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Der 19. September des Jahres 1869 musste ein Sonntag gewesen sein, denn sonst wäre Emmy Lou Morisseau ja nicht zur Mittagszeit durch das auf den Little Red Hills gelegene Waldstück gelaufen. Die junge Dame - aufgrund ihrer kuriosen Kopfbedeckung wurde sie in Darlington auch »Rotkäppchen« genannt - war auf dem Weg zu einer Beerdigung. Zu einer besonderen Beerdigung! Man hatte erstmals ihre Freundin - die 17-jährige Rebecca Johansson - damit beauftragt, vor der versammelten Gemeinde die Grabrede zu halten. Dass dies eine wirklich saublöde Idee gewesen war, hatte ja niemand ahnen können…
Die amüsante Kurzgeschichte gewährt einen Einblick in die große Romanreihe »Emmy Lou« des Autors Tobias Sessler. Schmunzeln garantiert.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Dass es ein besonderer Tag war, konnte man schon daran sehen, dass Emmy Lou Morisseau, die gerade durch das kleine Waldstück auf den Little Red Hills lief, ohne ihr Pferd unterwegs war. Das typische »Bong. Bong. Klack.« das für gewöhnlich von den am Sattel angehängten Milchkannen verursacht wurde, fehlte insofern natürlich auch. Es war Sonntag. Der 19. September des Jahres 1869 musste unbedingt ein Sonntag sein, denn das 17-jährige Mädchen hatte seine schweren Army-Stiefel, über denen die Ränder von weißen Kniestrümpfen hervorblitzten, ordentlich geputzt und sogar mit O’Lacy’s patentierter Schuhcreme poliert. Emmy Lou Morisseau trug natürlich auch ihre etwas sonderbar anmutende rote Kappe. Die durchaus kuriose Kopfbedeckung war aus gebürstetem Samt gemacht und suchte westlich des Mississippi ihresgleichen. Josephine hatte ihr dieses ganz besondere Stück vor vielen Jahren geschenkt und weil sie ihre gelockten Haare zu jeder Tageszeit darunter versteckte, hatte ihr das unten in Darlington den wenig vorteilhaften Spitznamen »Rotkäppchen« eingebracht. Bemerkenswert waren natürlich auch die beiden Holzbretter, die man ihr auf die Brust und den Rücken gebunden hatte. Der skurrile Anblick war im Wesentlichen darin begründet, dass sich die junge Dame vor geraumer Zeit gleich mehrere Rippen gebrochen hatte. Der Oberkörper musste in Ruhe gehalten werden und da das Mädchen partout nicht im Bett bleiben wollte, hatte man auf die praktische und gleichermaßen bewährte Methode mit den Brettern zurückgegriffen. Das Ganze war mit einem pechschwarzen Halstuch, das wie ein breites Cape über den Schultern hing, adrett kombiniert. Und das war ja das entscheidende Detail! Emmy Lou Morisseau hatte sich das Tuch mangels eines schwarzen Kleids umgebunden und das wies ja ganz eindeutig darauf hin, dass sie auf dem Weg zu einer Beerdigung war. Dass es die schrecklichste Beerdigung, die jemals in diesem Landstrich stattgefunden hatte, werden sollte, konnte das Rotkäppchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Noch vor wenigen Monaten hätte die junge Dame ganz bequem über eine Wiese zum Abhang am Rand der Little Red Hills laufen können. Aber dann hatten die Viehhirten der Carson-Ranch – das Mädchen bezeichnete sie im allgemeinen als »Trottel« – das offene Areal ganz modern mit messerscharfem Stacheldraht umzäunt. Aus der Weide war eine Koppel geworden und wenn man von der Morisseau-Farm hinunter nach Darlington wollte, musste man nun durch den Wald laufen. Dank der dornenbewehrten, links und rechts von dem schmalen Pfad stehenden Brombeerbüsche war das eine durchaus schmerzhafte Angelegenheit. Emmy Lou Morisseau kniff zornig die haselnussbraunen Augen zusammen, während sie zwischen den Bäumen hindurch zu dem immer wieder in der Sonne aufblitzenden Stacheldraht und den dahinter grasenden Rindviechern hinüberblickte. Dann drehte sie den Kopf nach hinten und musste doch wieder lächeln.
