Empörung, Revolte, Emotion -  - E-Book

Empörung, Revolte, Emotion E-Book

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Beschreibung

Ziel dieses Sammelbandes ist es, die Relevanz der aktuellen Emotionsforschung für die verschiedenen Ansätze und Teilbereiche der Germanistik aufzuzeigen. Besonders berücksichtigt wird dabei eine bestimmte Emotion: die Empörung als individueller und als kollektiver Affekt, als ein Gefühl, aber auch als ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. Das Spannungsverhältnis zwischen Behauptung und Zerstörung (bzw. Positivität und Negativität) bei Empörung und Revolte gibt zumindest Anlass zur Besprechung von zwei Grundthemen der neueren Affekttheorien: den komplexen Verbindungen zwischen persönlichen Werturteilen und emotionaler Intensität, und dem Verhältnis zwischen Emotionen und der "Virtualität", d.h. der Menge aufkeimender, unvollkommener Entwicklungen, durch welche die Futurität in der Gegenwart verankert, aber auch teilweise gefangen ist.

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Oliver Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse

Empörung, Revolte, Emotion

Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies

Umschlagabbildung: Käthe Kollwitz, Losbruch

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

DOI: 10.24053/9783823394921

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ISSN 1861-3934

ISBN 978-3-8233-9492-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0298-8 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German StudiesEinführung1 Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung2 Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft3 Emotionen und Geschichte4 Literaturwissenschaft: Empörung, Revolte, Emotion5 Literaturangaben1. Emotionen und Empörung als Gegenstand der SprachwissenschaftEmotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens1 Einleitung2 Was drücken expressive Sprechakte aus?3 Expressive Sprechakte im Spannungsfeld zwischen Intention und Konvention4 Konventionalisierte Emotionen: Der Fall der Dankbarkeit5 Fazit6 BibliographieAufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht1 Einleitung2 Aufforderung und Emotion3 Einblick in einige Aufforderungsvarianten4 Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung5 Emotionen, (Auf-)Forderungen und Studierende in der Corona-Krise6 Fazit und Ausblick7 Quellen„Das ist doch alles Bullshit, du Troll!“1 Einleitung2 Unwahre Sprechakte3 Emotionalisierung durch Unwahrheiten4 Zusammenfassung: Sprechakttheoretische Definitionen5 BibliographieEinschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen KorrespondenzenEinleitung1 Begriffsbestimmung2 Emotionen im Sprachgebrauch3 Zwingende Faktoren bei Emotionsausdruck in öffentlichen Korrespondenzen4 Positionierung in der Korrespondenz5 Beispielfall zweier emotions- und positionierungsgeprägter offizieller Korrespondenzen6 Schluss7 LiteraturWarum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind: Empirische Untersuchungen zum Wandel vom gebundenen Morphem zum freien, expressiven Wort1 Einleitung2 Hintergrund3 Morphologischer Wandel – Ja oder Nein?4 Semantischer Wandel5 Fazit und Ausblick6 Bibliografie2. Emotionen und GeschichteEmotionen in der Techno-SzeneEinführungDas Berghain als emotionale GemeinschaftResist-danceRebellion der RaverLiteraturFehlende oder verdächtige Emotionen?„Emotionen“ bei den SPD-Bundestagsabgeordneten. BegrifflichkeitenEmotionen in der Bundesrepublik: die Karriere eines negativ konnotierten BegriffesEmotionen und GenerationalitätSPD-Bundestagsabgeordnete und die „Emotionen“ der Studenten: eine homogene Gesinnungsgemeinschaft?Emotionen und Technokratisierung des parlamentarischen Betriebs in der SPD-BundestagsfraktionKurzfristige Emotionen und langfristige ParlamentsarbeitWie repräsentativ war die SPD-Bundestagsfraktion im Parlament?SchlussBibliografie„Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays!“Der Kampf für den Frieden (1949–1953)Der Kampf gegen die „deutsche Wiederbewaffnung“ (1950–1955)Der Kampf gegen Hans Speidel (1957)Der Kampf gegen Manöver der Bundeswehr in Frankreich (1960–1961)FazitBibliografie„Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften als empörte Abwehr gegen die Hegemonie der instrumentellen Vernunft1 Einleitung2 Zum historischen Hintergrund der Opposition der deutschen Rechtsphilosophie zu einem als westlich empfundenen Rationalismus: der Moment Savigny3 “Der Zweck im Recht.” Die Widerlegung des Utilitarismus Rudolf von Jherings als Ausgangspunkt von Tönnies’ Rechtsphilosophie4 Die Beleuchtung der Spannung zwischen aufgeklärtem Individualismus und stillschweigenden kollektiven Normen aus den Lebenserfahrungen von TönniesBibliografieZorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs des 14. und 15. Jahrhunderts1 Einführung: Zugriffe auf ‚Zorn im Mittelalter‘2 ‚Zorn‘ im mittelhochdeutschen Bihte buoch3 ‚Zorn‘ in den rheinfränkisch-lothringischen Übersetzungsfassungen der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs4 Fazit5 Bibliografie3. Empörung, Revolte, Emotion in der LiteraturwissenschaftEnites Emotionen in Hartmanns Roman ErecEinleitung1 Enites Emotionen2. Die Leidenschaft als AskeseLiteratur„Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“Ein „gesteigertes Realitätsbewusstsein“?Zwischen Ohnmacht und entfesselten KräftenPolemisches/politisches Denken?SchlussbemerkungenBibliografie„Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt!“1 Der verbissene Zorn der Ausgebeuteten2 Gewaltphantasien gegen die Restauration in Deutschland. Ein Wintermärchen3 Heines Selbstdarstellungen als zorniger politischer Dichter in den „Zeitgedichten“BibliografieTrauer, Wut, Empörung, Hass: zu deutschen Afrika-Reisebüchern der ZwischenkriegszeitWehmut und Nostalgie – Die verlorene SpracheTrauer und Hoffnungslosigkeit – Das sterbende AfrikaLiebe und Treue – ‚Unserer Neger‘Hass und Schande – Die koloniale ‚Schuldlüge‘Ehre und Leidenschaft – Handlungsmotor EmotionBibliografie

Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies

1.Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft

Emotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens

Urszula Topczewska (Uniwersytet Warszawski)

Abstract

 

Emotionen sind nicht nur physiologisch bedingt, sondern auch persönlichkeits- und kulturabhängig. Die Kultur stellt sozial anerkannte Verhaltensmuster bereit, die jeweils als situationsangemessen gelten und insofern die Entstehung bestimmter Emotionen fördern. Sprachlich werden Emotionen z.B. in denjenigen Sprechakten ausgedrückt, die Searle (1969) zu den Expressiva zählt, z.B. im Loben, Bewundern, Spotten, Beschimpfen, Danken. Im vorliegenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, inwiefern expressive Sprechakte den beim Sprecher tatsächlich vorhandenen Emotionen Ausdruck verleihen und inwiefern sie deren Herausbildung steuern. Zunächst wird die Searle’sche Definition expressiver Sprechakte diskutiert, und anschließend wird die sich daraus ergebende These, dass expressive Sprechakte sozialen Normen folgen und in diesem Sinne von sozialen Regeln geleitet sind, anhand des Sprechakts der Danksagung veranschaulicht.

1Einleitung

Die moderne Neurobiologie definiert Emotionen als größtenteils automatisch im Gehirn ablaufende Vorgänge, die menschliche Kognitionen und Handlungen begleiten und somatosensorisch gefühlt werden können:

Emotionen treten auf, wenn im Gehirn verarbeitete Bilder emotionsauslösende Regionen anregen, beispielsweise die Amygdala oder besondere Abschnitte der Stirnlappen. Sobald eine dieser Auslöseregionen aktiviert wird, scheiden endokrine Drüsen und subkortikale Gehirnkerne chemische Substanzen (bei Angst beispielsweise Cortisol) aus, die sowohl ins Gehirn als auch in den Körper gelangen. Darüber hinaus werden bestimmte Handlungen eingeleitet (zum Beispiel wiederum im Fall der Angst, Flüchten oder Stehenbleiben sowie Kontraktionen des Darms) und bestimmte Ausdrucksweisen (beispielsweise von Angst geprägte Gefühlsausdrücke oder Körperhaltungen) gezeigt. Zumindest für den Menschen gilt, dass auch bestimmte Gedanken und Pläne im Geist auftauchen. […] Die Gesamtheit all dieser Reaktionen stellt den «emotionalen Zustand» dar, der sich recht schnell entfaltet und dann wieder nachlässt, bis neue Reize, die ebenfalls Emotionen verursachen können, im Geist hinzukommen und eine erneute Kettenreaktion anstoßen. (Damasio 2011: 123)

