Emerick - Tanja Heitmann - E-Book

Emerick E-Book

Tanja Heitmann

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Beschreibung

Für die junge Jasna ist Lastage House die Chance, ein neues Leben zu beginnen: Professor Leopold hat sie als Assistentin unter seine Fittiche genommen. Gemeinsam betreuen sie Kinder und Jugendliche, deren Leben aus den Fugen geraten ist. An einem von ihnen beißt Jasna sich allerdings die Zähne aus: Emerick ist nicht nur faszinierend, wie der Professor schwärmt, sondern sieht die Welt auf seine ganz eigene Weise. Als Jasnas Schützling, die kleine Lia, unerklärlicherweise ins Koma fällt, bietet Emerick seine Hilfe an. Damit beginnt die Jagd auf einen geheimnisvollen Schatten, und Jasna stellt fest, dass es in Lastage House nicht nur verrückt zugeht, sondern vor allem magisch ...

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© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Prolog

1 Glitzer

2 Spielstunde

3 Schneeweiß

4 Der Lieblingspatient

5 Nichts als die Wahrheit

6 Nachts im Park

7 Da waren es nur noch …

8 Luzide Träume

9 Nächtlicher Herrenbesuch

10 Schleichwege

11 Willkommen im Team

12 Ablenkungsmanöver

13 Im Baumreich

14 Nanette

15 Kalt wie Schnee

16 Das perfekte Versteck

17 Der Morgen danach

18 Schlechtes Omen

19 Am Rand

20 Zoll

21 Peitschenknall

22 Die Grachten

23 Ein Gast

24 Schwarze Federn

25 An der Wegscheide

26 Verborgen

27 Die Frau am See

28 Nichts als die Wahrheit

29 Grüne Nudeln

30 Teestunde

31 Ungangbare Wege

32 Der gläserne Flur

33 Sing für mich

34 Totenruf

35 Sprung ins Unbekannte

36 Engelsflügel

37 Ein Hauch Vergangenheit

38 Eine offene Tür

Epilog

Und die Eselin sah den Engel

Numeri 22, 23

Prolog

Ein Nachtflug über schwarzblauem Wasser, kein Licht seit weiter Strecke. Nur Wellen, darüber der wolkenverhangene Himmel und dazwischen weht der Wind. Wie ein unruhiger Geist bläst und lärmt er, ohne etwas zu erreichen. Denn an den unzähligen dunklen Schwingen, die blitzschnell über das Wasser ziehen, kann er nicht einmal zupfen. Sie sind zu fein, selbst für den Wind.

Dann taucht unvermittelt zwischen den Wellen die Spitze eines halb eingestürzten Hochhauses auf, die erste Landmarke seit Langem. Immer mehr Erinnerungen an die Stadt, die hier früher gestanden hat, ragen aus der Flut, bis es auch erste Anzeichen von Leben gibt: Hausboote, die an den Dachrinnen der schief aus dem Wasser ragenden Bauten festmachen und Kolonien bilden, die durch Stege miteinander verbunden sind.

Fast scheint es, als böte auch diese Ecke der Welt nicht mehr als versunkene Ruinen. Doch nach und nach zeigen sich erst Inseln im Wasser, dann taucht festes Land auf, voller Trümmerstücke, ausgeschlachteter Autowracks und Müll, bis schließlich Amsterdam in Sicht kommt, die Stadt am Wasser, die wie durch ein Wunder erhalten geblieben ist. Und mit ihr gibt es Licht in der Dunkelheit.

Es ist jedoch nicht das Licht, nach dem die Schar auf ihrer langen, entbehrungsreichen Suche Ausschau hält. Die mögliche Beute, die sie in diese verlorene Gegend gezogen hat, strahlt ein anderes Licht aus, viel lockender, viel nährender.

Die Schar dreht ab, fliegt über ein Feld aus Hausruinen bis hinaus vor die Stadt, wo es Land, Bäume und versumpfte Felder gibt und wo plötzlich ein hochherrschaftliches Haus auftaucht.

Und über diesem Haus erstrahlt taghell das Zeichen, nach dem die Schar so lange gesucht hat.

Endlich.

1 Glitzer

»Keiner von euch Drecksäuen packt mich an. Habt ihr das verstanden? Kein einziger! Ich weiß genau, was ich durchs Fenster gesehen habe! Da waren lauter geflügelte Monster, und sie waren von einer solchen Dunkelheit erfüllt, dass sie sich sogar vorm schwarzen Himmel abgezeichnet haben. Und das sage ich verflucht noch mal nicht, weil ich scheißverrückt bin. Es ist die Wahrheit, und deshalb verpisst euch!«

Jasna stoppte mitten im Lauf, als das Gebrüll sie wie ein Vorbote der Apokalypse traf. Ausgerechnet jetzt, dachte sie. Das war wohl die Strafe dafür, dass sie über Station 7 abkürzte, anstatt den offiziellen, aber umständlichen Weg durchs Hinterhaus zu nehmen. Und natürlich war es auch ein Denkzettel dafür, dass sie mal wieder viel zu spät dran war, Zeit vorm Spiegel verplempert hatte. Ihr war allerdings nichts anderes übrig geblieben. Die zu Tode erschöpfte Gestalt, die sie aus tief in Schatten liegenden Augen angestarrt hatte, wollte einfach nicht hinter einer extra Schicht Make-up verschwinden. Und Professor Leopold entging nichts, schon gar nicht Assistentinnen, die wie Zombies aussahen. Er würde nachfragen – und sie wollte ihm auf keinen Fall davon erzählen, dass sie mit Herzrasen und Atemnot im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, in der festen Überzeugung, etwas war gekommen, um sie zu holen.

Dem Gebrüll nach zu urteilen, hatte Jasna nicht als Einzige eine schlimme Nacht hinter sich.

»Zur Hölle mit euch!«, schmetterte es in einer Lautstärke, dass der bröckelige Stuck von der Decke rieselte. Lastage House war alt – und die ewige Feuchtigkeit gab dem Gemäuer den Rest. »Ich werde jeden einzelnen von euch Ärschen in Stücke zerreißen und auf den Fetzen rumtrampeln, bis sie mit diesem widerlichen Plüschteppich verschmolzen sind.«

»Da ist jemand nicht nur stinksauer, sondern auch noch kreativ«, murmelte Jasna. »Eine vielversprechende Mischung.«

Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Dabei ahnte sie bereits, wer im Hauptflur einen Auftritt der besonderen Art hinlegte. Trotzdem schockte sie der Anblick der spindeldürren Vigga, die gerade einem jungen Pfleger namens Morton einen Kinnhaken verpasste – und zwar so heftig, dass Morton, obwohl er bestimmt das Doppelte an Kampfgewicht auf die Waage brachte, gegen die Wand prallte. Die wellige Rosentapete, an der er Halt suchte, rutschte mit ihm zu Boden.

Wie es aussah, war Morton nicht Viggas erstes Opfer. Eine Pflegerin, deren Name Jasna auf die Schnelle nicht einfiel, betastete tiefe Kratzspuren an ihrer Wange, während sie aus einem Sicherheitsabstand auf das Mädchen in der beigen Stationskluft einredete. Ihr kraftloses »Psst, Mäuschen, ist doch alles gut« ging in Viggas übernatürlich lautem Gefluche unter.

Der dritte Pfleger im Bund schlich sich unterdessen von hinten an Vigga heran, vermutlich wollte er sie in den Schwitzkasten nehmen. Der Idiot hatte offenbar nicht die geringste Ahnung, dass Vigga auch hinten Augen hatte.

Jasna wollte dem Pfleger eine Warnung zurufen, doch es war bereits zu spät.

Vigga rammte dem Mann ihren Ellbogen in den Solarplexus. Während der Pfleger sich vor Schmerzen krümmte, fuhr sie herum und prügelte wie von Sinnen auf ihn ein, bis er endgültig in die Knie ging.

Dabei sah an dem Mädchen mit den buschig abstehenden Haaren nichts nach einer Kämpferin aus. Vigga war nur durchschnittlich groß und so dürre, dass sich Venen und Muskeln unter ihrer Haut abzeichneten. Ihr Gesicht wirkte viel älter als das einer Achtzehnjährigen, besonders wenn sie stundenlang reglos dasaß und ins Leere starrte – was sie meistens tat. Deshalb hätte Vigga eigentlich auch auf Station 4 in die Abteilung der »Lebenden Toten« gehört. So nannten sie die jugendlichen Patienten, die sich von einem Leben in ihrem Körper verabschiedet hatten, meist, nachdem ihnen etwas Schreckliches zugestoßen war. Bei Vigga war es jedoch etwas anders, sie hatte nämlich immer wieder mal einen ihrer berüchtigten Aussetzer, bei denen sie übernatürliche Kräfte entwickelte und verdammt sauer werden konnte, wenn ihr jemand in die Quere kam.

