Emmys Wahrheit - Christina A. Friedli - E-Book

Emmys Wahrheit E-Book

Christina A. Friedli

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Beschreibung

Emmitell von Mehrfurt (kurz: Emmy) ist Raumur Ruggasson, dem Herrscher über Graiffstett, schon länger ein Dorn im Auge. Deshalb wird sie und ihr Projekt 'Amselnest' von ihm und seinen Schergen schikaniert. Als die Bewohner von Graiffstett durch eine Katastrophe in eine existentielle Not geraten, wird sich zeigen, ob Emmy und ihre Freunde den Kampf gegen Unrecht und Machtmissbrauch gewinnen können. Wird sich ihr Mut auszahlen?

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Für meine Kinder

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

1

Und jedem Anfang

wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und

der uns hilft, zu leben.

Hermann Hesse

Schon seit ihrer Jugend fing Emmy den Tag mit dem ersten Hahnenkrähen an; sie fühlte sich wohl als früher Vogel. »Kalt, eiskalt ist das Wasser, noch«, bemerkte sie, als sie sich am Hofbrunnen wusch.

Die Sonne stieg nun jeden Tag höher. Frühmorgens dämpfte noch der Morgentau die Farben der Landschaft. Doch nachmittags öffneten die Winterlinge ihre Blüten und strahlten in fröhlichstem Gelb mit den Krokussen auf der Wiese um die Wette. Alles stand auf Anfang. Die ganze Kraft des Lebens brach auf zu neuen Ufern, zu einem neuen Spiel. Emmys liebste Jahreszeit begann, der Frühling.

Zurück in ihrer Kammer zog sie sich ihren wadenlangen Rock und eine ihrer vielen Schürzen mit unendlich tiefen, ausgebeulten Taschen und die geliebte Strickweste über. Mit kräftigen Strichen bürstete sie ihr silbergraues Haar, bevor sie die hüftlangen, geflochtenen Zöpfe mit flinken Fingern zu einem Kranz hochsteckte. Einen Spiegel brauchte sie für ihre Morgentoilette nicht. Das Bürsten und Flechten, Knoten und Stecken bedeutete ihr so viel wie einem Bäcker das Einheizen des Ofens - eine Notwendigkeit, mehr nicht. Emmys rosig schimmernde Haut zeugte zusammen mit ihren ebenmässigen Gesichtszügen, den fein abgesetzten Augenbrauen und ihren vollen Lippen noch immer von ihrer früheren Schönheit. Nicht, dass Emmy je eitel gewesen wäre, mitnichten - oder Neffen würde sie selbst hier wohl gleich zwinkernd anfügen. Eitelkeit und Hochmut passten zu ihren Überzeugungen wie Zuckerguss über gegrillten Karpfen. Aber sie freute sich aufrichtig über, ihre Gesundheit und ihre guten Zähnen.

Noch ahnte sie nicht, welch unerwarteten Verlauf dieser Markttag nehmen sollte. Nach der ersten Tasse Kaffee packte sie die Kisten mit eingeweckten Tomaten und Gurken, mit Akazienhonig und Marmelade, kleine Säckchen mit gedörrtem Obst und handgestrickte Socken auf die Pritsche ihres Wagens, ein klappriger Tempo Hanseat. Bis vor einigen Jahren benutzte sie für ihre Fahrten zum Graiffstett’schen Markt den Einspänner, an der Deichsel Samar, ihr grauer Freund. Das in seiner Jugend überaus störrische Maultier genoss inzwischen den wohl verdienten Ruhestand auf dem Hof, dem Amselnest. Er freute sich über jede Rübe, die er sich hin und wieder bei der Feldarbeit zusätzlich verdiente, wenn er das Gespann durch die holprigen Ackerfurchen zog. Nun nutzte sie ihren fast ebenso alten Tempo Hanseat.

Emmy warf einen kurzen Blick zu den gestapelten Kisten, festgezurrten Körben und versicherte sich, dass sie alles geladen hatte. Selbst an den Überschuss der unzähligen kleinen Basteleien vom letztjährigen Herbstmarkt hatte sie gedacht. Schachteln voll mit Duftsäckchen, Wachsblumen und bemalten Kleiderbügeln hatte sie noch gestern spät vom Estrich geholt, sortiert und hübsch verpackt. Der erste Markttag im Frühling war für Emmy schon immer ein besonderes Ereignis. Seit sie vor über zwanzig Jahren mit dem Wiederaufbau des Sundweiler-Gutes, dem heutigen Amselnest, begonnen hatte, hatte sie keinen Frühjahrsmarkt verpasst und auch keinen anderen ausgelassen.

Wie sie es liebte von Vogelgezwitscher begleitet durch die frühlingshafte Morgenluft Richtung Graiffstett zu tuckern! Ihr Wagen ruckelte gemütlich durch die erwachende Landschaft. Der Weg folgte einem kleinen Bach, der zwischen den noch nackten Buchen, Eschen und Bergahorn gegen Süden bis an den Rand der Ebene mäanderte und sich als Wasserfall vom Hochplateau ins Tal stürzte. Auf dem steilen, ausgefahrenen Weg hinunter zum Ufer des Njervals musste Emmy kräftig auf die Bremsen treten, damit ihr dreirädriges Gefährt mit seinen profilosen Reifen auch die letzte, enge Serpentine, jene vor der alten Holzbrücke über den Njerval erwischte. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren hatte sie schon viele Kurven gemeistert, sinnbildlich im wahren Leben wie auch auf realen Strassen - allerdings meist durch Betätigung des Gaspedals. Das Drosseln ihres Tempos hatte sie durch harte Prüfungen auf ihrem Lebensweg erst lernen müssen.

Als Emmy das Treiben auf dem Marktplatz erblickte, war sie froh über ihren frühen Aufbruch. So war sie nicht gezwungen, ihre Waren mit einem Handkarren über den gepflasterten Marktplatz zu bugsieren, sondern konnte bis an ihren gewohnten Standplatz in der zweiten Reihe fahren.

Wie immer hoffte Emmy, auf dem Markt ihre Tochter und ihre Enkel zu sehen. Mollam lebte seit sieben Jahren zusammen mit ihrem Ehemann Fred Bückle und ihren beiden Kindern im Städtchen. Ihr Kontakt zerbröselte mit der Zeit wie Sandstein unter saurem Regen. Böse Worte waren nie gefallen, kein offener Streit hatte sie getrennt. Sie hatten lediglich, wie die Graiffstetter zu sagen pflegten, die Wurst nicht im selben Kamin hängen. Mollam hatte eines Tages verlauten lassen, sie befürchte, dass Emmy mit ihrem Amselnest das berufliche Fortkommen von Fred, inzwischen Sekretär des Schatzmeister, gefährde.

Trotz der deutlichen Tendenz zu Hüftgold baute Emmy ihren Stand noch immer mit schwingendem Schritt und flinken Griffen zügig auf.

