ELSA- die Taube aus der Stadt - Gerhard Braß - E-Book

ELSA- die Taube aus der Stadt E-Book

Gerhard Braß

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte der kleinen Taube Elsa, die - schon bald, nachdem sie aus ihrem Ei geschlüpft ist - allerlei Abenteuer erlebt. Bereits in der Taubenschule wird schnell klar, dass Elsa kein gewöhnliches Taubenmädchen ist, sondern ihren eigenen Kopf hat. So schließt sie Freundschaft mit anderen Vögeln, wie zum Beispiel der Möve Sirko. Dies wird in Taubenkreisen aber nicht gerne gesehen und so eckt sie immer wieder an, bis sie nach einem Streit die Stadt verläßt und in den Wald ausreißt. Dort erlebt sie weitere aufregende Ereignisse, findet aber auch neue Freunde. Nach ihrer Rückkehr in die Taubengemeinschaft der Stadt wird sie aufgrund einer Intrige geächtet und flieht abermals in den Wald. Dort erfährt sie schließlich von einem schlimmen Plan, der die Tauben in ihrer Stadt in tödliche Gefahr bringt. Wie kann sie nur ihre Familie und ihre Freunde warnen?

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Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Gerhard Braß

ELSA

die Taube aus der Stadt

Books on Demand

Für Tigerchen – ohne Dich wäre das Manuskript nicht entstanden!Und Dank an die leider verstorbene Anna Maria Schweighart, ohne die aus dem Manuskript kein Buch geworden wäre.

Inhalt

1   Wie alles begann

2   Elsa in der Schule

3   Der Ausflug

4   Elsa im Wald

5   Schwere Tage

6   Zurück im Wald

7   Sonderbotschafterin Elsa

8   Ein riskanter Plan

9   Locker bleiben!

1   Wie alles begann

Als Elsa geboren wurde, tobte gerade ein heftiges Maigewitter über der Stadt. Es war Nacht, Blitze zuckten und die krachenden Donnerschläge konnte Elsa sogar in ihrem Ei hören. Ganz eng zusammengerollt lag sie darin, blind und nackt, aber seit einigen Stunden bereit zum Schlüpfen.

Wie sie aber den Donner hörte (obwohl ihre Mutter Gerlinde, eine hübsche Türkentaube mit einem dezenten schwarzen Nackenring, sorgsam auf dem Gelege saß und es so vor dem Wetter abschirmte), bekam sie es mit der Angst zu tun und schrie; heraus kam aber nur ein klägliches Fiepen.

Trotzdem musste es Mama Gerlinde wohl gehört haben, denn Elsa spürte, wie plötzlich aufmunternd an ihrem Ei gezupft wurde und automatisch begann sie mit ihrem kleinen Hörnchen, das sich genau zu diesem Zweck an ihrem noch weichen Schnabel befand, an der Eierschale zu hacken und zu klopfen. Da! Ein leichtes Knacksen und Splittern und auf einmal befand sich direkt vor Elsas Schnabel ein kleines Loch.

Feuchte, kalte Luft strömte herein und Elsa hielt einen Moment inne. Wollte sie wirklich in diese kalte, dunkle und unbekannte Welt? Aber ihr Instinkt ließ ihr keine Wahl und so fuhr sie fort mit ihren Klopfen und Hacken.

Es dauerte noch einige Minuten, dann brach plötzlich ein größerer Teil der Eierschale ab und Elsa begann, sich aus der schützenden Hülle herauszuwinden.

Puh, war das mühsam! Elsa hielt erschöpft inne. Da bewegte sich auf einmal die Eierschale wie von Geisterhand und verschwand in der Dunkelheit. Gerlinde hatte es nicht mehr ausgehalten vor Neugier auf ihre kleine Tochter und hatte nachgeholfen.

„Mama! Mama!“ fiepte Elsa weinerlich und verkroch sich unter den dicken, warmen Federn von Gerlinde, als wieder ein Blitz zuckte und sofort darauf ein hallender Donnerschlag folgte.

„Ist schon gut, Kleines!“ murmelte Gerlinde beruhigend, „es ist nur ein Gewitter. Das geht bald vorbei. Schlaf jetzt!“

Und das tat Elsa dann auch.

Die nächsten zwei Tage erlebte Elsa wie in einem Traum, denn sie konnte noch nicht sehen.

Erst am dritten Tag schlug sie das erste Mal ihre Augen auf und erblickte einen strahlend blauen Himmel. Fasziniert blickte sie nach oben, als sie unsanft geschubst wurde.

„Lass mich auch mal sehen!“ tönte es neben ihr und ein kleines Taubenjunges drängelte unter dem schützenden Federkleid der Mutter hervor und blinzelte neugierig in die Sonne.

„Also wirklich, Friedolind! Es ist genug Platz, da musst Du Deine Schwester nicht so schubsen!“ mahnte eine Stimme von oben und sowohl Sonne als auch Himmel verschwanden, als sich Mama Gerlinde über die beiden beugte. Sie sagte es mahnend, aber ihre Augen lachten, so sehr freute sie sich über ihren Nachwuchs.

Ja und so lernte Elsa ihren Bruder Friedolind kennen.

Etwa eine Stunde später war die Familie komplett, als ein hübscher Felsentäuberich mit einem schneidigen Bogen von oben her angeflogen kam und eine elegante Punktlandung direkt am Nestrand hinlegte. Blaugrau war er und zwei schwarze Binden zierten seine Flügel. Außerdem hatte er einen schillernden grünen Fleck auf der Brust, sowie einen weißen Fleck am Bürzel, der Stelle, an der beim Vogel der Schwanz beginnt.

Das war Papa Cesare.

Zärtlich rieben er und Gerlinde ihre Schnäbel aneinander. „Ach Cesi, schön, dass Du wieder da bist! Wie war´s im Rat?“

„Gleich, mein Schatz“, antwortete Cesare. „Erst muss ich mal meine Kinder genauer ansehen.“

Er beugte sich hinunter zu Friedolind und Elsa, die sich etwas ängstlich in den Federn der Mutter versteckten.

„Na kommt, ich fress euch doch nicht!“ lächelte Cesare und stupste die beiden liebevoll an. Da wurden sie mutiger, kamen wieder hervor und versuchten nun, ihre Schnäbel auch so an seinem zu reiben, wie sie es gerade gesehen hatten. Da ihre Schnäbelchen aber doch noch sehr winzig waren, sah das Ganze zu komisch aus und Gerlinde lachte laut (das klingt dann für Menschen wie ein lautes Gurren), als sie das sah.