So wie jetzt.

»Was stehst du hier rum und glotzt? Raus aus der Gefahrenzone, und zwar sofort!«, knurrte eine Männerstimme hinter Jasna.

Schuldbewusst zuckte sie zusammen. Das Spektakel hatte sie so sehr gefesselt, dass sie tatsächlich ihre Rückendeckung vergessen hatte.

Ein Pfleger, der wegen seiner massiven Schutzkleidung wie ein Tigerdompteur aussah, polterte an ihr vorbei, ein Paar Nylonfesseln schwangen in seiner Hand. Als ob die tobende Vigga ihn nah genug an sich ranlassen würde, damit er ihr Fesseln anlegen konnte. Bei der Frau half höchstens ein Betäubungsschuss aus sicherer Deckung.

»Angriff bringt nichts«, rief Jasna dem Pfleger zu, der sich in Position brachte. »Wir müssen sie ablenken.«

Der Pfleger schnaufte. »Die Zeit der Samthandschuhe ist vorbei, das kleine Miststück hat schon genug Unheil angerichtet.«

»Wenn Vigga in diesem Zustand ist, kann sie zwischen Freund und Feind nicht mehr unterscheiden.«

»Das ist gut, denn ich bin nicht ihr Freund.« Mit diesen Worten stürmte der Pfleger los.

Abwartend lehnte Jasna sich hinter der Ecke gegen die kaltfeuchte Wand, um das anbahnende Unheil nicht mit ansehen zu müssen. Stattdessen lauschte sie dem Kampfgeschrei, das schlagartig abbrach. Dann ertönte ein Knacken, das fies nach einem zerbrechenden Holzstück klang, wobei es sich wohl eher um einen Knochen handelte. Darauf folgte Gewimmer, das vermutlich von dem Tigerdompteur stammte, denn Vigga startete bereits ihre nächste Schimpftirade darüber, dass der Nachthimmel voller Monster sei – und wer etwas anderes behauptete, könnte was erleben.

Jasna öffnete ihre Tasche und checkte ihre Uhr, die im Seitenfach steckte. Mittlerweile war sie schon neun Minuten zu spät. Mistmistmist. Notgedrungen gab sie ihren Platz an der Wand auf und rückte ihre Tasche zurecht, die an einem Riemen quer über ihrer Brust hing. Dann trat sie auf den Hauptflur, auf dem sich inzwischen drei Pfleger vor Schmerzen krümmten. Besonders den Nylonfessel-Mann hatte es hart erwischt, seine Schutzkleidung hatte auf Vigga allem Anschein nach wie ein rotes Tuch auf einen Stier im Zerstörungsmodus gewirkt.

Die Pflegerin mit dem zerkratzten Gesicht entdeckte Jasna als Erste, während Vigga zu sehr damit beschäftigt war, ihre ungebrochen brodelnde Wut an einer eh schon morschen Tür auszulassen.

»Du … Mädchen«, sagte die Pflegerin, die sich hinter einer Kommode in Sicherheit gebracht hatte. »Geh und hol Unterstützung.«

Ich bin heute Morgen wohl nicht die Einzige mit einer Findungsstörung, was Namen anbelangt, stellte Jasna fest. »Ich mache Meldung, wenn ich auf dem Weg nach unten jemanden treffen sollte. Aber jetzt muss ich weiter, Professor Leopold erwartet mich.« Mit zügigen, aber betont lässigen Schritten eilte sie durch den Hauptflur, der in früheren Zeiten bestimmt prächtig ausgesehen hatte mit der Seidentapete an den Wänden und den Schirmlampen. Doch nun sah man vor lauter Schimmel kaum noch das Rosenmuster der Tapete, und von der einstigen Lampenpracht kündeten auf dieser Stationsebene bloß noch lose Kabel, die aus der Wand raushingen.

Selbst als Vigga sie ins Visier nahm, behielt Jasna ihr Tempo bei. Obwohl die Hände des Mädchens blutig waren von ihrer Wüterei, ballte sie sie zu Fäusten. Allem Anschein nach reichte es bei Vigga noch für eine weitere Runde.

»Ich sehe dich«, knurrte Vigga, um dann zu schreien: »Genau wie ich diese geflügelte Brut gesehen habe, wie sie über Lastage House geflogen ist. Ich sehe alles, verdammt noch mal!«

»Da bin ich aber beruhigt«, sagte Jasna. »Wenn du mich siehst, kannst du mir ja aus dem Weg gehen, ich habe es nämlich eilig.«

Vigga blinzelte irritiert, dann entschied sie, dass es sich um eine Herausforderung zum Kampf handelte. Ihr Verstand war unter der Turbohitze ihrer Wut anscheinend auf die Größe eines Stierhirns eingeschmolzen.

Begleitet von einem Getöse aus Verwünschungen stürzte Vigga sich auf Jasna, die stocksteif dastand und dem Angriff erst in letzter Sekunde auswich. Dabei stolperte sie über den benommenen Morton, der sich gerade aufrappeln wollte. Er ging sofort wieder zu Boden, als ihr Knie ihn an der Schläfe traf. Jasna hingegen fing sich, kam zum Stehen und nestelte am Verschluss ihrer Tasche herum.

»Willst du mich für dumm verkaufen? Drehst mir den Rücken zu und glaubst, ich merke nicht, dass du was im Schilde führst«, knurrte Vigga, vielleicht zehn Schritte entfernt. »Aber klar, du hast was vor, wie die anderen. Versuch’s ruhig, ich werde es dir schon zeigen!«

Jasna sparte sich eine Antwort, sondern griff in ihre Tasche und fand als Erstes ihre Uhr, die fleißig mit jeder verstreichenden Sekunde tickerte. Innerlich seufzend tastete Jasna weiter.

»Du bist genauso verdreht wie die anderen Arschlöcher hier«, klagte Vigga hinter Jasnas Rücken. »Ihr glaubt, ich weiß nicht, was hier gespielt wird, dass wir alle es nicht wissen. Dabei wisst ihr nix! Gar nichts! Ihr seid blind!« Ihr Gezeter war nun schon deutlich näher als zehn Schritte, wahrscheinlich war der Abstand auf sieben oder eher sechs Schritte geschrumpft, während Vigga sich in ihre Tobsucht immer mehr reinsteigerte.

Die extra Schicht Make-up hätte ich mir sparen können, dachte Jasna, als ihr der Schweiß ausbrach. Der ganze Kleister würde ihr übers Gesicht rinnen und die tiefen Schatten unter ihren Augen freilegen. Dann würde sie Professor Leopold nicht nur erklären müssen, warum sie sich nach ihrem Gespräch über die Wichtigkeit, als seine Assistentin stets überpünktlich zu sein, verspätet hatte, sondern auch, warum sie aussah wie eine Mondsüchtige.

Gut drei Schritte von Jasna entfernt hatte sich Viggas Geschimpfe in ein Schreien verwandelt, dem nichts Menschliches mehr anhaftete. Es war, als würde allein schon seine Lautstärke wie eine Attacke gegen Jasnas Rücken prallen. Als sie den Atem des Mädchens im Nacken spürte, wirbelte sie herum, allerdings nicht, um ihrer Angreiferin auszuweichen. Stattdessen hielt sie ihre hohle Hand vor den Mund und pustete hinein.

Verblüfft hielt Vigga inne und für einen Sekundenbruchteil entspannten sich ihre Gesichtszüge, als silbriger Glitter die Luft erfüllte. Dann drangen die feinen Partikel in ihre Augen und Atemwege ein. Mit einer Mischung aus Niesen und Wehklagen rieb sie sich das Gesicht, wobei sie blutige Schlieren von ihren Fäusten hinterließ. Ihre Kampfeslust verpuffte endgültig.

Die Pflegerin gab ihr Versteck hinter der Kommode auf, griff sich die am Boden liegenden Nylonschnüre und schlang sie um Viggas Handgelenke, während das Mädchen sich tränenfeuchten Glitter aus den Augen wischte.

»Vigga mit nichts als einer Ladung Glitter entgegenzutreten, ist so was von unvorsichtig«, schimpfte die Pflegerin mit erstaunlich wenig Dankbarkeit. »Mal davon abgesehen, dass du auf Station 7 nicht das Geringste zu suchen hast. Du heißt Jasna, richtig?«

Jasna seufzte. Dass die Pflegerin sich ausgerechnet jetzt an ihren Namen erinnern musste. Glücklicherweise erwartete die Frau keine Bestätigung, sondern fing an, mit dem Ärmel ihres Kittels Viggas inzwischen knallroten Augen zu säubern. Zumindest schien sie in dem aufgelösten Mädchen keine Feindin zu sehen. Der Pfleger in der Schutzkleidung, der sich gerade auf alle viere hochstemmte, wäre bestimmt nicht halb so umsichtig mit Vigga umgesprungen.

