meisten ignorierten die alte Frau im Fenster, doch irgendwer rief immer etwas Boshaftes. Pamela achtete nicht auf sie. Wir waren alle mal jung, rief sie sich in Erinnerung.
Die jüngeren Kinder kamen zehn Minuten später, ihr Unterricht fing wohl erst nach dem der älteren an. Sie wurden fast immer von ihren Müttern begleitet, auch wenn sich heutzutage auch einige Väter daruntermischten. Sie hatte auch schon Kinder mit zwei Vätern gesehen. Das machte ihr nichts aus. Solange sie glücklich waren und sich gut um die Kinder kümmerten. Während sie die zweite Brotscheibe aß, entdeckte sie Jeannie.
Jeannie mit den roten, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, den Sommersprossen, die ihr ganzes Gesicht bedeckten, und dem strahlenden, glücklichen Lächeln. Sie musste acht oder neun Jahre alt sein. Ein paar Monate zuvor hatte Pamela dem Mädchen das erste Mal zugewinkt. Zaghaft, eine kleine Bewegung der Finger. Nach ein paar Wochen hatte Jeannie zurückgewinkt. Kurz darauf hatte Pamela stumm Hallo gesagt, und Jeannie hatte auch das erwidert. Jeannies Mutter war fast immer in ihr Handy vertieft und bemerkte den Austausch nie.
Heute jedoch stimmte etwas nicht. Jeannie ging mit gesenktem Kopf. Pamela beugte sich vor, um besser sehen zu können, wobei der Teller von ihren Knien rutschte und Krümel auf den Teppich fielen. Sie würde staubsaugen müssen, doch das konnte warten. Sie musterte das Mädchen genauer. Es war definitiv Jeannie, doch sie war allein. Pamela rief nach ihr und winkte hektisch, doch das Mädchen ging mit gesenktem Kopf am Haus vorbei.
Ich stehe vor meinem Reihenhaus und trinke den ersten Kaffee des Tages.