Emil oder über die Erziehung - Jean-Jacques Rousseau - E-Book

Emil oder über die Erziehung E-Book

Jean Jacques Rousseau

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Beschreibung

Emil oder über die Erziehung ist das pädagogische Hauptwerk Jean-Jacques Rousseaus aus dem Jahr 1762. Emil, Rousseaus Zögling, ist ein gesunder, durchschnittlich begabter Junge aus reichem Hause mit Jean-Jacques [Rousseaus Alter Ego] als seinem einzigen Erzieher. Dieser hat für ihn zwei Ziele festgesetzt: Zum einen soll Emile als erwachsener Mensch in der Lage sein, in der Zivilisation zu bestehen, ohne an seiner Person Schaden zu nehmen, zum anderen soll er bereit sein, den Gesellschaftsvertrag zu schließen. Dieser Vertrag soll die politische Ordnung sichern, und ihm müssen alle Mitglieder einer Gesellschaft (ideell) zustimmen ...

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Emil oder über die Erziehung

Jean-Jacques Rousseau

Inhalt:

Jean Jacques Rousseau – Biografie und Bibliografie

Emil oder über die Erziehung

Erster Band

Vorrede

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Zweiter Band

Viertes Buch

Fünftes Buch

Fußnoten

Emil oder über die Erziehung, J. J. Rousseau

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849634384

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Jean Jacques Rousseau – Biografie und Bibliografie

Berühmter franz. Schriftsteller und Philosoph, geb. 28. Juni 1712 in Genf, gest. 2. Juli 1778 in Ermenonville (Oise). Seine Mutter, die Tochter eines evangelischen Predigers, starb schon bei seiner Geburt, und der Vater, Uhrmacher und Tanzlehrer, kümmerte sich nicht viel um die Erziehung seines Sohnes, der in seiner Lesewut alle Bücher verschlang, deren er habhaft werden konnte, am liebsten aber die Romane des 17. Jahrh. und Plutarchs Lebensbeschreibungen las. Man brachte ihn zuerst in das Bureau eines Anwalts, dann zu einem Kupferstecher in die Lehre. Aber sein unsteter Sinn und harte Züchtigungen infolge seiner schlechten Streiche trieben ihn aus Genf; nach mehrtägigem umherirren kam er nach Consignon zu dem katholischen Geistlichen, der ihn nach Annecy an Frau v. Warens empfahl. Diese, eine junge, liebenswürdige, aber äußerst schwache und gutmütige Frau, die ihren Mann verlassen hatte, war kurz vorher zum Katholizismus übergetreten und bemühte sich, den 16jährigen R. ebenfalls zu bekehren; sie sandte ihn nach Turin in ein Bekehrungshaus, wo er bald darauf den Protestantismus abschwor (23. Aug. 1728). In Turin wurde er Bedienter bei einer vornehmen Dame, von der er jedoch bald wieder entlassen wurde wegen des Verdachts, einen Diebstahl begangen zu haben, und kehrte nach einigen Irrfahrten 1730 zu Frau v. Warens zurück. Im April 1731 schloss er sich eine Zeitlang einem Hochstapler an, gelangte nach vielen Abenteuern bis nach Paris, kehrte dann aber 1732 zu Frau v. Warens zurück, die inzwischen nach Chambéry verzogen war. Mit seiner Freundin verlebte er dort acht glückliche Jahre, schwelgend im Genuss der schönen Natur, hauptsächlich aber mit ernsten Studien beschäftigt. Hier las er die englischen, deutschen und französischen Philosophen, studierte Mathematik und Latein, vertiefte seine religiösen Anschauungen und versuchte sich in Lustspielen und Opern. Wegen eines Herzleidens reiste er 1737 auf zwei Monate ins Bad nach Montpellier; als er dann nach seiner Rückkehr bei Frau v. Warens einen andern Liebhaber findet und mit diesem ihre Gunst nicht teilen will, wie sie es ihm vorschlägt, verlässt er ihr Haus (sie hatte im Sommer 1738 das Landgut Les Charmettes gepachtet), geht als Hauslehrer nach Lyon und 1741 nach Paris, um sein neues System, Noten durch Zahlen auszudrücken, der Akademie zu unterbreiten. Als diese seine Entdeckung zurückwies, nahm R. die Stelle eines Sekretärs beim französischen Gesandten in Venedig, dem Grafen Montaigu, an, einem geizigen, brutalen Mann, bei dem er nur 18 Monate aushielt. Nach Paris zurückgekehrt, trat er in lebhaften Verkehr mit Diderot, Grimm, d'Alembert, Holbach, Frau v. Epinay u.a., und schon damals rühmte man seine geistvolle Unterhaltung und spottete über sein unbeholfenes Benehmen und seine maßlose Eitelkeit. In dieser Zeit knüpfte er auch sein Verhältnis mit Thérèse Levasseur an, einer Arbeiterin ohne jede Schulbildung und so beschränkt, dass sie weder die Monatsnamen erlernen, noch den Wert der einzelnen Geldmünzen behalten konnte. Trotzdem lebten beide glücklich in einer Vereinigung, deren festester Kitt die Macht der Gewohnheit war, und die erst 25 Jahre später durch die Ehe geheiligt wurde. Sie schenkte ihm fünf Kinder, die er alle ins Findelhaus brachte, eine Herzlosigkeit, die er mit vielen Sophistereien zu entschuldigen versuchte. Inzwischen war er ein berühmter Mann geworden. Seine Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung (»Discours sur les sciences et les arts«, 1750), eine Antwort auf eine von der Akademie zu Dijon gestellte Preisfrage, war von dieser mit dem Preis ausgezeichnet worden. Von nun an trat er in bewussten Gegensatz zu der Zivilisation, die er für alle menschlichen Laster und besonders für seine eignen Verirrungen verantwortlich machte. Er verschmähte es jetzt auch, von der Schriftstellerei zu leben, und empfahl sich trotz des heftigen Widerspruchs seiner Geliebten und ihrer Mutter als Notenabschreiber in der sichern Erwartung, daß es einem berühmten Mann an Aufträgen nicht fehlen würde, worin er sich auch nicht täuschte. Auch auf dem Theater errang er nun einen glänzenden Erfolg mit der Oper »Le devin du village« (1752). Im Jahre 1753 erschien seine »Lettre sur la musique française«, mit der er durch seine Parteinahme für die italienische Musik einen heftigen Sturm gegen sich erregte. Seine zweite größere Schrift war wiederum von der Akademie zu Dijon angeregt und handelte von dem Ursprung und den Gründen der Ungleichheit unter den Menschen (»Discours sur l'inégalité parmi les hommes«, 1753); auch diese Schrift enthält die heftigsten Anklagen gegen die Gesellschaft. In dieser Zeit machte er eine Reise nach Genf, wo er glänzend empfangen wurde und (1. April 1754) zum Calvinismus zurücktrat; er nannte sich von nun an mit Vorliebe »Citoyen de Genéve«. Seit 1756 bewohnte er auf eine Einladung der Frau v. Epinay ein Gartenhäuschen im Walde von Montmorency, das berühmte, später umgebaute »Ermitage«. Hier, in der Einsamkeit, inmitten einer herrlichen Natur, hoffte er ein glückliches und ruhiges Leben führen zu können; aber seine häusliche Misere, seine heftige, sinnliche Leidenschaft für die Gräfin d'Houdetot und besonders sein krankhaftes Misstrauen und seine nervöse Reizbarkeit, die den Bruch mit seinen besten Freunden, Grimm, Diderot und Frau v. Epinay, herbeiführte, machte den Aufenthalt dort unmöglich; er bezog Montmorency. Hier lebte er auf dem Lustschloss Montlouis, das ihm der Herzog von Luxembourg zur Verfügung stellte, von 1757–62, und wenn auch sein Gemüt nicht gesundete, so sind hier doch seine berühmtesten Werke vollendet worden: Die »Lettre à d'Alembert contre les spectacles« (1758), »Julie, ou la Nouvelle Héloïse« (Februar 1761), »Du contrat social, ou principes du droit politique« (deutsch, Berl. 1873) und »Émile, ou de l'éducation« (deutsch unter anderm von E. v. Sallwürk, mit Anmerkungen, nebst Biographie von Th. Vogt, 3. Aufl., Langensalza 1893, 2 Bde.; von Wattendorff, 2. Aufl., Münst. 1906), beide Frühjahr 1762 erschienen. Aber auch er teilte das Geschick aller Propheten. Aus Frankreich verbannt, wo das Parlament die Verbrennung des »Émile« und die Verhaftung des Verfassers dekretiert hatte, in seiner Vaterstadt, wo man seine Schriften öffentlich verbrannt hatte, geächtet, mußte er 1762 in dem damals preußischen Neuchâtel, im Dorf Môtiers-Travers, eine Zuflucht suchen; günstig nahm ihn der Gouverneur des Ländchens, der Marschall George Keith, auf. Von hier schrieb er seine Streitschrift an den Erzbischof von Paris und die berühmten »Lettres de la montagne«, worin er die Glaubensfreiheit gegen Kirche und Polizei in Schutz nahm als Antwort auf Tronchins »Lettres de la campagne«, die das Verhalten der Genfer Regierung gegen R. rechtfertigen sollten. Doch die Intrigen seiner Feinde ließen ihn auch hier nicht ruhen. Auf Anstiften des protestantischen Geistlichen machten die fanatisierten Bauern einen Angriff auf sein Haus und vertrieben ihn aus ihrem Dorf (September 1765). Auch von der Petersinsel im Bieler See, wohin er sich geflüchtet, wurde er verjagt; schon wollte er sich auf die Einladung Friedrichs II. nach Berlin begeben, als er den dringenden Bitten Humes, nach England überzusiedeln, nachgab. Aber auch dort war seines Bleibens nicht lange; sein Menschenhaß, der durch die Leiden der letzten Jahre allmählich in Verfolgungswahn ausgeartet war, vielleicht auch einige Rücksichtslosigkeiten seines Gastgebers, besonders aber wohl der Anstoß, den die englische Gesellschaft an seinem Verhältnis zu Thérèse nahm, führte bald den Bruch herbei. Schon 1. Mai 1767 landete er in Frankreich, erhielt 1770 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren, wo er in der Rue Plâtrière (die jetzt seinen Namen trägt) eine Wohnung bezog, und vollendete dort die schon in England begonnenen »Confessions« (deutsch von L. Schücking, Hildburgh. 1870; von E. Hardt, Berl. 1906), worin er mit einer oft empörenden Offenheit und Rücksichtslosigkeit gegen sich und andre sein ganzes Leben der Welt darlegte. In langer armenischer Kleidung wandelte er damals melancholisch unter den Parisern umher, trieb Musik und Botanik und nährte sich vom Notenschreiben, bis er im Mai 1778 vom Marquis v. Girardin die Einladung erhielt, in Ermenonville, unweit Paris, ein stilles Landhaus zu beziehen. Dort ist er bald nachher gestorben. 1794 wurden seine Gebeine (von Ermenonville) feierlich im Panthéon beigesetzt, von wo sie unter der Restauration heimlich wieder entfernt worden sein sollen; seine Landsleute aber errichteten auf der nach ihm benannten Rousseauinsel in Genf ihrem größten Bürger ein Denkmal; im Panthéon zu Paris wurde ihm 1889 ein Standbild errichtet. Sein Bildnis s. Tafel »Klassiker der Weltliteratur II« im 12. Bd. Außer den angeführten Werken schrieb R.: »De l'imitation théâtrale« (1764); das Melodrama »Pygmalion«, das Berquin in Verse brachte (vgl. Istel, J. J. R. als Komponist seiner lyrischen Szene;Pygmalion', Leipz.1901); die Abhandlung über die »Vertu la plus nécessaire aux héros« (1769); ein »Dictionnaire de musique« (1767); »Lettres sur la botanique« (deutsch, Leipz.1903); »Dialogues«, Briefe etc. Mehrere Schriften erschienen erst nach seinem Tode, wie »Émile et Sophie, ou les solitaires«, eine schwächliche Fortsetzung des »Èmile«; und die »Confessions«, die vervollständigt wurden durch eine Art Tagebuch: »Les rêveries du promeneur solitaire«, die gegen seinen ausdrücklichen Wunsch schon drei Jahre nach seinem Tode veröffentlicht wurden.