Auch Morton setzte sich auf und schüttelte benommen den Kopf, was seltsam aussah. Eigentlich hätte er als Sieger aus dem Kampf hervorgehen müssen, er hatte nämlich ein Kreuz wie ein Boxchampion. »Was war das denn für eine Nummer?«

»Entschuldige, ich wollte dich nicht treten«, sagte Jasna.

Morton schüttelte den Kopf noch immer, als wolle er überprüfen, ob darin etwas gelockert war. »Vergiss die Sache mit dem Tritt. Ich meine, dass du abgewartet hast, bis Vigga ganz nah hinter dir war, bevor du dich umgedreht hast. Volles Risiko. Eine Sekunde später, und sie hätte dir den Schädel eingeschlagen.«

»Da habe ich ja noch mal Glück gehabt.«

»Und dieser Glitzerstaub … Was sollte das?«

»Wenn nichts hilft, hilft Zauberei.« Jasna reichte dem jungen Mann eine Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. »Nee, im Ernst: Den Glitter habe ich dabei, weil ich auf dem Weg zur Beschäftigungstherapie bin. Es wird gemalt, gebastelt und … Das heißt, das wird es nicht mehr lange, wenn ich nicht sofort loslaufe. Kommst du allein klar?«

Morton winkte ab. »Ich bin der jüngste von fünf Brüdern, es braucht mehr als eine Kopfnuss, um mich auszuknocken. Außerdem kommt da drüben schon die Kavallerie.« Er deutete auf ein halbes Dutzend Securityleute, die angelaufen kamen.

Erleichtert machte Jasna ein Daumen-hoch-Zeichen, dann sprintete sie los, während die Uhr in ihrer Tasche unerbittlich tickte.

2 Spielstunde

»Sieh an, meine werte Assistentin Jasna.« Professor Leopolds Stimme klang wie ein gemütliches Schnarren aus der guten, aber längst vergangenen Zeit. »Wie schön, dass Sie uns heute noch mit Ihrer Anwesenheit beehren. Ich stand schon kurz davor, einen Wecktrupp loszuschicken. Ist letzte Nacht wohl wieder mal spät geworden, was?«

»Bitte entschuldigen Sie, Professor.« Jasna stockte. Während sie die vier Stockwerke von Lastage House im Eilschritt hinabgestürzt, im Foyer an einer Gruppe Freigänger vorbeigeschlittert und im Laufschritt durch den vom nächtlichen Regen noch nassen Park geeilt war, hatte die Uhr in ihrem Kopf so laut getickt, dass sie gar nicht dazu gekommen war, sich eine passende Ausrede zu überlegen. Dass sie die verbotene Abkürzung über Station 7 genommen hatte, würde Professor Leopold bestimmt nicht gütiger stimmen, also beließ sie es notgedrungen bei ihrer mageren Entschuldigung.

»Sie haben eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen – und zwar schon seit mehr als nur einer Nacht«, sagte der Professor nachdenklich, während Jasna sich von der Hoffnung verabschiedete, ihr Make-up hätte den verschärften Bedingungen im Kampf gegen Vigga standgehalten. »Ihnen wird die Fülle des Lernstoffes doch wohl nicht zusetzen? Manchmal vergesse ich, dass Sie erst siebzehn sind. Sie dürfen keineswegs überfordert werden.«

»Das bin ich auch nicht annähernd«, stellte Jasna mit so viel Nachdruck klar, wie sie es einer Respektsperson wie Professor Leopold gegenüber wagte. »Ich lese mich nur manchmal fest, dadurch ist die Nacht dann leider zu kurz.«

»Festgelesen, soso.« Professor Leopold rieb sich das Kinn. »Auf Ihrem Zimmer unterm Dach haben Sie von dem Durcheinander auf den Stationen heute Morgen also nichts mitbekommen?«

Jasna beschloss, auf Nummer sicher zu gehen und sich ahnungslos zu geben. »Was war denn los?«

»Es hat eine Art Massenhysterie gegeben. Vermutlich kursierte gestern Abend eine unheimliche Geschichte über geflügelte Unheilsboten, die einige unserer Bewohner in Angst und Schrecken versetzt hat.«

»Tatsächlich? Was es nicht alles gibt«, sagte Jasna.

Also echt, nun tu mal nicht so schafsköpfig. Du weißt genau, um was es geht. Wen willst du mit der schwachen Nummer eigentlich täuschen?

Die schneidende Anklage, die Jasna zusammenzucken ließ, kam hinter einer Kiste hervor.

Im nächsten Moment stolzierte eine schneeweiße Langhaarkatze, eine Türkisch Angora, um genau zu sein, um die Ecke und warf Jasna aus ihren Bernsteinaugen einen herablassenden Blick zu. Das Biest hörte auf den Namen Loreley und war nicht nur der Überzeugung, Herrscherin über Lastage House zu sein, sondern hielt Jasna für etwas, das in einer idealen Welt quiekend unter ihren Krallen sterben würde.

Dir ist doch an der Nasenspitze anzusehen, dass du die dunkle Bedrohung ebenfalls gespürt hast, giftete Loreley weiter. Heute Morgen sind Späher über Lastage House hinweggeflogen, und niemand weiß, ob sie gefunden haben, wonach sie ausgeschickt wurden. Aber stell dich ruhig dumm, ist kein großer Verlust.

Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube, wie immer, wenn Loreley sie kalt erwischte. Gleichzeitig bemühte Jasna sich um ein ausdrucksloses Gesicht, geradeso, als habe sie nicht das Geringste gehört. Es fehlte ihr noch zu ihrem Glück, dass jemand mitbekam, dass sie eine Antenne für Katzenbeleidigungen hatte.

Dein Schauspiel ist armselig, nicht auszuhalten, verkündete Loreley und stolzierte mit erhobenem Schwanz durch den Türspalt hinaus ins Freie. Jedes einzelne Katzenhaar an ihr verkündete Verachtung für so viel menschliche Schwäche, wie Jasna sie verkörperte.

Jasna presste die Lippen zusammen, um der Katze nicht »arrogante Mäusequälerin« nachzurufen.

»Nun kommen Sie endlich rein und sperren Sie die Novemberkälte aus«, sagte Professor Leopold, der von dem Clinch natürlich nichts mitbekommen hatte. »Der Geruch von verrottetem Laub macht mich immer ganz melancholisch. Als würden die Trauerweiden nicht reichen, die überall im Park stehen, egal wohin man sieht.«

Wie erwartet gab die Tür ein rostiges Quietschen von sich, bei dem sich einem die Fußnägel aufrollten. Alles in Lastage House quietschte, knarrte oder ächzte unter der Last der Jahre und der Verwahrlosung. Davon blieb auch das viktorianische Gewächshaus nicht verschont, in dem die Beschäftigungstherapie – die von allen nur die »Spielstunde« genannt wurde – zweimal die Woche stattfand. Dass diese Stunden nicht im Haupthaus abgehalten wurden, passte zu Professor Leopold, wie er sich überhaupt in vielem von seinen Kollegen und Kolleginnen unterschied. Ihm ging es nicht in erster Linie darum, die Krankheitsbilder der Bewohner von Lastage House zu beheben oder sie mit Medikamenten zu unterdrücken. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die Fähigkeiten und Interessen seiner Patienten zu unterstützen und, wo es möglich war, ihr Leben schöner zu gestalten. Viele aus der Kollegschaft warfen ihm deshalb hinter vorgehaltener Hand vor, kein klinischer Psychologe, sondern bloß ein Gute-Laune-Onkel zu sein. Soweit Jasna das beurteilen konnte, schadete ein Plus an guter Laune niemandem, der Ärzteschaft von Lastage House eingeschlossen.

Trotz des hohen Alters und der Schäden durch Die große Flut machte das Gewächshaus nach wie vor einen imposanten Eindruck, auch wenn von seinem kunstvoll geschmiedeten Metallgerüst die grüne Farbe abplatzte und keine Glasscheibe ohne Sprung war. Der Rest wurde von Efeuranken zusammengehalten. Die Blumenkübel, in denen früher Orangenbäume und andere exotische Pflanzen wuchsen, gab es schon lange nicht mehr. Sie waren zusammen mit allem anderen Verspielten und Prunkvollen verschwunden, als die Familie van Blomen Lastage House als Wohnsitz aufgegeben hatte. Der Gebäudekomplex mit seinem weitläufigen Park war in ihrem Auftrag in eine Heilanstalt umgewandelt worden, für Minderjährige, die – wie es offiziell hieß – »an Geist und Seele« erkrankt waren. Dazu gehörten nicht nur psychisch Kranke, sondern auch Kinder und Jugendliche, denen durch Die Flut übel mitgespielt worden war und die über diese Erfahrungen nicht hinwegkamen. Viele hatten ihre Familie verloren, waren heimatlos geworden und hatten auf ihrer Suche nach einem neuen Leben schlimme Dinge erfahren. Wer zu angeschlagen war, um sich in der Welt dort draußen auf eigene Faust durchzukämpfen, fand in Lastage House Unterschlupf.