»Komm schon, Sancho! Hopp!«, rief sie dem Esel, der sich ein paar Schritte weiter hinten schnaubend durch die Brombeeren kämpfte, zu. Der Vierbeiner, der auf den mexikanischen Namen »Sancho« hörte, hatte offensichtlich nicht allein auf der Farm zurückbleiben wollen. Er folgte dem Rotkäppchen ohnehin auf Schritt und Tritt und das war auch gut so, denn unter der alten Baumwolldecke, die auf seinem Rücken lag, war das Gewehr des Mädchens versteckt. Ein Springfield-Trapdoor-Gewehr mit verkürztem Lauf. Die handliche Cadet-Rifle-Version der U.S. Army. Hier oben auf den Little Red Hills konnte man ja nie so genau wissen, wem man begegnete. Wie auch immer. Vermutlich würde der brave Esel vor der Friedhofsmauer bei den Pferden warten, bis die Beerdigung vorbei war. Und es sollte ja eine besondere Beerdigung werden.
Emmy Lou Morisseau musste breit grinsen, als sie darüber nachdachte. Ihre Nachbarin und beste Freundin Rebecca Johansson sollte erstmals die Grabrede halten. Normalerweise machte das Miss Gellert, die in Darlington die Sonntagsschule abhielt, aber sie konnte aufgrund einer Erkrankung schon seit Tagen nicht mehr sprechen. Die ehemalige Krankenschwester Linda Hoffstetter – einen studierten Arzt gab es in Darlington nicht – hatte eine Entzündung der Mandeln diagnostiziert und daraufhin war Rebecca Johansson mit der Vorbereitung der Rede beauftragt worden. Dass dies eine wirklich saublöde Idee gewesen war, hatte ja niemand ahnen können.
Nachdem sich Emmy Lou Morisseau eine Viertelstunde lang leise fluchend durch die Brombeerbüsche gewühlt hatte, erreichte sie das Ende der Koppel. Der Blick in das weiter unten liegende Tal des Rio del Gato wurde frei und man konnte erkennen, warum der Fluss, der sich gemächlich seinen Weg durch den Norden von Texas bahnte, gerade so bezeichnet wurde: Genau dort, wo die wenigen Häuser von Darlington standen, beschrieb er einen Bogen in der Form des namensgebenden Katzenbuckels. Mehr als eine breite Hauptstraße und einige Seitengassen gab es unweit des westlichen Ufers nicht zu sehen. Der große Wasserturm, der die Ansicht einst sehr schön vervollständigt hatte, war ja – die Leser des ersten Bandes der Romanreihe »Emmy Lou« werden sich bestens erinnern – unter mysteriösen Umständen irgendwie umgefallen. Ja, irgendwie war er das…
Emmy Lou Morisseau biss sich auf die Unterlippe, während sie über die Prärie hinweg zu dem ein paar Meilen entfernten, viel größeren Ort Gainesville blickte. Ihre Augen waren gut genug, um die Silhouette des Kirchturms erkennen zu können. Und dann sah sie wieder etwas im Licht der hoch über dem Horizont stehenden Sonne aufblitzen. Dieses Mal war es nicht der Stacheldraht, den man überall auf der Carson-Ranch angenagelt hatte – es war das, was Ella McCormick in der linken Hand hielt. Die junge Frau, die in ihrem Dienstmädchenkleid und den penibel gebundenen Schnürstiefeln unterhalb des Steilhangs durch das Gras rannte, schien sehr aufgeregt zu sein.
Emmy Lou Morisseau bewegte sich auf allen Vieren nach unten, denn der obere Bereich des Pfads, der den Hang hinabführte, war nahezu vollständig weggebrochen. Das lag in beträchtlichem Maße daran, dass sie ihr mit Milchkannen beladenes Pferd »Toulouse« tagein und tagaus hier vorbeiführen musste. Die Little Red Hills hinunter und die Little Red Hills hinauf. Mithin musste man sich nun an den von den Hufeisen freigelegten Wurzeln festhalten und das eine oder andere Gebet aussprechen, damit man nicht kopfüber in die Tiefe stürzte. Nachdem der Esel Sancho mit weit ausgestreckten Vorderläufen laut blökend vorbeigerutscht war, schielte das Mädchen nach unten.
Ella McCormick stand jetzt unmittelbar am Fuß des steilen Abhangs und winkte mit der freien Hand. Ihre scharfgeschnittenen Gesichtszüge und die rötlich schimmernde Haut wiesen deutlich darauf hin, dass sie keine Nachfahrin europäischer Einwanderer war. Sie war in den nördlichen Ausläufern der Rocky Mountains beim Stamm der Arapaho aufgewachsen und hatte dort den Namen »Tikamthi« getragen. Nach dem weithin bekannten Überfall auf das Fort Barnell war sie weit nach Süden verschleppt worden und schließlich von einer Offiziersfamilie adoptiert worden. Zwangsadoptiert worden. Ella McCormick – so wurde sie seitdem genannt – redete nicht viel mit den Weißen, aber sie hatte sich dann doch mit dem Rotkäppchen angefreundet.