Mehr als Voltaire bestimmte R. die geistige Physiognomie des alternden 18. Jahrh. Aufgewachsen in einer Stadt, die durch harte Kämpfe gegen Gewalt und Übermut frei und groß geworden, in der strenge calvinistische Zucht wahre und tiefe Frömmigkeit nicht ausschloss, mit einem Herzen voll glühender Liebe zur Natur, deren Großartigkeit und Lieblichkeit in ihm einen begeisterten Lobredner fand, trefflich gewappnet mit dem geistigen Rüstzeug des philosophischen Jahrhunderts, ein scharfer Denker, von der feurigsten Beredsamkeit, daneben von einer Betonung des eignen Ich, von einer Selbstsucht und Überhebung, die in ihrer Übertreibung geradezu widerwärtig wirken: so unternimmt er es, die moralischen und politischen Verhältnisse umzuformen, indem er den glänzenden Schleier, der die Fäulnis und das Elend des sozialen Lebens verhüllte, mit kühner Faust zerriss und vollständige Umkehr predigte, die Rückkehr zur natürlichen Empfindung und zur reinen Bürgertugend. Seine Hauptwerke geben uns ein anschauliches Bild seines Systems. Wenn er in der Abhandlung über die Verderblichkeit der Bildung nachwies, dass mit dem Fortschreiten der Kultur der Verfall der Sitten Hand in Hand gegangen sei, dass Irrtum und Vorurteil unter dem Namen Philosophie die Stimme der Vernunft und der Natur erstickt hätten, so zeichnet er im »Émile« das Ideal eines Bürgers und die Mittel, das Kind zu einem solchen zu erziehen. Fern von der Welt und dem verderblichen Einfluss der Gesellschaft soll die Seele des Kindes sich bilden; da der Mensch von Natur gut ist, so braucht nur Irrtum und Laster fern gehalten zu werden; dann wird er von selbst Wissenschaft und Kunst und zuletzt auch Gott finden lernen. Den Glanzpunkt des »Émile« bildet das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars; hier bekennt R. in herrlicher Sprache das tiefe Bedürfnis eines wahren, natürlichen Gefühls nach Religion, nach dem Gotte, dessen Allmacht und Größe seine Werke jeden Tag aufs neue verkünden. Der ungeheure Einfluss, den dieses Buch, das Naturevangelium der Erziehung, wie es Goethe nennt, auf die Zeitgenossen ausübte, ging weit über Frankreichs Grenzen hinaus; Pestalozzi sucht und findet seinen Ruhm in der praktischen Durchführung von Rousseaus Ideen, ohne indes seinen Maßlosigkeiten und Absonderlichkeiten zu folgen. Wie diese beiden Schriften der Afterbildung der Zeit das Ideal wahrer Bildung gegenüberstellen, so versuchen die »Abhandlung über die Ungleichheit unter den Menschen« und der »Gesellschaftsvertrag« die soziale Frage zu lösen. Das erstere Werk unterzieht die bestehenden sozialen Verhältnisse einer vernichtenden Kritik. Weil die Zivilisation den Menschen unglücklich mache, so müsse man zu einem Naturzustand zurückkehren, der dem der Wilden, ja dem der Tiere möglichst gleichkomme. Aus dem Begriff des Eigentums habe sich die Ungleichheit entwickelt, aus der Vereinigung zu gegenseitigem Schutz die Regierung, aus der Erblichkeit der Regierung der Despotismus und die Entartung. Aber ein Despot sei nur so lange Herr, als er die Macht habe, und die Revolution, die einen Herrscher vernichte, sei ebenso gerechtfertigt wie das Schalten und Walten des Herrschers über Leben und Eigentum seiner Untertanen. Diesen leidenschaftlichen, oft unrichtigen und meist übertriebenen Deduktionen gegenüber entwickelt er im »Contrat social« die Grundsätze seines politischen Systems. Die ersten Worte: »Der Mensch ist frei geboren«, bilden den Grundtext des ganzen Buches. Seine Freiheit gibt der Mensch nicht auf, wenn er eine Gesellschaft, einen Staat bildet; darum ist die Gesellschaft allein der Souverän, der Gesamtwille das höchste Gesetz. Der Zweck aber der Gesetze ist Freiheit und Gleichheit. Das Merkwürdigste ist, dass er seiner Republik eine Staatsreligion verleiht, und dass er Andersgläubige verbannt, Abtrünnige mit dem Tode bestraft wissen will. Wie diese Theorien sich in der Praxis ausnehmen, zeigten der Konvent und Robespierre; ein viel höherer Grad von Tyrannei war die notwendige Konsequenz solcher Lehren. Der »Contrat social« hatte einen großartigen Erfolg: der französischen Revolution diente er als Grundbuch; Polen und Korsen stellten an R. die Anforderung, ihnen Verfassungen zu geben. Aber das Geheimnis dieses Erfolgs liegt nicht bloß in der Kühnheit der Ideen, sondern ebenso sehr in der vollendeten Form, dem prophetischen Ton, der Sicherheit seiner Logik, der Heftigkeit seiner Angriffe. Nicht geringen Widerhall in den Herzen der Jugend, besonders auch der deutschen, fand die »Neue Heloïse«. Hier zeigt er sich als wahrer Dichter, nicht bloß in den Naturschilderungen, die, wie diejenigen der »Confessions«, von bestrickendem Zauber sind, sondern hauptsächlich in der Darstellung einer tiefen, echten Liebe, der zartesten Empfindung und der glutvollsten Leidenschaft. Juliens Fehltritt aber ist nicht nur unmoralisch, sondern stört auch die Harmonie des Werkes, und wenig gelungen ist die moralisierende Fortsetzung des Romans. Der Einfluss Rousseaus war in Literatur und Kultur so gewaltig, daß er auch heute noch unser Leben bis in seine Tiefen erregt.