Das Haus war eine großzügige Leihgabe der Familie van Blomen, obwohl von den beiden Flügeln nur der linke benutzt werden konnte, während der rechte Der Flut zum Opfer gefallen war. Das gut erhaltene Haupthaus hatte früher repräsentativen Zwecken gedient – was offenbar ein unschlagbares Argument dafür war, es allein der Ärzteschaft vorzubehalten. Jasna kümmerte sich nicht um das unzufriedene Murren der Pfleger, mit denen sie zusammen unter dem Dach in ehemaligen Bedienstetenkammern untergebracht war, obwohl im Haupthaus angeblich Salons mit Kristalllüstern und Kaminöfen leer standen. Ganz im Gegenteil, sie war froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben – und dann auch noch eins, durch das es nicht reinregnete.

»Jasna, da bist du ja endlich!«

Die achtjährige Aurelia stürmte heran wie ein Kugelblitz, allerdings nicht, um sich Jasna zur Begrüßung in die Arme zu werfen, sondern um ihr die Tasche abzunehmen und sofort die Nase reinzustecken. Die weißblonden Haarsträhnen fielen dem Mädchen ins Gesicht, was es jedoch nicht störte, dafür war Aurelia zu eifrig mit dem Inspizieren des Tascheninhalts beschäftigt. Als sie den Beutel mit den Glitzerresten hervorholte, biss Jasna sich auf die Unterlippe.

»Tut mir leid, Lia, mehr habe ich nicht. Du wirst es mir bestimmt nicht glauben, aber der Silberstaub ist als wichtiges Instrument bei einer Geheimaktion draufgegangen.«

Aurelia – oder Lia, wie sie von Jasna liebevoll genannt wurde – sah sie aus ihren unfassbar strahlend seegrünen Augen an. »Weiß ich doch«, sagte sie ernsthaft, ehe sie das Interesse an Jasna endgültig verlor und mit dem silbrig schimmernden Beutel an ihren Tisch zurückstürmte. Dort wartete bereits eine Zeichnung auf sie, die dringend beglitzert werden musste.

Neben Jasna hüstelte jemand. »Manchmal könnte man meinen, Lia sei in Wirklichkeit richtig im Kopf. Wenn sie nicht gerade etwas völlig Verrücktes daherredet, wie heute beim Frühstück, als sie einen Aufstand gemacht hat, weil der geriebene Apfel im Porridge vor Schmerzen schreien würde.« Frederik schaute so erwachsen drein, wie es einem Sechszehnjährigen mit Flaumschnurrbart und Pickeln möglich war. Wie auch sonst trug er einen abgelegten Kittel von Professor Leopold und ruckelte an einem nicht vorhandenen Brillengestell, wie der Arzt es tat, wenn er etwas Bedeutsames sagte. Nur dass Professor Leopold eine Brille zum Ruckeln trug.

»Dann hat Lia mal wieder nichts gegessen?«, erkundigte sich Jasna.

»Nun, unser Stations-Nesthäkchen hat auf gutes Zureden einen Becher Milch getrunken, obwohl – ihrer Meinung nach – damit ebenfalls etwas nicht stimmte. Angeblich litt der Milchmann, der sie am Morgen frisch angeliefert hatte, unter schlimmen Rückenschmerzen. Faszinierend, wirklich faszinierend.« Eine von Professor Leopolds Lieblingsfloskeln, nur dass sie aus Frederiks Mund fast noch authentischer klang. »Was soll ich sagen? Unser Mädchen hat die besten Storys auf Lager.«

Das stimmte. Lias lebhaftem Geist reichte die Realität nicht aus, deshalb dichtete er jeder noch so kleinen Nebensächlichkeit etwas hinzu. In ihrer Welt wandelten längst Verstorbene unter den mächtigen Trauerweiden, die den Park einfriedeten. Die Räume von Lastage House sprachen miteinander – meist ging es wohl um Tratsch über die Bewohner, eine Vorstellung, die Jasna wenig schmeckte. Es musste ja nicht unbedingt von Zimmer zu Zimmer gehen, was sie des Nachts in ihrer Kammer trieb. Außerdem flimmerte laut Lia die Luft vor lauter Zeichen, Farben und Symbolen, die das Mädchen voller Begeisterung während der Beschäftigungstherapie malte. Sie war mit Abstand eine der enthusiastischsten Patientinnen in der »Spielstunde«, allerdings eine, die in ihrem weißen Malkittel und dem hellen Haar fast durchscheinend wirkte. Sogar ihr Gesicht war blass wie das einer Porzellanpuppe.

»Das mit dem Essen muss sich dringend bessern«, sagte Jasna. »Sonst löst Lia sich irgendwann in Luft auf, man kann ja jetzt schon durch sie hindurchsehen.«

»Ist notiert.« Frederik schrieb auf eine Serviette etwas mit einem unsichtbaren Stift. Richtige Stifte waren ihm nicht erlaubt, er neigte dazu, sie sich in die Ohren zu stecken. Tiefer, als gut für ihn war. »Möchtest du den Rest von meinem Frühstücks-Rapport während unseres Rundgangs anhören? Einige der anwesenden Personen«, er hüstelte, um klarzumachen, dass es sich seiner Meinung nach bei den Teilnehmenden um komplett Irre handelte – ihn als einzige Ausnahme natürlich ausgeschlossen, »haben sich mal wieder selbst übertroffen. Besser, die Wasserstände unserer speziellen Lieblingsklienten zu kennen, bevor man ihnen gegenübertritt, möchte ich meinen.«

Jasna nickte geistesabwesend.

Es war wichtig, dass Frederik beschäftigt war. Dann kam er nicht auf die Idee, Farbspachtel auf ungesunde Weise zweckzuentfremden oder Kursteilnehmer mit selbst erstellten Diagnosen zu beglücken. Das letzte Mal, als Frederik unbemerkt zu Hochtouren aufgelaufen war, hatte Jeremias sie und den Professor gerade mit der Behauptung beschäftigt, dass die schwarze Farbe auf seinem Bild nicht aus der Tube in seinen Händen, sondern direkt aus seiner Seele stammte. Während Jasna und Professor Leopold mit Engelszungen auf den verstörten Jungen einredeten, wanderte Frederik zwischen den Leinwänden umher, bis er ein Opfer für seine Diagnosewut gefunden hatte. Leider war die sonst so sanfte Rosamunde nur fünf Minuten lang gewillt, sich sein Gerede anzuhören. Dann knallte sie ihm ihre Farbpalette vor die Brust. Tagelang mussten sich alle Frederiks Dauerlamenti über den versauten Kittel anhören, bis Professor Leopold ihm einen neuen schenkte.

Die meisten Kursteilnehmer saßen in der Ton-Knet-Ecke und lebten sich an der geschmeidigen Masse aus. Dabei kam häufiger etwas heraus, das nach echter Kunst aussah, als Jasna je gedacht hätte. Sogar Orson, ein Schrank von einem Kerl, der beim Essen Probleme hatte, einen Löffel in den Pranken zu halten, war eifrig am Werkeln. Seine Zunge hing im Mundwinkel, während er seinen Tonklumpen hingebungsvoll bearbeitete.

Frederik blinzelte. »Ihhh. Was Orson da produziert hat, ist …«

»Zweifelsohne der schiefe Turm von Pisa«, unterbrach ihn Jasna hastig. Der Pfleger, der Orson in die »Spielstunde« begleitete, für den Fall, dass er ausflippte und das Glashaus in Hulk-Manier niederwalzte, grinste schief.

»Quatsch, nix Pisa.« Frederik schüttelte den Kopf. »Das ist ganz eindeutig ein … «

»Ein echter Turm. Nicht zu übersehen. Immer weiter so, Orson.« Jasna brachte es nicht über sich, Orsons Schulter zu tätscheln, solange er mit glänzenden Augen die in die Höhe ragende Tonwurst betrachtete. »Was gibt es Neues bei den Leinwänden?«, fragte sie Frederik, bevor der sich am Thema ›Turm oder nicht Turm‹ festbiss.

Gleich blickte Frederik todernst drein. »Rosamunde sollte sofort des Kurses verwiesen werden.«

Innerlich zog Jasna eine Grimasse. Jede Woche die gleiche Leier, seit dem Farbpaletten-Attentat. »Das hatten wir doch schon, Frederik. Rosamunde tut dir nichts, wenn du dich von ihr fernhältst. Professor Leopold hat sogar einen Kreis um ihren Arbeitsplatz gezogen, den du nicht überschreiten darfst – zu euer beider Schutz«, fügte sie rasch hinzu, weil die Unterlippe des Jungen vor Empörung bebte.