„Mamma mia, sind die süß, die Kleinen!“ lachte nun auch Papa Cesare. Wie man am Namen erkennen konnte, war Cesare nicht in dieser Stadt, in der sie lebten, geboren worden. Eigentlich kam er sogar von weit her, vom Mittelmeer und wie es ihn in diese Stadt verschlagen hatte und er Gerlinde kennen und lieben gelernt hatte, war eine eigene, lange Geschichte.

Er richtete sich wieder auf. „Gerlinde, ich muss wieder zum Rat zurück. Sie haben nur kurz die Versammlung unterbrochen und erwarten, dass alle wieder pünktlich da sind.“

„Was ihr immer nur zum Besprechen habt!“ murrte Gerlinde.

„Aber Schatz!“ gab sich Cesare empört, „es ist eine hohe Ehre, Mitglied des Rates zu sein! Ich hätte nie gedacht, dass ich da mal reingewählt werden würde.“

Wie in jeder Stadt, in der Tauben lebten, gab es auch hier einen sogenannten Rat der Tauben, dessen Größe von der Anzahl der Tauben abhing, die hier lebten. Zur Zeit gehörten 30 Tiere dem Rat an, der von einer weisen, alten Ringeltaube geleitet wurde, die bei strittigen Fragen auch das letzte Wort hatte.

Wenn eine Ratstaube starb oder aus anderen Gründen vom Ratsamt zurücktrat, bestimmten die anderen Ratstauben einen Nachfolger und so war Cesare – für ihn überraschend – vor zwei Monaten zu dem Amt gekommen, als er zum Nachfolger für den kurz zuvor verstorbenen Nestor gewählt worden war.

Außer für Cesare selbst, der ein sehr bescheidener und angesehener Taubenmann war, kam diese Wahl für viele andere Tauben nicht überraschend, denn Cesare war, wie gesagt, sehr beliebt und insgeheim war Gerlinde natürlich mächtig stolz, dass ihr Mann im Taubenrat saß.

Aber gerade heute passte ihr der ganze Kram mit dem Rat gar nicht! Die Kleinen mussten gefüttert werden, sie musste überhaupt mal raus, ein bisschen die Flügel strecken.

„Gerlinde, das kriegen wir schon hin, ich habe vorhin mit Victoria und Max gesprochen. Die wollten eh noch vorbeikommen, da können sie dann gleich auf Elsa und Friedolind aufpassen, während Du was zum Essen besorgst.“

„Na gut.“ Gerlinde sah zur Kirchturmuhr hinüber. „Es ist jetzt kurz vor zehn. Wann wollten sie denn kommen?“

Ja…Tauben können Uhren lesen! Überhaupt sind Tauben viel schlauer, als es viele Menschen wahrhaben wollen. Zum Beispiel können sie die Menschen auch verstehen, nur ist diese Fähigkeit ein großes Geheimnis. Sie wollen gar nicht, dass die Menschen wissen, wie intelligent sie eigentlich sind. Alles was Tauben wollen, ist, friedlich mit den Menschen zusammenzuleben.

„Ich denke, es wird wohl Mittag, bis sie kommen. Also…ich flieg wieder los. Bis heute nachmittag!“ Sie rieben sich wieder kurz die Schnäbel, dann sah Cesare kurz prüfend in die Runde (es konnte ja ein Turmfalke in der Nähe sein), stieß sich kraftvoll vom Nestrand ab, entfaltete seine Flügel und weg war er.

Etwa zwei Stunden später tauchten Onkel Max und Tante Victoria auf. Onkel Max war Gerlindes Bruder, also ein Türkentäuberich, während Tante Victoria eine hübsche Ringeltaube war, mit einem schönen weißen Halsfleck auf jeder Seite.

Mit viel Gegurre (zumindest würden Menschen es so bezeichnen) landeten sie am Nestrand.

„Gerlinde! Ja, Du liebe Zeit! Heute früh kam Cesi bei uns vorbeigeflogen und hat uns gesagt, dass euer Nachwuchs angekommen ist!“ Victoria war ganz aufgeregt. „Lass doch mal sehen!“

Gerlinde erhob sich etwas und es kamen Friedolind und Elsa zum Vorschein, die verschlafen in die Sonne blinzelten.

„Ach Gott, sind die süüüüß!“ Victoria war hin und weg. Gerlinde schaute zwar recht stolz drein, dachte aber, dass Victoria schon ein wenig zur Übertreibung neigte. Max rieb liebevoll seinen Schnabel an Gerlindes. „Sind ja zwei goldige Racker!“ meinte er.

Damit hatte er buchstäblich recht, denn Taubenkinder haben ein gelbes Dunenkleid und das konnte, wenn die Sonne darauffiel, regelrecht golden schimmern.

„Könntest Du ein bisschen auf die beiden aufpassen?“ fragte Gerlinde. „Ich muss unbedingt mal meine Flügel strecken und etwas zum Essen muss ich auch besorgen.“

„Klar! Kein Problem“, entgegnete Victoria. Beide wechselten ihre Position und während sich Gerlinde am Nestrand startklar machte, setzte sich Victoria behutsam auf die Kleinen.

Sowohl Elsa als auch Friedolind merkten nichts vom „Mutterwechsel“, da sie beide gleich wieder fest eingeschlafen waren.

„Aah! Tut das gut!“ seufzte Gerlinde wohlig, als sie ihre Flügel streckte. „Vielen Dank, ihr beiden. Bin bald wieder da!“

„Jaja! Verschwinde endlich“, meinte Victoria liebevoll, „Max wird mir schon Gesellschaft leisten…gell, Mäxelchen?“

Der so Benannte guckte etwas säuerlich - er hasste es, wenn Victoria ihn „Mäxelchen“ nannte!

Aber er nickte brav und setzte sich noch etwas näher zu Victoria an den Nestrand.

Gerlinde stieß sich ab, ähnlich wie es vorher Cesare getan hatte, breitete die Flügel aus und segelte davon.

Zuerst ließ sie sich nach unten fallen, bevor sie mit kräftigen Flügelschlägen wieder an Höhe gewann. Sie flog über den großen Platz, der den Beginn einer Fußgängerzone markierte, in der keine Autos fahren durften. Über diesen Platz flog sie elegant hinweg und steuerte einen nahegelegenen, kleinen Park an, indem mehrere hohe Laubbäume standen. Sie stellte die Flügel an und landete auf einem knorrigen Ast. Prüfend sah sie sich um. Tauben mussten immer sehr vorsichtig sein, Gefahren lauerten überall! Eine Katze konnte sich eventuell gerade lautlos anschleichen und auch Marder kletterten gerne auf die Bäume, um Jagd auf Vögel zu machen.