Nach einigem Hin und Her stand ihr Tisch bereit. Die Zeit vor dem traditionellen Marktbeginn um acht Uhr nutzte sie gern, um sich mit den frühen Graiffstett’schen Bettflüchtern auszutauschen. Der letzte Winter war hart gewesen, weshalb sich die Leute lediglich zur Wintersonnenwendfeier getroffen hatten. Selbst die Bürger im Städtchen hatten nur widerwillig einen Fuss vor die Tür gesetzt. Umso mehr freute sich Emmy darauf, nun von geplanten Hochzeiten, Geburten oder überstandenen Krankheiten zu hören. Auf dem Platz wimmelte es inzwischen von Marktfahrern, die ihre Tische richteten. Neugierige Schulkinder huschten auf dem Weg zur nahen Schule über den Platz. Und die Teebringer wieselten von Stand zu Stand; sie hatten bereits frühmorgens alle Hände voll zu tun, damit jeder seine klammen Finger an einer heissen Tasse wärmen konnte. Mit ihren bunten Mützen von weitem erkennbar folgten sie flink den begehrlichen Rufen und Aufmerksamkeit erheischenden Handzeichen. Ein immer wiederkehrendes Ritual zu Beginn des ersten Markttages des Jahres.

»Hej, Felix!«, rief Emmy ihrem jungen Buchhalter Felix Zanders zu.

»Hej, Emmy! Lange nicht gesehen! Wie geht’s euch? «

»Ganz ordentlich«. Nachdem sie all seine Fragen nach der Befindlichkeit der Kinder, nach Gesundheit und Wohlergehen von Mensch und Vieh nach diesem schneereichen Winter beantwortet hatte, vereinbarten sie ein baldiges Treffen. Der Jahresabschluss musste durchgesehen werden und sie wollten mal wieder über Gott und die Welt plaudern.

Unvermittelt blickte sich Felix verstohlen um und fragte leise: »Was meinst du zu der Sache?«

Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie verstand, was er damit meinte. »Hab‘ eben davon gelesen«, sagte sie und zeigte auf die Titelseite im Graiffstetter Wochenblatt. »Ich frage mich nur, wohin das Ganze führt«.

»Du befürchtest nichts Gutes, stimmt‘s?«

Emmy hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Seit zwei Monaten geht es schon so«, erklärte Felix weiter. »In den letzten vier Wochen wurde es immer schlimmer. Ruggassons Leute können die Plakate nicht genug schnell entfernen - nicht, bevor sie gesehen und beachtet werden! Eines weg, zwei Neue da!«

Und als ob Emmy bereits erahnte, was kam, flüsterte sie ihm zu:

»Und es sind immer die Jungen, die sich getrauen. Ich sorge mich...«.

Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, kündigten Fanfaren den landesfürstlichen Aufzug an. Am Tag des grossen Frühjahrsmarktes pflegte der Landesfürst Raumur Ruggasson sein Palais - mehr Festung als Schloss - zu verlassen, um sich dem gemeinen Volk zu zeigen.

»In diesem Jahr also nicht in seiner protzigen Staatskarosse, sondern hoch zu Ross in königsblauer Paradeuniform«, raunte Emmy. Ein richtiger Aufpudler! Der hat’s wohl nötig, die Leute durch schillernden Prunk zu blenden. Ob er sich die mit Edelsteinen besetzten Orden in seiner Selbstverliebtheit eigenhändig an die Brust anheftet?, fragte sie sich und flüsterte Felix zu: »Wie der sich aufbläst mit den ruhmlosen Abzeichen und dem goldenen Dolch. Selbst seine Stiefel sind spiegelglatt gebürstet! Soll dem Auftritt wohl Glanz verleihen! Welch‘ ein Gegensatz zu seinem inneren Wesen!« Und die Leute fallen darauf herein, fügte sie in Gedanken hinzu.

2

Sei still, hat die Mutter gesagt,

artige Mädchen schweigen,

sonst kommt ein Vogel

und fliegt in deinen Mund

dass du erstickst.

Siba Shakib

»Packt ihn!«, brüllte der Landesfürst von seinem hohen Ross den Gardisten zu und galoppierte auf den Platz. Sein Zorn richtete sich augenscheinlich gegen einen jungen Mann, der mit Pinsel und Kleistereimer bewehrt quer über den Marktplatz rannte. Zwei Berittene lösten sich aus Ruggassons Truppe. Sie jagten dem Jüngling zwischen den engen Markttischen hinterher, bis sie ihn, kurz bevor er das schmale Stadttor konnte erreichen, doch noch einholten.

Ungestüm und rücksichtslos ritt der Fürst über den Platz zu einem an der Stadtmauer flatternden Plakat, an dessen Ränder der Kleister noch nass schimmerte. Er las den Anschlag mit verkniffenen Lippen. Während seine Zornesadern an den Schläfen bei jedem Wort mehr zutage traten und sein Gesicht sich tiefrot verfärbte, legte sich eine bleierne Stille über den Markt, einzig durchbrochen vom nervösen Klappern und Schnauben der stramm gehaltenen Pferde. Die Leute, eben noch in bunten Gruppen beisammen, stoben so schnell sie konnten in alle Richtungen; wie Mäuse, die sich beim Nähern einer Katze in ihren Löchern verkriechen. Die Turmuhr schlug neun.

»Ins Verlies mit ihm!«, fauchte Ruggasson mit bebender Stimme und zerfetzte das Plakat mit seiner Gerte. Unter seinem wüsten Stakkato aus kaum verständlichen Worten banden ihn die beiden Graiffer - so wurden Ruggassons Häscher genannt - an den Handgelenken fest und zerrten ihn mit sich.

In Angst erstarrt verfolgten die Marktleute, die sich nicht hatten verdrücken können, das Geschehen. Keiner rührte sich. Wer einmal Ruggassons Jähzorn erlebt hatte, hütete sich, seine Aufmerksamkeit durch eine verspätete Ehrerbietung oder gar durch offenen Widerspruch auf sich zu lenken. Seit seiner Machtübernahme hofften die Leute des Städtchens, das Alter werde den Landesfürsten milder stimmen. Vergeblich. Auch mit fast fünfzig Jahren benutzte er seine Macht in jeder Hinsicht willkürlich und hemmungslos.

Der Anblick des schmächtigen Jünglings, der von den Pferden um ein Haar zertrampelt wurde, liess Emmy hinter ihrem Marktstand frösteln. Beim Gedanken, dass ihr Sohn Jon anstelle dieses jungen Mannes gefasst und abgeführt werden könnte, lief Emmy ein eisiger Schauer über den Rücken. Erst vor vier Wochen war Jon aus dem Baldurtal zurückgekehrt, um ihr im Amselnest zu helfen. Fünf lange Jahre war er fort gewesen; untergetaucht, um sein Leben nicht im Krieg zu lassen. Mit klammen Fingern zog Emmy ihre abgewetzte, mit bunten Blumen bestickte Strickweste enger um sich.

Emmys Hoffnung, dass nach der Verhaftung des Plakatklebers der Geltungsdrang des Fürsten zumindest fürs Erste befriedigt sei, verflüchtigte sich rasch. Ruggasson sah sich aufrecht in den Bügeln stehend nach weiteren Opfern um.

Die Statthalter der Bezirke und ein paar Mitglieder des Graiffstetter Landtages hatten sich in den letzten Wochen unablässig die Klinke in die Hand gegeben, beim Landesfürsten vorgesprochen und aufdringlich eindringlich um Unterstützung gegen Aufwiegler ersucht. Und mit dem Gedanken, dass das ein Ende haben müsse, beäugte der Fürst die Leute auf dem Platz misstrauisch. Wo immer ihr euch versteckt, ich werde euch den Garaus machen! Dann brüllte er: »Wer es wagt, sich unserem Vorhaben zu widersetzen, sei gewarnt! Wir dulden keinerlei Widerstand! «

Doch als er der Garden einen Wink zum Aufbruch geben wollte, erregte eine junge Frau in einem braunen Umhang seine Aufmerksamkeit. Beim Versuch die Gunst des Augenblicks zu nutzen und in die nächst liegende Gasse, die Ölgasse zu entschwinden, stolperte sie vor Emmys Markttisch unglücklich über ihr weites Cape.