»Ich brauche nicht in Rosamundes Nähe sein, um zu erkennen, dass sie nur Unsinn veranstaltet. Es sollte ihr verboten werden, Arbeitsmaterial aus dem schmalen Budget der Anstalt für einen solchen Mist zu verschwenden. Schau dir ihr Bild an!« Frederik fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Jasnas Nase herum.

»Wenn du nicht willst, dass ich dir in den Finger beiße, nimmst du ihn sofort weg.«

Frederik verschränkte schnell die Hände hinterm Rücken. »’Tschuldigung, aber wenn es um Rosamunde geht, ist es vorbei mit meiner Beherrschung. Dass eine Koryphäe wie Professor Leopold diese Unperson überhaupt in seinem Wirkungsfeld duldet, ist schon schlimm genug. Aber ihre Schmierereien bringen das Fass zum Überlaufen.«

Jasna zuckte die Achseln. »Ich weiß echt nicht, was du hast. Rosamunde ist richtig begabt, ihre Bilder werden in den Besucherräumen im Haupthaus ausgestellt und haben sogar schon Käufer gefunden.«

Rosamundes Spezialität waren verträumt wirkende Städtelandschaften, obwohl sie die erste Hälfte ihrer neunzehn Lebensjahre in einem Keller eingesperrt verbracht hatte und danach direkt nach Lastage House gebracht worden war. Im Besucherraum lagen Stapel von Bildbänden, in denen alte Fotografien von internationalen Städten zu sehen waren, bevor diese entweder von Der Flut verschlungen worden waren oder seitdem bloß noch aus krummen und schiefen Überbleibseln bestanden. Nur war Rosamunde noch nie im Besucherraum gewesen, weil sie nie Besuch bekam. Und wenn man sie fragte, woher sie die Spanische Treppe in Rom oder die Skyline von Manhattan kannte, lächelte sie bloß. Das Gleiche galt für Fragen, woher sie wisse, wie das Kinderzimmer von Professor Leopold ausgesehen hatte oder ein heute längst verrottetes Baumhaus, von dem der Pfleger Morton manchmal bei Tisch erzählte. Gemalt hatte sie diese Orte trotzdem, so detailreich, dass Morton ihr noch immer einmal die Woche Schokolade als Dankeschön für das Baumhaus-Bild vorbeibrachte.

Jasna suchte die Reihen nach dem schmalen Mädchen ab. »Ehrlich gesagt freue ich mich immer besonders darauf zu beobachten, wie ein neues Kunstwerk von Rosamunde entsteht.«

Frederik gab ein verächtliches »Pfffh« von sich und weigerte sich, Jasna zu begleiten, als sie hinter das Mädchen trat, dessen Ebenholzhaar zu einem schlichten Zopf geflochten war.

»Guten Morgen, Rosamunde«, grüßte Jasna. »Hat dich die Muse heute schon geküsst?«

Rosamunde schaute lächelnd an ihrer Leinwand vorbei. »Muse?«

»Muse, Inspiration, Eingebung. Du weißt schon, der Quell aller Ideen.« Als Rosamunde weiterhin fragend lächelte, versuchte Jasna es anders. Rosamundes innere Welt war vielleicht erfüllt von lebendigen Bildern, aber in der äußeren Welt verfügte sie nicht einmal über genug Worte für eine normale Unterhaltung. »Was malst du gerade?«

Statt einer Antwort deutete Rosamunde bloß einladend auf ihre Leinwand.

Jasna durchschritt den roten Kreis, den Professor Leopold auf den Boden gemalt hatte, um sich das Bild anzuschauen. Nur war da nichts. Zumindest glaubte Jasna das, bis sie in dem Weiß auf Weiß, das Rosamunde mit dicker Ölfarbe auftrug, eine Struktur erkannte. »Es schneit.«

»Ja«, flüsterte Rosamunde, als wollte sie die Flocken nicht erschrecken. »Es schneit sogar sehr doll. Und das ist auch gut so.«

»Warum?«

»Dann bleibt es unter dem Schnee verborgen.«

Jasnas Gedanken überschlugen sich. »Hast du vielleicht auch von den Vögeln gehört, die heute Nacht über Lastage House ihr Unwesen getrieben haben sollen?«

»Ich male keine Ungeheuer«, sagte Rosamunde schlicht. »Und etwas wie das hier will ich eigentlich auch nicht malen. Siehst du, was ich meine?«

Ein Schauer breitete sich über Jasnas Rücken aus, während die gespachtelten Farbtupfer vor ihren Augen zu tanzen begannen. Da war etwas unter all dem Weiß, nicht mehr als eine Ahnung, doch es reichte es, um vor ihrem geistigen Auge ein Bild entstehen zu lassen: ein altes Gebäude, eine Ruine, um genau zu sein. Unwillkürlich zog sich Jasnas Brust zusammen, und sie glaubte, wieder im Bett zu liegen, während die Panik in ihrem Inneren immer stärker wurde. Ein vertrautes Gefühl, das auch nach all der langen Zeit nicht an Intensität nachließ. Die Ruine … die sie niemals hatte wiedersehen wollen. Woher wusste Rosamunde von diesem Ort? Und wusste sie, dass Jasna ihn kannte? Letztendlich war es egal, solange die Ruine hinter einer weißen Schicht verschwand.

»Vielleicht solltest du noch mehr Farbe auftragen«, sagte Jasna leise, wie um zu verhindern, dass was auf der Leinwand vom Schnee verborgen war geweckt wurde.

Rosamunde nickte, dann machte sie sich wieder an die Arbeit mit einem Ausdruck auf ihrem ebenmäßigen Gesicht, als würde sie träumen, während sie Schicht um Schicht die Farbe auftrug.

Auf Zehenspitzen verließ Jasna den Kreis und atmete erst einmal tief durch. Das Gewächshaus mochte während der »Spielstunde« von Leichtigkeit und lebendigem Treiben erfüllt sein. Trotzdem durfte man nie vergessen, dass die Schützlinge in Lastage House oft dunkle Geschichten in sich trugen. Manche handelten von den Abgründen, in die sie geblickt hatten, andere wiederum öffneten sich wie ein finsterer Schlund mitten in ihrem Inneren und brachen hervor, meist dann, wenn man nicht damit rechnete.

3 Schneeweiß

Jasna fuhr zusammen, als Frederik sie von der Seite anstupste. »Himmel, Frederik, schleich dich nicht so an«, raunzte sie den Jungen an.

Beleidigt spitzte Frederik die Lippen. »Wir sind heute Morgen wohl etwas dünnhäutig, was?«

»Es ist wegen Rosamundes Bild, das hat mich …« Jasna brach ab, sie wollte vor Frederik nicht zugeben, dass ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Dass sie ein altes Bauwerk gesehen hatte in einem Bild, das in Wirklichkeit nur aus weißen Tupfen bestand.

»Da hast du’s! Ich habe dich gewarnt, dass Rosamunde nur Unsinn produziert.« Frederik nickte eifrig, was bei seinem dürren Hals die Befürchtung aufkommen ließ, dass er abknicken könnte. »Aber wenn du reines Weiß so beeindruckend und künstlerisch wertvoll findest, dann habe ich einen Tipp für dich. Für die Kunstrichtung der Leere haben wir nämlich einen ausgesuchten Spezialisten in unserer Truppe.«

»Wen meinst du?«

»Ach, komm schon, stell dich bitte nicht extradumm«, schmollte Frederik. »Wen soll ich schon meinen? So viele Genies haben wir schließlich nicht.«

»Ehrlich gesagt, halten sich die meisten in der ›Spielstunde‹ für verkappte Genies. Wie wäre es also mit einem Namen?«, hielt Jasna dagegen. Professor Leopold sah bereits mit gerunzelter Stirn zu ihnen rüber, der Mann hatte einen untrüglichen Instinkt dafür, wenn einer seiner Schützlinge aus dem Gleichgewicht geriet. Und Frederiks rechte Schulter begann schon zu zucken, was bedeutete, dass eine seiner Sicherungen am Schmoren war. Wenn Jasna das nicht schnell geradebog, würde ihr Mentor übernehmen. Dann würde sie dastehen wie eine Anfängerin, die selbst mit einem der harmloseren Kursteilnehmer überfordert war.

»Hör mal …«, setzte Jasna zu einem Ablenkungsmanöver an, nur leider war Frederik bereits so richtig in Fahrt.