Aber es war nichts zu sehen und so hüpfte Gerlinde von Ast zu Ast, immer tiefer, bis sie auf einem Ast saß, etwa zwei Meter über dem Boden und nach unten äugte.

Richtig! Auch heute wieder war die alte Frau da und hatte Brotkrümel und Haferflocken auf die Stelle vor dem Baum gestreut, die Gerlinde schon von früher kannte.

In der Stadt war es eigentlich verboten, Tauben zu füttern. Es gibt zu viele und sie machen jede Menge Dreck, hieß es. Aber es gab Menschen, vor allem ältere Leute, die sich nicht um das Verbot scherten und „ihre“ Tauben trotzdem fütterten. Gerlinde und den anderen Tauben war es recht. Sicher hätten sie – gerade während der warmen Jahreszeit – keine Probleme gehabt, auch so Futter zu finden. Sie waren ja nicht wählerisch! Sämereien schmeckten ihnen, Beeren, Pflanzenteile oder eben auch Brotreste und, wie hier, Haferflocken.

Es waren schon einige Tauben da und die meisten kannte sie auch, zumindest vom Sehen. In einem solchen Fall nickte man sich höflich zu und ging sich ansonsten aus dem Weg. Unter Tauben gab es wenig Agressionen, alle pickten friedlich zusammen die Flocken und Krümel auf.

„Putput!“ lockte die alte Frau und griff wieder in ihren Beutel. Dann warf sie die Handvoll Flocken unter die Tauben und lächelte, als diese sich gleich darauf stürzten.

Gerlinde breitete kurz die Flügel aus, ließ sich vom Ast fallen und landete mit flatternden Flügeln mitten unter der Taubenschar. Die anderen machten bereitwillig Platz und Gerlinde grüßte einige der Tauben mit einem freundlichen Kopfnicken. Dann stürzte sie sich auf die Flocken.

Beim Essen merkte sie erst, wie hungrig sie war! Cesare hatte sich zwar beim Brüten immer mit ihr abgewechselt, die meiste Zeit war aber doch sie selbst auf den Eiern gesessen.

Einige Zeit später war der Beutel leer. „So, ihr Täubchen, jetzt ist´s genug!“ rief die alte Frau und stand von der Bank auf. „Aber morgen komme ich wieder und dann gibt´s wieder leckere Haferflocken!“

Die Tauben gurrten lebhaft und der alten Frau war wieder mal so, als hätten die Vögel jedes Wort verstanden…und es war tatsächlich so! „Vielen Dank!“ „Schönen Tag noch!“ „Hat wieder sehr gut geschmeckt!“ riefen ihr die Tauben nämlich zu, als sie langsam ihres Weges ging.

Eine Taube nach der anderen flog davon und auch Gerlinde erhob sich wieder in die Lüfte. Sie wollte noch ein paar Beeren suchen, auch als erste Nahrung für die Kleinen. Instinktiv wusste sie, dass menschliche Nahrung, wie zum Beispiel Brotreste, nichts für die kleinen Mägen ihrer neugeborenen Kinder war.

Der Nachmittag verging für Gerlinde recht schnell, denn Elsa und Friedolind hatten Hunger und so flog sie immer wieder in den Park, um Nachschub zu holen.

Erst als die Abendsonne schon lange Schatten in die Straßen warf, war der Hunger der Kleinen gestillt und Gerlinde konnte sich wieder auf das Nest setzen, worauf sich Elsa und ihr Bruder sofort in das mütterliche Gefieder kuschelten und schnell einschliefen.

„Vielen Dank, ihr beiden!“ sagte Gerlinde zu Victoria und Maximilian.

„Aber das war doch gar kein Problem!“ entgegnete Victoria. „Komm, Maxi, wir fliegen los. Ich will vor Einbruch der Dunkelheit daheim sein.“

„Ja, Vicki, lass uns aufbrechen“, meinte Maximilian und rieb zum Abschied seinen Schnabel an dem von Gerlinde. Dann breiteten sie ihre Flügel aus – und weg waren sie.

Als es schon dämmerte, tauchte Cesare auf.

„Da bist Du ja endlich!“ rief Gerlinde erleichtert. „Ich habe mir schon echt Sorgen gemacht! Was war denn los?“

„Ach, das Übliche. Es gibt da einfach immer ein paar Tauben, die sich furchtbar gern reden hören. Und dies ist so wichtig und das muss unbedingt noch besprochen werden und jenes muss auf die Tagesordnung der nächsten Ratsversammlung…ich beneide Claudius nicht um seinen Job als Vorsitzender! Manchmal denke ich, ich befinde mich eher in einem Hühnerhaufen als in einer ehrwürdigen Taubenratsversammlung!“ Zu seinen Worten schnitt Cesare eine dermaßen komische Grimasse, dass Gerlinde nun doch lachen musste.

„Naja, Hauptsache, Du bist jetzt da. Setz Dich her, ich habe noch ein paar Beeren für Dich aufgehoben.“ Sie schob ihm die Beeren hin, die die Kleinen übrig gelassen hatten.

„O Mann, das ist aber lieb von Dir! Ich hab einen Bärenhunger und mir ist es ehrlich gesagt schon zu dunkel, um noch groß was zum Essen zu suchen.“ Blitzschnell waren die Beeren verschwunden und Cesare rieb zufrieden seinen Schnabel am Nestrand sauber.

Dann kuschelte er sich zärtlich an Gerlinde und bald darauf waren sie eingeschlafen.

Während der nächsten beiden Wochen wuchsen Elsa und Friedolind zu jungen, lebhaften Tauben heran, denen das Nest zunehmend zu eng wurde. Das gelbe Dunenkleid hatten sie verloren und war ersetzt worden durch braunes Gefieder, das sie als Jungtauben auswies. Erst in etwa einem Jahr würden sie erwachsen sein und die endgültige Färbung haben; man konnte aber jetzt schon erkennen, dass Elsa mehr nach ihrer Mutter schlug, da sich in ihrem Nacken ein dezenter, schwarzer Nackenring bildete, während auf Friedolinds Flügeln zwei schwarze Binden erkennbar wurden, die auch sein Vater hatte.