Unter den zahlreichen Gesamtausgaben der Werke Rousseaus heben wir hervor: die von Du Peyrou besorgte (Genf u. Par. 1782, 35 Bde.), mit den »Œuvres posthumes« (1782–83, 12 Bde.); die von Villenave und Depping (1817, 8 Bde.); von Musset-Pathay, mit Biographie und Anmerkungen (1823–1826, 23 Bde.); von Hachette (1865, 13 Bde.; neugedruckt 1900 ff.). Die beste Ausgabe des »Contrat social« mit allen Varianten gab Dreyfus-Brisac (Par. 1895). Von deutschen Übersetzungen nennen wir die von Cramer (Berl. 1786–99, 11 Bde.) und die von Ellissen, G. Julius, K. Große, Marx etc. (Leipz. 1843–45, 10 Bde.). Eine Auswahl gab in deutscher Übersetzung Heusinger (Stuttg. 1898, 6 Bde.). Einen Band »Lettres inédites« gab Bosscha (Amsterd. 1858) heraus, andre Briefe Streckeisen-Moulton (»Œvres et correspondences inédites de J. J. R.«, Par. 1861, dann in »R., ses amis et ses ennemis«, das. 1865, 2 Bde.; neue Ausg. 1904), Usteri (Zürich 1886), H. de Rothschild (Par. 1892); »Fragments inédits« veröffentlichte Jansen (Berl. 1882).

Vgl. Musset-Pathay, Histoire de la vie et des ouvrages de J. J. R. (Par. 1827); Saint-Marc Girardin in der »Revue des Deux Mondes« 1852 bis 1856 (von Bersot herausgegeben: »J. J. R., sa vie et ses ouvrages«, 1875, 2 Bde.); die Biographien von Morin (Par. 1851), Brockerhoff (Leipz.1863–74, 3 Bde.), Th. Vogt (Wien 1870), John Morley (2. Aufl., Lond. 1886), H. G. Graham (zuletzt das. 1899), Mahrenholtz (Leipz.1889), Beaudouin (Par. 1892, 2 Bde.), Chuquet (das. 1893, 3. Aufl. 1906); Moreau, J. J. R. et le siècle philosophe (das. 1870); Desnoiresterres, Voltaire et R. (das. 1874); Braillard, Marc-Monnier u.a., J. J. R. jugé par les Genevois d'aujourd'hui (Genf 1878); Jansen, R. als Musiker (Berl. 1884), R. als Botaniker (das. 1885) und Documents sur J. J. R., 1762 à 1765 (Genf 1885); J. Buy, Origines des idées politiques de R. (das. 1889); Grand-Carteret, R. jugé par les Français d'aujourd'hui (Par. 1890); Texte, J, J. R. et les origines du cosmopolitisme littéraire (das. 1895); Léo Claretie, J. J. R. et ses amies (das. 1896); Mugnier, Mad. de Warens et J. J. R. (das. 1890, neue Ausg. 1904); Eug. Ritter, La famille et la jeunesse de J. J. R. (das. 1896); Windenberger, Essai sur le système de politique étrangère de R. (das. 1899); Compayré, J. J. R. et l'éducation de la nature (das. 1901); Pougin, J. J. R. musicien (das. 1901); Nourrisson, J. J. R. et le Rousseauisme (das. 1903); Louis Thomas, La dernière phase de la pensée religieuse de R. (das. 1904); W. H. Hudson, R. and naturalism in life and thought (Edinb. 1903); Brédif, im caractère intellectuel et moral de J. J. R. (Par. 1906); Sibiril, Histoire médicale de R. (Bordeaux 1900).Von deutschen Werken vgl. noch: E. Schmidt, Richardson, R. und Goethe (Jena 1875); Borgeaud, Rousseaus Religionsphilosophie (Leipz. 1883); O. Schmidt, R. und Byron (Oppeln 1890); Haymann, J. J. Rousseaus Sozialphilosophie (Leipz. 1898); Liepmann, Die Rechtsphilosophie des J. J. R. (Berl. 1898); Höffding, R. und seine Philosophie (2. Aufl., Stuttg. 1902); Möbius, Rousseaus Krankheitsgeschichte (Leipz. 1889, und im 1. Bd. der »Ausgewählten Werke«, 1904). Seit 1905 erscheint in Genf die ihm gewidmete Zeitschrift »Annales de la Société Jean Jacques R.«

Emil oder über die Erziehung

Erster Band

Vorrede

Diese Sammlung von Betrachtungen und Beobachtungen, ohne Ordnung und fast ohne strenge Reihenfolge, wurde einer guten denkenden Mutter1 zuliebe begonnen. Anfänglich hatte ich nur eine Abhandlung von wenigen Seiten beabsichtigt; da mich mein Gegenstand jedoch wider Willen fortriß, so schwoll diese Abhandlung allmählich zu einem förmlichen Werke an, das unzweifelhaft zu umfangreich ist, wenn man sein Augenmerk nur auf den Inhalt richtet, aber im Hinblick auf den Stoff, den es behandelt, trotzdem nicht ausführlich genug. Ich habe lange geschwankt, es zu veröffentlichen, und bei der Ausarbeitung hat mich oft das Gefühl überschlichen, daß die Abfassung einiger Broschüren noch keine hinreichende Bürgschaft für den Beruf darbietet, ein Buch zu schreiben. Nach vergeblichen Bemühungen, etwas Besseres zu leisten, glaube ich es so, wie es ist, vorlegen zu müssen, überzeugt, daß es von Wichtigkeit ist, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu lenken, und daß, sollten sich auch meine Gedanken als falsch herausstellen, ich doch meine Zeit nicht völlig verloren habe, wenn auf meine Veranlassung hin bei anderen richtige rege werden. Ein Mann, welcher seine Blätter aus seiner Zurückgezogenheit unter das Publikum streut, ohne empfehlende Reklame, ohne Partei, die ihre Verteidigung übernimmt, ja selbst ohne zu wissen, was man darüber denkt oder spricht, braucht nicht zu fürchten, daß man, wenn er sich irrt, seine Irrtümer ohne strenge Prüfung für wahr anerkennen werde.

Ueber die Wichtigkeit einer guten Erziehung werde ich wenig Worte verlieren, auch werde ich mich nicht bei dem Beweis aufhalten, daß die jetzt übliche nur einen schädlichen Einfluß ausübt. Tausend andere haben es vor mir getan, und es ist nicht nach meinem Geschmack, ein Buch mit allbekannten Dingen anzufüllen. Ich werde lediglich darauf hinweisen, daß sich gegen die eingeführte Praxis längst ein allgemeiner Schrei erhoben hat, ohne daß jemand sich dem unterzieht, mit Reformvorschlägen hervorzutreten. Die Literatur und Wissenschaft unsres Jahrhunderts läuft weit mehr darauf hinaus zu zerstören als aufzubauen. Man kritisiert mit dem absprechenden Ton eines Meisters; um Vorschläge zu machen, muß man jedoch einen anderen anschlagen, an welchem die philosophische Erhabenheit weniger Gefallen findet. Trotz so vieler Schriften, welche alle vorgeblich den allgemeinen Nutzen bezwecken, ist doch gerade die Kunst, welche den größten Nutzen gewährt, die Kunst Menschen zu bilden, noch immer vergessen. Mein Thema war trotz Lockes Buch völlig neu und ich befürchte sehr, daß dasselbe es auch noch nach dem meinigen bleiben wird.

Man kennt und versteht die Kinderwelt durchaus nicht; je weiter man die falschen Ideen, welche man von derselben hegt, verfolgt, desto weiter verirrt man sich. Die Weisesten behandeln mit Vorliebe das den Menschen Wissenswürdigste, ohne dabei auf die Lern- und Begriffsfähigkeit der Kinder Rücksicht zu nehmen. Sie suchen stets schon den Mann im Kinde, ohne an den kindlichen Zustand zu denken, aus dem der Mann sich erst allmählich entwickelt. Und gerade das Studium dieses Zustandes habe ich mir am angelegensten sein lassen, damit, wenn auch meine ganze Methode wunderlich und falsch sein sollte, man doch immer aus meinen Beobachtungen Nutzen schöpfen könnte. Ich kann vielleicht über das, was zu tun ist, unklare Vorstellungen haben, allein den Körper, an dem zu operieren ist, glaube ich gut gesehen und beobachtet zu haben. Fangt also an, eure Zöglinge besser zu studieren, denn sicher kennt ihr sie noch gar nicht. Wohlan denn, lest ihr dies Buch von diesem Gesichtspunkt aus, so wird, wie ich glaube, die Lektüre für euch nicht ohne Nutzen sein.

Was nun den Teil anlangt, den man den systematischen nennen wird und der hier nichts anderes als den Gang der Natur schildert, so wird gerade dieser das Kopfschütteln des Lesers am meisten hervorrufen. Von hier aus wird man auch unzweifelhaft die Angriffe auf mich richten, und vielleicht hat man nicht unrecht. Man wird weniger eine Abhandlung über Erziehung als die Träumereien eines Phantasten über Erziehung zu lesen glauben. Was ist dabei zu tun? Ich schreibe ja nicht über die Ideen anderer, sondern über die meinigen. In meinen Augen erscheint alles anders als in denen anderer Leute; schon längst hat man mir das vorgeworfen. Aber hängt es etwa von mir ab, mir andere Augen zu geben und mir andere Ideen anzueignen? Nein. Es hängt von mir ab, nicht eigensinnig auf meinem Kopfe zu bestehen, mich allein nicht für klüger als die ganze Welt zu halten; es hängt von mir ab, nicht etwa meine Ansicht zu wechseln, wohl aber der meinigen nicht unbedingt zu trauen: das ist alles, was ich tun kann, und was ich wirklich tue. Wenn ich bisweilen einen absprechenden Ton annehme, so geschieht das keineswegs, um den Leser damit zu blenden, es geschieht vielmehr, um mit ihm so zu sprechen, wie ich denke. Warum soll ich meine Ideen, an deren Wichtigkeit ich für meinen Teil nicht im geringsten zweifle, unter der Form des Zweifels zur Prüfung vorlegen? Ich schreibe genau, was in meinem Geiste vorgeht.

