Emotionslos - Franka Marie Herfurth - E-Book

Emotionslos E-Book

Franka Marie Herfurth

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Beschreibung

Venka lebt in einer befriedeten Gesellschaft, der Neuen Welt. Das System sorgt für eine lückenlose Überwachung und Neutralisation von Emotionen. Venka hatte dies nie in Frage gestellt. Der Tod ihres Bruders ist für sie bedeutungslos. Zumindest sollte es so sein. Doch neuerdings wird sie immer wieder von unerwarteten Emotionen überrascht. In diesem schwachen Moment erscheint Joris auf der Bildfläche, doch kann Venka ihm auch trauen? Sie versucht ihre aufkeimenden Gefühle zu kontrollieren, um nicht aufzufallen. Dennoch geht sie der Ursache nach und entdeckt, dass Vieles nicht so ist, wie es scheint. Sie gerät nicht nur in ein Gefühlschaos, sondern auch in die manipulativen Fänge der Regierung, die sie als Emotorin eliminieren will. Venka muss lernen, ihren Gefühlen wieder zu vertrauen und riskiert, nie wieder in ihr altes Leben zurückkehren zu können. Doch wie soll sie dem System entkommen?

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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIßIG

KAPITEL EINUNDDREIßIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIßIG

KAPITEL DREIUNDDREIßIG

KAPITEL VIERUNDDREIßIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIßIG

KAPITEL SECHSUNDDREIßIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIßIG

KAPITEL ACHTUNDDREIßIG

KAPITEL NEUNUNDDREIßIG

KAPITEL VIERZIG

KAPITEL EINUNDVIERZIG

KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG

KAPITEL DREIUNDVIERZIG

EINS

Ich atmete tief ein und ließ den Duft in mich hineinströmen. Die Luft war geschwängert von einer würzigen Mischung, die mich einfing und erdete. Das Feld stand in voller Blüte und leuchtete kraftvoll im klaren Schein der aufgehenden Sonne. Der Himmel war endlos blau und stand im starken Kontrast zum Feld, über das ich gerade meinen Blick schweifen ließ. Das lila-violette Schimmern war einzigartig. Vor mir erstreckte sich ein beeindruckendes Feld, dessen Ende ich am Horizont nicht ausmachen konnte und auf dem unsere Kolonieblume blühte. Aber es war nicht nur die Farbe, die besonders war, sondern auch die Blütenform. Sie bestand aus zehn kleinen Blütenblättern. Fünf davon waren größer und liefen vorne spitz zu, die anderen fünf kleineren Blütenblätter waren oval. Ich kannte keine andere Pflanze, die aus unterschiedlichen Blütenblättern bestand.

Diese eine Blume war in unserer Kolonie überall zu finden. Auf den Feldern, in den Wohnhäusern und in den Nutzgebäuden der Kolonie. Meine Verbindung zu dieser Züchtung war eine ganz besondere, denn sie bestimmte meine Familiengeschichte. Mama war Gärtnerin in unserer Kolonie und sie war diejenige, die diese Pflanze zu der gemacht hatte, die sie heute war. Für mich waren die Felder aus dem Bild der Kolonie nicht wegzudenken. Sie stellten außerdem die natürliche Grenze unserer Siedlung dar. Wie eine Wand schützten sie uns vor der Außenwelt, denn sie waren durch die Kolonieaufseher gut bewacht.

Die filigrane, exotische Blüte war zum Sinnbild unserer Gemeinschaft geworden. Allerdings nicht wegen ihrer Ästhetik. Solche Bedeutungslosigkeiten wie Dekorationen oder Blütenschmuck hatte unsere Gesellschaft längst hinter sich gelassen. Sie vereinte uns und stärkte unsere Gemeinschaft, außerdem waren die Essenzen der Pflanze förderlich für unsere Gesundheit.

Die Gesunderhaltung, das Gedeihen und der Aufschwung unserer Gesellschaft waren die höchsten Güter, die für jeden Einzelnen von uns zählten.

Niemals hätte ich einen Schritt weiter als bis zum Rand des Feldes gewagt. Es gingen Gerüchte um, dass dahinter fühlende Menschen, so genannte Emotoren, als gefühlskranke Wahnsinnige ihr Unwesen trieben.

Mein Fenster hatte ich über Nacht geöffnet. Durch die kühle Luft stellten sich die kleinen Härchen an meinen Armen auf, doch schon bald würde es wieder heiß werden. Ich genoss die letzten ruhigen Minuten, bevor ich aktiv in einen neuen Tag startete.

Der Ring an meinem rechten Ringfinger surrte. Auf den kleinen Computer war nun mal Verlass, dabei wirkte er so unscheinbar. Das glatte, dunkle Material, das sich passgenau um meinen Finger schmiegte und in der Mitte die Technik, das Gehirn, das mich nun antrieb. Es war Zeit, aufzustehen.

Auf dem Weg ins Badezimmer kam ich an unserem Esszimmer vorbei, in dem Mama bereits zum Frühstücken auf mich wartete. Unser Haus war nicht sehr groß, aber absolut effizient eingerichtet. Alle Räume waren rechteckig, um die Fläche ideal ausnutzen zu können. Es gab funktionale Einrichtungsstücke. Die meisten Einrichtungselemente konnten wir über unsere Ringe oder den Infopoint, einer mobilen Technikeinheit im Haus, ansteuern. Die meisten Möbel waren aus rustikaler Eiche, so wie der große alte Eichentisch, der das Zentrum unserer Familienzusammenkünfte war. Dekorationen wie nutzlose Gegenstände oder Bilder suchte man in unserem Haus vergeblich. Bis auf eine besondere Ausnahme. Mama hatte hier und da Blumensträuße mit unserer Kolonieblume aufgestellt, wie sie wahrscheinlich in jedem Haus unserer Kolonie zu finden waren. Auf den Vasen prangte das Symbol der Gesellschaft. Dieses Symbol bestand aus drei Elementen. In der Mitte befand sich ein Ebenbild der Kolonieblume, auf der Blumennarbe prangte unverkennbar die Zahl Fünf, welche für unsere fünf Sektoren stand, und gerahmt wurde die Blüte mit einem Kreis, der unsere Ringe repräsentierte.

„Guten Morgen, Venka! Lass uns rasch zusammen unsere Nahrungselemente einnehmen. Dein Vater arbeitet bereits und ich werde auch gleich raus aufs Feld gehen!“ Mama klapperte geschäftig mit ihrem Frühstück. „Wie du weißt, ist es Zeit, die neuen Setzlinge umzusiedeln. Die neuen Felder werden also ab heute bestückt.“

„Ich bin gleich bei dir, Mama!“ Zielstrebig ging ich ins Badezimmer.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Papa bei Tagesanbruch das Haus verließ und erst spät abends wiederkam. Er arbeitete für die Regierung unserer Kolonie, die sämtliche Angelegenheiten für unsere Gemeinschaft regelte, und nahm wichtige, strategische Aufgaben war. Allerdings sah ich ihn in den letzten Wochen noch weniger als sonst.

Auch im Badezimmer hatte Mama das Fenster weit geöffnet, um die frische Morgenluft hineinzulassen. Mein Blick streifte wieder über die weiten Blumenfelder. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf mein Spiegelbild und kämpfte mit meiner roten Mähne. Die Locken hatte ich eindeutig von Papa, die Farbe von Mama. Milan hatte die gleiche Haarfarbe gehabt.

Milan.

#

Mein Bruder starb vor vier Wochen.

Wir waren zusammen im Wald, es dämmerte bereits. Unsere engsten Koloniebegleiter Amalia und Aaron waren auch dabei. Milan wollte uns unbedingt eine Stelle im Wald zeigen. Ich wusste nicht genau was, er meinte nur, ich würde danach mein gesamtes Wissen über Pflanzen neu denken. Und da der große Scan kurz bevorstand, der uns endgültig in die Volljährigkeit und Arbeitswelt entließ, konnte ich mir dies nicht entgehen lassen. Warum allerdings auch Amalia und Aaron dabei waren, konnte ich heute gar nicht mehr genau sagen.