Ihre Eltern hatten schon seit einigen Tagen keinen Platz mehr im Nest. So schlief Gerlinde am Nestrand, während Cesare ausgewandert war und die Nächte in einer Mauernische des Nachbarhauses verbrachte.

Da die „Kleinen“ so kräftig gewachsen waren, hatten die Eltern auch ihre liebe Not, das entsprechende Essen zu besorgen. Das bedeutete, dass Elsa und Friedolind oft alleine waren. Irgendwann kamen dann Gerlinde oder Cesare vorbei, brachten alles Mögliche an Essbarem mit, das dann auch prompt von den beiden verschlungen wurde und flogen wieder weg, auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen.

Als die beiden wieder einmal alleine waren, kletterte Friedolind keck auf den Nestrand und flatterte mit seinen Flügeln.

„Friedolind, komm sofort da runter!“ rief Elsa besorgt. „Du weißt, dass Mami und Papi uns sowas streng verboten haben!“

„Ach was!“ entgegnete Friedolind vergnügt. „Komm doch auch mal rauf! Eine herrliche Aussicht haben wir da! Und wie weit oben wir sind!“

In der Tat lag das Nest ziemlich hoch. Als Gerlinde und Cesare einen passenden Platz gesucht hatten, war ihnen eine Leuchtreklame an einem großen, mehrstöckigen Gebäude aufgefallen. Die Reklame bestand aus mehreren riesigen Buchstaben, die nachts erleuchtet waren und das Wort „EINKAUFSZENTRUM“ bildeten. Besonders die beiden „U“ fanden sie sehr praktisch und so bauten sie schließlich das Nest in die Einbuchtung des mittleren „U“.

Und von dort oben schaute Friedolind nun auf das rege Treiben der Menschen, die aus dieser Höhe recht winzig aussahen. Er flatterte wieder mit seinen Flügeln und da merkte er, dass er ein klein bisschen abhob.

„Elsa, Elsa, schau! Ich kann fliegen!“ schrie er aufgeregt. Und wieder schlug er hektisch mit seinen Flügeln, worauf er tatsächlich noch etwas mehr abhob.

„Friedo, nein!“ antwortete Elsa ängstlich. „Auch das hat Papi streng verboten! Wir sollen noch nicht Fliegen üben und schon gar nicht allein!“

 

„Aber es geht doch ganz leicht! Und ich habe alles unter Kontrolle!“ Friedolind amüsierte sich über die Ängste seiner Schwester, wieder bewegte er seine Flügel kräftig auf und ab … da geschah es!

Im gleichen Moment, wie er ein paar Zentimeter über dem Nest schwebte, packte ihn eine Windbö. Plötzlich war da nicht mehr das sichere Nest unter ihm, sondern nur ein großer Abgrund. Weit unter ihm liefen die Menschen ameisengleich umher.

„Hilfe! Elsa, hilf mir!“ schrie Friedolind, jetzt gar nicht mehr locker und selbstbewusst. Obwohl er aus Leibeskräften mit den Flügeln flatterte, entfernte er sich immer weiter vom Nest, gleichzeitig verlor er auch an Höhe.

In diesem Moment tauchte Cesare auf. Mit einem Blick erkannte er die Situation. Er ließ die Beeren fallen, die er im Schnabel transportiert hatte.

„Papi, Papi, hilf mir! Ich falle!“ schluchzte Friedolind und sackte wieder etwas ab.

„Ruhig, Friedo! Tu jetzt das was ich sage!“ Cesare war sehr aufgeregt, ließ sich aber nichts anmerken, um die Kinder nicht noch weiter zu beunruhigen. Er umkreiste seinen Sohn.

„Schlag nicht so hektisch mit den Flügeln. Langsam, kraftvoll schlagen. Stell sie etwas an, damit Du vorwärts kommst.“ Und tatsächlich. Cesares Stimme wirkte irgendwie ermutigend auf Friedolind, er konzentrierte sich auf seine Flügelbewegungen und kam wieder näher an das Nest heran.

„Jetzt flieg etwas nach links. Steuern musst Du mit Deinen Schwanzfedern. Ja…so ist´s richtig!“

„Papi, ich kann nicht mehr!“ Die Aufregung und das hektische Flattern hatten Friedolinds Kräfte erschöpft. Es war abzusehen, dass er das Nest nicht mehr erreichen würde.

„Kein Problem. Dann steuere nicht nach links. Flieg einfach geradeaus. Ja, da…siehst Du? Da kannst Du landen.“

Mit letzter Kraft setzte Friedolind schließlich auf dem unteren Querbalken des „Z“ auf, etwa zwei Meter rechts von dem „U“ der Leuchtreklameschrift, in der sich das Nest befand.

Friedolind japste nach Luft. „Mann! Mann! Mann!“ mehr brachte er momentan nicht heraus.

Sein Vater landete neben ihm. „Mein Sohn, ich denke, wir hatten eine klare Abmachung. Keine Flugversuche ohne Mami oder mich! Was hätte alles geschehen können, wenn ich nicht zufällig zurückgekommen wäre. Du wärest vielleicht sogar abgestürzt! Da unten laufen nicht nur Menschen, sondern auch Katzen herum…unsere Todfeinde!“

Friedolind schien während der Worte seines Vaters immer kleiner zu werden.

„Entschuldige, Papi“, murmelte er kleinlaut. „Ich werde es nicht mehr tun.“

„Tja, Friedolind, dazu ist es jetzt ein bisschen zu spät.“ Cesare seufzte. „Nun gut, seien wir froh, dass nichts Schlimmes passiert ist. Die Frage ist: Wie kommst Du wieder zurück ins Nest? Meinst Du, Du schaffst das…wenn Du Dich etwas ausgeruht hast?“

Friedolind spähte unsicher zum Nest hinüber. „Ich weiß nicht. Das war alles so aufregend. Ich habe eigentlich gar nicht richtig registriert, was ich alles gemacht habe, um zu fliegen.“

Cesare musste schmunzeln. „Klar. So läuft das beim Fliegen auch. Mit der Zeit geht das alles unbewusst, Du fliegst dann so selbstverständlich, wie…wie…na, wie zum Beispiel die Menschen laufen. Jetzt pass mal auf. Ich fliege Dir vor, Du schaust genau zu. Und dann probierst Du es auch.“

Friedolind nickte tapfer. „Ok! Ich werde auch sehr gut aufpassen!“

Cesare breitete seine Flügel aus, stieß sich ab und mit ein, zwei kurzen Flügelschlägen war er auch schon am Nest angekommen, indem eine äußerst aufgeregte Elsa saß.