Emotionen sind aber nicht nur physiologisch bedingt, sondern auch persönlichkeits- und kulturabhängig. Sie basieren auf Normen- und Wertesystemen, die von Kultur zu Kultur unterschiedlich ausgeprägt sein können. Die Kultur stellt jeweils sozial anerkannte Verhaltensmuster bereit, die als situationsangemessen gelten und insofern die Entstehung von Emotionen fördern.

Aus philosophischer Sicht bilden Emotionen eine sehr heterogene Klasse von mentalen Zuständen, die von einfachen, reaktiven bis zu hochkomplexen, menscheneigenen animi motus reichen:

At first blush, the things we ordinarily call emotions differ from one another along several dimensions. For example, some emotions are occurrences (e.g., panic), and others are dispositions (e.g., hostility); some are short-lived (e.g., anger) and others are long-lived (e.g., grief); some involve primitive cognitive processing (e.g., fear of a suddenly looming object), and others involve sophisticated cognitive processing (e.g., fear of losing a chess match); some are conscious (e.g., disgust about an insect in the mouth) and others are unconscious (e.g., unconscious fear of failing in life); some have prototypical facial expressions (e.g., surprise) and others lack them (e.g., regret). Some involve strong motivations to act (e.g., rage) and others do not (e.g., sadness). Some are present across species (e.g., fear) and others are exclusively human (e.g., schadenfreude). And so on. (Scarantino/de Sousa 2018)

Das am wenigsten kontroverse Merkmal von Emotionen scheint ihre Intentionalität zu sein. Ob sie aber deskriptiv oder präskriptiv zu interpretieren ist, bleibt in der philosophischen Diskussion nach wie vor unentschieden. Fest steht nur, dass Emotionen im Rahmen einer sozialen bzw. moralischen Ordnung als angemessen bzw. unangemessen in Bezug auf ihr intentionales Objekt angesehen werden (ebd.).

Sprachlich werden Emotionen z.B. in Sprechakten des Lobens, Bewunderns, Spottens, Beschimpfens, Dankens, Sich-Ängstigens usw. ausgedrückt, also in denjenigen Sprechakten, die Searle (1969) zu den Expressiva zählt und die nach seiner Definition den illokutionären Zweck haben, psychische Zustände des Sprechers auszudrücken (cf. Searle 1976: 12; Searle/Vanderveken 1985: 211–216; Vanderveken 1990: 213–219). Mit Expressiva will also ein Sprecher etwas von seinen subjektiven Erlebnissen mitteilen:

They may express very general propositional attitudes such as belief or intention, or affectively coloured inner states such as hope, desire, and the like. We say that the expression of inner states is upgraded when the speech act foregrounds the speaker’s inner states, sometimes emphasising their intensity. The expression of inner states is downgraded if linguistic and textual devices hinder the foregrounding of the speaker’s inner states where the context and/or the discourse topic would make it appropriate to expect its occurrence. (Bazzanella et al. 1991: 67)

Hermanns (1995) unterscheidet emotionsausdrückende und emotionsbezeichnende Äußerungen. Diejenigen, die Emotionen ausdrücken (z.B. in Form von Exklamativsätzen wie Was für ein Genie!), benennen sie nur sekundär, und umgekehrt: Äußerungen, in denen Emotionen diagnostiziert werden (z.B. Er liebt sie bzw. Ich habe Angst), dienen nur sekundär zum Ausdruck von Emotionen. In diesem Sinne stellt Hermanns fest: „Ich finde auch, der Satz Ich liebe dich drückt das Gefühl der Liebe in der Regel gar nicht aus“ (Hermanns 1995: 145). Emotionsbezeichnende Sätze drücken nach Hermanns nicht die genannte Emotion aus, sondern die Intention des Sprechers, den Adressaten glauben zu lassen, dass der Sprecher ihm gegenüber diese Emotion empfindet1. Noch weiter geht Motsch (1995: 149), der der gesamten Klasse von Expressiva den intentionalen Modus des Glaubens, dass p, zuschreibt, indem er die expressiven Sprechakte auf Bewertungen reduziert.