»Was ist denn los?«, fragte Emmy Lou Morisseau, nachdem sie unten angekommen war und den Staub von ihrer samtenen Kappe geschüttelt hatte.
Ella McCormick, die ihre braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, öffnete mehrmals den Mund, ohne dass etwas zwischen den Lippen hervorkam. Das war nicht ungewöhnlich. Obwohl sie in ihrer Stammessprache wie ein Wasserfall reden konnte und sie im letzten Jahr viele Vokabeln gelernt hatte, musste sie sich die Worte im Englischen erst sorgfältig zurechtlegen.
»Es ist wegen Miss Johansson. Wegen Rebecca. Sie soll doch heute die Rede halten und… Und… Weil sie so nervös war, da hat sie…«, stammelte sie schließlich.
»Da hat sie was?«
»Da hat sie… Also, da hat sie etwas getrunken.«
»Okay, und was hat sie getrunken?«
Ella McCormick verzog das Gesicht und kaute einige Sekunden lang an ihren Fingernägeln, bevor sie antwortete: »Ein Glas Whisky.«
Jetzt entgleisten auch Emmy Lou Morisseau die Gesichtszüge. Hatte sie gerade richtig gehört? Ein Glas Whisky? Jeder in Darlington wusste doch, dass Rebecca Johansson, bei der es sich zweifellos um das netteste und freundlichste Mädchen westlich des Mississippi handelte, schon einmal Alkohol getrunken hatte. Das war an ihrem 16. Geburtstag gewesen und das Glas, in dem man ihr den Apfellikör gereicht hatte, war in etwa so groß wie ein Fingerhut gewesen. Ja, und dann hatte sie das gesamte Geschirr auf der Farm kurz und klein geschlagen. Da das Mädchen, das mit seiner Familie aus dem schwedischen Värmland ausgewandert war, vollends außer sich gewesen war, hatte man es die Nacht über mit einer gewöhnlichen Schnur am Bettpfosten festbinden müssen.
Emmy Lou Morisseau schielte in die Blechdose, die Ella McCormick in der linken Hand hielt. Da sie über keinen Deckel verfügte, ließ sich das gut machen. Aber es war ein überflüssiger Blick – sie hatte das betörende Aroma des braunen Pulvers schon gerochen, als sie den steilen Hang heruntergekommen war. Die Schlussfolgerung, die sie hieraus ziehen konnte, war denkbar einfach: Ella McCormick hatte die gemeinsame Freundin Rebecca Johansson betrunken in irgendeiner Ecke aufgefunden und dann hatte sie einen Kaffee aufgebrüht, um mit diesem Getränk den Folgen des Alkoholgenusses entgegenzuwirken.
»Und wo ist sie jetzt?«, wollte Emmy Lou Morisseau wissen, nachdem sie kurz nachgedacht hatte.
Ella McCormicks Antwort machte die Sache nicht besser: »Sie sitzt im Saloon.«
Das Rotkäppchen blies die Backen auf und presste etwas Luft zwischen den Lippen hindurch. »Sie darf auf gar keinen Fall zum Friedhof gehen! Wir müssen sie aufhalten! Das gibt sonst eine Katastrophe«, meinte es schließlich und eilte bereits in Richtung der ersten Häuser.
Emmy Lou Morisseau machte große Schritte. Mit Army-Stiefeln, die um einiges zu groß waren, und zwei aufgebundenen Brettern war nicht gut rennen. Nichtsdestotrotz war die Fortbewegungsmethode so effektiv, dass Ella McCormick mit ihren kleinen Trippelschritten kaum hinterherkam. Die beiden in der Vormittagssonne schwitzenden Mädchen – es würde wieder einmal ein sehr heißer Tag im Norden von Texas werden – passierten schon nach kurzer Zeit den Krämerladen, der Ann und Tom Bowers gehörte, eilten noch ein Stück die menschenleere Straße hinunter und standen dann vor dem zur rechten Hand gelegenen Saloon.