„Papa, glaubst Du, er schafft das?“ fragte sie und guckte besorgt zu Friedolind hinüber, der jetzt doch etwas verloren auf dem Querbalken saß.

„Oh, ich denke schon, immerhin war er ja auch mutig genug, da rüber zu fliegen.“ Er erhob seine Stimme. „So, Friedo, jetzt bist Du dran! Flügel ausbreiten…und los geht’s!“

Friedolind trat an den Rand und sah hinunter, zu den kleinen Menschen. Er schluckte. Wäre er nur nicht so verdammt obercool gewesen! Also wie war das nochmal? Flügel ausbreiten und kraftvoll schlagen. Und dann…

Ehe es sich Friedolind versah, war er schon wieder in der Luft. Und irgendwie ging es diesmal tatsächlich leichter! Er benötigte zwar vier oder fünf Flügelschläge, im Gegensatz zu seinem Vater und die Landung, naja, die war auch nicht gerade berauschend, er fiel geradezu ins Nest hinein…aber immerhin! Er war unversehrt zurückgekommen!

„Sehr gut, Friedo!“ lobte sein Vater. „Dass es so reibungslos laufen würde, hätte ich jetzt nicht gedacht. Ich sehe schon, wir können in der Tat morgen mit den ersten Flugübungen beginnen.“

„Wie? Was höre ich da?“ ließ sich plötzlich Gerlinde vernehmen. Von den dreien in der ganzen Aufregung nicht bemerkt, war sie auch zurückgekommen und saß am Nestrand.

Cesare musste lachen. „Liebes, Dein Sohn hatte sich entschlossen, einen kleinen Ausflug zu wagen. Da drüben war er schon“, er deutete mit seinem rechten Flügel zu Friedo´s Notlandeplatz hinüber. „Dann bin ich gekommen und habe ihm geholfen, wieder ins Nest zurück zu gelangen. Und da das alles wider Erwarten recht gut geklappt hat, denke ich, dass wir morgen mit dem Flugunterricht beginnen können.“

„Das ist doch die Höhe!“ schimpfte Gerlinde. „Friedo, hatten wir euch nicht immer gesagt…“

„Aber Mama!“ unterbrach Friedo seine Mutter, „Papa hat mich auch schon geschimpft! Es tut mir ja auch leid und ich habe mich entschuldigt!“

Cesare nickte bestätigend. „Stimmt! Und nun…“, er hüpfte zu Elsa hinüber. „Lass mal sehen, Tochter. Bist Du soweit wie Friedo?“

Elsa breitete ihre Flügel aus und spreizte ihre Schwanzfedern. „Ja, das schaut ganz gut aus, Du stehst in Deiner Entwicklung Friedolind nicht nach. Gut, so sei es denn! Morgen beginnen wir mit dem Unterricht. Aber für heute“, er sah dabei streng zu Friedolind hinüber, „keine Eigenmächtigkeiten mehr…klar?“

Die Kinder nickten. „Klar!“ antworteten sie im Chor. Und waren bereits jetzt sehr aufgeregt. Fliegen lernen! Wenn es doch nur schon morgen wäre!

Am nächsten Tag waren die beiden schon früh wach und tuschelten aufgeregt miteinander. Friedolind erzählte Elsa zum vierten Mal, wie er seine Flügel ausgebreitet hatte und welche Gefühle er hatte, als er geflogen war.

„Gigantisch, einfach Wahnsinn! Unter Dir…nichts als ein gähnender Abgrund! Und nur Deine Flügel halten Dich! Du breitest sie aus… und fliegst!“

Elsa sah ihn fasziniert an. „Und Du hattest gar keine Angst?“

„Angst? Warum denn?“ Friedolind versuchte, recht lässig dreinzublicken. Aber dann wollte er doch nicht lügen. „Naja, etwas Angst habe ich schon gehabt. Es war ja immerhin mein allererster Flug!“

Und so tuschelten und flüsterten sie weiter, bis endlich die Eltern erwachten.

Die Sonne schien schon warm aufs Nest, als der Unterricht begann. Das Frühstück enthielt nun auch Haferflocken und Brotkrümel, die beiden waren jetzt alt genug für diese Nahrung.

Dermaßen gestärkt, saßen die beiden erwartungsvoll am Nestrand und schauten gespannt auf ihren Vater. Gerlinde hatte sich etwas weiter weg auf das „E“ der Leuchtreklame gesetzt…für alle Fälle. Auch sie war nämlich sehr aufgeregt, wollte sich aber nichts anmerken lassen. Ihre Kinder lernten fliegen! Was da alles passieren konnte!

„Also, Kinder! Nochmal das Ganze. Flügel ausbreiten…anstellen… Schwanzfedern spreizen…nach links lenken…jetzt nach rechts…gut! Elsa, wie verhältst Du Dich, wenn Du landen willst?“

Elsa breitete wieder die Flügel aus und stellte sie schräg. „Ich stelle meine Flügel an“, erklärte sie dazu, „spreize meine Schwanzfedern und stelle sie gleichzeitig hoch, damit sie wie eine Bremse wirken.“ Dazu machte sie die entsprechenden Bewegungen.

„Sehr gut!“ lobte Cesare. „Friedo, stell Dir vor, Du verlierst – aus welchen Gründen auch immer – die Kontrolle und trudelst ab. Was unternimmst Du?“

Friedolind runzelte angestrengt die Stirn, was man bei Tauben aber nicht sehen konnte, da das Runzeln durch ihr Gefieder verdeckt wurde. „Ich denke mal, ich breite die Flügel weit aus und lenke mit meinen Schwanzfedern in eine bestimmte Richtung.“

„Warum?“

„Hm, ich komme dadurch aus dem Trudeln raus und kann wieder kontrolliert fliegen.“

„Gut! Sehr gut! Ich sehe schon, in der Theorie kann ich euch momentan nicht mehr viel Neues beibringen.“ Cesare war sichtlich zufrieden. „Es wird Zeit für den ersten Flug.“

Er breitete die Flügel aus. „Schaut mir genau zu! Ich stoße mich ab und lasse mich fallen, dabei beginne ich, mit den Flügeln zu schlagen. Ich steuere nach links und erreiche ohne Probleme Friedos gestrigen Notlandeplatz.“ Während er dies sagte, flog er auch schon los und war …schwupp! auf dem unteren Querbalken des „Z“ gelandet.