Schwarz-Friesel (2007) hält dagegen die von Hermanns vorgeschlagene Unterscheidung zwischen emotionsausdrückenden und emotionsbezeichnenden Äußerungen für artifiziell und findet den Satz Ich liebe dich nicht weniger expressiv als eine spontane Liebesbekundung mit einem Exklamativsatz wie Oh mein süßer Hase. Sie behauptet ihrerseits: „Auch Äußerungen mit emotionsbezeichnenden Wörtern drücken selbstreferenziell den inneren Zustand des Sprechers aus“ (Schwarz-Friesel 2007: 147).

Vor dem Hintergrund dieser Diskussion lokutionärer und illokutionärer Bedeutungen von Expressiva ist der vorliegende Beitrag ein Versuch, folgenden Fragen nachzugehen: Inwiefern verleihen expressive Sprechakte unseren Emotionen Ausdruck? Geht die Ausdrucksfunktion der Expressiva mit einer Darstellungsfunktion einher? Steuern Expressiva als formelhafte, kollektive Orientierungsmuster die Herausbildung von Emotionen?

Zunächst werde ich die Searle’sche Definition expressiver Sprechakte diskutieren und in diesem Zusammenhang soziale Aspekte von expressiven Illokutionen2 herausstellen. Die sich daraus ergebende These, dass expressive Sprechakte sozialen Normen folgen und in diesem Sinne von sozialen Regeln geleitet sind, wird anschließend anhand des Sprechakts der Danksagung veranschaulicht.

2Was drücken expressive Sprechakte aus?

Sprechakte werden als grundlegende Einheiten zwischenmenschlicher Kommunikation angesehen (Searle 1976: 1). Darunter sind Äußerungen zu verstehen, die nicht nur etwas bedeuten bzw. für eine Bedeutung stehen, sondern auch etwas in der sozialen Welt leisten bzw. bewirken. Austin (1962) ist der Meinung, dass in jedem Sprechakt drei verschiedene Handlungen vollzogen werden, die er Lokution, Illokution und Perlokution nennt. Die Illokution sieht er als denjenigen Akt an, der den kommunikativen Zweck einer Lokution bzw. ihre „Kraft“ (force) deutlich macht und somit anzeigt, wie die gegebene Äußerung zu verstehen ist. Die illokutionäre Kraft ist diejenige Bedeutung einer Äußerung, die unabhängig von ihren Wahrheitsbedingungen dank der Konvention realisiert wird, dass mit der Äußerung bestimmte illokutionäre Zwecke erreicht werden, z.B. kann die Äußerung Befehl, Behauptung oder Begrüßung zum Zweck haben (cf. Austin 1962: 98–99).

Während Lokutionen reale oder fiktive Sachverhalte in einem Satzmodus ausdrücken, wird mit Illokutionen die soziale Wirklichkeit gestaltet bzw. verändert. Austin (1962) nennt drei Folgen einer gelungenen Illokution: ein uptake seitens des Rezipienten, normative Sachverhalte und eine Folgehandlung. Eine gelungene Behauptung wird z.B. der Sprecherintention gemäß verstanden, verändert den normativen Kontext, indem sie den Sprecher zur Wahrheit des Gesagten verpflichtet, und wird in einer Antwortäußerung akzeptiert oder abgelehnt. Die normativen Folgen einer Illokution liegen dann vor, wenn sie verbindlich für die Interaktionspartner ist, d.h. ihnen Verpflichtungen auferlegt bzw. Rechte erteilt. Der normative Kontext wird der externalistischen Interpretation zufolge durch Glückensbedingungen eines Sprechakts bestimmt; die internalistische Interpretation macht sein Glücken von den mentalen Zuständen, d.h. den Intentionen des Sprechers abhängig (cf. Harnish 2009).