Emmy Lou Morisseau drückte die zweiflügelige Pendeltür nach innen und lauschte dem verräterischen Quietschen. Der Schankkellner Bill Smithers, der meistens hinter der Theke stand und die Gläser polierte, hatte sie schon mehrfach durch genau diese Tür wieder hinausgeworfen, denn mit einem Alter von nur 17 Jahren war ihr das Betreten dieses Etablissements natürlich nicht gestattet. Aber die Sorge war unbegründet. Nachdem sich ihre Augen an das fahle Licht gewöhnt hatten, konnte sie feststellen, dass überhaupt niemand anwesend war. Der große Raum, der mangels anderer Gebäude ab und an auch für Gemeindeversammlungen, Gottesdienste und die Sonntagsschule genutzt wurde, war vollkommen leer. Weder Bill Smithers noch Rebecca Johansson waren hier.
Ella McCormick zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen der Tische, die man zum Abend hin an die Wand schob, um mehr Platz für die tanzenden Gäste zu schaffen. Ein Whiskyglas und eine Porzellantasse standen auf der gut geölten Holzplatte.
»Oh mein Gott«, murmelte das Rotkäppchen, nachdem es das leere Glas betrachtet hatte. Dann nahm es die bis zum Rand gefüllte Tasse in die Hand und schüttete sich den kalten Kaffee die Kehle hinunter. Ein solches Getränk gab es auf der Morisseau-Farm nur selten und man konnte es ja nicht sich selbst überlassen. Ja, Rebecca Johansson war vor kurzem noch hier gewesen und man hatte ja ganz eindeutig sehen können, welches Getränk ihr Favorit gewesen war. Die beiden Mädchen sahen sich an.
»Verdammt, sie ist schon auf dem Friedhof. Offensichtlich sind ja alle auf dem Friedhof«, sagte Emmy Lou Morisseau und Ella McCormick quittierte das mit einem ratlosen Schulterzucken.
Schon eine Sekunde später stolperten die jungen Damen wieder durch die Pendeltür nach draußen. Vorbei an Mary Rosewoods Schneiderwerkstatt eilten sie die breite Hauptstraße weiter nach Süden, wo sie nach kurzer Zeit bereits das Ende von Darlington erreichten. Ein von Wacholderbüschen flankierter Feldweg führte von hier aus weiter bis nach Gainesville. So weit mussten die beiden aber nicht laufen – noch bevor sie die Furt im Rio del Gato erreicht hatten, kam hinter einer Kurve der Gottesacker in Sicht. Und dort war einiges los! Unzählige Pferde waren an dem verrosteten Zaun angebunden und hinter der Umgrenzung standen 50 oder vielleicht sogar 60 schwarzgekleidete Menschen herum. Es wurde lauthals diskutiert oder der von weiter hinten hervordringenden Blasmusik gelauscht und schon allein deren Lautstärke erinnerte an den Trubel, den man sonst nur auf dem Jahrmarkt bestaunen konnte.
Im Schnitt gab es in Darlington jede Woche mindestens eine Beerdigung, denn entweder wurde jemand hinterrücks von seinem Pferd geschossen oder – und das kam weitaus häufiger vor – es fiel jemand in einen Brunnen und ertrank darin. Noch vor einem halben Jahr war niemand zu einer derartigen Beerdigung gegangen. Warum auch? Der Totengräber Graham Riddle hatte die Särge einfach schwungvoll in die zuvor ausgehobenen Gräber geworfen und damit war es gut gewesen. Aber das hatte Edwina Gellert, die neben der Sonntagsschule auch die Gottesdienste abhielt, doch so sehr geärgert, dass sie sich einen durchaus schlauen Plan ausgedacht hatte. Da sie mangels eines Bürgermeisters auch die Gemeindekasse verwaltete, übergab sie regelmäßig einen Vierteldollar an Ann Bowers, damit diese mit dem hiervon erworbenen Mehl mehrere Kuchen backen konnte. Die Kuchenstücke wurden zum unschlagbaren Preis von nur 5 Cent auf den Beerdigungen angeboten und seitdem das so praktiziert wurde, war es sonntags ziemlich voll auf dem Friedhof. Ja, und dann hatte Bill Smithers neben der beliebten Kuchentafel einen weiteren Tisch aufgestellt. Hier gab es Gratisproben der alkoholischen Getränke, die man sich abends im Saloon bestellen konnte. Dann natürlich zum vollen Preis. Auch das war schlau ausgedacht und es hatte dazu geführt, dass mittlerweile ganze Reisegruppen aus Gainesville herüberkamen, um in Darlington an den Beerdigungen teilzunehmen.