Indem ich meine Ansicht freimütig dartue, bin ich so weit davon entfernt, dieselbe von vornherein als eine ausgemachte Wahrheit hinzustellen, daß ich stets meine Gründe hinzufüge, damit man dieselben erwäge und mich danach beurteile: aber obgleich ich meine Ideen durchaus nicht hartnäckig verteidigen will, so halte ich mich doch nicht weniger für verpflichtet, sie zur Prüfung vorzulegen, denn die Grundsätze, hinsichtlich deren ich von den Ansichten anderer völlig abweiche, sind durchaus nicht gleichgültig. Sie gehören zu denjenigen, deren Wahrheit oder Unrichtigkeit zu kennen von höchster Wichtigkeit ist, und welche das Glück oder Unglück des menschlichen Geschlechts begründen.

Bringe nur Ausführbares zum Vorschlag, wiederholt man mir unaufhörlich. Das ist dasselbe, als ob man zu mir sagte: Schlage vor, das zu tun, was man tut, oder schlage wenigstens etwas Gutes vor, das sich mit dem bestehenden Schlechten vereinigen läßt. Ein solches Projekt ist in bezug auf bestimmte Gegenstände noch weit wunderlicher als meine Vorschläge, denn in dieser Vermischung verschlechtert sich das Gute, während sich das Schlechte nicht bessert. Ich würde lieber die einmal eingeführte Methode im ganzen unverrückt beibehalten, als mir eine gute nur halb aneignen: es würde im Menschen dadurch ein geringerer Widerspruch hervorgerufen werden, weil er nicht nach zwei entgegengesetzten Zielen zu streben vermag. Väter und Mütter, das Ausführbare wollt ihr ja ausführen. Darf ich für euch einstehen?

Bei jedem Plan ist zweierlei zu erwägen: erstens die absolute Güte des Plans, und an zweiter Stelle die Leichtigkeit der Ausführung.

In ersterer Hinsicht genügt, um die Zulässigkeit und Ausführbarkeit des Plans an und für sich darzutun, daß das in ihm vorhandene Gute in der Natur der Sache liegt, hier zum Beispiel, daß die vorgeschlagene Erziehung dem Menschen entsprechend und dem menschlichen Herzen völlig angemessen ist.

Die zweite Erwägung hängt von den in bestimmten Lagen gegebenen Verhältnissen ab, von in bezug auf die Sache zufälligen Verhältnissen, welche mithin nicht notwendig sind und bis ins Unendliche variieren können. So kann eine Erziehungsweise in der Schweiz ausführbar sein und in Frankreich nicht; eine andere kann sich in Bürgerfamilien bewähren, und wieder eine andere unter den höheren Klassen. Die mehr oder weniger große Leichtigkeit der Ausführung hängt von tausenderlei Umständen ab, die sich unmöglich anders als in einer besonderen Anpassung der Methode auf dieses oder jenes Land, auf diesen oder jenen Stand genau beschreiben lassen. Nun, alle diese besondern Variationen, die zu meinem Thema nicht wesentlich gehören, habe ich in meinem Plan nicht aufgenommen. Mögen sich andere damit befassen, wenn sie wollen, jeder mit Rücksicht auf das Land oder den Staat, welchen er im Auge hat. Mir genügt, daß man überall, wo Menschen geboren werden, aus ihnen das, was ich vorschlage, machen kann, und daß, wenn man aus ihnen das, was ich vorschlage, gemacht, man das ihnen selbst wie anderen Heilsamste getan hat. Wenn ich dies Versprechen nicht erfülle, dann habe ich unzweifelhaft unrecht; wenn ich es aber erfülle, würde man auch unrecht haben, mehr von mir zu verlangen, denn ich verspreche nur dieses.

Erstes Buch

Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt ein Land, die Produkte eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen; vermischt und vermengt die Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten; er verstümmelt seine Hand, sein Pferd, seinen Sklaven; er stürzt alles um, er verunstaltet alles; er liebt das Unförmliche, die Mißgestalten; nichts will er so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen; man muß ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten; man muß ihn wie einen Baum seines Gartens nach der Mode des Tages biegen.

Sonst würde aber alles noch schlechter gehen, und unser Geschlecht ist ein Feind alles halben Wesens. In dem Zustand, in welchem sich die Dinge nunmehr befinden, würde ein von seiner Geburt an sich unter den anderen selbst überlassener Mensch der verunstaltetste von allen sein. Die Vorurteile, der äußere Einfluß, der Zwang, das Beispiel, alle die sozialen Verhältnisse, in welche wir uns versunken befinden, würden die Natur in ihm ersticken, ohne ihm einen Ersatz dafür zu bieten. Es würde ihr wie einem jungen Baum ergehen, den der Zufall mitten auf einem Wege aufschießen läßt und den die Wanderer bald zum Welken bringen, indem sie ihn von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen.

An dich wende ich mich, zärtliche und vorsorgliche Mutter,2 die du dich von der großen Straße fernzuhalten und das wachsende Bäumchen vor dem Widerstreit der menschlichen Meinungen zu bewahren verstandest! Pflege, begieße die junge Pflanze, ehe sie abstirbt; ihre Früchte werden dereinst deine Wonne sein. Bilde frühzeitig einen Schutzwall um die Seele deines Kindes; ein anderer kann den Umfang desselben bestimmen, du selber aber mußt die Schranken setzen.3

Man veredelt die Pflanzen durch die Zucht, und die Menschen durch die Erziehung. Würde der Mensch gleich groß und stark geboren, so würde ihm seine ausgebildete Gestalt und seine Kraft jedenfalls so lange unnütz sein, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen; sie würden ihm sogar schädlich sein, indem sie die anderen abhielten, an seinen Beistand zu denken,4 und sich selbst überlassen, würde er in Elend dahinsterben, bevor er seine Bedürfnisse kennen gelernt hätte. Man klagt über den Zustand der Kindheit; man begreift nicht, daß das menschliche Geschlecht schon ausgestorben wäre, hätte der Mensch nicht als Kind das Leben begonnen.

Wir werden schwach geboren und deshalb sind uns Kräfte nötig; wir werden, von allem entblößt, geboren, und deshalb ist uns Hilfe nötig; wir werden mit unentwickelten Anlagen geboren, und deshalb ist uns Verstand und Urteilskraft nötig. Alles, was uns bei unserer Geburt fehlt, und was uns, wenn wir erwachsen sind, nötig ist, wird uns durch die Erziehung gegeben.

Diese Erziehung geht von der Natur, oder von den Menschen, oder von den Dingen aus. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung der Natur; die Anwendung, welche man uns von diesen entwickelten Fähigkeiten und Organen machen lehrt, ist die Erziehung der Menschen, und in dem Gewinn eigener Erfahrungen in bezug auf die Gegenstände, welche auf uns einwirken, besteht die Erziehung der Dinge.

Jeder von uns wird also durch dreierlei Lehrer gebildet. Der Schüler, in welchem sich ihre verschiedenen Lehren entgegenarbeiten, wird schlecht erzogen, und wird nie zu einer inneren Harmonie gelangen. Derjenige dagegen, bei welchem sie alle auf die nämlichen Punkte gerichtet sind und die nämlichen Zwecke erstreben, erreicht allein sein Ziel und lebt in voller Harmonie. Dieser allein ist gut erzogen.5

Nun aber hängt von diesen drei verschiedenen Erziehungsarten die der Natur gar nicht, die der Dinge nur in gewisser Hinsicht von uns ab. Die der Menschen ist die einzige, die wirklich in unserer Gewalt steht, indes ist auch dies nur voraussetzungsweise der Fall, denn wer kann wohl die Hoffnung hegen, die Gespräche und Handlungen aller derer, die ein Kind umgeben, ganz und gar zu leiten?

Insofern also die Erziehung eine Kunst ist, kann sie fast unmöglich zu einem günstigen Resultat führen, weil das zu ihrem Erfolg notwendige Zusammenwirken in niemandes Gewalt steht. Höchstens kann man sich dem Ziel durch viel Mühe und Sorgfalt mehr oder weniger nähern, um es aber wirklich zu erreichen, dazu gehört viel Glück.