Wir waren also alle vier im Wald und mein Bruder lief vor. Wir sollten warten, bis wir sein Signal hörten, ihm zu folgen. Doch das Signal blieb aus und mein Bruder blieb verschwunden. Wir alarmierten die Aufseher der Kolonie, die ihn zwei Tage später fanden. Er war über eine Baumwurzel gestolpert und dann einen Abhang hinabgestürzt. Tödlich verunglückt. Seither war ich das einzige Kind der Familie. Diese Erinnerung war mir präsent, ich kannte alle Fakten. Aber sie stimmten mich nicht traurig. Seit vier Generationen beschäftigten sich die Menschen dieser Gesellschaft nicht mehr mit Emotionen.

Zu Zeiten meiner Urgroßeltern hatte die Regierung es geschafft, einen Weg zu finden, Emotionen zu neutralisieren. Biochemie war hier das Stichwort – im Einzelnen hatte ich mich nie dafür interessiert. Mein einziges Interesse lag darauf, endlich in die Fußstapfen meiner Mutter zu treten und sie dabei zu unterstützen, unsere Kolonieblume weiter zu züchten, sie zu vermehren und zu stärken. Die Arbeit mit Pflanzen lag mir einfach im Blut und ich hatte nie darüber nachgedacht, irgendetwas anderes zu machen.

Mein Bruder war tot. Er kam nicht zurück. So war das Leben. Am Ende wartete der Tod auf jeden. Einer ging eher als der andere. Wichtig war nur, dass wir zu Lebzeiten etwas zur Gesellschaft beigetragen hatten, damit diese weiter gedeihen konnte. Niemand verschwendete mehr Gedanken an die Vergangenheit, denn diese war nicht zu ändern.

Ich schaute auf meinen Ring und sah diese Tatsache bestätigt: Alles im grünen Bereich, keine ungewöhnlichen Emotionen verzeichnet.

Ich dankte der Regierung gedanklich für ihre Forschung. Ohne hindernde Emotionen konnte ich mich besser in der Gesellschaft integrieren und ich wollte unbedingt meinen Platz in dieser finden.

Ich legte die Haarbürste zurück und putzte mir die Zähne.

#

Mama saß noch immer an unserem Eichentisch und studierte über einen Infopoint Forschungsberichte. Die meisten Informationen bekamen wir zwar über unsere Ringe, allerdings verfügte jedes Haus über einen Infopoint. Über diesen hatten wir Zugang zu Forschungs- und Lernmaterial. Außerdem war es angenehmer, umfangreiche Daten über das größere Terminal des Infopoints einzusehen als über den Minimonitor unserer Ringe.

Meine Mutter trug wie üblich ihre grünen Gummistiefel und eine Gärtnerschürze. Nur ihr Strohhut, der sie vor der brennenden Sonne auf dem Feld schütze und mittlerweile zu ihrem Markenzeichen geworden war, lag neben ihr auf einem freien Stuhl. Unser Esszimmer war bereits sonnendurchflutet.

„Bereit fürs Lerncenter, Venka? Es sind nur noch wenige Wochen bis zum großen Scan und der Sektorenzuordnung.“ Der große Scan war die Schwelle zwischen dem Lerncenter und der Aufnahme unserer Arbeit für die Kolonie. In der Regel fiel das in etwa mit unserer Volljährigkeit zusammen. Die Vergabe von Arbeit erfolgte anhand der fünf großen Sektoren: Landwirtschaft, Handwerk, Produktion, Gemeinwohl, Forschung.

Mama hatte ihre Nahrungselemente, die sich in drei unterschiedlich großen, grauen Boxen befanden, bereits vor sich stehen und klapperte mit dem Besteck, während sie aß.

Ich ging schnell zum NETS und scannte meinen Ring. Das NETS hieß eigentlich Nahrungselementetransportsystem, aber niemand benutzte dieses lange Wort. Das Tunnelsystem, welches sich über die gesamte Kolonie verzweigte, endete mit einem massiven grauen Rohr direkt in unserer Küche. Das NETS konnte über das System jederzeit unsere Vitalwerte auslesen, sodass es immer genau wusste, welche Nahrungselemente unsere Körper benötigten. Diese wurden dann auf einem Tablett in kleinen Transportboxen geliefert. Wenig später, nachdem ich meinen Ring eingelesen hatte, polterte es, dann ertönte ein Piepen. Ich öffnete die schwere, graue Klappe und zog mein Frühstück heraus. Es war geruchsneutral. Die Nahrungsaufnahme war dazu da, den Körper mit allen notwendigen Nährstoffen zu versorgen, nicht mehr und nicht weniger. Welche notwendig waren, wusste mein Ring.

„Ich kann es kaum erwarten, die Leistungsprüfung als Scan abzulegen, Mama. Ich will das Lerncenter abschließen und arbeiten, endlich auch meinen Anteil zur Gesellschaft beitragen.“

Geräuschvoll setzte ich mein Frühstück auf dem Esstisch ab und ließ mich auf dem Stuhl neben Mama sinken. Schwerpunkt Nahrungselement II, unser Standardfrühstück.

„Es sind ja nur noch ein paar Wochen. Und du weißt, jeder hat in dieser Gesellschaft seinen Platz!“ Wissend lächelte sie mich an, beendete die Anzeige des Infopoints und stand auf.

„Ich gehe in die Gärtnerei.“

„Ich mache mich auch auf den Weg zum Lerncenter. Bis heute Abend.“ Flink stand ich von meinem Stuhl auf und schnappte mir meine Sachen.

ZWEI

Unser Haus lag sehr zentral in der Kolonie und sah aus, wie jedes andere. Ein quadratischer Holzbau mit Flachdach, durchzogen mit vielen Fenstern, die unsere Innenräume mit viel Licht fluteten. Ansiedelungen wie unsere gab es Zahlreiche in der Gesellschaft. Aus der Alten Zeit hatte die heutige Gesellschaft allerdings gelernt, dass riesige Städte wie Megacitys zwangsläufig zu sozialen Ungleichheiten und kriegerischen Auseinandersetzungen führten und die Ausbreitung von Seuchen begünstigten. Deshalb war der Gründer unserer neuen Gesellschaftsform zu kleineren Siedlungen, wie unserer Kolonie, zurückgekehrt.

Jede Kolonie versorgte sich autark, um Abhängigkeiten voneinander zu verhindern. Unsere Grenzen wurden durch die Blumenfelder der Kolonieblüte markiert und auch als solche respektiert. Wir als Koloniebewohner würden diese Grenze niemals überschreiten und auch von außen blieb diese Grenze unberührt. Vor äußeren Einflüssen schützten uns unsere Felder. Dies hatte insgesamt zu einer sehr stabilen Gesellschaft geführt. Wir alle lebten friedlich miteinander und schätzten unsere Nachbarschaft. Wir unterstützten einander, denn das Wohl der Gemeinschaft stand an erster Stelle.

Unsere Kolonie war hoch technologisiert. So gut wie alles war automatisiert, nicht zuletzt aufgrund des Systems. Denn die Sammlung, Analyse und Nutzung elektronischer Daten setzte hohe technologische Standards voraus.

Die Haustür fiel hinter mir zu und ich bog auf einen für unsere Kolonie typischen Sandweg ein. Unsere Siedlung war durchzogen von diesen Sandwegen, welche alle Nutzgebäude und Wohnhäuser miteinander verbanden. Ich brauchte nur etwas mehr als zehn Minuten bis zum Lerncenter. Immer wieder traf ich auf Koloniebegleiter, die ich höflich grüßte. Drei Querstraßen hinter unserem Wohnviertel befand sich das ARIC. Das Augmented Reality Interaction Center hätte in der Alten Zeit wohl schlichtweg Freizeitzentrum geheißen, denn dort konnten wir nach dem Lerncenter unsere Zeit verbringen.