»Halt!«, schrie Ruggasson und lenkte seinen Rappen so knapp an den Verkaufsständen vorbei, dass es an ein Wunder grenzte, dass kein Mensch zertrampelt, kein Stand verwüstet wurde.

»Wo willst du hin? Runter, auf die Knie und sieh‘ gefälligst zu mir hoch!«, gellte er die Frau an, die ihr Gesicht unter einer Kapuze zu verbergen versuchte. Zornig hob er seine lange, mit schwarzem Leder überzogene Gerte zum Hieb. Doch bevor die Peitsche los sauste, trat Emmy ohne irgendeinen Gedanken an ihre eigene Sicherheit zu verschwenden geschwind hinter ihrem Tisch hervor, direkt vor den nervös mit seinem seidenen Schweif schlagenden Rappen, der ein paar Schritte zurück trippelte.

»Ach, sieh an noch ein Weib!“, keifte der Landesfürst gallig und führte sein Pferd wieder zwei Schritte vor, unmittelbar vor die Frau, die sich unverschämt vor ihn stellte. »Was mischt du dich ein, du Lumpenweib!? «

Emmy blieb bewegungslos stehen und rührte sich nicht. Stattdessen schaute sie ihm unverblümt in die Augen, als gälten seine Worte und sein Zorn nicht ihr. Während des endlos lang erscheinenden Kräftemessens musterte Ruggasson sie von oben nach unten mit einem verächtlichen Zucken um die schmalen, von struppigen Barthaaren halb verdeckten Lippen, bis sein Blick für einen Moment entgeistert ganz unten, an Emmys nackten Füssen hängen blieb. Diese Zehen. Wahrlich diese Zehen waren viel zu gross für diese kleine Frau. Verwirrt lachte er auf, schüttelte er sich und spuckte vor Emmy aus. »Ach, ihr Weiber seid es ja nicht wert, dass man sich mit euch abgibt! Aus dem Weg!«

Schnell liess er die noch immer erhobene Gerte auf die rechte Flanke seines Rappen niedersausen, riss ihn mit einem groben Ruck herum und galoppierte in Richtung Palais. Leute rannten auseinander. Krüge barsten. Körbe fielen um. Äpfel kullerten übers Kopfsteinpflaster. Und die Gardisten standen einen Augenblick orientierungslos inmitten der Marktstände, bis sie ihrem davon galoppierenden Fürsten folgten.

Felix atmete laut aus, als habe er während der ganzen Zeit die Luft angehalten. »Wie hast du denn das wieder gemacht? Ich dachte schon, dein letztes Stündchen hat geschlagen«, stellte er überrascht fest und wischte sich mit einem frischen, sauber gefalteten Taschentuch sichtlich erleichtert den Schweiss von der Stirn. »Das hätte eigentlich ganz, wirklich ganz übel enden müssen! Ich versteh’s nicht«.

Schulter zuckend, doch nicht weniger erstaunt, murmelte Emmy mehr zu sich als zu ihm: »Ja, Glück gehabt!« Tatsächlich konnte sie sich nicht erklären, weshalb der Fürst sie verschonte und die junge Frau laufen liess. Emmy war, wie so oft, auch diesmal dreist und waghalsig aufgetreten. Doch wenn sie hautnah mitbekam, wie Ruggasson seine Graiffer auf Unschuldige hetzte und die Städter sich gelähmt durch ihre Angst nur duckten, konnte sie nicht anders, als sich einzumischen.

Während sich die junge Frau den Strassenstaub vom Umhang abklopfte, sah Emmy den Reitern nach, überwältigt von Erinnerungen. Verblasste Bilder, deren beissende Schärfe dem Zeitenlauf zum Opfer gefallen war. Emmy, noch keine zwanzig Jahre alt, verstrickt im teils heftigen, von vielen Wiederholungen jedoch stumpf gewordenen und letztlich zwecklosen Streit mit ihrem Vater. Wie sie im Laufe der Jahre begonnen hatte, ihn zu verachten! Für seine Schwäche, für seine Sucht - die Sucht nach dem Mammon, nach Besitz und Macht. Damals hatte sie nicht verstanden, weshalb er so hart und unnahbar war. Erst viel später glaubte sie zu verstehen, dass die Flucht aus der Heimat, die Kriegsjahre und schliesslich der frühe Tod ihrer Mutter ihm jenen Grund und Boden entzogen hatte, auf dem Menschen für gewöhnlich wurzeln. Das Bild, dass sie sich von ihrer Mutter machte - sie war bereits im Kindbett gestorben -, widersprach jenem vom Vater in jeder Hinsicht. Er schwach und feige - sie mutig im Leben stehend, tapfer den Widerwärtigkeiten trotzend, mit Visionen und starken Träumen. Dieses Ideal hatte sie sich zum Vorbild genommen, obwohl sie wusste, dass dieses Bild keiner Realität entsprungen war.

In stillen Momenten, nach vollbrachtem Tagewerk, wenn Emmy allein auf der grünen Bank unter der mindestens hundert Jahre alten Linde im Hof des Amselnestes sass, stellte sie sich zuweilen vor, wie die Mutter ihrer Träume stolz auf sie wäre und voller Freude. Und ihr Vater? Mit wüstem Spott hatte er ihre Ideale in den Dreck gezogen. Der Hohn in seiner Stimme hatte noch Jahrzehnte in ihren Ohren nachgeklungen. Seine zynischen Bemerkungen, wenn sie von ihrer Sehnsucht nach Heimat, nach Freiheit und Gerechtigkeit gesprochen hatte. Mit Füssen hatte er ihre Hoffnungen getreten, ihren Glauben an ein glückliches Zusammenleben der Menschen, gleichberechtigt und frei. »Komm mir nicht mit solchem Firlefanz«, pflegte er zu sagen. Nur Macht und Einfluss, harte Fakten liess er gelten.

Deshalb hatte Emmy das Haus ihres Vaters schon früh verlassen, den alten, bunt verzierten Koffer in der Hand, den sie seit ihrer Flucht aus der Heimat gegen seinen erklärten Willen im Keller versteckt hatte. Nicht wirklich erwachsen, noch vor ihrer Reifeprüfung war sie in die Welt gezogen; im Grunde viel zu früh. Kurvenreich und zuweilen gefährlich nah am Abgrund war ihr Lebensweg verlaufen. Lugalor. Die Kinder. Ihr Weg über die Berge nach Graiffstett...

»Danke«. Mit diesem Wort riss die junge Frau Emmy aus dem Bilderkarussell, zurück auf den Frühlingsmarkt. Fast noch ein Kind, bemerkte Emmy, als sie in die scheuen, rehbraunen Augen unter der Kapuze blickte. Dieser traurig fragende Blick erinnerte sie an sich selbst, allein und fremd in einer ihrer feindlich gesinnten Umgebung. Wie hatte sie sich damals gefürchtet!