Was ist das nun für ein Ziel? Es ist das der Natur selbst; das ist soeben bewiesen. Da das Zusammenwirken der drei Arten zu einer vollkommenen Erziehung notwendig ist, so muß man nach derjenigen, zu welcher wir nichts beizutragen vermögen, die beiden anderen richten. Allein vielleicht knüpft sich an das Wort Natur ein zu allgemeiner Sinn; ich will ihn deshalb hier festzustellen suchen. Natur, sagt man uns, ist nur Gewöhnung.6 Was heißt das? Gibt es nicht etwa Gewohnheiten, welche man nur gezwungen annimmt und welche die Natur niemals ersticken? So verhält es sich zum Beispiel mit der Gewöhnung der Pflanzen, deren aufrechte Richtung man gewaltsam verändert. Die wieder ihrer Freiheit zurückgegebene Pflanze behält zwar die Neigung, die sie gezwungenerweise angenommen hat; aber der in ihr kreisende Saft hat deshalb seine ursprüngliche Richtung nicht aufgegeben, und wenn die Pflanze zu wachsen fortfährt, so kehren die neuen Triebe zu der senkrechten Richtung zurück. Ebenso verhält es sich mit den Neigungen der Menschen. Solange man in den nämlichen Verhältnissen verharrt, kann man diejenigen, welche der Gewohnheit entspringen, selbst wenn sie unserer innersten Natur widerstreben, bewahren, sobald aber die Lage wechselt, schwächt sich die Gewohnheit ab und das natürliche Wesen kommt wieder zum Vorschein. Die Erziehung ist sicherlich nur Gewöhnung. Gibt es nun aber nicht Leute, welche ihre Erziehung vergessen und verlieren, und andere, welche sie bewahren? Woher kommt dieser Unterschied? Muß man die Benennung Natur auf die der Natur konformen Gewöhnungen beschränken, so kann man sich dieses Hinundhergerede ersparen.

Mit Empfindungsvermögen werden wir geboren und von unserer Geburt an sind wir den Einwirkungen der Gegenstände, die uns umgeben, in verschiedener Weise ausgesetzt. Sobald wir uns der erhaltenen Eindrücke sozusagen bewußt werden, bildet sich in uns die Neigung, die Gegenstände, welche sie hervorbringen, aufzusuchen oder zu fliehen, zuerst je nachdem sie angenehm oder unangenehm sind, später je nach der Uebereinstimmung oder dem Mangel an Uebereinstimmung, die wir zwischen uns und diesen Gegenständen finden, und endlich je nach den Urteilen, die wir über sie nach der Vorstellung von Glück und Vollkommenheit fällen, welche uns die Vernunft gibt. Diese Neigungen oder Abneigungen erweitern und verstärken sich in dem Maße, wie wir empfänglicher und aufgeklärter werden; aber durch unsere Gewohnheiten beschränkt, werden sie sich unseren Ansichten mehr oder weniger anschließen. Vor dieser Aenderung sind sie das, was ich in uns die Natur nenne.

Auf diese ursprünglichen Neigungen müßte man also alles zurückführen; und das würde sein, wenn unsere drei Erziehungsarten nur verschieden wären: was aber soll man tun, wenn sie widerstreitend sind, wenn man, anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, ihn für die anderen erziehen will? Dann ist die Uebereinstimmung unmöglich. Gezwungen, die Natur oder die sozialen Einrichtungen zu bekämpfen, hat man sich zu entschieden, ob man einen Menschen oder einen Bürger bilden will; denn beides kann man nicht zugleich tun.

Jede nur einen Teil umfassende Gesellschaft sondert sich, wenn sie strenge und fest geeint ist, von der großen ab. Jeder Patriot ist gegen die Fremden abstoßend: in seinen Augen sind sie nur Menschen, sind sie nichts.7 Dieser Uebelstand ist unvermeidlich, ist aber ohne Bedeutung. Die Hauptsache ist, den Leuten, mit welchen man zusammen lebt, eine freundliche Gesinnung zu beweisen. Dem Ausland gegenüber war der Spartaner ehrgeizig, habgierig, ungerecht; aber Uneigennützigkeit, Billigkeit, Eintracht herrschten innerhalb seiner Mauern. Nehmt euch vor diesen Kosmopoliten in acht, die in ihren Schriften aus weiter Ferne Pflichten herholen, deren Erfüllung sie in bezug auf ihre eigene Umgebung verächtlich zurückweisen. Ein solcher Philosoph liebt die Tataren, um dessen überhoben zu sein, seine Nachbarn zu lieben.

Der natürliche Mensch ist ein Ganzes für sich; er ist die numerische Einheit, das absolute Ganze, das nur zu sich selbst oder zu seinesgleichen in Beziehung steht. Der bürgerliche Mensch ist nur eine gebrochene Einheit, welche es mit ihrem Nenner hält, und deren Wert in ihrer Beziehung zu dem Ganzen liegt, welches den sozialen Körper bildet. Die guten sozialen Einrichtungen vermögen den Menschen am ehesten seiner Natur zu entkleiden, ihm seine absolute Existenz zu rauben, um ihm dafür eine relative zu geben, und das Ich in die allgemeine Einheit zu versetzen, so daß sich jeder einzelne nicht mehr für eine Einheit, sondern für einen Teil der Einheit hält und nur noch in dem Ganzen wahrnehmbar ist. Ein römischer Bürger war nicht Cajus, nicht Lucius, er war ein Römer; sogar das Vaterland liebte er mit Ausschluß seiner eigenen Persönlichkeit. Regulus gab sich für einen Karthager aus, als ob er das Eigentum seiner Besieger geworden wäre. In seiner Eigenschaft als Fremder weigerte er sich, seinen Sitz im römischen Senat einzunehmen; ein Karthager mußte es ihm erst befehlen. Er wurde unwillig darüber, daß man ihm das Leben retten wollte. Seine Ansicht drang durch, und jubelnd kehrte er zurück, um einen qualvollen Tod zu sterben. Das scheint mir freilich den Menschen, die wir kennen, nicht sehr ähnlich zu sehen.

Der Lazedämonier Phedaretes bewirbt sich um Aufnahme in den Rat der Dreihundert; er wird verworfen; voller Freude, daß es in Sparta dreihundert bessere Männer als ihn gibt, geht er wieder nach Hause.8 Ich nehme dieser Aeußerung für wahr an, und es ist alle Ursache vorhanden, sie dafür zu halten. Fürwahr, ein echter Bürger!

Eine Spartanerin hatte fünf Söhne beim Heer, und harrte auf Nachrichten über die Schlacht. Ein Helote langt an; zitternd fragt sie ihn danach. »Deine fünf Söhne sind gefallen« – »Verächtlicher Sklave, habe ich dich danach gefragt?« – »Wir haben den Sieg erfochten!« Die Mutter läuft zum Tempel und dankt den Göttern.9 Fürwahr, eine echte Bürgerin!

Wer in der bürgerlichen Ordnung den Naturgefühlen den Vorrang einräumen will, der weiß nicht, was er will. Stets im Widerspruch mit sich selbst, stets zwischen seinen Trieben und Pflichten hin und her schwankend, wird er nie ein echter Mensch noch ein echter Bürger sein. Er wird weder sich noch anderen Vorteil gereichen. Er wird einer dieser Dutzendmenschen unserer Tage, ein Franzose, ein Engländer, ein Spießbürger, er wird nichts sein.

Um etwas zu sein, um stets sich selbst treu und in sich eins zu sein, muß man handeln wie man spricht, muß man stets über die Partei, die man zu ergreifen, laut zu ergreifen hat, entschieden sein und beständig zu ihr halten. Ich erwarte, daß man mir ein solches Wunderkind zeige, um zu erfahren ob es ein Mensch oder ein Staatsbürger ist, oder wie dasselbe es anfängt, um beides zugleich zu sein.

Aus diesen einander notwendig entgegengesetzten Zielen ergeben sich zwei sich widersprechende Erziehungsweisen: eine öffentliche oder staatliche und gemeinsame, und eine besondere und häusliche.

Wollt ihr euch eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung machen, so lest die Republik Platos. Es ist kein politisches Werk, wie die sich einbilden, welche die Bücher nur nach Titeln beurteilen: es ist vielmehr die beste Abhandlung über Erziehung, die je geschrieben ist. Wenn man auf ein Utopieland aller möglichen Träumereien hinweisen will, so führt man regelmäßig Platos Erziehung an. Hätte aber Lykurg die seinige nur zu Papier gebracht, so würde sie mir noch wunderlicher vorkommen. Plato hat nur das Herz des Menschen geläutert. Lykurg hat ihn seiner Natur beraubt.

Die öffentliche Erziehung existiert nicht mehr und kann nicht mehr existieren, weil da, wo es kein Vaterland mehr gibt, es auch keine Bürger mehr geben kann. Diese beiden Wörter »Vaterland« und »Bürger« müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden. Den Grund kenne ich sehr wohl, will ihn aber nicht aussprechen, es ist für mein Thema von keiner Bedeutung.

Diese lächerlichen Anstalten, welche man Kollegien10 nennt, kann ich nicht als öffentliche Erziehungsanstalten anerkennen. Ebensowenig rechne ich die Erziehung der Welt zu der öffentlichen, weil diese Erziehung dadurch, daß sie nach zwei entgegengesetzten Zielen strebt, beide verfehlt. Sie ist nur imstande, Zwitterwesen zu bilden, die alles beständig auf andere zu beziehen scheinen und doch nur alles auf sich allein beziehen. Nun aber täuschen diese Gaukeleien, weil sie ein Gemeingut aller sind, niemanden. Es ist lauter verlorene Mühe.