Die heutige Technik machte es möglich, unsere Realität durch virtuelle Elemente zu erweitern. Einige Spiele waren wirklich sehr fordernd, um unsere Leistungsfähigkeit zu trainieren.

Wenige Gebäude hinter dem ARIC ragte das Community Center heraus, welches mich immer an die großen Konzile, die in unserer Gesellschaft beinahe festlich begangen wurden, erinnerte. Zuletzt feierten wir den Tag der Blüte, um das Sinnbild unserer Gemeinschaft zu ehren. Mama hatte wochenlang für diesen Tag von morgens bis abends Vorbereitungen getroffen und es wurde ein würdevoller Abend. Es war auch das letzte Konzil, an dem mein Bruder teilgenommen hatte.

Das Community Center war stets beflaggt. Auf den Flaggen war das Portrait des Gründers unserer neuen Gesellschaftsform abgebildet: Padius Schaloran. Sein Name war jedem in unsere Kolonie bekannt. Er hatte einen gutherzigen Gesichtsausdruck und ein wissendes Lächeln. Die wenigen weißen Haare auf seinem Kopf ließen ihn erfahren, vielleicht sogar weise, aussehen. Aufmerksame, dunkelgrünen Augen wurden von zahlreichen Lachfältchen umspielt und die kleinen Grübchen machten ihn sympathisch. Seine Absichten bei der Gründung unserer neuen Gesellschaftsform waren absolut selbstlos. Er hatte schwere Auseinandersetzungen, Zerstörungen und Kriege miterlebt, hatte Menschen ertragen müssen, die sich gegenseitig alles nahmen. Aus diesem Grund forschte er sein restliches Leben daran, wie es möglich gemacht werden konnte, Emotionen einzudämmen, sie zu extrahieren und vom menschlichen Denken zu lösen, um allen Menschen ein friedvolles Leben zu ermöglichen. Er war davon überzeugt gewesen, dass, wenn starke individuelle Emotionen wie Neid, Habgier und Hass nicht mehr existieren würden und Menschen sie nicht mehr fühlen könnten, dass es dann auch keine Verfolgungen, Plünderungen und Kriege mehr geben würde. Genauso verhielt es sich mit positiven Emotionen wie Glück, Erfolg oder Liebe. Immer dann, wenn Menschen sich zu sehr auf ihre individuellen Emotionen beschränkten, litt das Gemeinwohl. Und diese emotionale Abhängigkeit und Fixiertheit wollte Padius Schaloran durchbrechen.

Letztendlich war er mit seiner Forschung erfolgreich gewesen und wir trugen heute alle seinen Ring, über den wir durch das System gesichert wurden. Seitdem mussten wir uns keinen starken individuellen Emotionen mehr aussetzen. Ein weiterer positiver Erfolg war außerdem die gleichzeitige Kontrolle über unsere Gesundheit, die ebenfalls über die Ringe überwacht werden konnte.

Die Regierung und die Kolonieaufseher sorgten jeden Tag dafür, dass diese neue Gesellschaftsform aufrechterhalten wurde. Die Tagesroutine der Regierung lag in erster Linie in der Überwachung des Systems. Denn in unserer Gesellschaft gab es keinen Egoismus mehr, keine Gewalt oder willkürliches Handeln. Wir lebten alle friedlich miteinander, schätzten uns und waren froh über das, was wir gemeinsam geschaffen hatten.

#

Die Luft hatte sich bereits erwärmt und meine roten Locken tanzten im Wind. Meistens war es mir unmöglich, sie zu bändigen. Ich folgte weiter dem Sandweg, der von saftig grünen Büschen und Sträuchern gesäumt war. Immer, wenn ich an den Gebäuden vorbeischaute, entdeckte ich das leuchtende Blumenfeld, das stets meinen Horizont kennzeichnete.

Als ich das ARIC passierte, konnte ich sie sehen. Amalia stand am Eingangstor des Lerncenters und sah mir entgegen.

Im Gegensatz zu ihrem schlanken, zierlichen Körper war ich kräftig und großgewachsen. Ich überragte sie um fast einen halben Kopf. Meine Kleidung war meistens funktional, schlicht und einfarbig. Wie so oft trug sie ihre abgerissene Jeans und ein bauchfreies T-Shirt. Der blonde Pferdeschwanz schwankte von Ohr zu Ohr, an denen auffällig leuchtende Blütenohrringe prangten. Ich hatte nie verstanden, warum sie diese unnötige Zierde trug.

Ich winkte ihr zu und drückte sie zur Begrüßung einmal kurz an mich. Dieses Begrüßungsritual pflegten wir, seit wir uns kannten, auch, wenn sich sonst fast niemand auf diese Weise begrüßte. In unserer Gesellschaft berührte man so gut wie nie andere Personen. Aber ich stellte diese Geste schon lange nicht mehr in Frage, dafür pflegten wir sie schon zu lange. Seit ich denken konnte, verbrachten Amalia und ich viel Zeit zusammen. Wir teilten außerdem die Freude an der Gärtnerei.

„Bereit für einen neuen Tag, Venka? Nun sind es nur noch wenige Wochen bis zum großen Scan!“ Sie schaute mir dabei intensiv in die Augen, was mich kurz irritierte. Ich ließ meinen Blick über den Vorplatz des Lerncenters streifen und grüßte ein paar bekannte Gesichter, die gerade an uns vorbei strömten. Als ich wieder Amalia ansah, hatte sich die Intensität in ihrem Blick gelegt.

„Ich will den Scan endlich hinter mir haben und nicht mehr täglich ins Lerncenter gehen müssen. Ich möchte unbedingt in der Gärtnerei arbeiten, so wie Mama!“

„Du wirst eine großartige Gärtnerin werden, keine Frage. Meinst du, wir werden beide für die Landwirtschaft eingeteilt?“

Ich wusste, dass Amalia genauso gerne wie ich Gärtnerin werden wollte.

„Wenn unsere Leistungen ausreichen, und davon gehe ich jetzt mal aus, werden wir beide unserem Wunschsektor zugeteilt. Du wirst schon sehen.“ Ich lächelte ihr aufmunternd zu.

Unsere Lerneinheiten im Lerncenter orientierten sich an den fünf großen Sektoren, zu denen wir nach dem Scan zugeteilt wurden. Jeder Sektor umfasste verschiedene Tätigkeitsbereiche, der meiner Mutter fiel in die Landwirtschaft, aber manchmal gab es auch Mischformen. Mein Vater war als Regierungsmitarbeiter sowohl für das Gemeinwohl als auch für die Forschung zuständig. Von der Regierung war haargenau festgelegt, wie viele Personen in den unterschiedlichen Sektoren produktiv werden mussten, damit unser Wohlstand gehalten und unsere Sicherheit gewährleistet werden konnten.

Nach dem großen Scan würden wir unsere Wunschsektoren nennen, in die wir auch kamen, wenn unsere Leistung am Ende der Zeit im Lerncenter für unseren angegebenen Wunschsektor ausreichend war. Die Regierungsvertreter unserer Kolonie kalkulierten, ob das Sektorenverhältnis aufging oder nicht. Üblicherweise übernahmen die Kinder die Tätigkeiten der Eltern, sodass die prozentuale Verteilung gleich blieb und es nur selten zu Schwierigkeiten kam.

Amalias Eltern lebten nicht mehr und sie wusste nicht, welchen Beruf sie einmal hatten. Ihre Tante, bei der sie wohnte, war Erzieherin und zählte zum Sektor Gemeinwohl. Sollten zu viele unseres Jahrgangs in denselben Sektor wollen, würde es ein Stechen geben.

Mein Ring vibrierte.