»Keine Sorge, Fräulein. Ich bringe Sie nun erst mal nach Hause in Sicherheit. Wie darf ich Sie nennen? «

Die junge Frau - achtzehn, höchstens zwanzig Jahre alt - zögerte einen Moment, bevor sie mit zarter, aber wohlklingender Stimme antwortete: »Sie können mich schon duzen. Ich heisse Lea Ka... Nennen Sie mich einfach Leandrin. Aber nach Hause? Nein, besser nicht«.

»Emmitell von Merfurt, vom Amselnest oben auf der Gomba-Hochebene«, stellte sich Emmy vor. »Alle rufen mich Emmy. Und wenn du es dir wegen des Heimwegs anders überlegst, weisst du ja, wo du mich findest. Ich bin den ganzen Tag hier am Stand oder in der Nähe«, sagte Emmy, ordnete ihre Waren und verkniff sich jede weitere Frage.

Im Laufe des Tages huschten zwischen Käufern und Händlern auch Bettler, Tagelöhner aus Graiffstett sowie aus fernen Gebieten zwischen den Wagen und Ständen umher. Erst in der mageren Hoffnung auf eine kleine Gabe, später dann auf einen Happen aus dem mannigfaltigen Abfall, der am frühen Abend das Pflaster bedeckte und den die Ratten nur widerwillig mit ihnen teilten. Sie mehrten sich, Jahr für Jahr, und keine Wende war abzusehen. Nicht nur bei den Ratten, auch bei den Bettlern, den Dünnen und Hungrigen, stellte Emmy fest. Ganz in ihren Gedanken über die Not der Taglöhner, das Unrecht und die Menschen versunken, stand sie neben ihren Waren, als ein buckliger Tagelöhner sie von hinten am Ärmel zupfte.

»Eine milde Gabe für einen armen Sünder?«, bettelte er mit gesenktem Blick und formte seine schwieligen Hände zur Schale. Erschreckt sah Emmy hoch. Ihr Blick traf direkt auf die traurigtrüben Augen des Mannes. Eine lange, quer laufende Narbe teilte sein vom Wetter gegerbtes Gesicht in eine obere und eine untere Hälfte, verbunden nur durch eine breite, schiefe Nase über dem schmalen Mund.

»Wenn’s hülfe schon. Doch tut’s das nicht!«, wehrte Emmy ab. Mit einem Lächeln versuchte sie, der Härte ihrer Absage die Schärfe zu nehmen. Wie oft hatte sie solche und ähnliche Gespräche in der Vergangenheit geführt! Sie wusste, was kommen würde, auch ohne Amen oder Kirche.

»Mir würde es schon helfen. Ich könnte mir einen Becher Bier und ein Brot mit Wurst kaufen. Oder Kuchen«, versicherte der Bettler und schielte auf das Stück, das noch jungfräulich aus einer Serviette hervorlugte, die neben Emmy auf dem Tisch lag - ihre Vesper.

»Und morgen, guter Mann? Was dann?«, gab Emmy zu bedenken. »So viel wie heute. Ein Nichts.«

»Morgen ist ein neuer Tag. Wir werden sehn‘!«, wischte er Emmys Einwand flugs beiseite und kratzte sich hinterm linken Ohr.

»Ach, was soll’s. Da nehmt! Es soll Euch schmecken!«

Emmy strich die Segel und reichte ihm ihr Kuchenstück.

»Glaubt mir, es ist nicht Geiz, der mich davon abhält, etwas abzugeben und zu teilen. Es ist vielmehr das Morgen, die Zukunft, die unweigerlich kommt. Solange Almosen die Spitze der Not brechen, wird sich bestimmt nichts zum Besseren wenden. Die Bedürftigen bleiben in steter Abhängigkeit gefangen, der Willkür und Beliebigkeit der Besitzenden ausgeliefert. Ihr werdet weiter betteln und bitten müssen, auf Erbarmen hoffen und Eurer Würde beraubt. Ich fürchte, die Not muss erst noch viel mächtiger werden, der Hunger lauter, das Leben wund wie im Höllenschlund, bis das Volk aufsteht, sich erhebt und sich traut.«

»Gib acht, Frau!«, pisperte da eine rauchig-raue Männerstimme hinter ihr. »Die Mauern haben allenthalben Ohren! Du magst ins Schwarze treffen, doch was nutzt’s!«

Emmy drehte sich mit dem Gefühl eines ertappten Diebes um und sah nur noch einen Blaumann von hinten, der sein linkes Bein nach sich zog und dabei den Staub aus den Pflasterfugen fegte.

3

Träume bedeuten

vielleicht ein hartes Stück Arbeit.

Wenn wir versuchen, dem auszuweichen,

können wir den Grund,

warum wir zu träumen begannen,

aus den Augen verlieren,

und am Ende merken wir,

dass der Traum gar nicht mehr uns gehört.

Sergio Bambaren

Als Emmy auf ihrem Heimweg über die alte Brücke fuhr, lag die Trägheit des späteren Nachmittags wie eine Kuscheldecke über Graiffstett und dämpfte die an- und abschwellenden Rufe der Männer, die ihre Mannschaften auf dem Spielfeld vor der Stadt zur Höchstform und damit zum Pokalsieg anfeuerten. Die Frauen beeilten sich, die saubere Wäsche noch vor dem Abendbrot von der Leine zu ernten, umringt von ihren Kindern. Die Sonne stand schon weit im Westen über der Quelle des Njervals und liess ihre Strahlen als glitzernde Sterne auf den weichen Wellen des Flusses tanzen.

Die engen Gassen des Städtchens waren schon eine Weile ausser Sichtweite, als Leandrin die braune Kapuze in den Nacken zurück- schob und sich auf Emmys Beifahrersitz aufrichtete. Das schräg durch das Seitenfenster dringende warme Sonnenlicht liess ihre langen Haare rotblond, fast golden leuchten. Zusammen mit ihrer hellen von unzähligen kleinen und kleinsten Sommersprossen besetzten Haut glich sie mehr einer Märchenfee als einem Mädchen aus dem Städtchen. Die Graiffstetter waren seit jeher ein herber Menschenschlag. Und ihre Frauen waren wegen ihrer dicken, dunklen Haare in fernen Ländern als Lieferanten für Posticheure bekannt. Für lange Zöpfe von Graiffstetterinnen wurden schon mal horrende Summen bezahlt, weshalb die jungen Frauen ihr Haar wachsen liessen, um es zu gegebener Zeit zu versilbern.

»Danke. Danke fürs Mitnehmen. Ich möchte Ihnen aber keine Umstände... - Mein Vater…«. Leandrins Worte wurden von einem plötzlichen Knall einer Fehlzündung verschluckt. Aber sie nahm den Faden nicht wieder auf und Emmy fragte nicht nach, sondern konzentrierte sich auf die Fahrt über die steile, ausgefahrene Strasse. Der Tempo Hanseat suchte sich seinen Weg holpernd über die spiegelblanken Pflastersteine - bei Regen fast unpassierbar, rutschig wie Schmierseife. Schlaglöcher und die beiden ungleichen Fahrrinnen liessen den Lieferwagen hin und her schaukeln, dem Gang eines Seemanns auf Landurlaub gleich. Im altersblinden Rückspiegel beobachtete Emmy, wie sie eine russige, immer länger werdende Fahne aus stinkendem Qualm hinter sich herzogen, des steten Nachschubs aus dem böllernden Auspuffrohr gewiss. Vor jeder Serpentine musste sie mehrere Gänge runter schalten, um die Kurve halbwegs aufrecht hinter sich zu bringen. Das nahm jeweils viel Tempo vom Tempo (Hanseat). Oder sollte sie den Wagen doch Hansi nennen? Emmy war selbst noch nicht mit sich im Reinen, was den Namen ihres Gefährts anging. Ruth, ihre langjährige Vertraute hatte gelacht, als sie neulich auf der Fahrt zum oberen Fischteich im Schatttal mitbekam, wie Emmy flüsternd den Klang von Namen geprüfte. Tempo, Hansi und wegen des ewig knallenden Auspuffs vielleicht Pängpäng? Doch, weshalb sollte sie, so begründete Emmy ihre Namenssuche damals, ihren Wagen nur Wagen nennen? Das Maultier riefen sie auch ganz selbstverständlich Samar und nicht bloss Muli.