Auf diesen Widersprüchen entsteht leider auch der, welchen wir unaufhörlich in uns selbst empfinden. Fortgerissen von der Natur und von den Menschen nach entgegengesetzten Richtungen, gezwungen uns zwischen diesen verschiedenen Antrieben zu teilen, schlagen wir einen Mittelweg ein, der weder zu dem einen noch zu dem anderen Ziel führt. Auf diese Weise während unseres ganzen Lebens in ununterbrochenem Kampf mit uns selbst und hin und her schwankend, beschließen wir es, ohne es zu einer inneren Harmonie gebracht und uns oder anderen zum Nutzen gereicht zu haben.

Es bleibt nur noch die häusliche Erziehung oder die der Natur übrig. Aber was soll ein Mensch, der einzig und allein für sich erzogen ist, den anderen werden? Wenn sich vielleicht das doppelte Ziel, welches man sich vorsetzt, in ein einziges zusammenziehen ließe, so würde man durch Beseitigung der Widersprüche im Menschen ein großes Hindernis zu seinem Glück aus dem Wege räumen. Man müßte, um darüber zu urteilen, ihn ganz ausgebildet sehen; man müßte seine Neigungen beobachtet, seine Fortschritte gesehen, seinen Lebensgang verfolgt haben; mit einem Wort: man müßte den natürlichen Menschen kennen. Ich glaube, daß man nach Lektüre dieser Schrift einen guten Anfang zu diesen Forschungen gemacht haben wird.

Was haben wir nun zu tun, um diesen ausgezeichneten Menschen zu bilden? Unzweifelhaft viel: nämlich zu verhüten, daß etwas geschieht. Wenn es sich nur darum handelt, gegen den Wind zu segeln, so laviert man; ist aber das Meer bewegt und man will auf der Stelle bleiben, so muß man den Anker auswerfen. Nimm dich wohl in acht, junger Pilot, daß dein Ankertau nicht nachlasse und dein Anker nicht schleppe und das Schifflein nicht forttreibt, ehe du dich dessen versiehst.

In der gesellschaftlichen Ordnung, wo alle Stellen genau bestimmt sind, muß jeder für die seinige erzogen werden. Wenn ein für seine Stelle gebildetes Individuum diese aufgibt, taugt es zu nichts mehr. Die Erziehung ist nur insoweit von Vorteil, als das Vermögen der Eltern mit dem Beruf in Uebereinstimmung steht, zu welchem sie ihr Kind bestimmen; in jedem andern Fall ist sie dem Zögling nur schädlich, und wäre es auch nur durch die vorgefaßten Meinungen, welche sie ihm eingeflößt hat. In Aegypten, wo der Sohn genötigt war, sich dem Stande seines Vaters zu widmen, hatte die Erziehung wenigstens ein sicheres Ziel; unter uns jedoch, wo nur die Rangstufen bleiben und die Menschen unaufhörlich wechseln, weiß niemand, ob er nicht, wenn er seinen Sohn für die seinige erzieht, ihm schadet.

In der natürlichen Ordnung, in der die Menschen alle gleich sind, ist ihr gemeinsamer Beruf, zuerst und vor allem Mensch zu sein, und wer für diesen gut erzogen ist kann diejenigen, welche mit demselben in Einklang stehen, nicht schlecht erfüllen. Ob man meinen Zögling für die militärische, kirchliche oder richterliche Laufbahn bestimmt, darauf kommt wenig an. Bevor die Eltern ihn für einen Beruf bestimmen, beruft die Natur ihn zum menschlichen Leben. Die Kunst zu leben soll er von mir lernen.11 Wenn er aus meinen Händen hervorgeht, wird er freilich, das gebe ich zu, weder Richter noch Soldat noch Priester sein, er wird zuerst Mensch sein. Alles, was ein Mensch sein muß, das alles wird er, wenn es darauf ankommt, ebensogut wie irgend jemand sein können, und das Schicksal wird ihn vergeblich seinen Platz wechseln lassen, er wird immer an dem seinigen sein.Occupavi te, fortuna, atque cepi; omnesque aditus tuos interclusi, ut ad me aspirare non posses.12

Unser wahres Studium ist das der menschlichen Natur. Wer unter uns die Freuden und Leiden dieses Lebens am besten zu ertragen versteht, der ist meines Erachtens am besten erzogen, woraus folgt, daß die wahre Erziehung weniger in Lehren als in Uebungen besteht. Wir beginnen unsere Bildung mit dem Beginn unseres Lebens. Unsere Erziehung beginnt zugleich mit uns; unser erster Lehrer ist unsere Amme. Auch hatte das Wort »Erziehung« bei den Alten einen anderen Sinn, als den wir damit verbinden. Es bedeutete die Aufziehung. Educit obstetrix, sagt Barronius; educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister.13 Daher sind die Aufziehung, die Erziehung, der Unterricht drei in ihrem Ziel ebenso verschiedene Dinge, wie die Wärterin, der Erzieher und der Lehrer. Aber diese Unterscheidungen gereichen zu keinem Vorteil und um gut erzogen zu werden, darf das Kind nur einem einzigen Führer folgen.

Wir müssen unsere Gesichtspunkte deshalb verallgemeinern und in unserem Zögling lediglich den Menschen an sich, den allen Wechselfällen des menschlichen Lebens ausgesetzten Menschen betrachten. Wenn die Menschen durch die Geburt an den Boden eines Landes gefesselt wären, wenn die nämliche Jahreszeit das ganze Jahr hindurch dauerte, wenn jeder im unveränderlichen Besitz seines Vermögens bliebe, so würde die eingeführte Methode in gewisser Hinsicht gut sein; das für seinen besonderen Stand erzogene Kind würde, da es denselben niemals aufgäbe, auch nie den Schwierigkeiten eines anderen ausgesetzt sein. Aber kann man wohl, in Anbetracht der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge, in Anbetracht des unruhigen und nivellierenden Geistes dieses Jahrhunderts, welcher in jeder Generation einen allgemeinen Umsturz herbeiführt, kann man wohl, frage ich, eine thörichtere Methode ersinnen als die, ein Kind so zu erziehen, als ob es einst nie aus der Tür zu kommen brauchte, als ob es unaufhörlich von den Seinigen umgeben sein würde? Wenn der Unglückliche sich nur einen Schritt über den Boden erhebt, wenn er eine einzige Stufe hinabsteigt, ist er verloren. Dadurch lehrt man ihn nicht den Schmerz ertragen, sondern übt ihn vielmehr denselben zu empfinden.

Man denkt nur an die Erhaltung seines Kindes; das ist nicht genug; man muß es auch lehren sich erhalten, wenn es ein Mann geworden ist; die Schicksalsschläge ertragen, sich über Ueberfluß und Mangel hinwegsetzen und wenn es nötig ist, auf Islands Eisfeldern oder auf dem brennenden Felsen Maltas leben. Vergebens wendet ihr Vorsichtsmaßregeln an, um es gegen den Tod zu schützen, es wird doch einmal sterben müssen; und wenn sein Tod auch nicht das Werk eurer Pflege und Verzärtelung sein sollte, so würden sie gleichwohl schlecht angewandt sein.14 Es kommt nicht sowohl darauf an, es gegen den Tod zu schützen, als vielmehr darauf, ihm die Kunst zu leben beizubringen. Leben heißt nicht atmen, sondern handeln, es heißt sich unserer Organe, unsere Sinne, unsere Fähigkeiten, kurz sich aller derjenigen Teile von uns zu bedienen, die uns die Empfindung unseres Daseins verleihen. Nicht der Mensch hat am meisten gelebt, welcher die höchsten Jahre zählt, sondern derjenige, welcher sein Leben am meisten empfunden hat. Mancher stieg erst im Alter von hundert Jahren in die Grube, der seit seiner Geburt wie tot war. Besser wäre es für ihn gewesen, er wäre in früher Jugend gestorben und hätte wenigstens bis zum Eintritt seines Todes gelebt.

Unsre ganze Weisheit besteht darin, daß wir uns von sklavischen Vorurteilen leiten lassen; alle unsere Gewohnheiten legen uns nur Zwang, Beschränkung und Fesseln auf. Jeder Bürgerliche wird in der Knechtschaft geboren, lebt und stirbt darin: bei seiner Geburt schnürt man ihn in einen Wickel; bei seinem Tode sperrt man ihn in einen Sarg; solange er die menschliche Gestalt bewahrt, ist und bleibt er durch unsere Einrichtungen gefesselt.

Man erzählt sich, daß sich manche Hebammen nicht scheuen, dem Kopfe der neugeborenen Kinder durch Zusammenpressen eine angemessenere Form zu geben: und man duldet es! Unsere Köpfe sollten so, wie sie aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, nichts taugen! Man müßte sie äußerlich erst durch die Hebammen und innerlich durch die Philosophen modeln! Die Karaiben sind um die Hälfte glücklicher als wir.