„Los Amalia, wir müssen reingehen, sonst kommen wir zu spät.“

Intuitiv strich Amalia über ihren Ring, der gleichzeitig vibrierte und sah dabei mit dem gleichen intensiven Blick auf meinem, mit dem sie eben noch mein Gesicht betrachtet hatte.

„Deine Verletzung am Ringfinger ist ja immer noch nicht verheilt!“

Automatisch zog ich meinen rechten Arm hinter meinen Rücken. Es irritierte mich, dass sie mich so direkt auf meinen Ringfinger ansprach.

„Das ist nicht der Rede wert. Du wirst sehen, in einer Woche sieht man nichts mehr.“ Ich hoffte, es stimmte, was ich sagte. Mein Ringfinger sah seit ein paar Wochen echt gruselig aus. Direkt vor dem Ring, am Kugelgelenk des Ringfingers, prangte eine riesige Fleischwunde, die vor wenigen Tagen noch von einem schillernden grün-blauen Fleck umgeben war. Zum Glück war dieser immerhin verblasst, aber das Fleisch hatte sich noch immer nicht ganz geschlossen. Es würde wohl eine Narbe bleiben. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine derart starke Verletzung. Grade die rechte Hand wurde in unserer Gesellschaft normaler Weise sehr vorsichtig behandelt. Mein Magen zog sich zusammen. Denn viel schlimmer als die offene Verletzung an meinem Finger war die Tatsache, dass ich keine Erinnerung daran besaß, wie ich zu dieser Verletzung gekommen war.

Ich schüttelte meinen Kopf, um die Gedanken zu zerstreuen, und setzte mich in Bewegung. Schweigend gingen Amalia und ich ins Lerncenter. Das Lerncenter war ein großes, flaches Gebäude, das der Form einer Wabe ähnelte und in der Mitte einen großen Innenhof hatte. Es war ein funktionales Haus mit hellen Wänden und vielen Fenstern, die uns den Blick nach draußen freigaben. Überall gab es Sitzecken und Nischen zum Lernen mit Infopoints, kleine Rückzugsorte, damit wir jederzeit unsere Aufgaben erledigen konnten.

Wie jeden Morgen stand zuerst der Check-In an.

DREI

Alle Lernenden trafen sich morgens im Atrium, wo wir unsere Ringe scannten und damit unsere Anwesenheit bestätigten. Der Lerncenterleiter erschien auf einem großen Bildschirm an der Wand der Halle, vor der wir uns aufreihten.

Während des Check-Ins erfuhren wir alle neuen, wichtigen Informationen zu anstehenden Veranstaltungen oder Terminen, die für alle Lernenden wichtig waren. Manchmal wurden neue Lernbegleiter vorgestellt oder Errungenschaften aus der Forschung erläutert.

Nach diesem alltäglichen Update verteilten wir uns auf unsere Lernlabore. Meistens erhielten wir auf dem Weg dorthin noch individuelle Informationen auf unsere Ringe, die wir unterwegs einsehen konnten. Mit einer kurzen Berührung des Bildschirms musste wir bestätigen, dass wir die Informationen, die über das Display huschten, gelesen hatten.

Der Vormittag im Lerncenter verlief wie jeder andere. Meine Leistungen waren immer gut. Ich war keine Überfliegerin, aber auch nicht sonderlich schlecht. Ich hatte stets alle Aufgaben erfolgreich absolviert. Ich ging davon aus, dass diese Grundlage ausreichend war, um im Sektor Landwirtschaft aktiv zu werden und Mama in der Gärtnerei unterstützen zu können.

Während ich den Ausführungen unserer Lernbegleiterin für Gemeinwohl lauschte, surrte mein Ring. Ein Blick auf ihn verriet mir, dass ich etwas essen sollte. Ich strich mit dem linken Zeigefinger über den Ring, der für uns so viel mehr war als eine bloße Zierde.

Nahrungselement IV stand auf dem Minidisplay des Rings. Dort, wo in der Alten Zeit meistens ein Stein eingefasst gewesen war, der entweder eine besondere Farbe, einen filigranen Schliff und dadurch einen bestimmten Wert hatte, war in unserer Gesellschaft ein kleines Gehirn von unschätzbarem Wert eingelassen. Es wusste einfach alles. Der Minicomputer erfasste alle wichtigen Informationen. Und ich wusste nun, dass mein Frühstück heute nicht so ausgewogen gewesen war, wie mein Körper es gebraucht hätte. Ich hatte aus Zeitgründen nicht alles aufgegessen. Aber das war kein Problem. Den Mangel würde ich gleich bei der nächsten Mahlzeit wieder ausgleichen.

Das Surren, das durch die Vibration aller Ringe ausgelöst wurde, beendete die Diskussion über Klassiker der Alten Zeit. Also der Zeit, bevor unsere Gesellschaft die neue Kolonieform angenommen hatte.

Wie es wohl für meinen Urgroßvater gewesen sein musste, die Transformation zwischen diesen beiden Welten mitzuerleben? Wie alt mein Uropa und meine Uroma wohl gewesen waren, als sich die Gesellschaft neu formierte? Ich stellte mir plötzlich vor, wie diejenigen, die die Seuche und den Krieg überlebt hatten, aus den großen Städten aufs Land hinauszogen, um neue Kolonien zu gründen. Sie hatten miterlebt, wie sich eine globale Bevölkerung selbst zerstört hatte. Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Überbevölkerung, das Gefühl der Überlegenheit und das Ignorieren der Konsequenzen, die sich über Jahre angebahnt hatten, führte letztendlich dazu, dass das natürliche Gleichgewicht kippte. Es folgten Naturkatastrophen und die Ausbreitung von Krankheiten, dessen Erreger sich aufgrund der klimatischen Veränderungen entwickelten und resistenter wurden. Als klar war, dass nicht jeder diese Entwicklungen überleben würde, stieg der individuelle Egoismus ins Unermessliche. Hätte Padius Scholoran nicht mit seiner Idee einer neuen Gesellschaftsform aufgewartet, wären die Evakuierungen raus aus den Städten in die ländlichen Gebiete sicher weitaus weniger friedlich verlaufen. Alle hatten nur die Dinge bei sich, die sie tragen konnten. Bei dem Gedanken stellten sich wieder meine kleinen Härchen auf und ich strich mir über den Arm. Im gleichen Moment surrte mein Ring: Adrenalin.

Oh nein. Adrenalin war nicht gut für meinen Körper. Ich sperrte die Gedanken direkt aus meinem Kopf aus, um meinen Körper nicht unnötig unter Stress zu setzen. Seit wann machte ich mir Gedanken über die Vergangenheit? Die Zukunft war schließlich das, worauf es ankam. Sich gedanklich in der Vergangenheit aufzuhalten war reine Zeitverschwendung.

#

Amalia und ich verließen gemeinsam nach der dritten Lerneinheit das Lernlabor und schlängelten uns durch die lärmenden Flure unseres Lerncenters.

Am Ende des Hauptflures befand sich unsere Kantine, nach dem Atrium der zweitgrößte Raum des Lerncenters. Mein Blick glitt durch den mir gut bekannten Raum. An der einen Wand befanden sich die Nahrungselementeausgabe und der Geschirrrückgabebereich. Ansonsten war der Raum mit zahlreichen kleinen Sitzbereichen ausgestattet, wo wir in kleinen Gruppen zusammen essen konnten.

Der Raum war erfüllt von dem gleichmäßigen Gemurmel zahlreicher Unterhaltungen kleinerer Gruppen.

„Setzen wir uns gleich raus in die Sonne?“ Amalia sammelte wie immer das Besteck für uns beide zusammen und ich besorgte Tablets und Servietten.

„Klar gern. Ich lasse mir doch keinen Sonnenstrahl entgehen!“ Ich reihte mich in die Schlange ein und wartete geduldig, bis ich dran war.

Vorne angekommen, scannte ich meinen Ring, die Mitarbeiterin reichte mir meinen Teller.