„So! Friedolind macht den Anfang!“ Cesare schmunzelte. „Er ist ja schon ein erfahrener Flieger!“ Aufmunternd wackelte er mit seinen Flügeln.

Elsas Bruder sah zögernd nach unten. Wie hatte er das gestern nur geschafft? Alles sah jetzt plötzlich so hoch aus! Andererseits… er konnte sich doch vor seiner Schwester keine Blöße geben! Die blickte ihn nämlich gerade dermaßen bewundernd an, wie er so am Nestrand stand und seine Flügel ausbreitete, dass er nicht mehr zurück konnte.

Er atmete tief ein…und stieß sich ab!

Einen endlosen Augenblick lang schien er zu fallen, aber schon trugen ihn seine heftig flatternden Flügel, viel besser wie gestern, schien es ihm, und er musste mit seinen Schwanzfedern heftig nach links lenken, sonst wäre er glatt an seinem Vater vorbei geflogen!

So aber erreichte er gerade noch das „Z“ und setzte neben Cesare auf. Zum Abbremsen stellte er aber seine Schwanzfedern etwas zu steil auf, so dass er etwas hektisch mit den Flügeln flattern musste, um nicht abzurutschen. Aber dann saß er doch neben seinem Vater und strahlte ihn an.

„Super, mein Junge!“ strahlte der zurück. „Die Landung war wohl noch ein bisschen holprig, aber das kommt dann schon von selbst. Auf jeden Fall einwandfrei geflogen. Und jetzt Du, Elsa!“ rief er zum Nest hinüber.

Gespannt hatte Elsa Friedos Flug verfolgt. Tatsächlich hatte sie gestern erst viel Angst um ihren Bruder gehabt, aber jetzt fand sie ihn so cool, wie er dagesessen und dann losgeflogen war. Sie dagegen war doch so furchtbar aufgeregt, sicher würde sie alles falsch machen und abstürzen, oder die Flügel falsch stellen und ganz woanders landen, oder…halt Elsa! schalt sie sich. Jetzt mach Dich nicht verrückt! Es wird schon klappen, schließlich war Papa ein guter Lehrer…und Tauben können so gut fliegen wie zum Beispiel Menschen laufen. Also wird´s schon gut gehen! So machte sich Elsa Mut. Sie richtete sich auf, breitete die Flügel aus und stieß sich ab, wie ihr Bruder wenige Minuten vorher.

Und da geschah etwas mit Elsa. Sie merkte plötzlich, dass sie gar keine Angst mehr hatte. Ihre Flügel trugen sie, als ob sie schon immer geflogen wäre. Sie schlug gleichmäßig und kraftvoll, so wie es ihr Vater vorgemacht hatte und konnte gut die Höhe halten. Als sie einen angstvollen Aufschrei hörte, blickte sie zurück. Wahnsinn! dachte sie. Sie war schon gut fünf Meter vom Nest weg und entfernte sich immer weiter. Wie war das mit dem Lenken? Sie bewegte ihre Schwanzfedern und flog bereits eine elegante Linkskurve, als sie ihre Mutter neben sich bemerkte.

„Elsa! Was machst Du da? Ich hatte solche Angst, wie Du da immer weiter weggeflogen bist!“ Also war es Gerlinde gewesen, die so angstvoll geschrien hatte.

„Mama, es ist gigantisch! Es ist wunderbar! Fliegen ist…ist ein Traum!“ juchzte Elsa überglücklich. Und schon kam die Leuchtreklame wieder näher und Elsa visierte das „Z“ an, auf dem Friedolind und ihr Vater saßen. Der eine guckte unverhohlen neidisch, der andere besorgt.

Da es auf dem unteren Querbalken etwas eng war, schließlich saßen da ja schon Cesare und ihr Bruder, stellte sie ihre Flügel an, so dass sie entsprechend mehr Auftrieb bekamen und schon war sie hoch genug, um auf dem oberen Querbalken zu landen. Auch die Landung klappte einwandfrei. Sie stellte ihre Schwanzfedern auf, die Fußkrallen nach vorn gerichtet und landete punktgenau. Neben ihr setzte auch ihre Mutter auf.

„Papa, es ist soooo toll!“ jubelte sie abermals.

„Jaja, das mag schon sein, aber Du hättest trotzdem nicht so weit fliegen sollen.“ Elsas Vater war teils ärgerlich, teils erleichtert. „Bitte halte Dich das nächste Mal an meine Vorgaben.“

„Ja, Papa“, erwiderte sie artig. Innerlich aber jubilierte sie weiterhin. Dass Fliegen so schön sein würde, hätte sie nicht gedacht. Sie blickte nach unten, an ihrem Vater und ihrem Bruder vorbei. Ach, ihr Menschen, dachte sie. Ihr mögt ja viel können, aber fliegen…fliegen könnt ihr nicht!

So verging der Tag mit weiteren Flugübungen. Als der Abend nahte, kehrten Elsa und Friedolind doch recht erschöpft zum Nest zurück. Die Eltern flogen nochmal los, um Essen für die beiden zu besorgen.

„Am besten fliegen wir rüber in den Park“, meinte Cesare. Gerlinde nickte zustimmend und so flogen sie die Straße hinunter, Richtung Park.

„Wie fandest Du die beiden?“ fragte Gerlinde, während sie sich den Bäumen näherten.

„Also, Friedolind fliegt, wie man es von einer Taube in seinem Alter erwarten darf“, entgegnete Cesare. „Aber Elsa fliegt, man muss es so sagen, einfach phänomenal! Dass eine so junge Taube schon am ersten Tag so sicher fliegt, das habe ich noch nirgendwo gesehen. Findest Du nicht?“

„Ja, schon.“ sagte Gerlinde. „Da bin ich auch recht stolz darauf, aber das dürfen wir Elsa nicht merken lassen, sonst überschätzt sie sich noch.“

„Stimmt, die Gefahr besteht“, gab Cesare zu. Sie flogen zwischen den ersten Bäumen, Richtung Parkmitte. „Aber wenn sie sich so weiter entwickelt, wird sie die beste Fliegerin, die ich kenne!“

„Nana!“ spottete Gerlinde. „Dann wirst Du sie wohl noch für den alljährlichen Geschicklichkeitsflugwettbewerb anmelden, wenn sie größer ist, oder?“

„Warum nicht?“ sagte Cesare trotzig. „Jedenfalls hat sie Talent, das sieht man doch!“

„Stimmt, Talent hat sie“, meinte Gerlinde und visierte den Ast eines großen, alten Laubbaumes an. „Aber an dem Wettbewerb nehmen doch nur Männer teil.“

Beide landeten nebeneinander auf dem Ast. „Na und? Warum soll das Geschlecht entscheiden? Das Talent ist wichtig!“ gab sich ihr Mann kämpferisch.