Während Emmys Gedanken frei, ziel- und zwecklos umherschweiften, liess die Steigung den Kühler nach der fünften Serpentine nicht nur heiss werden, sondern kochen.

»Und das im Schritttempo«, seufzte Emmy. »Er schafft’s heute nicht in einem Rutsch nach oben, die Wasserpumpe spielt mal wieder eines ihrer Spielchen und ausgerechnet mit mir«, erklärte sie ihrer Beifahrerin und lenkte den Wagen wie schon so oft in den letzten beiden Jahren unter die ausgreifenden Äste einer alten Erle, die nach dem langen, harten Winter noch nicht in Knospen stand. Die blattlosen Holundersträucher gaben einen herrlichen Blick frei hinunter ins Tal des Njervals, über die angrenzende, hügelige Ebene im Süden bis hin zum schneebedeckten Gebirgszug im Osten des fernen Sibetan. Was für ein Ausblick!

Emmy stieg aus, streckte ihre Glieder und krempelte die Ärmel ihrer feinen, mit Rüschen besetzten Bluse hoch. Mit einer riesigen Zange und einem Lumpen, die einzig zu diesem Zweck in einer alten Weinkiste hinter dem Fahrersitz verstaut lagen, verschwand Emmy unter der hochgeklappten Motorhaube. Kochend heisses Wasser zischelte aus dem Kühler, als sie den Verschluss leicht andrehte. Der Tempo dampfte und spie mit sich selbst um die Wette.

»Das kann dauern«, stellte Emmy ernüchtert fest, schraubte den Deckel wieder fest zu und hängte den Lumpen zum Trocknen über den Wegweiser Richtung Lugalor. Dann wendete sie sich an die junge Frau, die unbeholfen neben ihr stand: »Hast du Hunger, Leandrin? Heute schon gegessen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, angelte sich Emmy einen runden, mit blumigem Stoff gefütterten Weidenkorb von der Pritsche aus der Menge der unzähligen Kisten und Körbe und breitete eine grün und grau karierte Decke schwungvoll über die vom Winter noch braunen Grasbüschel aus. Sie kniete sich neben den Korb und kramte mit jedem Griff eine weitere Leckerei hervor: Hartkäse mit winzigen Löchern, mehrere kleine Rohwürste, dunkles Sauerbrot, ein Glas mit eingelegtem Paprika, mit Gürkchen und grünen Tomaten, und das Stück von Ruths Apfelkuchen, das sie auf dem Markt nicht an den Mann hatte bringen können. Sie bediente sich genussvoll an Wurst, Käse, Brot, während Leandrin sich damit begnügte, an einer schmalen Brotscheibe rumzuknabbern.

Ihre Fahrten nach Graiffstett dienten Emmy nicht nur dazu, ihre eigenen Erzeugnisse anzubieten. Weitsichtig nutzte sie die dortigen Möglichkeiten, um einzukaufen oder Waren zu tauschen. Denn, was die Bewohner des Hofes, die als Einzige oben auf der Gomba-Hochebene zwischen Graiffstett und Waagengracht lebten, nicht selbst produzierten - Dinge wie Stoff und Zwirn, Knöpfe, Werkzeuge, Wurstwaren, Mehl, Zucker und Salz, Stifte und Bücher, Papiere aller Art - mussten sie in Graiffstett besorgen. Oder jenseits der Berge, auf der anderen Seite des Reviapasses, in Lugalor.

Doch über die unbefestigte Strasse war bei schlechtem Wetter - folglich die meiste Zeit des Jahres - ohnehin kaum ein Durchkommen. Emmy reiste nicht nach Lugalor. Nicht, wenn es nicht beim Leben eines ihrer Kinder sein musste. Und seit sie hier lebten, hatte es noch nie sein müssen.

»Frau von Merfurt«, begann Leandrin nach einer Weile schüchtern, während sie der blendenden Sonne wegen mit zugekniffenen Augen in die Weite blinzelte.

»Emmy!«, kam es umgehend zurück.

»Entschuldigung. Emmy«, begann Leandrin erneut, mit Blick auf den Wegweiser, »stimmt es, dass Sie..., dass du ursprünglich aus Lugalor kommst? Es heisst, es sei da so schön, sauber, und alle dort seien reich. Ist das so? «. Leandrin erschrak im Moment, als sie sich selbst fragen hörte. Dass sie sich das traute! Mut und Neugier, das kannte sie nicht von sich.

»Kann man so sagen. Ich habe da einige Jahre verbracht. Aber, hmmm, wie es heute in Lugalor aussieht und wie es sich jetzt da lebt, weiss ich wirklich nicht. Es ist ja eine ganze Weile her. Ich war noch jung. Damals gab es viele prächtige Häuser, Geschäfte mit allem, was das Herz begehrt, Sonntagskonzerte im Park am Ufer der Nagarus...«

»Also nicht wirklich von da«, stellte Leandrin fest, fast ein wenig enttäuscht.

»Nein, aber das ist eine andere Geschichte. Ich habe mehrere Jahre in Lugalor gelebt - bin hängen geblieben, wegen Klaus, meinem Mann. Ein Bild von einem Mann sag‘ ich dir, schneidig, charmant und aus einer einflussreichen Familie. Er hatte sich in mich verliebt, und ich mich in ihn. Klaus. Kaum zu glauben, aber damals war ich noch richtig schlank und rank!«, scherzte Emmy, reichte Leandrin die Hälfte des Apfelkuchens und gönnte sich selbst unterlegt von einem lustvollen Lachen einen Bissen. Und obwohl sie im Amselnest jeden Taler brauchten, freute sich Emmy wie ein Kind über das Stück, das heute übrig geblieben war. So köstlich konnte ihn wirklich nur ihre Freundin Ruth backen!

Lugalor. Vor mehr als zwei Jahrzehnten lebte Emmy in Lugalor. Gleich, nachdem sie das Haus ihres Vaters auf der Suche nach Heimat, nach Geborgenheit verlassen hatte.

Erst arbeitete sie in der Zuckerfabrik von Solander, einem Vorort von Lugalor. Sie wunderte sich damals sehr darüber, dass der Zucker trotz der unappetitlich schmutzigen Schwärze des Werkgeländes weiss und rein in den Verkauf kam. Die Fabrik am Stadtrand war aussen pfui und innen hui. Welch‘ ein bizarrer Kontrast zur Gesinnung der Herrscherfamilie, der Turjanis, die waren aussen hui und innen pfui.