„Schwerpunkt Nahrungselement IV, bitteschön.“ Ihre Bewegung war mechanisch, was mich nicht wunderte, denn sie gab täglich Dutzende Teller aus. Aber sie lächelte dabei stets und ich lächelte zurück.

Ich nahm ihr den Teller ab und machte es mir mit Amalia draußen in der Sonne gemütlich. Wir erwischten einen kleinen Tisch unter der alten Buche. Die Blätter spendeten etwas Schatten. Kurze Zeit darauf gesellte sich Aaron zu uns.

Aaron war ein absolutes Energiebündel und sein Elan war ansteckend. Ich konnte sehr gut verstehen, warum mein Bruder ihn als seinen Koloniebegleiter ausgesucht hatte. Ich hielt es für selbstverständlich, dass er auch jetzt noch, nachdem mein Bruder tot war, weiter den Kontakt zu mir hielt.

„Hi Venka, hi Amalia! Ihr habt ein schönes Plätzchen ergattert. Ist hier noch frei?“ Aaron kam zu uns herüber und ließ sich mit fließenden Bewegungen neben Amalia sinken.

„Hallo Aaron, was gibt es Neues?“, fragte ich kauend.

„Heute Nachmittag trainiert die Basketballmannschaft. Habt ihr Lust, beim Trainingsspiel im ARIC zuzuschauen?“ Aaron schlang sein Mittagessen herunter. Schwerpunkt Nahrungselement I natürlich, so wie bei allen Sportlern, damit er mit ordentlich Energie versorgt war.

„Ich wollte anfangen, den Lernstoff zu strukturieren und wenn ich das heute aufgrund des Spiels aufschiebe, gerät mein Zeitplan durcheinander. Also leider nein.“ Amalia spießte ihr Gemüse auf die Gabel. Daraufhin schaute Aaron mich an.

„Du weißt, wie gerne ich zuschauen würde, aber heute Nachmittag wollte ich Mama helfen. Ihr wisst ja, seit Milan nicht mehr da ist und Papa ständig arbeitet ...“ Den Rest musste ich nicht mehr aussprechen, die zwei wussten, wie es momentan bei mir zu Hause aussah.

„Klar, verstehe ich. Es ist wichtig, dass du deine Familie unterstützt. Was macht eigentlich die Verletzung an deinem Finger?“ Aaron schaute mich durchdringend an.

„Verletzung?“ Diese direkte Frage aus dem Nichts hatte ich von Aaron nicht erwartet. Ich studierte seinen Blick und versuchte zu ergründen, was hinter der Frage steckte. Schon das zweite Mal an diesem Tag auf meinen Ringfinger angesprochen zu werden, behagte mir gar nicht.

Irritiert räusperte ich mich und machte eine Wegwerfbewegung.

„Fast verheilt, bin ich froh, wenn das Thema durch ist“, sagte ich mit Nachdruck. Amalia schaute wortlos von Aaron zu mir und zurück. Was sollte diese Fragerei?

In dem Moment surrte Aarons Ring. Er vibrierte stärker als bei einer normalen Meldung, was für eine unregelmäßige Mitteilung sprach. Dieses Vibrieren war drängender.

Überrascht schauten Amalia und ich auf Aarons Finger. Schnell verschwand seine rechte Hand unter dem Tisch.

„Gut, ich muss los! Hat mich gefreut, euch wieder zu sehen! Ich muss zum Training. Drückt uns heute Nachmittag die Daumen!“ Er grüßte uns noch einmal zu, erhob sich von der Bank und verschwand mit seinem Tablet in der Kantine. Als wäre nichts gewesen.

„Ungewöhnlich, findest du nicht auch?“ Amalia sah ihm stirnrunzelnd nach.

„Wenn du das sagst.“ Ich schaute auf meinen Teller, um mich von dem komischen Bauchgefühl abzulenken, dass in meiner Magengegend immer deutlicher wurde.

Der Nachmittag zog sich und die Luft erwärmte sich immer mehr. Der warme Wind, der durch die geöffneten Fenster hereinkam, ließ uns träge werden. Nach dem Check-Out im Atrium, wo ich meinen Ring wieder abgescannt hatte, schlenderte ich gedankenverloren zu meinem Spind. Ich hatte alle meine Lernmaterialien dabei: den mobilen Infopoint, Headset und Ladekabel. Ich wollte sie alle im Center lassen, zum Lernen kam ich zu Hause heute eh nicht mehr. Die Flure waren schon leergefegt, ich hörte nur gedämpft ein paar Stimmen von draußen.

Das Mittagessen zog noch einmal an meinem inneren Auge vorbei. Das kurze Gespräch mit Aaron war wirklich merkwürdig gewesen. Er wirkte bei seinem plötzlichen Aufbruch gehetzt, das kannte ich gar nicht von ihm.

Ich hatte meinen Spind fast erreicht, da rempelte mich jemand an.

„Aua!“ Durch den Schmerz lockerte sich mein Griff und meine Sachen rutschten über meinen Bauch. Ich konnte sie grade noch greifen, bevor sie auf den Boden aufschlugen. Nur das Headset purzelte vollends herunter. Ich bückte mich, um es wieder aufzuheben.

„Sorry, tut mir echt leid, ich hab dich zu spät gesehen.“ Überrascht schaute ich auf, die Stimme kam mir bekannt vor.

„Kein Problem Garvin, echt nicht!“

Ich stand dem sportlichsten Typen unseres Jahrgangs gegenüber. Garvin strebte danach, nach unserer Lernzeit für den Sektor Gemeinwohl zu arbeiten. Er wollte später die Regierung unterstützen und arbeitete hart für sein Ziel. Das fand ich bewundernswert. Diese Zielstrebigkeit beeindruckte mich.

„Cool, ähm ...?“

„Venka! Ich heiße Venka.“ Ich räusperte mich. Dass er mich nicht kannte, wunderte mich. Nach Milans Tod wusste eigentlich jeder im Lerncenter, wer ich war.

Er sah mich intensiv an. Als sein Ring surrte, checkte er routiniert das Display.

„Okay, ich muss dann auch weiter. Sorry noch mal, Venka. Bis bald!“ Er zwinkerte mir zu und ging in Richtung Sporthalle. Schon war ich wieder allein. Mühsam puzzelte ich meine Sachen in den Spind hinein und schloss die Tür schwungvoll, weil sie klemmte. Nun aber ab nach Hause.

VIER

Energiegeladen öffnete ich unser Gartentor und ging über die perfekt angeordneten Pflastersteine, welche von unseren Kolonieblüten gerahmt wurden, den Pfad entlang zu unserer Haustür.

Mit einem Blick stellte ich fest, dass Mama nicht zu Hause war. Eigentlich hatte ich auch nichts anderes erwartet.

In dem Moment vibrierte mein Ring und zeigte mir eine Mitteilung. Natürlich, eine Nachricht von Mama, die sie so programmiert hatte, dass sie mir wenige Minuten nach dem Eintreten angezeigt wurde.

Komm bitte zu mir in die Gärtnerei. Ich kann deine Unterstützung gebrauchen. Mama

Schnell schlüpfte ich aus meinen Turnschuhen, hinein in meine Gummistiefel und stapfte schnurstracks los. Ich wäre jetzt an keinem anderen Ort lieber gewesen.

Die Gärtnerei lag unmittelbar hinter unserem Haus. Ich brauchte keine zwei Minuten dorthin. Generell waren die Wege bei uns in der Kolonie nie weit. Alles war zu Fuß zu erreichen. Es gab nur wenige Fahrzeuge, die, wenn überhaupt, nur im Rahmen der Arbeit zum Einsatz kamen. Wir Koloniebewohner waren stets dazu angehalten, alle Wege zu Fuß zu absolvieren, schließlich hatte dies auch positive Auswirkungen auf unsere Gesundheit.