»Du willst einen Namen?«, raunte er. »Bei allem, was mir lieb ist, in dieses Fadenkreuz gerate ich lieber nicht. Nein, danke. Mit Farbpaletten attackiert zu werden, ist schon grenzwertig genug, mehr Aufregung brauche ich in meinem Leben nicht. Das überlasse ich liebend gern den neugierigen Nasen – und damit meine ich dich, jawohl, Fräulein Jasna! Plappere ruhig weiter rum über Namen, die man besser nicht laut ausspricht, obwohl ich dir dringend davon abrate, weil niemand, wirklich niemand, seine Aufmerksamkeit erregen will.«

Seine? Jasna stutzte, denn paranoides Gequassel zählte eigentlich nicht zu Frederiks Spezialitäten. Und seine Anspielung, dass er bedroht werde, konnte nur ausgemachter Unsinn sein. An der »Spielstunde« nahmen lediglich Kinder unter zwölf Jahren von Station 1 und die als für ihre Umwelt ungefährlich eingestuften Jugendlichen von der 2. teil. Von Station 4, wo die schwierigeren Fälle untergebracht waren, gab es bloß wenige Ausnahmen, wie etwa Orson, dem ein Betreuer zur Seite saß. Frederiks Andeutung, er könnte Probleme bekommen, stellte Jasna deshalb vor ein Rätsel.

»Wir reden von jemandem in diesem Raum, richtig?«, versicherte sie sich. »Du weißt schon, einer Person aus Fleisch und Blut.«

»Natürlich tun wir das, ich hab schließlich keine Macke.« Frederiks Augenlider zuckten inzwischen im Sekundentakt. Höchste Zeit, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

»Okay«, sagte Jasna, »gehen wir das Thema anders an: Heute malt also noch jemand in Schneeweiß. Und das an so einem grauen Novembertag, an dem die Welt nur aus Matsch und welkem Laub besteht. Das ist doch wirklich interessant. Mal sehen … « Sie redete weiter, bis ihr Blick tatsächlich an einer weißen, weil komplett leeren Leinwand hängen blieb. »Alles klar, du meinst Emerick, der mal wieder untätig rumhängt. Warum sagst du das nicht gleich?«

»Du sollst seinen Namen nicht laut aussprechen! Er darf nicht wissen, dass ich über ihn rede.« Frederik wollte ihr allen Ernstes den Mund zuhalten, doch Jasna fing sein Handgelenk in der Luft ab und drückte es nieder. »Aua, das tut weh«, beklagte er sich.

So schnell, wie Jasna zugepackt hatte, gab sie Frederiks Handgelenk auch wieder frei. »Sorry, war bloß ein Reflex.«

Merklich beleidigt straffte Frederik die Schultern, aber das Zucken und Beben hatte dank des kleinen Schrecks aufgehört. »Wie auch immer, ich werde jetzt dringend woanders gebraucht. Wenn ich mich nicht täusche, hat soeben Professor Leopold nach mir verlangt.«

Jasna verkniff sich die Bemerkung, dass sie nichts gehört hatte. Ein rascher Blick zum Professor verriet, dass er gerade mit Lia beschäftigt war, die Glitzerstaub in die Augen bekommen hatte. Das war die Chance, aus der verfahrenen Situation rauszukommen. »Tatsächlich, die beiden könnten dringend Hilfe gebrauchen, Professor Leopold sieht noch eingeglitzerter aus als Lia.«

»Unmöglich, dieses Kind. Man sollte ihr eine Zwangsjacke verordnen.« Die Aussicht, Professor Leopold zur Rettung zu eilen, ließ Frederik sein schmerzendes Handgelenk vergessen. Er wollte schon kehrtmachen, blieb aber stehen. »Wir setzen unseren fachlichen Austausch dann später beim Abendtisch fort, ja?«

»Selbstverständlich«, sagte Jasna. »Das wird wie immer der Höhepunkt meines Tages.«

Frederik rückte sichtlich beglückt seine unsichtbare Brille zurecht, dann lief er zum Waschbecken, um ein nasses Handtuch zu besorgen, während die blinde Lia gerade einen vollen Farbtopf vom Tisch stieß. Trotz des Durcheinanders warf Professor Leopold Jasna einen nachdenklichen Blick zu, der sie nervös machte. Als würde er in diesem Trubel sie und nicht seine Patienten im Auge behalten. Dieser Morgen war nicht ihr Freund, so viel stand fest. Und da sie nichts zu verlieren hatte, beschloss Jasna, Emerick einen Besuch an seiner Staffelei abzustatten.

4 Der Lieblingspatient

Emerick war ein weiterer von Dr. Leopolds Lieblingspatienten. Nicht etwa, weil er wie Rosamunde künstlerisch begabt oder wie Lia ein Sonnenschein war. Ganz im Gegenteil. Der Arzt war, um es mit seinen Worten auszudrücken, »fasziniert von Emericks schillernder Persönlichkeit«. Was bedeutete, dass der Junge kompliziert war. Und faszinierend kompliziert zu sein, kam in Lastage House mit seinen seltsamen Bewohnern einer Olympialeistung gleich.

Da es in der »Spielstunde« meist mehr als genug zu tun gab, machte Jasna für gewöhnlich einen Bogen um den Jungen, der höchstens ein oder zwei Jahre älter war als sie. Deshalb fühlte es sich auch komisch an, als sie jetzt auf Emerick zuschlenderte, darum bemüht, ihre Annäherung ganz zufällig wirken zu lassen. Obwohl sie nur ein paar Schritte trennten, nahm Jasna sich die Zeit, hier »Hallo« und dort »Wirklich klasse, das Bild« zu sagen, selbst wenn manche der Bilder nicht mehr als wüstes Chaos zeigten. Gelegentlich drückte sie auch eine Schulter, wo Berührungen erlaubt waren, während sie sich bei anderen komplett zurückhielt, solange sie am Malen waren. Ein normaler Rundgang, so wie immer, nur heute eben mit einem kleinen Umweg. Doch egal wie locker sie sich gab, sie hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass Emerick sie nicht nur beobachtete, sondern genau wusste, was sie vorhatte. Dass er vermutlich sogar still in sich reingrinste, während sie ihren Eiertanz hinlegte.

Shit, dachte Jasna. Frederik hat mich mit seiner Paranoia voll angesteckt.

Oder war es möglich, dass Emerick ihre Unterhaltung trotz der Distanz belauscht hatte?

Nur wenn er Kräfte à la Super Dumbo hat, beschloss Jasna. Sie wollte erleichtert ausatmen, aber irgendwie schluckte sie bloß mit einem gewissen Unbehagen.

Vielleicht wäre es keine schlechte Idee umzudrehen. Sie hatte noch nie mehr gemacht, als Emerick höflich zur Begrüßung zuzunicken, und sollte es auch jetzt dabei belassen. Schließlich stand dieser Morgen unter einem schlechten Stern, da sollte sie ihr Schicksal nicht unnötig herausfordern.

Dummerweise warf Jasna noch einen Blick auf Emerick, weil sie einfach wissen musste, ob er wirklich grinste. Er kniete gerade, um nach einem runtergefallenen Pinsel zu greifen.

Jasna stutzte.

Die meisten Kids in Lastage House trugen die übliche Anstaltskleidung, die aus blauen Hemden, Hosen oder Röcken oder beigen Overalls bestand, die man aus den Beständen eines ehemaligen Internats übernommen hatte. Die meisten kamen nämlich nur mit der Kleidung an, die sie am Leib trugen, oder wuchsen im Lauf der Zeit aus ihren eignen Sachen raus. Da viele der Kinder ihre Eltern bei Der Flut oder später auf der Flucht vor den Wassermassen verloren hatten, brachte auch selten jemand neue Sachen vorbei.

Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob Emerick im Standardoutfit steckte. Doch aus der Nähe erkannte Jasna, dass er über dem Hemd einen Wollpulli trug, ein richtig edles Stück, trotz einiger gestopften Stellen. Als er sich aufrichtete, bemerkte sie schmal geschnittene Hosen, wie sie das Partyvolk im Ausgehviertel Leidseplein trug. Seine waren allerdings einen Tick zu kurz – was möglicherweise einem Wachstumsschub geschuldet war, so schlaksig hochgesprossen wie Emerick wirkte, fast, als sei er noch nicht richtig in seine beachtliche Größe reingewachsen. An seinen Füßen saßen Lederstiefel anstelle der üblichen Clogs, die sogar Jasna trug – wenn auch mit Widerwillen. Ihr Erspartes war nämlich für ein Paar speziell für sie angefertigte Stiefeletten mit Absatz draufgegangen, mit denen sie unmöglich bei der Arbeit aufschlagen konnte.

Jasna war derart in Emericks Outfit versunken, dass sie zusammenzuckte, als er sich räusperte.

»Und?«, fragte Emerick. »Alles so, wie es sein sollte?«

Verblüfft stellte Jasna fest, dass sie zum ersten Mal seine Stimme hörte. Er hatte einen beinahe verblassten englischen Akzent, womit sie bei seinem Vornamen nicht gerechnet hatte. Aber kamen sie nicht alle von irgendwo anders her? Angeschwemmt von den Wassermassen, die einen Großteil des Kontinents überflutet und bloß einige heillos überlaufene Inseln zurückgelassen hatten? Viel interessanter war allerdings, dass der Kerl ganz schön direkt war, was sie als Herausforderung nahm.