»Man glaubt es ja nicht«, murmelte Emmy Lou Morisseau, während sie sich mit Ella McCormick im Schlepptau durch die Menschenmenge voranarbeitete. Da von Rebecca Johansson weit und breit nichts zu sehen war, steuerte sie den umlagerten Tisch mit dem so preiswert angebotenen Kuchen an. Immerhin war sie ja genau deswegen früh aufgestanden und den ganzen Weg von den Little Red Hills heruntergelaufen. Auf dem Jahrmarkt in Gainesville hatte sie einmal vier Stücke Kuchen und zwei mit Zuckerwerk überzogene Äpfel gegessen und Rebecca Johansson hätte das jederzeit bezeugen können. Vielleicht konnte Emmy Lou Morisseau das köstliche Backwerk am heutigen Tag sogar vollkommen umsonst erhalten, denn Ann Bowers, die neben ihrem Mann hinter dem Tisch stand, konnte das Rotkäppchen gut leiden. Und sie konnte sich ja denken, dass das Mädchen mit der roten Kappe kaum mehr als ein paar Cent und einige versehentlich abgerissene Knöpfe in der Tasche des schlichten Kleids hatte.
Nachdem Emmy Lou Morisseau einen ihr unbekannten Herren im schwarzen Anzug zur Seite geschoben hatte, lächelte sie Ann Bowers an. Die eigentlich recht kleine Frau mit den Sommersprossen, der weißen Baumwollschürze und dem weit ausladenden Strohhut wirkte deutlich größer als sonst, aber das lag nur daran, dass sie hinter ihrem Verkaufsstand auf der zwei Fuß hohen Erdaufschüttung eines Grabes stand. Sie lächelte zurück und deutete mit dem Finger unter den Tisch. Das hungrige Mädchen bückte sich sogleich und erspähte einen Stuhl, auf dem gut versteckt der Teller mit den abgeschnittenen Randstücken lag.
»Darf ich die alle haben?«, fragte das Rotkäppchen ungläubig.
»Hab sie extra für dich aufgehoben«, antwortete die Frau, die an den Wochentagen hinter der Kasse des Krämerladens stand, über die bereits gut geleerten Bleche und die Schüssel mit der in der Sonne zerronnenen Schlagsahne hinweg.
»Vielen Dank, Miss Bowers!« Emmy Lou Morisseau grinste, während sie sich den Teller angelte. Es war Apfelkuchen. Was auch sonst? Abgesehen von den verfluchten, dornenbewehrten Brombeeren gab es in Darlington nur ein paar Apfelbäume. John Barnikel, der Gründungsvater der Gemeinde, hatte sie vor vielen Jahren höchstpersönlich angepflanzt. Und das war ja auch gut so, denn gerade Ann Bowers hatte beim Backen der hierzu passenden Kuchen eine regelrechte Perfektion entwickelt. Heute waren ihr von den fünf Kuchen, die sie in den Ofen geschoben hatte, nur drei angebrannt. Wenn man die Bissen im Ganzen herunterschluckte, merkte man das kaum.
Emmy Lou Morisseau drehte sich um, da sie auch Ella McCormick eines der kostenlosen Randstücke anbieten wollte. Die junge Dame, deren Kleid einer Dienstmädchenuniform glich, schien aber sehr beschäftigt zu sein. Sie blickte kreidebleich in die Kaffeedose, die sie noch immer in der Hand hielt. Ein gutgekleideter Mann, der einen Zylinderhut auf dem Kopf trug, warf gerade einen Vierteldollar hinein. »Wenn es für einen guten Zweck ist, will ich doch gern etwas geben.«
Gleich als er zur Seite getreten war, warf Lucinda Montgomery – bei ihr konnte man sich wochentags die Haare schneiden lassen – 10 Cent in das Kaffeepulver. »Ich will doch gern etwas für die Gemeindekasse spenden«, meinte sie, bevor sie weiterlief.
»Aber… Aber das ist nicht… Das ist doch gar nicht die Gemeindekasse«, stammelte Ella McCormick, was aber nur dazu führte, dass ein Beerdigungsgast aus Gainesville weitere 5 Cent in die Dose warf.
Da Ella McCormick keinerlei Interesse an dem Apfelkuchen zeigte, hatte das Rotkäppchen nun Zeit, um sich auf dem Friedhof umzusehen. Man hatte die Stühle und Bänke, die man aus dem Saloon hierhergetragen hatte, in 12 längeren Reihen so zwischen den Gräbern aufgestellt, dass man die Beine bequem auf den Erdhügeln ablegen konnte. Die zahlreichen Holzkreuze konnten ganz praktisch zum Aufhängen der Jacken und Kopfbedeckungen benutzt werden.