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Ich fand Mama am Ende des Glaskomplexes. Unsere Gärtnerei war ein riesiges Gewächshaus. Durch die immer feuchte Luft bildeten sich Tropfen an den Scheiben, die Luft war geschwängert mit Blütenduft. Mama und Papa hatten es mit finanzieller Unterstützung und nach Vorgabe der Regierung errichtet, um die kleinen Setzlinge unserer Kolonieblume vorziehen zu können. Die jungen Pflanzen brauchten besonders viel Schutz, weil sie sehr anfällig für Kälte und Wind waren. Wenn sie nach etwa vier Monaten groß und kräftig genug waren, wurden sie hinausgepflanzt, meistens auf das Feld, das kurz zuvor abgeerntet wurde. So konnte unsere Kolonie das gesamte Jahr über mit unserer Kolonieblume versorgt werden.

Ich war sehr gerne in der Gärtnerei. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Hier drin konnte ich mich besser auf das fokussieren, was wirklich zählte, nämlich mein produktiver Beitrag zu unserer Gesellschaft.

Ich schritt die schier endlosen Pflanzkästen entlang, die auf Hüfthöhe rechts und links aufgereiht waren. In regelmäßigen Abständen waren die großen Glasfenster geöffnet, um die warme Luft zirkulieren zu lassen. Der Boden war feucht. Um mich herum surrten Bienen und Hummeln, die sich in das Glashaus verirrt hatten. Das Dach knackte aufgrund der wärmebedingten Ausdehnung der einzelnen Platten. An jedem einzelnen Pflanzkasten war ein Monitor befestigt, der darüber aufklärte, in welcher Verfassung die Erde und die Pflanzen waren. Die Infopoints gaben auch an, wann wir die Pflanzen mit Wasser versorgen oder beispielsweise düngen mussten. Ich konnte sehen, dass Mama die Setzlinge bereits gewässert hatte. Nicht nur die Beete waren feucht, auch Mamas Schürze, die sie immer um den Bauch trug.

„Hallo Mama, ich bin zurück!“

„Prima, Venka. Gibt es neue Informationen, die wichtig sind?“

„Nein, keine neuen Informationen. Wie kann ich dir helfen?“

„Die Setzlinge in der zweiten Reihe von hinten müssen umgesetzt werden. Sie sind bereits zu groß für den Pflanzkasten. Du kannst sie eine Reihe weiter hinten wieder einsetzen, aber weiter auseinander.“

Routiniert schnappte ich mir Schaufel und Eimer und machte mich an die Arbeit. Eine Weile arbeiteten wir schweigend. Wie schon so oft fragte ich mich, ob ich schon alles Notwendige über unsere Pflanzenzucht wusste, um bald im Sektor Landwirtschaft arbeiten zu können.

„Mama, berichtest du mir noch einmal, wie du unsere Kolonieblume gezüchtet hast?“

„Aber Venka, den Bericht habe ich dir doch bestimmt schon 1000-mal wiedergegeben.“

„Ich weiß, aber ...“ Ich hielt in meiner Arbeit inne und sah zu meiner Mutter herüber.

„Nun gut. Wie du ja weißt, waren dein Vater und ich mit die ersten neuen Siedler, die in diese Kolonie gekommen sind. Die bereits angesiedelten Bewohner der Kolonie waren überwiegend älter.“ Mama arbeitete konzentriert weiter, während sie ihren Bericht fortsetzte. „So in etwa wie die Generation deiner Großeltern und sie hatten noch immer mit den Folgen der großen Seuche zu kämpfen. Ihre Körper waren schwach und ausgezehrt.“

„Wie stand es damals um die medizinische Versorgung?“ Routiniert zog ich eine weitere Pflanze aus der Erde, um sie zu versetzen.

„Früher waren die Forschung und Technik noch nicht so weit. Es gab keine permanente Kontrolle der Vitalfunktionen. Die Menschen mussten ihren eigenen Körper kontrollieren oder einen Fachmann aufsuchen, die damals rar gesät waren. Viele hatten während der großen Seuchen ihr Leben gelassen, um andere zu retten.“

„Ich kann mir ein Leben ohne die permanente Kontrolle meiner Vitalfunktionen gar nicht vorstellen.“ Vorsichtig drückte ich die Erde an, nachdem ich eine weitere Pflanze umgesetzt hatte.

„Und das ist auch gut so. Aber zu der Zeit brauchten die Menschen etwas, das ihnen neue Kraft schenkte. Man erinnerte sich an alte Heilpflanzen, die vor hundert Jahren genutzt wurden, um Kranke zu heilen.“ Sie betrachtete ihre Setzlinge.

„Und diese Pflanzen hat man dann sozusagen reaktiviert? Du hast sie praktisch wieder neu angepflanzt?“ Ich setzte mich auf einen umgestülpten Eimer und schaute zu meiner Mutter auf.

„Nicht direkt. Vom ursprünglichen Naturerbe war nach all den Kriegen und Seuchen nicht mehr viel vorhanden. Uns blieb also nichts anderes übrig, als neue Samen im Labor zu züchten. Unter den älteren Siedlern damals waren sehr intelligente Biologen und Umweltwissenschaftler, sodass wir gemeinsam unsere Kolonieblume züchten konnten.“

„Einfach so?“

„Nein, Venka. Nicht einfach so. Es hat insgesamt fast drei Sommer gebraucht, bis die Setzlinge stark genug waren, um die Winter zu überstehen, und bis die Pflanze all ihre Wirkungen entfalten konnte.“ Meine Mutter knipste vorsichtig überflüssige Blätter von den Setzlingen ab, damit sich die Pflanze auf einige wenige fokussierte und so kräftiger werden konnte.

„Also ist unsere Kolonieblume eine richtige Heilpflanze!“ Ich kniete mich wieder vor den Pflanzkasten, sodass ich die Setzlinge auf Augenhöhe vor mir hatte und betrachtete sie ganz genau, jedes Detail.

„Ja, unsere Kolonieblume sorgt dafür, dass unser Leben so sorglos bleibt, wie es ist.“

FÜNF

Am nächsten Morgen wollte ich Papa einen Besuch abstatten. In unserer Gesellschaft war die Gemeinschaft das wichtigste Gut. Dies zählte aber genauso für unsere einzelnen Familien, die als kleine Gemeinschaften in der großen Gesellschaft alles zusammenhielten. Da ich Papa nun seit einigen Tagen kaum gesprochen hatte, war ich nun auf dem Weg zu ihm ins Regierungsgebäude.

Meine monotonen Schritte hallten den langen Flur entlang. Die Neonröhren, die grelles, weißes Licht abgaben, flackerten in unregelmäßigen Abständen. Der Gang zog sich, ich hatte bereits einige Büros passiert, als ich endlich vor Papas stand. Energisch klopfte ich an. Von drinnen hörte ich ein harsches „Herein“.

„Hallo Papa, ich bin es.“ Flink huschte ich in sein Büro und schloss die Tür hinter mir, um niemand anderes bei seiner Arbeit zu stören.

„Venka, wie nett von dir, dass du vorbeischaust! Wie lief es gestern in der Gärtnerei?“

„Alles bestens, Mama und ich haben gut was geschafft. Wie geht es dir denn? Warst du die ganze Nacht hier?“ Ich ließ mich auf den großen Ledersessel gegenüber von Papas Schreibtisch fallen. Er knirschte, als würde er sich über mein Gewicht beschweren.

„Das stimmt, Venka. Ich habe grade eine Nachtschicht hinter mir. Aber ich denke, ich kann bald meine Schicht beenden. Momentan stehen sehr viele Aufgaben an, die keinen Aufschub dulden. Ich muss auch gleich wieder in den Kontrollraum.“ Papa drehte sich zum Getränkeautomaten und hielt seinen Ring vor den Sensor. Sofort sprang ein Becher aus der kleinen unteren Öffnung, gefolgt von einem schwarzen, heißen Rinnsal. Ein Blick in den Papierkorb verriet mir, dass dies nicht sein erster Becher Kaffee heute war. Wieso konnte Papa so viel Kaffee trinken? Es war allgemein bekannt, dass zu viel Kaffee nicht gut für den Organismus war. Aber sein Ring reagierte nicht, also schien alles in Ordnung zu sein.