»Kaum hat das Kind den Schoß der Mutter verlassen und kaum genießt es die Freiheit, seine Glieder zu bewegen und zu dehnen, so fesselt man es von neuem. Man wickelt es in Windeln, man legt es mit unbeweglichem Kopf und ausgestreckten Beinen hin, während die Aermchen an den Körper gedrückt sind; es wird in Linnen eingehüllt und in Wickelbetten eingeschnürt, so daß es seine Lage nicht verändern kann. Noch glücklich, wenn man es nicht bis zu dem Grade zusammengeschnürt hat, daß es dadurch am Atemholen behindert ist, und wenn man die Vorsicht beobachtet hat, es auf die Seite zu legen, damit das aus dem Munde fließende Wasser von selbst hinabfließen kann, denn es würde nicht die freie Bewegung haben, den Kopf auf die Seite zu wenden, um das Ausfließen zu erleichtern.«15

Das neugeborene Kind hat das Bedürfnis, seine Glieder auszustrecken und zu bewegen, um sie aus der Erstarrung zu reißen, in der sie sich, in einem Knäuel zusammengezogen, so lange befunden haben. Man streckt sie aus, das ist wahr, aber man verhindert sie, sich zu bewegen; sogar den Kopf steckt man in Kinderhäubchen: man scheint zu befürchten, daß es Lebenszeichen verraten könne.

Auf diese Weise findet der Trieb der inneren Teile eines Körpers, welcher im Wachstum begriffen ist, an den Bewegungen, welche er von ihm verlangt, ein unübersteigliches Hindernis. Das Kind macht fortwährend vergebliche Anstrengungen, welche seine Kräfte erschöpfen oder ihre Zunahme aufhalten. Im Mutterschoße war es weniger beengt, eingeschränkt, zusammengepreßt, als in seinen Windeln. Ich sehe den Vorteil nicht ein, den es durch seine Geburt gewonnen hat.

Die Untätigkeit und der Zwang, worin man die Glieder eines Kindes erhält, haben den einzigen Erfolg, daß sie den Kreislauf des Blutes und der Säfte stören, die Kräftigung und das Wachstum des Kindes hemmen und seine Gesundheit untergraben. In den Gegenden, wo dergleichen überspannte Vorsichtsmaßregeln nicht zur Anwendung kommen, sind die Menschen sämtlich groß, stark und wohlgebildet.16 Die Länder, in denen man die Kinder einzuwickeln pflegt, wimmeln förmlich von Buckligen, Hinkenden, Krummbeinigen, Skrofulösen, Verkrüppelten – kurzum von Mißgestalten jeglicher Art. Aus Furcht, die Körper durch freie Bewegung Verkrüppelungen auszusetzen, beeilt man sich, dieselben Verkrüppelungen durch Einschnürung und Zusammenpressung hervorzurufen. Lieber möchte man die Kinder gleich lähmen, um sie nur ja abzuhalten, selbst die Schuld an ihre Verkrüppelung zu tragen.

Läßt sich nicht annehmen, daß ein so grausamer Zwang einen bedeutenden Einfluß auf ihr Gemüt, wie auf ihr Temperament ausüben muß? Ihre Empfindung ist eine schmerzliche und peinliche; selbst an den nötigsten Bewegungen finden sie sich behindert; unglücklicher als ein in Fesseln liegender Verbrecher, machen sie vergebliche Anstrengungen, werden allmählich böse und schreien. Mit Tränen, sagt ihr, erblicken sie das Licht der Welt. Ich glaube es wohl; von ihrer Geburt an tretet ihr der natürlichen Entwicklung derselben entgegen; Fesseln sind die ersten Gaben, die ihr in ihre Wiege legt; nur Qualen bereitet ihr ihnen mit der Sorge, die ihr für sie tragt. Sollten sie, da ihnen der freie Gebrauch ihrer Stimme übriggeblieben ist, sich derselben nicht bedienen, um ihre Klagen auszudrücken? Ihr klägliches Geschrei verkündet euch das Leid, das ihr ihnen zufügt. Wäret ihr in ähnlicher Weise geknebelt, dann würdet ihr fürwahr ein noch weit lauteres Geschrei erschallen lassen.

Woher stammt diese unvernünftige Sitte? Von einer unnatürlichen Mode. Seitdem die Mütter, ihrer ersten Pflicht uneingedenk, ihre Kinder nicht mehr selbst stillen wollten, mußte man sie bezahlten Frauenmietlingen überlassen, in denen selbstverständlich die Stimme der Natur den fremden Kindern gegenüber, zu deren Müttern man sie auf solche Weise bestellt, schwieg, und die daher nur darauf ausgingen, sich so viel Mühe wie möglich zu ersparen. Ein seiner Freiheit überlassenes Kind würde unaufhörliche Ueberwachung erheischen, ist es jedoch wohl eingebunden, so legt man es in einen Winkel, ohne sich um sein Geschrei zu kümmern. Sind nur keine offenbaren Beweise für die Nachlässigkeit der Amme vorhanden, bricht sich nur der Säugling nicht Arme und Beine, was kommt dann im übrigen darauf an, ob er umkommt oder sich siech und elend durchs Leben schleppt? Zum Unheil seines ganzen Körpers schützt man seine Gliedmaßen, und was auch immer geschehen mag, die Amme steht völlig schuldlos da.

Wissen jedoch diese liebenswürdigen Mütter, welche sich, der Last der Kinderaufziehung überhoben, fröhlich den Vergnügungen des Stadtlebens hingeben, wissen sie wohl, welcher Behandlung das Kind in seinem Steckkissen auf dem Lande ausgesetzt ist? Bei der geringsten Abhaltung hängt die Amme es wie einen Bündel Flicken an einen Nagel, und solange dieselbe, ohne sich zu überstürzen, ihr Geschäft besorgt, so lange muß das unglückliche Wesen in dieser qualvollen Lage ausharren. Alle, die man in diesem Zustand fand, hatten ein dunkelrotes Gesicht; da die stark zusammengepreßte Brust die nötige Zirkulation des Blutes nicht zuließ, stieg es nach dem Kopf. Wenn man das arme gemißhandelte Kind für sehr ruhig hielt, so lang das allein daran, daß es nicht mehr Kraft hatte zu schreien. Mir ist unbekannt, wieviel Stunden ein Kind, ohne zu sterben, in diesem Zustand zu bleiben vermag, aber ich bezweifle, daß es lange geschehen kann. Darin liegt, sollte ich meinen, einer der größten Vorteile des Einschnürens.

Man behauptet, die ihrer Freiheit überlassenen Kinder könnten ihnen schädliche Lagen einnehmen und unwillkürlich Bewegungen machen, die die Kraft und schöne Form ihrer Glieder zu gefährden imstande wären. Das sind nichts wie hohle Redensarten unserer heutigen Afterweisheit, welche noch nie in der Erfahrung ihre Bestätigung gefunden haben. Unter jener Menge von Kindern, welche bei Völkern, die sich rühmen können, verständiger als wir zu handeln, in dem freien Gebrauch ihrer Glieder aufgezogen werden, sieht man kein einziges, welches sich Schaden täte oder durch eigene Schuld verkrüppelte; bei ihrer zarten Jugend fehlt es ihren Bewegungen noch an jener Kraft, die sie allein gefährlich machen könnte, und nehmen sie auch auf kurze Zeit eine unnatürliche Lage ein, so zwingt sie der Schmerz, dieselbe bald wieder zu ändern.

Wir sind noch nie auf den Einfall geraten, die jungen Hunde oder Katzen in ein Steckkissen einzuschnüren: zeigt sich aber wohl, daß diese Vernachlässigung irgendeinen Nachteil für sie herbeiführt? Die Kinder sind schwerfälliger, das stelle ich nicht in Abrede; dafür sind sie aber auch verhältnismäßig schwächer. Sie vermögen sich ja kaum zu rühren, wie sollten sie sich also Schaden zufügen können? Legte man sie auf den Rücken, so würden sie, außerstande sich umzuwenden, in dieser Lage wie die Schildkröte sterben müssen.

Aber noch nicht zufrieden damit, daß sie ihre Kinder nicht mehr stillen, gehen die Frauen in ihren Wünschen sogar so weit, gar keine Kinder mehr zu bekommen: die Folge davon ist nur zu natürlich. Sind der Mutter ihre Pflichten erst lästig, dann findet man auch bald Mittel sie gänzlich abzuschütteln. Man wünscht seine eheliche Pflicht so zu erfüllen, daß man keine Frucht zu befürchten braucht, um sich beständig dem Genuß hingeben zu können, und mißbraucht den zur Vermehrung des Geschlechts eingepflanzten Trieb. Diese Unsitte, an welche sich noch andre Ursachen der Entvölkerung reihen, deutet uns das Schicksal an, welches Europa bevorsteht. Die Wissenschaften, die Künste, die Philosophie und die Sitten, welche es hervorruft und erzeugt, werden es früher oder später in eine Wüste verwandeln. Es wird von wilden Tieren bewohnt werden: und damit wird sich kein großer Unterschied hinsichtlich seiner Bevölkerung bemerkbar machen.