Die Plätze füllten sich langsam. Ganz vorn links saß die Lehrerin Edwina Gellert, die sich wegen ihrer Mandelentzündung einen Schal umgebunden hatte. Gleich daneben wartete Josephine Morisseau auf den Beginn der Veranstaltung. Normalerweise hätte Emmy Lou neben der Frau mit den langsam ergrauenden Haaren Platz genommen – immerhin war das ja ihre Großmutter – aber dort saß bereits Ted Clayton, der seines Zeichens der Schmied von Darlington war. Die drei, die allesamt schon zum älteren Semester gehörten, bildeten den Gemeinderat und sie blickten erwartungsvoll zu der kleinen Bühne, die man zwischen den Gräbern aufgebaut hatte. Sie bestand lediglich aus ein paar über profanen Eisenbahnschwellen zusammengenagelten Brettern, die man Sonntag für Sonntag zum jeweils nächsten Grab tragen konnte. Obenauf stand der Sarg, der schräg an einem Sägebock lehnte, sodass er von jedem Blickwinkel aus bestens betrachtet werden konnte. Der langen Holzkiste folgte ein Rednerpult und neben diesem stand die ehemalige Krankenschwester Linda Hoffstetter. Die Frau mit dem schicken schwarzen Kleid hielt mit beiden Händen ein Gesangsbuch vor dem Bauch. Sie sollte an diesem Vormittag zum ersten Mal das »Ave Maria« für die Trauergemeinde singen. Die andere Premiere sollte Rebecca Johansson gehören und genau das musste ja verhindert werden, sofern sie tatsächlich betrunken war. Aber sie war ja nicht da. Vielleicht war sie in ihrem Alkoholrausch eingeschlafen und lag irgendwo unten am Fluss in den Büschen.
Emmy Lou Morisseau drehte sich um und musterte die am Zaun angebundenen Pferde, die wie bei der Kavallerie in Reih und Glied verharrten. Ziemlich genau in der Mitte stand »Head-On«, der großgewachsene Hengst von der Johansson-Farm. Sie war also doch da! Aber wo? Die Augen des Rotkäppchens wanderten hin und her. Da die Bühne abgesehen von der sichtlich nervösen Linda Hoffstetter noch immer leer war, strich das Mädchen nun die Sitzreihen mit seinen Augen ab. Ganz hinten saßen die Dennings-Brüder. Alle sieben. Die kleinwüchsigen Kerle gingen dem Gewerbe der Goldgräberei nach und hatten sich bereits einige Proben des von Bill Smithers ausgeschenkten Whiskys angeeignet. Es war gar nicht gut, dass sie da saßen, denn für die eine oder andere Prügelei waren die Brüder immer zu haben und bei der letzten Gemeindeversammlung – auch hieran werden sich die Leser des Romans »Emmy Lou Band 1« bestens erinnern – hatten sie ja das Mobiliar kurz und klein geschlagen. Hinter den sieben Schurken scharwenzelte Sue Carson herum. Da musste man leise sein, denn die Frau war bei der Arbeit. Aufgrund ihrer ebenholzfarbenen Haare – aus diesem dunklen Holz wurden auch die kleineren Tasten der Klaviere gefertigt – wurde sie in Darlington auch »Schneewittchen« genannt. Sie drückte sich immer wieder an einen der Dennings-Brüder heran und flüsterte ihm unanständige Dinge ins Ohr. Während sich der anvisierte Kerl die Schweißperlen von der Stirn wischte, rammte sie ihm plötzlich das Knie in den Rücken. Die absichtlich herbeigeführte Schrecksekunde nutzte sie, um ihrem Opfer in die Hosentasche zu greifen. Bei diesen kleinwüchsigen Goldgräbern war das ja eine durchaus lohnende Unternehmung – schon zwei Nuggets waren in den Ärmel von Sue Carsons, mit feinen, schwarzen Spitzen besetzten Kleid gewandert. Sue war die Tochter von Walter P. Carson, dem reichen Viehbaron, der oben auf den Little Red Hills den Stacheldraht hatte anbringen lassen. Das hinderte sie aber nicht im Geringsten daran, ihr Vermögen durch derartige Betrügereien aufzubessern. Da sie den fragenden Blick von Emmy Lou Morisseau bemerkt hatte, funkelte sie mit den Augen. Das war eine Drohung und das Rotkäppchen wandte sich schnell ab.