Während Papa darauf wartete, dass sich der Becher füllte, fiel mein Blick auf unser Familienfoto. Gerahmt stand es auf seinem Schreibtisch. Meine Eltern standen in der Mitte, rechts von ihnen ich. Der vierte Kopf auf dem Bild gehörte Milan. Es war am Ende nur der Name, der blieb. Milan.

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Als Papa den Kaffee an seine Lippen führte, klopfte es an der Tür. Wir drehten uns beide um.

„Guten Morgen, Herr Schichtleiter. Erfolgreiche Nacht gehabt? Alles störungsfrei, wie ich hörte?“ Papas Abteilungsleiter war recht klein, sein Haar bereits ergraut.

„Genau, keine Vorkommnisse, alles ruhig.“ Papa sah ihm direkt in die Augen und schob sein Kinn leicht nach oben.

„Schön, schön. So wollen wir das.“ Der Abteilungsleiter, ich kannte seinen Namen nicht, weil die Regierungsmitarbeiter sich meistens nur mit ihrer Funktion ansprachen, sah nun etwas umständlich über seine Schulter und erst jetzt erkannte ich, dass dort noch jemand stand.

„Ich bin hier, weil ich Ihnen jemanden vorstellen will.“ Zuerst sah er etwas irritiert auf mich, schien mich dann aber zuordnen zu können und fuhr fort.

„Ihre Tochter wird ihn sicher kennen.“ Diese Worte ließen mich aufhorchen. Der Abteilungsleiter drehte sich um und winkte die andere Person heran.

„Das ist Garvin, er möchte hier zusätzliche Praxiszeit absolvieren! Das nenne ich Engagement! Garvin ist der Sohn von ...“

„... Erik, ich weiß.“ Bei dem Satz räusperte sich Papa. Papas Blick ging unruhig hin und her.

„Oh, Sie kennen sich bereits, gut! Dann kann ich mir ja weitere Ausführungen sparen.“

Garvin trat vor und reichte Papa die Hand. „Guten Tag. Ich freue mich, dass ich hier bei Ihnen meine Praxiszeit absolvieren kann.“ Garvin lächelte und wartete Papas Reaktion ab.

„Tja, wie du siehst, habe ich das nicht selbst entschieden.“ Es dauerte einen Moment, bis Papa die hingehaltene Hand ergriff. Garvin schaute von Papas Hand auf und sah sich im Zimmer um, bevor sein Blick auf mir hängenblieb.

„Hallo Venka!“ Er zwinkerte mir zu und fuhr an meinen Vater gerichtet fort: „Ich gehe mit Ihrer Tochter ins gleiche Lernlabor. Wir stehen beide kurz vor unserem großen Scan.“

Papas Reaktion kam wieder zögerlich. Er agierte in dieser Konversation gar nicht so, wie ich ihn eigentlich kannte.

„Gut, gut. Wenn du also nach deinem großen Scan einer richtigen Arbeit hier nachgehen willst und nicht nur Praxiszeit absolvieren möchtest, dann solltest du jetzt wohl direkt anfangen, etwas zu lernen. Venka, willst du auch mit?“

Ich wusste im ersten Moment nicht, ob ich Papas Frage richtig verstand. Fragte er mich, ob ich mit in den Kontrollraum wollte? Denn bislang durfte ich da noch nie rein. Der Raum ist streng vertraulich. Papas Abteilungsleiter schaute im ersten Moment auch etwas verdutzt, ließ uns drei aber kommentarlos gehen. Papa verabschiedete seinen Vorgesetzten mit einem knappen Nicken.

SECHS

Das Herzstück des Regierungsgebäudes empfing uns mit einem regelmäßigen Piepen der Signaltöne und dem gleichmäßigen Rauschen der Serverventilatoren. Die Luft roch abgestanden. Es gab kein Tageslicht hier drinnen. Egal welche Tag- oder Nachtzeit, welche Jahreszeit oder welches Wetter, dieser Raum hatte immer dieselbe Temperatur, dieselbe Luftfeuchtigkeit und dasselbe Licht. Papa hatte viel über diesen Raum erzählt, für ihn war er wie ein zweites Wohnzimmer.

„Erik, schau mal, wen ich dabeihabe“, rief Papa seinem Arbeitsbegleiter zu. Ich hatte Erik schon oft gesehen. Sein weißes Hemd mit dem steifen Kragen und dem blauen Jackett stand im Kontrast zu dem ausgeleierten Strickpullover, den mein Vater trug.

„Garvin, was machst du denn hier?“ Erik zog beide Augenbrauen hoch und sah seinen Sohn fragend an.

„Du hast ihm nicht erzählt, dass du hier Praxiszeit absolvieren willst?“, fragte ich augenblicklich. Ich fand es sehr ungewöhnlich, dass solch wichtige Informationen nicht umgehend innerhalb einer Familie weitergegeben wurden.

„Nein, offensichtlich hat er das nicht.“ Erik schenkte mir ein Lächeln.

Eine Weile sagte niemand etwas.

„Aber Vater, du weißt doch, dass ich nach dem Lerncenter auch gerne für die Regierung arbeiten will? Also dachte ich mir, wieso fange ich nicht gleich an? Und als du mir erzählt hast, dass in letzter Zeit so viele Mitarbeiter entlassen wurden, habe ich die Gunst der Stunde einfach genutzt und habe angefragt, ob ich schon meine Praxiszeit beginnen kann.“

Garvins Erklärung war nachvollziehbar.

„Also gut, Sohn, dann komm mit hier rüber. Ich zeige dir erstmal die wesentlichen Kontrollgeräte.“ Garvin nickte aus der Entfernung den anderen Mitarbeitern höflich zu und folgte seinem Vater auf dem Fuße.

Ich blieb bei Papa stehen und beobachtete die beiden. Ich konnte sehen, wie Garvins Augen im Vorbeigehen sämtliche Monitore, Anzeigen, Uhren, Schalter und Ventile streiften. Ich fand, er wirkte hier fremd. Er war viel zu sportlich und muskulös, um hier den ganzen Tag lang an Monitoren zu sitzen.

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Ich setzte mich auf einen Stuhl und hörte dem Gespräch zwischen Erik und Garvin zu. Papa hatte ganz automatisch seine Arbeit aufgenommen. Erik erklärte nun die verschiedenen Anzeigen.

„Hier auf dem Monitor siehst du sämtliche Bewohner unserer Kolonie gelistet. Wie du weißt, ist jeder Bewohner mit einem Ring ausgestattet, den er wenige Momente nach seinem ersten Atemzug bei der Geburt erhält.“ Um seine Ausführungen zu unterstreichen, scrollte Erik durch die angezeigte Tabelle. „Nur im Gegensatz zu einem funktionslosen Schmuckstück, wie es in der Alten Zeit getragen wurde, ist dieser Ring aus ganz besonderem Material und das Wichtigste: Er ist intelligent. Das liegt an den biochemischen Prozessen, die innerhalb des Rings ablaufen.“ Nun sah er vom Bildschirm auf Garvins Ring und tippte diesen spielerisch an. „Das Material, aus dem der Ring besteht, macht es möglich, dass er sich permanent an seinen jeweiligen Träger anpassen kann. Das hat rein praktische Gründe. So können wir absichern, dass kein Koloniebewohner fürchten muss, seinen Ring versehentlich zu verlieren. Und wir müssen ihn auch über die Lebensdauer hinweg nicht austauschen.“

Eriks Ausführungen waren allgemein bekannt. Jeder Koloniebewohner kannte sie. Das war unsere Geschichte und quasi das Erste, was wir als Kinder im Lerncenter vermittelt bekamen: wie unsere Gesellschaft funktionierte. Jetzt, wo Garvin Praxiszeit bei der Regierung absolvierte, schien es so, als wollte er in die Fußstapfen seines Vaters treten. Genau das war in unserer Gesellschaft gewollt. Dabei kam mir in den Sinn, dass Papa nicht mehr die Chance haben würde, Milan alles haarklein zu erklären. Milan konnte seine Nachfolge nicht mehr antreten. Milan war tot. In dem Moment, als ich mich bei diesen ungewöhnlichen Gedanken erwischte, wunderte ich mich, wieso ich schon wieder an Milan dachte. Mich durchfuhr ein ungewohntes Ziehen in der Magengegend und mein Ring vibrierte: ungewöhnliche emotionale Aktivität. Hektisch schob ich meine rechte Hand in die Hosentasche. Was war das für eine Meldung gewesen? Stimmte etwas nicht mit mir? Falls jemand das Surren gehört hatte, reagierte niemand darauf.