Nach zwei Jahren wechselte Emmy vom schmutzigen Zuckerwerk zum Markt, wo sie fangfrischen Fisch an den Mann und die Frau brachte. Sauberer als die Arbeit mit den Rüben war es allemal, aber gleichfalls eine derbe Beleidigung für ihre Nase, zumal wenn sich ein heisser Tag dem Abend näherte.

Schliesslich fand sie bei einer angesehenen Familie eine Anstellung als Kindermädchen.

Dort lernte sie Klaus kennen. Am Rande einer Abendveranstaltung, als die Kinder bereits schliefen und sie sich nach draussen setzte, um die Sterne zu betrachten, hatte er plötzlich neben ihr gestanden. Rasch, zu rasch vertraute sie dem Sicherheit und Festigkeit ausstrahlenden jungen Mann.

Ob aus Angst, fehlender Courage oder im Rausch der Verliebtheit - wer wusste das schon so genau - heirateten sie nach kurzer Zeit. Und dies, obwohl beide in beinahe allen Belangen unterschiedliche Sichtweisen vertraten.

Emmy stiess sich bereits zu Beginn einige Male an Klaus‘ unmenschlichen, ja widerwärtigen Ansichten. Doch sie glaubte - hatte glauben wollen -, dass sich solche Schwierigkeiten durch Liebe überwinden liessen.

Wohin Angst und Manipulation Menschen treiben können, wusste Emmy inzwischen. Aber damals?! Sie hatte sich - naiv, wie sie war -, nicht vorstellen können, wie rasch sich biedere Bürger zu einem mörderischen Mob zusammenrotten und sich in wahre Bestien verwandeln können, wenn man sie liess.

Ihre Trauung war ein grosses, glanzvolles Fest. Gäste reisten von weit her an. Sie ganz in Weiss und er in der feinen Paradeuniform, mit zweihundertfünfzig geladenen Gästen und einem zwölfköpfigen Orchester mit Geigen und Trompeten, das die ganze Nacht zum Tanz aufspielte.

Doch schon kurz nach der Trauung kam es in Lugalor zu einem grausamen Kesseltreiben, zur Brandschatzung von Geschäften und der gewaltsamen Vertreibung der Zuluk. Strassenzug um Strassenzug wurden die erwachsenen Männer verhaftet. Fremdländisch aussehende Jugendliche, Kranke und Alte, Mütter mit ihren Kindern wurden aus den Häusern gezerrt, bespuckt, von Söldnern und Schergen der Turjanis niedergeknüppelt. Die üble Unterstellung durch die nationalen Streitkräfte, wonach verschwörerische Umtriebe der Zuluk für die wirtschaftlichen Einbussen der Vorjahre verantwortlich seien, die massive Hetze im Nationalen Tagblatt von Lugalor, welche nur während der nationalen Wettkämpfe kurz unterbrochen worden war, und letztlich die offenen Beschuldigungen seitens der Herrscherfamilie hatte die Stimmung in Lugalor über viele Monate nach und nach derart aufgeheizt, dass sie die erwünschte Wirkung auf die breite Masse nicht hatte verfehlen können. Selbst brave Bürger verloren jegliches Gefühl für Menschlichkeit. Gnadenlos und voll Hass schlugen sie auf die Zuluk ein, selbst auf ihre langjährigen Nachbarn wurden nicht verschont. Der Hass auf jene, die noch ärmer, hilfloser waren als sie selbst. Die Gewaltexzesse hätten ebenso gut die Anuren oder die Klanen treffen können, allesamt Minderheiten, machtlos und ausgeliefert.

In diesen Tagen verlernte Emmy das ruhige Schlafen. Das Gefühl von Leichtigkeit, das Gefühl sich im Leben treiben lassen zu dürfen, war über Nacht verschwunden.

Einmal mehr stellte ihr das Leben die Frage, ob sie ihrem Gewissen, ihrem inneren Kompass folgen soll und kann: War es nicht vernünftiger und deshalb besser, wie die grosse Mehrheit den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen? In der wohl bekannten Umgebung, bei ihrem Mann und dessen Sippe zu bleiben? Schliesslich fehlte es ihnen an nichts. Klaus hatte eine einträgliche Stellung. Mit seinen Beziehungen zu den Turjanis standen selbst ihr als Fremde sämtliche Türen offen. Sie besuchten rauschende Bälle, angesagte Theateraufführungen und Konzerte von Weltklasse. Sie trafen bei hohen Festlichkeiten alles, was in Lugalor und darüber hinaus Rang und Namen hatte. Kurz: Emmy war weder Opfer noch aktiv an den sogenannten Massnahmen zur Wiederherstellung der rechtmässigen, nationalen Ordnung beteiligt.

Doch es war an einem kalten Morgen Mitte November in ihrem dritten Jahr in Lugalor, als sie der Antwort nicht mehr ausweichen konnte. Der erste Schnee würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Emmy stand dem ruhigen, friedvollen Atmen ihrer Zwillinge Mollam und Jon lauschend am Fenster ihres herrschaftlichen Hauses und liess ihren Blick über den nebligen Fluss auf die gegenüberliegende Seite schweifen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Emmy durch die graue Nebelsuppe hindurch über die Nagarus hinweg erkannte, was sich auf der gegenüberliegenden Uferpromenade zwischen der Kirche des heiligen Gregorius mit ihren beiden hohen Zwiebeltürmen und dem ärmlichen Quartier der Schneider zutrug. Eine nicht enden wollende Kolonne schob sich vorwärts, zitternde Kinder an der Hand, weinende Bündel in den Armen. Einige zogen Handkarren voll Hausrat. Berittene Soldaten schlugen auf die Leute ein. Emmy erschrak: Ein Gerücht hatte Gestalt angenommen.

Mit geschlossenen Fenstern und unter Umfahrung gewisser Quartierte wäre es auch ihr ein Leichtes gewesen, nichts zu bemerken. Ihr Leben weiter wie gewohnt zu leben.Und doch, sie hatte nicht bleiben können, nicht auf der Seite des Unrechts. Denn was sie gesehen hatte, konnte sie weder verdrängen noch vergessen. Nach stillen, nächtlichen Kämpfen zwischen ihrem Sinn für Gerechtigkeit und der Sehnsucht nach Sicherheit traf Emmy ihre Entscheidung.

Eine Woche später - Klaus hatte sich wie üblich abends ins Kasino verabschiedet - verliess sie mit ihren beiden Kindern das Haus. Mit nichts als einem Koffer und ihren wärmsten Kleidern am Leib fuhr sie mit den Zwillingen, damals knapp zwei Jahre alt, mit der Bahn bis zur Endstation in Waagengracht. Dort stiegen sie auf einen klapprigen Kleinbus um, der, wie es schien, einzig durch die eindringlichen Stossgebete des Fahrers seinen Dienst verrichtete. Am Ende der Schotterstrasse folgten sie zu Fuss dem gottverlassenen Pfad in Richtung Reviapass. Den Kleinen taten bereits nach einer kurzen Strecke die Beine weh.

An den Füssen wässrige Blasen, im Magen ein tiefes Loch.

So wanderten sie endlose Tage, schleppten sich trotz des einbrechenden Winters und dem scharfen Bergwind von Hütte zu Hütte. Alte Köhler liessen sie zum Aufwärmen in ihre russigen Behausungen. Schafhirten, die den Abstieg im Herbst verpasst hatten und nun auf eine Wetterbesserung warteten, gewährten ihnen ebenfalls Schutz in ihren bescheidenen Verschlägen. Alle diese Armen und Ärmsten teilten ihr karges Brot und zeigten den drei Heimatlosen die verborgenen Saumpfade durch die zerklüfteten Schluchten und über die rauen Berge. Wahrlich ein qualvoller Weg in eine ungewisse Zukunft.