Ella McCormick war noch immer beschäftigt. Sie war dazu übergegangen, nur noch ein »Vergeltְ’s Gott!« zu murmeln, wenn ihr Münzen in den Kaffee geworfen wurden. Mithin sah Emmy Lou Morisseau wieder über den Friedhofszaun hinweg. Ganz links, gleich neben dem am verdorrten Gras zupfenden Esel Sancho, war ein mit Paketen und Säcken beladenes Pferd angebunden worden. Das war »Spätzle«. Das Mädchen musste lächeln, denn die braune Stute gehörte Gretel Fichtle. Wenn sie nicht drüben in Gainesville am elektrischen Telegraphen saß, war sie als Postreiterin für den Central-Texas-Express unterwegs und brachte die Post zu den weit verstreut liegenden Farmen. Sie nahm gleich am Eingangstor die graue, mit einem aufgestickten Posthorn versehene Kappe vom Kopf und zwei kunstvoll geflochtene Zöpfe mit kleinen gelben Schleifen kamen zum Vorschein.
»Haschd du mir a Schdüggcha vo däm Kucha übrich glassa? I han en ordendlicha Hungr, noh i han den ganza Dag no nix gessa. Du musschd nämlich wissa, dess i scho seid däm früha Morga drüba in Gainesville am Delegrafa gsessa han«, meinte Gretel, während sie an Emmy Lou vorbeilief, um bei Ann Bowers für 5 Cent ein Stück Apfelkuchen zu kaufen. Das Rotkäppchen lächelte und nickte, obwohl es kein einziges Wort verstanden hatte. Die freundliche Postreiterin stammte aus Deutschland und manchmal verfiel sie ganz unabsichtlich in die schwäbische Mundart.
»Hast du Rebecca gesehen?«, wollte das Mädchen mit der roten Kappe wissen.
»Nein. Sie soll doch heute die Trauerrede halten. Deshalb bin ich extra hergekommen«, antwortete die junge Frau vom Central-Texas-Express nun in einer besser verständlichen Sprache.
»Ja eben …«
Gretel, deren Bruder Hans genau in der Mitte des immer ungeduldiger werdenden Publikums saß, ergatterte einen Platz in der vorletzten Reihe, wo sie ihr Backwerk verspeiste. Und dann endete plötzlich die Musik. Die Herren von der Feuerwehrkapelle, die extra aus dem 70 Meilen entfernten Dallas herübergekommen waren, legten ihre blechernen Instrumente nieder und setzten sich auf die seitlich stehenden Bänke.
»Ach, Scheiße!«, flüsterte Emmy Lou Morisseau zu sich selbst. Sie hielt sich sogleich die flache Hand vor den Mund, denn so etwas durfte man ja nicht sagen. Jedenfalls nicht am Sonntag. Und schon gar nicht auf einem Friedhof. Aber einen Grund für die unflätige Äußerung gab es sehr wohl: Rebecca Johansson war auf der Bühne.
Das Rotkäppchen starrte auf die halbleere Whiskyflasche, die das blonde Mädchen in der rechten Hand hielt. Konnte man hieraus schlussfolgern, dass ihre Nachbarin und beste Freundin betrunken war? Nein, konnte man nicht! Die unverkorkte Glasflasche mit der hin und her schwappenden, braunen Flüssigkeit musste ja nicht von Anfang an voll gewesen sein. Vielleicht hatte die Hälfte des in Knoxville, Tennessee destillierten Whiskys ja schon gefehlt, als die blonde Schwedin zur Abmilderung ihrer Nervosität zugegriffen hatte. Aber es war ja gar nicht notwendig, hinsichtlich des Füllstands der Flasche zu spekulieren. Dass Rebecca Johansson sturzbetrunken war, konnte man ja auch so sehen. Die junge Dame, die offenbar hinter dem Sarg im Schatten gesessen hatte, »ging« ja nicht über die Bühne – sie »kroch« auf allen Vieren in Richtung des Rednerpults. Dort angekommen, zog sie sich nach oben und torkelte sogleich nach vorn, woraufhin einige der in den ersten zwei Reihen sitzenden Beerdigungsgäste aufschrien. Jeder glaubte, dass Rebecca Johansson vom vorderen Rand der Bühne aus ins Publikum stürzen würde. Das passierte aber nicht. Es gelang ihr, so kräftig mit den Armen zu rudern, dass sie im letzten Moment doch noch stehenblieb. Das war der Moment, in dem Emmy Lou Morisseau ihre Freundin von dem hölzernen Podest herunterholen wollte. Sie konnte sich aber nicht in Bewegung setzen, denn Sue Carson hatte ihren Arm ergriffen und hielt ihn wie in einem Schraubstock fest. Unter anderen Umständen hätte sich das Rotkäppchen gegen diesen Übergriff des Schneewittchens mit den Fäusten gewährt. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie dies hätte tun müssen. Aber das hier war ja der Friedhof und wenn sich die beiden Erzfeindinnen jetzt geprügelt hätten, so hätte das mit Sicherheit einen Skandal gegeben.