Jasna deutete auf sein schwarzes Haar. »Da ist dringend ein neuer Schnitt fällig.«

Emerick strich sich die Fransen aus der Stirn. »Kommt sofort nach ganz oben auf meine Prioritätenliste.«

»Am besten hinter den Punkt ›Endlich mit dem Bemalen der Leinwand anfangen‹ setzen«, fügte Jasna an.

»Ist das etwa ein Angebot, mir Model zu stehen?«, fragte Emerick.

Jasna zog eine Augenbraue hoch, nur um es sofort wieder bleiben zu lassen.

So ging man mit Typen um, die einen ziemlich frech an der Bar anflirteten. Mit Jungen aus Lastage House tat man so etwas nicht. Niemals. Auch wenn Professor Leopold ihr beigebracht hatte, das Wort Patient zu vermeiden, änderte das nichts daran, dass über Emericks Krankenakte in Großbuchstaben die Diagnose Schizophrenie stand. Das bedeutete, dass der Junge phasenweise nicht zwischen der Realität und Wahnvorstellungen unterscheiden konnte. Gut möglich, dass er Stimmen hörte, die ihm unablässig etwas zuflüsterten, bis er ihrem Willen nachgab. Oder dass er die Welt um sich herum wie durch einen Schleier aus Illusionen sah, dass er die »Spielstunde« für einen Trick hielt, um ihn in Sicherheit zu wiegen, damit er nicht bemerkte, dass er in Wirklichkeit in der Falle saß. Soweit Jasna das beurteilen konnte, schienen die Symptome bei Emerick zwar gerade eine Pause einzulegen, weshalb er ohne Betreuer an der »Spielstunde« teilnahm, aber die Erkrankung war gerade bei jungen Menschen nicht zu unterschätzen. Das wusste Jasna dank der vom Professor ausgeliehenen Wälzer, die sich in ihrer Dachbodenkammer stapelten. Davon abgesehen war es ihr peinlich, dass Emerick ihren Klamottencheck bemerkt hatte. Schließlich wollte sie selbst auch nicht ausgelotet werden.

»Das war irgendwie ein verkorkster Start, lass uns noch mal anfangen«, sagte Jasna. »Ich bin rübergekommen, weil du anscheinend keine Idee hast, was du malen könntest. Dabei ist ein dröger Novembertag wie heute doch eigentlich perfekt, um sich ein bisschen künstlerisch auszutoben. Vielleicht hast du ja etwas Spannendes geträumt in der letzten Nacht, was sich toll in einem Bild umsetzen ließe.«

»Du meinst wohl, ob ich heute im Morgengrauen auch schreiend aus dem Bett hochgefahren bin und von fliegenden Albträumen am Himmel gefaselt habe wie ein Wasserfall, bis mir die Pfleger eine extra Portion Tranquilizer verpasst haben.« Emerick krauste die Stirn. »Nein, leider nicht, die Extraration Beruhigungsmittel ging an mir vorbei. Ich habe von dem nächtlichen Drama nichts mitbekommen, ich war kurz vor Sonnenaufgang anderweitig beschäftigt.« Er lächelte schräg – als ob Jasna ihm abnehmen würde, dass ein Patient von der Vierten nachts etwas anderes tat, als zu schlafen. Dafür sorgten die vielen kleinen Pillen schon, die es zum Abendessen gab.

Emerick hielt Jasnas Blick nicht nur stand, vielmehr betrachtete er sie sogar nachdenklich. »Wenn ich mir dich allerdings so anschaue«, sagte er, »zwängt sich die Frage auf, wie dein Morgen so war. Dich hat es ganz schön erwischt, was?«

»Falls du auf Viggas Ausraster anspielst …« Jasna stutzte. »Moment. Davon kannst du unmöglich was wissen. Als es passiert ist, hast du schon in der ›Spielstunde‹ gesessen.«

Emerick nickte nachdenklich. »Was dann wohl bedeutet, dass sogar die sonst so weggetretene Vigga was von der schwarzen Plage am Sternenhimmel mitbekommen hat. Dabei haben sie auf Station 7 die Zimmerfenster vernagelt, damit die nicht auf dumme Gedanken kommen.«

Nun war Jasna völlig verwirrt. »Wenn du nicht von Vigga redest, was weißt du dann über die Geschehnisse von letzter Nacht?«

Emerick musterte sie noch einen Moment, dann schnipste er imaginäre Fussel von seinem Wollpulli. »Heute Morgen gab es einiges an Gebrüll und Gewimmer auf meiner Station, das Pflegeteam hatte alle Hände voll zu tun. Ich musste deshalb eine halbe Stunde länger warten, bis mein Zimmer aufgeschlossen wurde. Aber am Spannendsten war, was Peer mir auf dem Weg zum Gewächshaus erzählt hat.«

»Peer, der Baum-Junge?«, vergewisserte sich Jasna. »Ist er schon wieder ausgerissen?«

Emerick grinste. »Ich würde eher sagen, Peer ist in sein natürliches Habitat, den Park mit seinen imposanten Trauerweiden, zurückgekehrt. Aber ja, genau der Junge. Jedenfalls meinte Peer, dass die fluglustigen Ungeheuer nichts mit dem ekligen Erbseneintopf, den es gestern zum Abendbrot gegeben hat, zu tun hatten. Einige Pfleger haben wohl gemeint, dass es sich bei den Ausrastern um eine Lebensmittelvergiftung handelt. Peer hat nichts von der Suppe gegessen und hat ebenfalls gesehen, wie die schwarze Schar trotz Dunkelheit in einem rasanten Tempo und gegen den Wind über den See hinter Lastage House hinweggefegt ist, um dann ihre Runden über dem Gebäude zu drehen. Diese speziellen Besucher führten seiner Meinung nach nichts Gutes im Schilde.«

Das hat Loreley auch gesagt, erinnerte sich Jasna, verzichtete aber darauf, die scharfzüngige Fellnase zu zitieren. Überhaupt. Sprechende Katzen und unheimliche Späher mochten für den verwirrten Geist der Patienten von Lastage House zum Alltag gehören, aber in ihrem hatten sie nichts zu suchen. »Wir sprechen mit hoher Wahrscheinlichkeit über eine Schar Raben«, stellte Jasna deshalb mit Nachdruck fest.

»Nachtaktive Raben? Das glaube ich kaum«, hielt Emerick dagegen.

»Okay, das vielleicht nicht. Aber bestimmt gibt es eine natürliche Erklärung für die Ereignisse.«

»Kommt drauf an, was du unter natürlich verstehst.«

Jasna schnitt eine Grimasse. »Falls das eine Grundsatzdiskussion wird, bin ich raus.«

»Dann bleibst du also lieber ahnungslos, als auch nur für einen Moment anzunehmen, die ganzen verrückten Kids könnten eventuell recht haben und Lastage House wurde von geflügelten Schatten heimgesucht.«

Emerick wirkte enttäuscht – was Jasna durchaus nachvollziehen konnte. Aber ihr Gespräch bewegte sich in unwägbares Gelände, sie redeten über seltsame Dinge und das auf eine sehr vertrauliche Weise, wenn man bedachte, dass sie sich beide überhaupt zum ersten Mal miteinander unterhielten. Es war höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen und die Trennung zwischen Patient und Betreuerin klarzumachen.

»Wenn es deine Wahrheit ist, dass Lastage House heimgesucht wurde, warum versuchst du dann nicht, eins von diesen schwarzen Flugwesen zu malen?«, schlug Jasna vor. »Lass deiner Fantasie freien Lauf. Dann verstehe ich vielleicht, was du meinst.«

Emerick legte den Kopf schief, wobei er Jasna für einen Augenblick an Loreley erinnerte, wie sie eine in die Enge getriebene Maus beobachtete. »Was deine Technik anbelangt, sich in etwas reinsteigernde Psychos abzulenken, gibt es eindeutig Luft noch nach oben. Solche Ablenkungsmanöver bekommen selbst die Ladys an der Essenausgabe besser hin, nachdem man ihnen erklärt hat, dass man nur Sachen von derselben Farbe isst. In meinem Fall bevorzugt Weiß, manchmal auch etwas in Rot.«

»Ich übe eben noch«, verteidigte sich Jasna. Ärger stieg in ihr auf. Darüber, dass Emerick sie schon wieder vorgeführt hatte, aber noch mehr darüber, dass sie sich tatsächlich in seiner Gegenwart ziemlich blöd anstellte. Das passierte ihr doch sonst nicht. »Wahrscheinlich ist es an der Zeit, dich in Ruhe Nichtmalen zu lassen. Viel Spaß noch dabei.«

Jasna winkte Emerick zum Abschied zu, und er winkte zurück, geradeso, als würde er den wahren Grund für ihren Rückzug komplett durchschauen.