Viele hoffnungslose Tage gingen ins Land, bis Emmy und die Kinder den Reviapass überwunden hatten und über das Gomba-Hochplateau hinunter nach Graiffstett gelangten, erschöpft und mittellos. Das ist nun schon über zwanzig Jahre her, denkt Emmy, und doch hat das schmerzliche Bild nichts von seiner Härte verloren.

»Tja, wie es sich da heute lebt? Ich weiss es wirklich nicht, mein Kind«, nahm Emmy nach einer Weile den Faden wieder auf. »Doch so wie es damals war... Nein, ich schätze, das würde dir nicht gefallen. Lugalor! Eine herrschaftliche Stadt in einer reichen Provinz, reich geworden durch den Handel - den Handel mit Gold, Gewürzen und Menschen. Wer denkt bei Lugalor an Verfolgung, Vertreibung und Hetze...«, seufzte Emmy.

Solche Erinnerungen erschöpften sie und, um ihren Gedanken eine Wendung zu geben, reichte sie Leandrin einen Becher: »Probier‘ mal diesen Himbeersaft! Nicht zu süss und nicht zu sauer.«

Gerade als Emmy den Zündschlüssel für die Weiterfahrt drehen wollte, klatschte ein zäher, grauweisser Tropfen auf die Frontscheibe, zielgenau in ihr Blickfeld.

»Alles Gute kommt von oben! Ob das auch für Guano gilt?«, scherzte sie.

Mit etwas Spucke und einem Tuch, das sie aus der Tiefe ihrer Schürzentasche zog, aus der sie zu jeder Tageszeit alles hervorzaubern konnte, was sie inmitten der Kinderschar brauchte, sorgte sie für klare Sicht.

»Guano? Was ist das?«, fragte Leandrin schüchtern.

»Vogelkot, unser biologischer Dünger. Er enthält viel Phosphat«, antwortete Emmy. »Das nutzen wir bei uns im Amselnest. Du hast bestimmt von unserem Nest gehört.«

»Na ja, schon. Es heisst, Sie...«. Leandrin korrigierte sich dieses Mal umgehend selbst. »Es wird getratscht, dass du ein Heim für nicht ganz normale Kinder führst. Und ich habe gehört, dass man dort den besten Honig weit und breit verkauft. Und...«

Leandrin stockte und senkte den Kopf. Dabei traf ihr Blick auf Emmys Füsse. Beim Blick auf Emmys Zehen entwich ihr ein erschrecktes ‚Huch‘. Ertappt wandte sie ihre aufgerissenen Augen ab und hoffte, dass ihre Verblüffung unbemerkt geblieben war.

Doch Emmy neigte den Kopf zu Seite, sah sie an, zeigte ihr schönstes Lachen und gluckste: »Ist schon in Ordnung«. Sie kannte das; schon so manches Kind war in der Vergangenheit bei ihrem Anblick schon erschrocken.

»Ok, dann erzähl ich dir vom Amselnest. Vor über zwanzig Jahren, als wir - also ich, Jon und Mollam - als wir von Lugalor nach Graiffstett gekommen sind, habe ich oben auf dem Gomba-Plateau einen alten Hof entdeckt. Im Städtchen haben sie uns gesagt, der Hof sei verlassen und verwaist. Deshalb habe ich mich mit meinen beiden Kindern hier oben niedergelassen. Vom alten Gutshof Sundweil war nicht mehr viel übrig. Eine klapprige Scheune, ein halb verfallenes Wohnhaus mit kaum einer ganzen Scheibe in den Fenstern, aber viel Loch im Dach. Reste alter Stallungen. Eine Ruine eben. Ich wusste damals wirklich nicht, wohin, allein mit den Kindern. Ich hatte echt keine Ahnung, wie wir das schaffen sollen. Aber hatte ich eine andere Wahl?!«

»Ich glaub‘ nicht, dass ich das schaffen würde, den Mut hätte und so«, bekannte Leandrin.

»Die erste Zeit oben war hart, wirklich hart«, fuhr Emmy ihre Erzählung fort. »Bis schon nur das Wohnhaus bewohnbar war, und beheizt! Aber es ging; und es war bedeutend besser als nichts. Dann im zweiten Spätherbst, ich erinnere mich, als wär’s erst gestern gewesen, in jenem Jahr kam der Winter so früh und heftig, dass wir dachten, wir müssen erfrieren. Was haben wir gebibbert! Jedenfalls lag eines Morgens eine Kiste mit einem schreienden Baby vor der Tür, ohne Zettel, mit nassen Windeln und einem ordentlichen Hunger. In Graiffstett vermisste keiner den kleinen Jungen. Und auch im folgenden Frühjahr, als der Kleine schon ganz ordentlich gehen konnte, wollte keine Menschenseele etwas von dem Kind wissen; von diesem Rotzbalg, wie sie ihn wegen seiner Hasenscharte verächtlich nannten. Das soll Unglück bringen, haben sie behauptet. So ein Schwachsinn! Wie kann man nur, frag‘ ich dich! Nun, so ist Niklas eben bei uns geblieben, in unserem Amselnest. Der Rest hat sich dann über die Jahre nach und nach ergeben. Eins ist zum anderen gekommen. Kurz: Die Familie ist einfach gewachsen, wir sind immer mehr geworden. Eben: ein Nest für alle aus dem Nest gefallenen!«

Nach der letzten Serpentine kontrollierte Emmy mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel ihre Fracht. Als sie die Kiste mit den Unmengen Süssigkeiten erblickte, die sie den Kindern dieses Mal vom Markt mitbringen konnte, flog ein breites Lächeln über ihr Gesicht. Die werden sich freuen! Sie sah bereits viele grosse Kinderaugen vor sich leuchten.

»Weisst du«, erklärte Emmy, während sie der Strasse entlang des Bachlaufs über das Plateau folgten, »mit diesem Hof versuche ich einen Traum zu verwirklichen, meine Vorstellung von einem Leben in Frieden und Harmonie, mit mir, den Menschen und allem, was uns umgibt. Ist der Mensch nicht als freies Wesen geboren? Er ist bestimmt nicht als Sklave gedacht und sollte deshalb frei leben dürfen. Meinst du nicht auch? Jeder Mensch mit seinem eigenen Kartenspiel, mit seinen starken und schwachen Karten. Mit diesen muss er spielen, spielen dürfen, denn andere hat er nicht.«

»Spielen?«, fragte die junge Frau. »Ein Kartenspiel? Ich verstehe nicht recht.«

»Ich denke, jeder Mensch hat Fähigkeiten und Stärken, eben seine Spielarten, die darauf warten, von ihm entdeckt und ausgespielt zu werden. Daraus zieht er Kraft, Freude, Liebe und letztlich seinen Lebenssinn. Darum geht’s mir auch bei meinen Kleinen, und den Grossen. Sie sollen ihre Stärken erkennen, einsetzen, sie nutzen dürfen, statt auf ihre Schwächen und auf mögliche Makel reduziert zu werden. Doch ich predige schon wieder! Das passiert mir zuweilen. Sieh’s mir nach. So, jetzt sind wir da!«

Mit diesem Satz lenkte Emmy den Transporter über den gekiesten Weg in den Hof des Amselnests, das abseits der unbefestigten Strasse nach Waagengracht auf der Hochebene lag.