»Hiergeblieben! Wir wollen doch die gute Miss Johansson nicht bei ihrer Trauerrede stören. Bin mir ziemlich sicher, dass sie sich viel Mühe geben wird«, zischte Sue Carson. Da sie sich in vollem Umfang über die Sachlage im Klaren war, hatte sie ein breites Grinsen im Gesicht.
»Lass mich sofort los. Sonst…«, entgegnete das Mädchen mit der roten Kappe.
»Sonst was?«
Emmy Lou Morisseau gelang es, sich loszureißen. Aber es war zu spät. Rebecca Johansson begann bereits zu reden…
»Lassie… Lassies… Ladies. Ladies and… and Gentle… Was weiß ich«, lallte die Trauerrednerin, die Mühe hatte, sich verständlich zu machen.
Auch der Letzte musste angesichts dieser Begrüßung begriffen haben, dass die junge Dame, die am vorderen Rand der Bühne stand, in erheblichem Maße betrunken war. Im Übrigen bot das 17-jährige Mädchen, das sich nach eigenen Angaben noch nie im Leben die Haare hatte schneiden lassen und infolgedessen auch spöttisch »Rapunzel« genannt wurde, einen durchaus ungewöhnlichen Anblick. Die gebürtige Schwedin hatte sich die immens langen Haare zu einer Art Kugel zusammengebunden und von Weitem sah das aus, als ob sie einen Kürbis auf dem Kopf balancieren würde. Da sich der Knoten zum Teil wieder gelöst hatte, sah es des Weiteren so aus, als ob jemand mit einem Gewehr hindurchgeschossen hätte. Und das Kleid… Emmy Lou Morisseau war sich sicher, dass ihre Freundin kein schwarzes Kleid besaß. Edwina Gellert musste ihr das Kleidungsstück ausgeborgt haben. Da die Lehrerin der Sonntagsschule aber beinahe zwei Köpfe kleiner war, reichte der Saum an Rebecca Johansson noch nicht einmal bis zu den Knien hinab. Für das Jahr 1869 war das unverschämt kurz. Um die sichtbare Länge der dünnen, schneeweißen Beine – das Mädchen hatte die Figur einer Bohnenstange – zu kaschieren, war auf das Tragen von Schuhen verzichtet worden. Genauer betrachten konnte man das aber nicht, denn die Rednerin schwankte wie der Mast eines Segelschiffs in der Brandung. Sie schwieg.
»Ave Maria…«, begann Linda Hoffstetter, die schnell ihr Gesangsbuch aufgeschlagen hatte, zu singen. Sie verstummte sogleich wieder, denn Edwina Gellert und Josefine Morisseau bedeuteten ihr wild gestikulierend, dass es der falsche Zeitpunkt für die Darbietung war. Die ehemalige Krankenschwester verzog das Gesicht, zuckte mit den Schultern und die ganze Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Rebecca Johansson, die einen Schluck aus ihrer Whiskyflasche nahm.
»So! Als erstes… Also, als erstes… kommen wir zur Verlosung. Ich… Also, ich werde jetzt den Gewinner von dieser… dieser Verlosung bekanntgeben«, stammelte sie, nachdem sie einen Blick auf die Papiere, die sie in der anderen Hand hielt, geworfen hatte.
Ein Raunen ging durch das Publikum und Emmy Lou Morisseau legte die Stirn in Falten. Eine Verlosung? Das konnte gut sein. Das war bestimmt wieder so eine Idee des Gemeinderats. Vielleicht stand irgendwo ein Hut, aus dem man gegen Zahlung von 10 Cent ein Los herausziehen konnte. Möglicherweise konnte man ein paar Steckrüben oder einen Korb mit Äpfeln gewinnen.
»Was für eine Verlosung?«, fragte Gretel Fichtle, nachdem sie sich umgedreht hatte. Das Rotkäppchen und Ann Bowers, die mit einem Backblech noch immer hinter dem Tisch stand, zuckten gleichzeitig mit den Schultern. Da war kein Hut.
»Der Gewinner ist… Das ist Mister… Mister Bickles… Bicklebunny… Mister Bickleberry«, las Rebecca Johansson von ihrem Blatt ab.
Es herrschte Totenstille und dann stand in Reihe 5 tatsächlich ein Mann auf.
»Sind sie Mister Bickles… Mister Bickleberry? Sind sie’s?«, rief die Rednerin hocherfreut.