Zu wiederholten Malen habe ich Gelegenheit gehabt, die kleinen Kunstgriffe junger Frauen zu beobachten, welche sich stellen, als ob sie ihre Kinder selbst stillen wollen. Sie verstehen es so vortrefflich einzurichten, daß sie nur dem Zwang nachzugeben scheinen, wenn sie von ihrem Vorhaben abstehen; unendlich fein wissen sie es so zu drehen, daß die Gatten, die Aerzte, besonders aber die Mütter, Einspruch dagegen erheben müssen. Wehe dem Mann, der es wagen sollte zu gestatten, daß seine Frau ihr Kind selbst stillte; er wäre ein verlorener Mann! Man würde ihn überall einen Mörder verschreien, der sie aus dem Weg räumen wolle. Kluge Gatten, ihr müßt die Vaterliebe dem Frieden zum Opfer bringen. Ein glücklicher Umstand ist es, daß man auf dem Lande doch Frauen findet, die enthaltsamer als die eurigen sind. Und noch glücklicherer Umstand wird es für euch sein, wenn eure Frauen die Zeit, welche sie dadurch gewinnen, nicht mit anderen vertändeln.

Die Pflicht der Frauen ihren Kindern gegenüber ist keinem Zweifel unterworfen; weil sie sich derselben jedoch entziehen, so läßt sich die Frage aufwerfen, ob es für die Kinder einerlei sei, von der mütterlichen Milch oder der einer anderen Frau genährt zu werden. Da die Entscheidung über diese Frage einzig und allein den Aerzten17 zukommt, halte ich sie für endgültig und offenbar zugunsten der Frauen entschieden. Auch meiner Ueberzeugung nach ist es unbestritten besser, daß das Kind die Milch einer gesunden Amme, als die einer verdorbenen Mutter trinkt, sobald sich nur irgendwie die Entstehung eines neuen Uebels aus dem Blut, dem es sein Dasein zu verdanken hat, befürchten ließe.

Soll denn aber diese Frage nur von der physischen Seite aus betrachtet werden? Und bedarf denn das Kind weniger der treuen Pflege einer Mutter als ihrer Brust? Andere Frauen, Tiere sogar, werden ihm die Milch, welche sie ihm entzieht, geben können, für die mütterliche Sorgfalt findet sich jedoch kein Ersatz. Wer ein fremdes Kind statt seines eigenen nährt, kann nur eine schlechte Mutter sein; wie sollte eine solche nun eine gute Amme sein? Sie wird es werden können, aber freilich nur langsam; die Gewohnheit wird allmählich die Natur verändern müssen, und das schlecht gepflegte Kind wird hundertmal umkommen können, ehe seine Amme die Zärtlichkeit einer Mutter für dasselbe empfindet.

Aber sogar wenn diese günstige Wendung endlich eintritt, dient sie nur zur Quelle eines neuen Uebelstandes, der allein schon jeder fühlenden Frau den Mut rauben sollte, ihr Kind von einer anderen säugen zu lassen, der nämlich, daß sie das heilige Mutterrecht teilen oder vielmehr ganz auf dasselbe verzichten muß, mit ansehen muß, wie ihr Kind eine fremde Frau ebensosehr oder gar noch mehr liebt als sie, empfinden muß, daß die Zärtlichkeit, welche es seiner eigenen Mutter bewahrt hat, nur eine Art Gnade ist, während die, welche es seiner Pflegemutter erzeigt, mehr den Charakter einer schuldigen Dankbarkeit an sich trägt: denn schulde ich, wo ich mütterliche Sorgfalt erfahren habe, nicht kindliche Anhänglichkeit?

In eigentümlicher Weise sucht man diesem Uebelstand abzuhelfen: man flößt nämlich den Kindern Geringschätzung gegen ihre Ammen ein, indem man dieselben auf die Stufe gewöhnlicher Mägde herabdrückt. Wenn die Dienste der Amme nicht mehr erforderlich sind, so entzieht man das Kind ihrer Pflege oder verabschiedet sie. Man nimmt sie schlecht auf, um sie von einem öfteren Besuch ihres Säuglings zurückzuschrecken. Nach Verlauf weniger Jahre sieht er sie nicht mehr, kennt er sie nicht mehr. Die Mutter, welche glaubt, den Platz derselben im Herzen des Kindes einnehmen zu können, und sich einbildet, ihre frühere Vernachlässigung durch ihre Grausamkeit wieder gutzumachen, gibt sich einer Täuschung hin. Anstatt einen verdorbenen Säugling in ein zärtliches Kind zu verwandeln, übt sie ihn vielmehr in der Undankbarkeit; sie hat ihm ein Beispiel gegeben, woraus er lernen wird, dereinst diejenige, welche ihm das Leben gab, mit derselben Geringschätzung zu behandeln, wie diejenige, die ihn mit ihrer Milch genährt hat.

Gern würde ich bei diesem Punkt noch länger verweilen, wenn es nur nicht so entmutigend wäre, nützliche Gedanken immer und immer vergeblich zu wiederholen. Weit mehr als man denkt, steht damit im engsten Zusammenhang. Wollt ihr, daß jedermann wieder seiner ersten und heiligsten Pflicht eingedenk sei, nun dann beginnt bei den Müttern; ihr werdet über die Veränderungen erstaunen, welche ihr damit bewirkt. Aus dieser ersten Verderbnis ist nach und nach alles übrige Unheil hervorgegangen: alle sittliche Ordnung leidet darunter; die Natürlichkeit erlischt in aller Herzen, das Innere der Häuser verliert an Leben, das ergreifende Schauspiel einer heranwachsenden Familie vermag keine Anziehung mehr auf die Männer auszuüben, flößt den Fremden keine Achtung ein; man erweist der Mutter, deren Kinder man nicht sieht, weniger Rücksicht. Das innige Familienleben lockert sich; die Gewohnheit verstärkt die Bande des Blutes nicht mehr; es gibt keine Väter, keine Mütter, keine Kinder, keine Brüder, keine Schwestern mehr; kaum kennen sich alle untereinander, wie sollten sie sich also lieben? Jeder denkt nur an sich. Wenn das Haus nur eine traurige Einöde ist, dann muß man seinen Vergnügungen wohl außerhalb desselben nachgehen.

Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstehen, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst bessern, werden die natürlichen Gefühle in aller Herzen wieder erwachen; der Staat wird sich wieder bevölkern; schon diese erste Folge, diese Folge allein, wird alles wieder vereinigen. Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten. Der fröhliche Lärm der Kinder, den man für störend und lästig hält, wird mit der Zeit angenehm; er macht Vater und Mutter einander unentbehrlicher, einander lieber; er knüpft das eheliche Band, das sie vereinigt, enger und fester. Wenn ein Geist gegenseitiger inniger und lebhafter Zuneigung die Familienglieder aneinander kettet, dann bilden die häuslichen Sorgen die liebste Beschäftigung der Frau und den angenehmsten Zeitvertreib des Mannes. Auf diese Weise würde schon die Beseitigung dieses einzigen Fehlers bald eine allgemeine Besserung herbeiführen, würde die Natur bald wieder in alle ihre Rechte eintreten. Mögen die Frauen nur erst wieder Mütter werden, dann werden die Männer auch bald wieder Väter und Gatten sein.

Aber leider sind das verlorene und überflüssige Worte! Nicht einmal der Ueberdruß an den weltlichen Vergnügungen führt zu den geschilderten Freuden zurück. Die Frauen haben aufgehört Mütter zu sein und werden es nie wieder werden, weil sie es nicht mehr sein wollen. Schon wenn sie es wollten, würden sie es kaum imstande sein. Da heutzutage einmal die gerade entgegengesetzte Sitte die Oberhand gewonnen hat, würde jede, die den Versuch wagte, den Widerspruch aller derer zu bekämpfen haben, mit denen sie in Berührung kommt, sind sie doch alle gegen ein Beispiel verbündet, das die einen nicht gegeben haben und die anderen nicht befolgen wollen.

Gleichwohl finden sich bisweilen noch junge Frauen von unverdorbener Natur, die in diesem Punkt der Herrschaft der Mode und dem Geschrei ihres Geschlechts zu trotzen wagen und mit tugendhafter Unerschrockenheit diese so süße Pflicht erfüllen, die ihnen die Natur auferlegt. Wären doch die verlockenden Güter, die denen zuteil werden, welche sich dieser Pflicht hingeben, imstande ihre Zahl zu vermehren! Unter Hinweis auf Schlußfolgerungen, die sich schon aus dem geringsten Nachdenken ergeben, und auf Beobachtungen, deren Richtigkeit mir bisher niemand hat in Abrede stellen können, wage ich es, diesen ihren Mutterberuf so treu erfüllenden Frauen eine aufrichtige und beharrliche Zuneigung ihrer Männer, eine wahrhaft kindliche Zärtlichkeit ihrer Söhne und Töchter, die allgemeine Hochachtung und Wertschätzung, glückliche Entbindungen ohne Unfälle und Folgen, eine feste und kräftige Gesundheit und endlich das Glück zu verheißen, sich dereinst von ihren eigenen Töchtern nachgeahmt und als Vorbild für die anderer Eltern hingestellt zu sehen.

Keine Mutter, kein Kind! Zwischen ihnen sind die Pflichten gegenseitig, und werden sie von der einen Seite schlecht erfüllt, so werden sie auch von der anderen vernachlässigt. Das Kind muß seine Mutter lieben, noch ehe es weiß, daß ihm dies die Pflicht gebietet. Wird die Stimme des Blutes nicht durch Gewährung und treue Abwartung gestärkt und gesteigert, so erlischt sie schon in den frühesten Jahren, und das Herz stirbt sozusagen, noch ehe es geboren wird. Schon von den ersten Schritten an sagen wir uns von der Natur los.