„Tsts! Cesi, Du alter Macho, so kenne ich Dich ja gar nicht. Mein italienischer Täuberich als Kämpfer für Taubenfrauenrechte? Es geschehen ja noch Zeichen und Wunder!“ stichelte Gerlinde.

„Nun übertreib mal nicht. Ausnahmen bestätigen die Regel und meine Tochter ist eine Ausnahme…davon bin ich überzeugt. Basta!“ antwortete Cesare würdevoll und begab sich nach unten, wo einige Johannisbeersträucher wuchsen. Gerlinde folgte ihm schmunzelnd.

Derweil saß die so Gelobte zusammen mit ihrem Bruder im Nest und war nur noch müde.

„Friedo, jetzt rück doch mal etwas! Ich habe kaum noch Platz!“ beschwerte sie sich.

„Was kann ich dafür?“ verteidigte sich ihr Bruder. „Schau mal, ich bin doch eh schon ganz zusammengedrängt. Mein rechter Flügel hängt ja schon raus!“

Das stimmte tatsächlich. Die beiden waren kräftig gewachsen und langsam wurde es zu klein im Nest für beide.

„Auf jeden Fall war heute der glücklichste Tag meines Lebens!“ sagte Elsa inbrünstig.

„Ja, das war heute schon supercool!“ gab Friedo zu. „Aber ich muss schon zugeben, Du fliegst wirklich sehr gut!“

„Danke!“ antwortete Elsa gerührt. „Das ist aber nett von Dir. Ich weiß auch nicht, warum es so gut klappt. Ich breite einfach die Flügel aus…und fliege los. Alles andere geschieht irgendwie von selbst. Das Aufstellen der Flügel, das Steuern…da brauche ich gar nichts bewusst zu tun. Ich denke einfach, da muss ich hin oder dort muss ich eine Kurve fliegen - und schon geschieht´s! Ist das bei Dir nicht so?“

„Nein, nicht ganz“, meinte ihr Bruder. „Manches schon, aber meistens muss ich doch bewusst die Flügel aufstellen oder meine Schwanzfedern biegen, damit ich die Kurve hinkriege.“

„Ich bin fest davon überzeugt, dass es bei Dir auch noch so kommen wird, wie bei mir“, gab sich Elsa zuversichtlich.

„Meinst Du?“ fragte ihr Bruder unsicher.

„Ja, das meine ich. Und ich meine auch, dass ich jetzt einen riesigen Hunger habe!“ sagte Elsa und blickte suchend über den Platz, Richtung Park, den man aber vom Nest aus nicht sehen konnte. „Am liebsten würde ich Mama und Papa entgegenfliegen!“

„Spinnst Du?“ Ihr Bruder schüttelte seinen Kopf. „Die Alten würden erstens einen Riesenschreck kriegen und zweitens hättest Du sicher erstmal Flugverbot!“

„Jajaja! Ich tu´s schon nicht“, nörgelte Elsa. „War ja nur ein Gedanke. Ich fliege eben so gern!“

„Jetzt warte mal bis morgen“, ihr Bruder riß den Schnabel weit auf und gähnte herzhaft, „da können wir sicher wieder den ganzen Tag üben.“

In diesem Moment kam auch schon Gerlinde zurück, mit einigen Beeren im Schnabel. Einige Zeit später kam auch Cesare. Aber sie mussten noch einige Male hin und herfliegen, bis der Hunger ihrer Kinder gestillt war und sie einschliefen.

Die nächsten Tage vergingen für alle vier buchstäblich wie im Fluge. Aber besonders für Gerlinde und Cesare war diese Zeit sehr anstrengend. Sovieles hatten sie zu beachten: Daß die Kinder genügend zu essen bekamen, daß ihnen nichts passierte, daß sie immer besser fliegen lernten…sie sehnten den Tag herbei, an dem Friedolind und Elsa in die Schule kommen würden.

„Schule?“ fragten beide entgeistert wie im Chor. „Was ist denn eine Schule?“

„Nun, in der Schule lernt ihr alles Wichtige für euer Leben“, antwortete Gerlinde. „Jede junge Taube muss für einige Zeit in die Schule. Wir haben gestern abend mit eurer Lehrerin gesprochen. Sie meinte, nächste Woche beginnen wieder einige junge Tauben mit dem Unterricht. Da könnt ihr gleich dazustossen.“

„Ich mag nicht in eine Schule“, nörgelte Friedolind. „Hier bei Dir und Papa können wir doch auch alles Wichtige lernen.“

„Nein, Friedolind“ mischte sich jetzt auch Cesare ein, „eben nicht. Es gibt Dinge, die kann man nur in einer Schule lernen.“

„Was denn?“ Friedolind war nicht überzeugt.

„Nun, zum Beispiel allgemeine Taubenlehre. Oder Kenntnisse über uns, unseren Taubenrat. Dann lernst Du, wie man sich richtig verhält, zum Beispiel bei Gefahr. Außerdem werdet ihr einen Ausflug machen, um unsere Stadt kennenzulernen. Und anderes mehr.“

„Oh, da freue ich mich schon!“ rief Elsa. „Und nächste Woche geht´s los?“

„Ja. Bis dahin werden wir vier weiter unterwegs sein. Es wird Zeit, dass ihr lernt, was man essen darf und was nicht. Es ist gleich Mittag. Da fliegen wir mal in den Park hinüber. Kommt mit!“

Und so flog die Familie los. Wenn in diesem Moment einer der vielen Menschen, die auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum unterwegs waren, nach oben geschaut hätte, hätte er eine hübsche Türkentaube gesehen, gefolgt von zwei jungen, braun gefiederten Tauben. Den Abschluss bildete ein blaugrauer Felsentäuberich, dessen Flügel zwei schwarze Binden zierten.

In einem großen Bogen überquerten sie den Platz, flogen die Straße hinunter und erreichten schließlich die ersten Bäume. Hier landeten sie auf dem Ast eines bestimmten Laubbaumes, den sie schon öfter als Landeplatz ausgewählt hatten.