Um diese wirren, ungewohnten Gedanken loszuwerden, konzentrierte ich mich wieder auf Erik und Garvin.

„Den Begründern unserer neuen Gesellschaftsform ist es gelungen, in vollem Umfang die Aktivitäten des menschlichen Gehirns zu analysieren. Sie haben erforscht, wie es funktioniert, wie es Informationen speichert und transportiert und wie Wissen mit Gefühlen und Emotionen verknüpft wird. Sie haben die unterschiedlichen Funktionen der Gedächtnisse verstehen gelernt und waren dadurch endlich in der Lage, zu starke also hinderliche Gedanken, Gefühle und Emotionen zu isolieren.“ Erik unterstrich seine Worte mit einer energischen Geste. Er formte seine beiden Hände zu Fäusten, die er energisch auseinanderzog. „Auf diese Weise können wir Menschen frei von derart intensiven Emotionen, die uns zu impulsiven Handlungen verleiten würden, unseren Tätigkeiten nachgehen. Unsere Gesellschaft ist dadurch befriedet und gleichzeitig enorm produktiv.“

Genau, dachte ich mir! Ich war frei von intensiven Emotionen. Ich kannte keine Gedanken, die mich in meinem Weiterkommen einschränkten. Ich kannte keine Gefühle, die mein rationales Handeln veränderten. Starke Emotionen, die die Menschen in der Alten Welt fühlten, wurden durch unsere Ringe abgeschwächt, neutralisiert, bedeutungslos. Um mich selbst bestätigt zu wissen, zog ich meine rechte Hand wieder aus der Hosentasche. Mein Ring war wieder im Neutralitätsmodus. Alles in Ordnung. Vielleicht war das eben nur eine Fehlfunktion gewesen? Konnte so etwas vorkommen?

Nun kam auch Papa zu uns herüber und mischte sich in das Vater-Sohn-Gespräch ein.

„Erkläre doch Garvin erstmal, welche Informationen die Ringe von den Bewohnern sammeln können und wie sie das Leben dadurch erleichtern.“

Papa nickte Erik zu. Dass er bei jemanden, der vorerst nur Praxiszeit hier absolvierte, gleich in die vollkommene Transparenz ging, hatte ich nicht erwartet. Dann musste die Personaldecke wirklich dünn sein. Wieso ich hier heute auch dabei sein durfte, war mir nach wie vor unklar. Aber ich würde dazu wohl noch die notwendigen Informationen von Papa erhalten.

„Also Garvin, das kannst du hier drüben genau sehen und dir später in Ruhe anschauen.“ Erik schob Garvin zu dem grünen Ungeheuer. So nannten die Regierungsmitarbeiter den größten Computer im Kontrollraum, der ein zentrales Puzzlestück im gesamten Netzwerk unserer Gesellschaft war. Papa hatte oft vom Ungeheuer erzählt.

„Dieser Computer misst die Aktivität des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Traktes und natürlich des Gehirns. So wissen wir jederzeit, ob der Organismus eines jeden Koloniebewohners einwandfrei funktioniert, ob jemand gesund ist oder krank.“

„Das heißt, diese Maschine hier rechnet aus, was ich im Lerncenter zu essen bekomme?“ Garvin strich langsam über die dunkelgrüne Lackfarbe.

„Ganz genau, Garvin. Die Maschine weiß, dass du ein Sportler bist, weil du dich regelmäßig körperlich anstrengst. Das errechnet der Computer anhand deiner Herzfrequenz, die bei trainierten Sportlern eine andere ist als bei untrainierten, und natürlich anhand deiner Körpertemperatur, und dem Austreten von Schweiß. Der Rechner kombiniert diese Informationen mit den Ergebnissen deiner Verarbeitungsaktivitäten im Magen-Darm-Trakt und stellt auf Grundlage dieser Informationen deine Mahlzeiten zusammen.“ Erik schaute erst Garvin an und dann mich. Durch den Augenkontakt fühlte ich mich ermuntert, auch eine Frage zu stellen.

„Wie kann diese Maschine Emotionen messen? Woher weiß sie, wann ich Angst habe?“

„Hast du denn etwa Angst, Venka?“ Erik sah mich überrascht an und wartetet. Augenblicklich fühlte ich mich ertappt und suchte schnell nach einer guten Antwort. Wieso hatte ich ausgerechnet die Angst als Beispielemotion gewählt?

„Nein, natürlich habe ich keine Angst. Ich weiß doch gar nicht, wie sich das anfühlt. Wir haben nur im Lerncenter über dieses Gefühl gesprochen, das die Menschen in der Alten Zeit fast täglich gefühlt haben.“

„Hey, Erik, Willio, könnt ihr eben kommen und euch diese Aufzeichnungen anschauen? Irgendwas kommt mir hier ungewöhnlich vor.“ Ein Arbeitsbegleiter, der grade in seine Frühschicht gestartet war, winkte Papa und Erik zu seinem Schreibtisch.

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Ich blieb mit Garvin allein zurück.

Er nutzte die Pause und setzte sich auf einen der Bürostühle mir gegenüber. Ich zeichnete mit meiner Schuhspitze unsichtbare Kreise auf den Fußboden: grünes Linoleum.

Der beste Sportler unseres Lerncenters betrachtete die anderen Arbeitsbegleiter bei ihren Routinetätigkeiten, bis er sich zu mir umdrehte.

„Was für ein Zufall, dass wir uns so schnell wiedersehen, oder?“

Irgendwas an der Art und Weise, wie er mich ansprach, ließ mich zögern zu antworten. Aber nur kurz.

„Ich hätte dich auch eher in der Sporthalle erwartet und nicht hier.“ Mein Fuß hörte endlich auf, Kreise zu zeichnen.

„Und ich hätte eher gedacht, dass du dich grade um unsere Koloniepflanze kümmerst.“ Er grinste mich an.

„Woher weißt du, dass ich meiner Mutter in der Gärtnerei helfe?“ Ich setzte mich aufrechter in meinen Stuhl.

„Das weiß doch das gesamte Lerncenter. Nachdem Milan gestorben ist, fehlt deiner Familie eine helfende Hand.“ Ich ließ seine Worte auf mich wirken. Also kannte er mich doch! Wieso hatte er dann erst gestern so getan, als kenne er meinen Namen nicht?

„Na ja, eigentlich hat Milan nie viel in der Gärtnerei unterstützt. Er war immer hier bei Papa im Regierungsgebäude und hat ihm ab und an geholfen, wenn er durfte.“ In dem Moment merke ich, dass ich mir dieser Tatsache erst jetzt richtig bewusst wurde.

„Na so wie es scheint, gehst du ja hier auch ein und aus. Sicher darf nicht jeder einfach so in den Kontrollraum, oder?“ Um die Beantwortung seiner sehr direkten Frage