Nichts wie weg, beschloss Jasna und drehte sich um.

»Mit der psychologischen Raffinesse klappt es vielleicht nicht so geschmeidig, aber auf deine Abblocktechniken kannst du dir wirklich was einbilden. Solche Instinkte muss man sich hart antrainieren, würde ich meinen.« Emerick gab sich nicht Mühe, besonders laut zu reden. Als stände außer Frage, dass Jasna sofort hellhörig wurde, wenn es um ihre Selbstverteidigungskünste ging. Was sie auch tat.

»Du weißt schon«, setzte Emerick nach. »Wie du eben Dr. Wichtig Fredebold bei seinem Versuch, dir den Mund zuzuhalten, ausgebremst hast, war filmreif. Und dann noch die Schnelligkeit deiner Reflexe. Respekt.« Er pfiff anerkennend.

Jasna stand ganz still, nur ihre Augen scannten die Lage im Gewächshaus. Nachdem Lia ihren Kopf unter den Wasserhahn gehalten und anschließend ihre nassen Haare wie ein Waschbär ausgeschüttelt hatte, bis auch Professor Leopold klitschnass war, hatte sich eine entspannte Stimmung im Gewächshaus ausgebreitet. Es wurde gemurmelt, manchmal auch gelacht, aber ansonsten war es verblüffend ruhig. Alle waren beschäftigt, niemand achtete auf Jasna und die Zwickmühle, in der sie steckte.

Ihre Clogs quietschten, als sie sich wieder dem Jungen mit der leeren Leinwand zuwandte.

Sie maßen einander schweigend.

Emerick voll demonstrativer Seelenruhe, Jasna mit einem brodelnden Gefühl im Bauch, das sich schwer nach Lavaausbruch anfühlte. Trotzdem wich sie seinem Blick nicht aus.

Emerick war nicht im klassischen Sinne gut aussehend, dafür waren sein Blick zu scharf und seine Wangenknochen zu spitz. Vor Jasnas geistigem Auge verwandelte sich sein Gesicht in eine Zielscheibe mit seiner römischen Nase als Zentrum. Es wäre ganz leicht, seinem ach so geraden Nasenbein einen Knick zu verpassen. Natürlich tat sie das nicht, sie hatte sich nämlich voll unter Kontrolle. Vorläufig jedenfalls, auch wenn die Muskeln in ihren Schultern vor Anspannung bebten und darum bettelten, von der Leine gelassen zu werden.

»Ich liege wohl nicht falsch, wenn ich behaupte, dass der Abblocker bei Frederik eben kein Zufallsprodukt gewesen ist, sondern eine hart antrainierte Technik«, sagte Emerick. »Wer hätte das gedacht bei der sonst so langweiligen Assistentin des Professors?«

Jasna überhörte den Seitenhieb. »Ist das die Tour, die bei Professor Leopold so gut ankommt, während sie Frederik nervös macht? Wenn ja, muss ich zugeben, dass ich sie einfach nur manipulativ finde.«

Zum ersten Mal zeigte Emerick eine spontane Reaktion: Er machte große Augen. »Tut mir leid, wenn das so rüberkommt. Als Schizo ist Manipulation echt nicht mein Ding, mir reden schließlich selber ständig irgendwelche Stimmen rein und versuchen, mich zu Dummheiten zu überreden. So steht es jedenfalls in meiner Akte. Was uns beide anbelangt, dachte ich eigentlich, wir schäkern ein bisschen miteinander. Als Frederik dich auf mich angesprochen hat, wirktest du neugierig, und als du dann zu mir rübergekommen bist …«

»Oh.« Mehr fiel Jasna erst einmal nicht ein. Dann fügte sie ein »So ist das also« hinzu.

Emerick sah sie aus seinen dunkelblauen Augen tieftraurig an. Offenbar ging es immer noch einen Tick verzwickter mit diesem Jungen.

»Flirten ist keine gute Idee, auch wenn das hier ›Spielstunde‹ heißt«, sagte Jasna überfordert. »Ich bin eine Betreuerin und damit an bestimmte Regeln gebunden. Das sage ich so überdeutlich, damit du dich nicht zurückgesetzt fühlst, sondern …« Sie brach mitten im Satz ab, als Emerick mit dem Pinsel einen grauen Strich über die Leinwand zog. Das dachte sie jedenfalls, bis sie begriff, dass der Pinsel nur einen Schatten geworfen hatte.

Emerick blinzelte ihr zu, dann fuhr er fort mit seinem Schattentrick, ließ für Sekunden senkrechte, schräge oder waagerechte Linien entstehen.

Als Jasna begriff, dass die Schatten Buchstaben ergaben, sprach sie die gebildeten Worte bereits laut aus. »›Nur Spaß‹.« Jasna schnaufte. »Von wegen ›Nur Spaß‹, du hast mich mit deinem traurigen Dackelblick verarscht.«

Emerick war keinen Tick verlegen. »Was soll ich sagen? Auf die Dauer ist es ganz schön langweilig, vor einer leeren Leinwand zu hocken. Da kommt man halt auf dumme Ideen.«

»Dann mal doch zur Abwechslung was«, schlug Jasna vor.

»Tja, dazu hätte ich mir wohl ein paar Gedanken machen müssen, was ich malen könnte.«

»Wäre vielleicht eine Idee gewesen. Ganz ehrlich: Was zur Hölle machst du hier eigentlich die ganze Zeit? Das ist doch echt irre.« Jasna schlug sich die Hand vor den Mund. Gut, dass Professor Leopold gerade am anderen Ende des Raums der kindlich gebliebenen Rue dabei half, ihren Tonmatschberg ordentlich durchzuwalken. Ansonsten wäre ihr ein Vortrag darüber sicher gewesen, dass in der »Spielstunde« niemand bedrängt noch beurteilt wurde.

Zu Jasnas Erleichterung nahm Emerick ihren Ausbruch locker. »Was hältst du von einem Deal?«, sagte er. »Ich erlöse dich von deiner Neugier und verrate dir, was ich hier treibe, wenn du mir im Gegenzug verrätst, was ich deiner Meinung nach malen soll. Inspirier mich.«

So weit kommt es noch, dachte Jasna. Dieser Kerl war wie ein Staubsauger, der alles aufnahm und selbst nichts rausließ. »Solange du dich in der ›Spielstunde‹ wohlfühlst, reicht mir das vollkommen aus, da entwickle ich keinen Ehrgeiz.« Was sie nicht sagte, war: Soll sich wer anders die Zähne an dir ausbeißen.

Emerick schien es trotzdem gehört zu haben, denn er klatschte in die Hände. »Eleganter Rückzug. Kein Wunder, dass du Professors Leopolds Assistentin bist, obwohl du angeblich noch keinen Fuß in die Uni gesetzt hast. Die Eigenschaft, immer brav zu nicken, wenn der Herr Professor etwas sagt, und ansonsten schön bescheiden zu sein, reicht als Qualifikation offensichtlich aus.«

»Mein Verhalten hat nichts mit Unterwürfigkeit zu tun«, erklärte Jasna, während sie sich an die tiefenentspannende Bauchatmungstechnik zu erinnern versuchte, über die sie in einem der Fachbücher gelesen hatte. Sie durfte sich jetzt auf keinen Fall aus der Reserve locken lassen, auch wenn Emerick ganz klar ein Meister der Provokation war. »Ich respektiere bloß Professor Leopolds Verhaltensleitfaden, damit die Kursteilnehmenden ihren Freiraum genießen können und die Gelegenheit haben, sich selbst auszudrücken, ohne gleich bewertet zu werden.«

»Hübsch auswendig gelernt«, ätzte Emerick weiter. Er legte es geradezu darauf an, Jasnas Schmerzgrenze auszutesten. »Fühl dich bitte nicht angefasst, aber Typen in ihre Schranken zu verweisen, liegt dir eindeutig besser als Diplomatie. Wenn es ums Zwischenmenschliche geht, wirst du sofort stocksteif.«

»Mach dir mal keine Gedanken, ich bin grundentspannt und locker. Sogar dein Gerede nehme ich sportlich. Ich bin ganz bei mir.« Jasna war selbst verblüfft, dass sie sich so wacker schlug. Allem Anschein nach hatte sie ihr Temperament inzwischen deutlich besser unter Kontrolle als früher.

»Ja«, sagte Emerick gedehnt, »das sah vorhin echt meditativ aus, als du Orsons Ton-Phallus begutachtet hast. Der Vollprofi, der du bist, ist weder rot angelaufen, noch hast du angesichts des ansehnlichen Kunstwerks sofort den Rückzug angetreten.«

»Genau so ist es.«

»Dann macht es dir auch nichts aus, dass Orson mit seinem Kunstwerk gerade in deine Richtung deutet und seinem Pfleger erzählt, dass er es dir schenken will?«

Ende der Leseprobe