Mittlerweile hatten Elsa und Friedolind einige Fertigkeit im Fliegen entwickelt und auch das Landen klappte schon recht gut. „So“, sagte Cesare, als sie alle nebeneinander auf dem Ast saßen, „wie immer genau die Umgebung beobachten! Marder und Katzen klettern gern auf Bäume, um Jagd auf uns zu machen.“

Alle vier sahen sich um, aber im benachbarten Geäst regte sich nichts, abgesehen von ein paar kleineren Vögeln, die lebhaft zwitschernd umherflogen. „Das da drüben ist eine Kohlmeise“, sagte Gerlinde „und der Vogel da“, sie wies mit der Flügelspitze nach rechts, „ist ein Rotkehlchen, kenntlich an der rot gefärbten Brust.“

„Was reden die denn dauernd?“ fragte Friedolind.

„Ach, keine Ahnung“, meinte sein Vater. „Dieses Gezwitschere versteht keine Taube! Kommt, wir begeben uns nach unten, da, zu den Sträuchern hin.“

Die vier hüpften von Ast zu Ast und landeten schließlich mit wenigen Flügelschlägen vor den Sträuchern auf dem Boden.

„Ah, eine Schnecke!“ freute sich Cesare. Mit einem Satz war er an der Stelle, an der gerade eine Schnecke ihres Weges kroch. Ein Schnabelhieb und schon begann er, die Schnecke aus ihrem zersplitterten Gehäuse zu holen und zu verspeisen.

Die anderen beobachteten ihn dabei, Friedo neugierig, Elsa eher mit gemischten Gefühlen und Gerlinde mit Abscheu.

„Ich werde nie verstehen, was Du an diesen schleimigen Viechern findest!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Da ziehe ich doch die Beeren hier vor.“ Mit diesen Worten hüpfte sie hinüber zu einem der Johannisbeersträucher und rupfte mit ihrem Schnabel eine Rispe mit mehreren Beeren ab.

Friedo begab sich dagegen zu seinem Vater. „Und das schmeckt?“ fragte er zweifelnd.

„Köstlich, sag ich Dir, einfach köstlich! Willst Du mal?“ Cesare trat etwas zurück und ließ Friedolind probieren. Der steckte seinen kleinen Schnabel vorsichtig in das zerstörte Schneckenhaus und zwickte einen Teil der toten Schnecke ab. Dann schluckte er es hinunter. „Naja, nicht schlecht“, urteilte er anschließend.

Elsa zog es eher zu ihrer Mutter, die bereits die nächste Rispe anpeilte. „Ich glaube, ich mag keine Schnecken“, meinte sie.

„Sehr richtig, Elsaschatz!“ entgegnete ihre Mutter. „Das ist eine von seinen italienischen Angewohnheiten, die ich nicht mag. Diese Felsentauben! An der Küste, wo er früher gelebt hat, soll es noch viel größere Schnecken geben … igitt!“

„Küste? Was ist eine Küste?“ fragte Elsa und zupfte nun ihrerseits eine Rispe mit fünf Beeren vom Strauch.

Gerlinde schluckte eine Beere hinunter. „Nun, Küsten gibt es nur am Meer. Und bevor Du fragst, was ein Meer ist“, Gerlinde sah zu Elsa hinüber, die das in der Tat gerade fragen wollte, „das Meer, so hat es mir jedenfalls Dein Vater erzählt, ist eine riesengroße Wasserfläche. Kannst Du Dich an die Überschwemmung auf dem Platz unter unserem Nest erinnern, vor zwei Tagen, nach dem Gewitter?“ Elsa nickte. „Tja und jetzt stell Dir vor, diese Überschwemmung wäre noch viel viel größer und würde nicht mehr weggehen. So ähnlich muss das Meer aussehen. Und dann gibt es am Rand von solchen Meeren jede Menge Felsen, höher aufgetürmt wie die Häuser in unserer Stadt. Und solche Felsenansammlungen nennt man Küste. Und an so einer Küste ist Papa geboren worden und auch dort groß geworden. Er ist ja ein Felsentäuberich.“

Elsa war fasziniert. „Und wie ist Papa hier hergekommen?“ fragte sie.

„Oh, das ist eine lange Geschichte!“ meinte Gerlinde. „Kurz gesagt, ist Dein Papa ein rechter Rumtreiber gewesen, in seinen jungen Jahren. Ihm ist es da, wo er lebte, wohl zu langweilig geworden und er hat sich irgendwann in die weite Welt aufgemacht. Und so hat es ihn schließlich in unsere Stadt verschlagen, wo wir uns dann kennenund liebengelernt haben.“ Bei diesen Worten blickte sie zärtlich zu Cesare hinüber, der gerade Friedolind darüber aufklärte, an welchen Stellen besonders gut Schnecken zu finden seien.

„Und wollte er nie zurück? Hat er da unten nicht auch eine Mama und einen Papa, die auf ihn warten?“ wollte Elsa wissen.

„Weißt Du, mein Schatz, da musst Du ihn selber fragen. Er hat nie besonders viel von seinem Zuhause erzählt. Und dass er bis in unsere Stadt gekommen ist, ist schon was Besonderes, denn das Reisen ist nicht unsere Taubenart. Wir leben normalerweise immer da, wo wir auch geboren wurden.“

„Mama, irgendwann werde ich dahin fliegen, wo Papa geboren wurde …und das Meer sehen!“

Gerlinde blickte Elsa an, wie sie so dasaß, mit vor Begeisterung funkelnden Augen und dachte: Wer weiß, kleine Elsa, wer weiß? Vielleicht machst Du das tatsächlich. Ich habe so ein Gefühl, dass Du eine ganz besondere Taube bist!

Laut aber sagte sie: „Ja, Elsa … irgendwann. Aber jetzt musst Du erstmal lernen, was Du essen darfst und was nicht. Schau mal hier, diese Kräuter. Probier mal ein Blatt davon.“

Und so vergingen die Stunden. Die Sonne brannte schon recht sommerlich auf die Familie herunter, deswegen zogen sie sich auf ein Nickerchen in die schattige Krone eines der vielen Laubbäume im Park zurück.

Am späteren Nachmittag flogen sie rüber zu dem Kiesweg, der den Park diagonal durchquerte. In unregelmäßigen Abständen waren Bänke aufgestellt. Da das Wetter schön war, waren die Bänke gut besetzt, viele Menschen schlenderten auch durch den Park und genossen den Tag.