4

Geborgenheit ist ein ganzes Leben.

Einsamkeit der halbe Tod.

Unbekannt

Das zweistöckige Wohnhaus, der kleine Schuppen, die Scheune und das längliche Wirtschaftsgebäude lagen rund um den gekiesten Platz zwischen alten Bäumen eingebettet, von Wiesen und Feldern umringt. Im Schatten einer alten Linde sassen zwei Kinder auf einer grünen Bank und lasen.

»Hallo! Hallo! Hallo!«, rief es vielstimmig aus jeder Ecke des Hofs. Kaum ausgestiegen wurde Emmy sogleich von einer ganzen Kinderschar umringt und freudig begrüsst.

»Das ist Leandrin«, verkündete sie fröhlich und wies über die Köpfe hinweg zur jungen Frau, die in diesem Moment auf der Beifahrerseite aus dem Wagen kletterte.

»Tomi, wie immer voran. Moritz, Mario und Severin mit der kleinen Sophie im Schlepptau«, stellte Emmy die Kinder nacheinander vor, während sie die Arme um sie schlang und sie herzlich drückte. »Hallo! Nicht runterfallen!«, rief sie über den Hof zur alten Eiche, die ihre Äste gleich neben der Scheune ausbreitete. Zwei Kinder versuchten ihre Schaukeln anzuhalten, ohne dabei ins Schlingern zu geraten.

»Rita und Flurin haben immer Flausen im Kopf. Das hat uns schon viele Meter Wundpflaster gekostet, und noch mehr Schutzengelchen. Und da auf der Bank unter der Linde sitzen Linus und Sina, unsere Leseratten. Die Älteren sind wohl noch unterwegs«, erklärte Emmy und hob ein Paket nach dem anderen vom Wagen. Sie verteilte sie reihum an die Kinder, die neugierig auf die Pritsche linsten. Bepackt und beladen mit Körben, Taschen und Tüten liefen sie zum Haus, wo Ruth bereits erwartungsvoll in der Tür stand, um die Lebensmittel, Seife, Wolle und alles, was Emmy diesmal günstig ergattert hatte, in Empfang zu nehmen.

»Du kannst schon mal auspacken!«, wies sie Niklas an, der ihr mit einer Kiste entgegen kam. »Ach, ich mag kleine Geheimnisse, Ruth«, gab er zurück und freute sich über seinen einfallsreichen Konter.

»Darf ich vorstellen: Ruth von Hatting, der gute Geist des Hauses und fast von Anfang an im Amselnest mit dabei«, stellte Emmy jetzt auch ihre Freundin vor. »Ich wüsste gar nicht, wie ich alles ohne sie schaffen sollte. Aber Achtung! Sie verteidigt ihr Reich!«, warnte sie mit einem Zwinkern, das Leandrin signalisieren sollte, den Satz zwar erst, aber nicht allzu ernst zu nehmen. »Nicht wahr, Kinder?! Doch, das zu Recht. Denn im Kampf gegen unser Chaos und unseren Hunger ist sie die Beste. Übrigens, den leckeren Apfelkuchen hat sie gezaubert!«, lachte Emmy und strich sich dabei über ihren satten Bauch, bevor sie Ruth mit einer überschwänglichen Umarmung begrüsste.

Ruth von Hatting - mit ihren fünfundvierzig Jahren eine Dekade jünger als Emmy - erinnerte sich kaum mehr an ihr Leben vor der Zeit auf dem Hof. Seit Jahren stand sie treu an Emmys Seite. Auch wenn sie sich von Emmy deutlich unterschied - sie eher vorsichtig und zuweilen zweifelnd, Emmy hingegen wagemutig und direkt -, lebte und arbeitete sie gerne hier oben. Das Amselnest war ihr Zuhause!

Emmy verwaltete die Papiere, unterrichtete die Kinder und vertrat das Nest nach aussen. Ruth war die Frau im Haus, zuständig für Küche und Haushalt. Hof und Garten teilten sie sich. Jeder tat, was in seinen Kräften lag und packte an, wo es gerade nötig war. Ruths Länge - gut einen Kopf grösser als Emmy - war bei gewissen Tätigkeiten - wie beim Aufhängen der Wäsche oder beim Schneiden der Apfelbäume - oft von Vorteil.

Dass Kochen Ruths grösste Leidenschaft war, hätte Leandrin bei ihrem Anblick mit Sicherheit nicht vermutet. Mit ihrer sportlich drahtigen Figur entsprach Ruth in keiner Weise dem Klischee einer üppigen Köchin. Sie wirkte durch ihre kurzen, braunen Haare mit den ersten grauen Strähnchen streng, fast einschüchternd wie eine Mutter Oberin. Früher trug sie ebenso lange Zöpfe wie Emmy, bloss nicht hochgesteckt. Doch seit sie sich vor zwei Jahren einen Zopf am Herd versengt hatte - sie hatte nie herausgefunden, welcher Feuerteufel dabei seine Finger im Spiel hatte -, erschienen ihr kurzes Haar rund ums Feuer vernünftiger.

»Guten Tag, Frau von Hatting«. Scheu wie eine Novizin reichte Leandrin Ruth die Hand und deutete mit gesenktem Haupt einen Knicks an. Sie war heil froh, sich den Namen gemerkt zu haben. »Guten Abend, junges Fräulein! Nur hereinspaziert«, hiess Ruth Leandrin willkommen und zog sie sogleich an der Hand hoch, damit sie ihr zusammen mit Emmy in die Küche folgte. Zwischen den abgestellten Kisten und Körben schnippelten zwei Halbwüchsige, Justus und Gian, artig Karotten und Kartoffeln fürs Abendessen.

Mit einigen knappen Sätzen klärte Emmy Ruth über Leandrin auf: Ein Mädchen aus Graiffstett, das bei Ruggasson in Ungnade gefallen war. Näheres dann später.

Sie wollte die kurze Zeit bis zum Abendbrot nutzen, um der jungen Frau das Nest zu zeigen. Schliesslich kamen nur selten Fremde zu ihnen hoch; abgesehen von verirrten Wanderern, die von Abenteuerlust getrieben den ausgeschilderten Weg verliessen und eine Handvoll Graiffstetter, die wegen ihres Honigs zu ihnen hochstiegen. Gelegentlich klopfte ein Händler an, was Emmy angesichts der klapprigen Fensterläden des Wohnhauses und der holprigen Zufahrt immer wieder erstaunte. Der Hof erweckte bei bestem Willen nicht den Eindruck eines reichlich gedeckten Tisches. Von Zeit zu Zeit kam ihr Buchhalter Felix Zanders zu Besuch. Und hin und wieder fand sich ein Freund von Jon ein.

»Oben befinden sich die Schlafräume der Kinder«, sagte Emmy und zeigte zu einer steilen, engen Holztreppe, deren ausgetretene Stufen und Unebenheiten viele, alte Geschichten erzählten. Sie öffnete schwungvoll eine schwere Eichentüre am Treppenabsatz. »Und hier, unser Wohnraum. Da sitzen wir gerne alle zusammen.« Mit wenigen Schritten erreichte Emmy einen durchgesessenen Polstersessel, ihren angestammten Platz. Müde liess sie sich in die weichen Polster fallen.»Nur eine kurze Pause; das muss jetzt sein!«