Austin (1962) berücksichtigt in seinem sprechaktheoretischen Modell, dass sprachliche Äußerungen neben Intentionen sowie deskriptiven Kognitionen auch Emotionen der Sprecher ausdrücken. Sie werden vordergründig bei der Charakterisierung der sog. konduktiven Sprechakte (Behabitives) behandelt, die emotionale Einstellungen der Sprecher zum Ausdruck bringen. Emotionen können zwar in jedem Sprechakt ausgedrückt werden, z.B. durch expressive Wörter, Topikalisierungen, Wiederholung sprachlicher Einheiten, Interjektionen, Intonation, brüchige bzw. misstrauische Stimme u.ä., denn potenziell können jedem Sprechakt alle drei Bühlerschen Funktionen zugeschrieben werden: neben einer appellativen und einer referentiellen auch eine expressive Funktion. Was aber sonst eher symptomatisch mittels Sprache ausgedrückt wird, kommt in den expressiven Sprechakten im symbolischen Modus zum Ausdruck1.

Die Spezifik der Behabitiva im Vergleich zu anderen Sprechakten liegt nach Austin (1962) auch darin, dass sie weder eine Veränderung der Welt durch Worte bewirken (wie Behauptungen, die Emotionen beschreiben) noch Worte an die Welt anpassen (wie etwa Kommissiva), sondern den Empfindungen (feelings) des Sprechers Luft machen, und zwar auch dann, wenn sie die Empfindungen zugleich beschreiben. Auch in diesem Fall steht der Ausdruck von emotionalen Einstellungen nicht im Dienste einer anderen Intention, sondern macht den eigentlichen Zweck der gegebenen Illokution aus.

Nach Searle (1969) sind Illokutionen regelgeleitete Handlungen, die kommunikative Intentionen von Sprechern den geltenden Konventionen gemäß ausdrücken. Die Intentionen werden dabei als mentale Zustände verstanden, die auf außerhalb ihrer selbst liegende Sachverhalte ausgerichtet sind. Sie entscheiden über die illokutionäre Kraft einer Äußerung und sind auch für die Benennung von Sprechakten ausschlaggebend, zugleich ist aber ihr kommunikativer Einsatz konventionell geregelt. Man kann nicht sagen Hier ist es kalt im Sinne von ‚Hier ist es warm‘ „ohne einen entsprechenden Bühnenhintergrund“ (Searle 1973: 71), denn auch eine illokutionäre Bedeutung (z.B. der Gebrauch von Ironie) „ist zumindest manchmal auch eine Sache der Konvention“ (ebd.).

Die Struktur eines illokutionären Akts beschreibt Searle (1973: 51) mit der allgemeinen Formel F (p) und nimmt somit an, dass sich die illokutionäre Kraft einer Äußerung als Funktion ihres propositionalen Gehalts beschreiben lässt2. Um grundsätzliche Formen von Sprechhandlungen zu identifizieren, bedient sich Searle (1976) insgesamt dreier Definitionskriterien: des Kriteriums des illokutionären Zwecks (illocutionary point bzw. purpose), der Anpassungsrichtung (direction of fit bzw. propositional content condition) und des Ausdrucks eines psychischen Zustands (expression of a psychological state). Weder die Eingangsregel noch die Aufrichtigkeitsregel, die Searle (1969) für seine Beispiele von Sprechakten nach der Bedingung des propositionalen Gehalts angibt, werden von Searle (1976) bei den Definitionskriterien für Illokutionen berücksichtigt. Nur die wesentliche Regel bzw. die wesentliche Bedingung wird mit dem illokutionären Zweck identifiziert:

If we adopt illocutionary point as the basic notion on which to classify uses of language, then there are a rather limited number of basic things we do with language: we tell people how things are, we try to get them to do things, we commit ourselves to doing things, we express our feelings and attitudes and we bring about changes through our utterances. (Searle 1976: 22–23)

Searles klassifikationstheoretischer Ansatz wurde unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisiert. Einer davon betrifft die Frage der zuverlässigen Ermittlung von illokutionären Zwecken, die konstitutiv für die einzelnen Sprechaktklassen sind und in der wesentlichen Regel für den Vollzug des jeweiligen Sprechakttyps angegeben werden. Es ist jeweils derjenige Zweck, der im korrekten Vollzug eines Sprechaktes notwendigerweise realisiert wird und somit den wichtigsten Bestandteil der illokutionären Kraft einer Äußerung darstellt. Bei seiner Deskription werden aber von Searle stellvertretend für die Sprechakte selbst die Bedeutungen von sprechaktbezeichnenden Verben untersucht. Aus diesen Bedeutungen schließt Searle auf den illokutionären Zweck und folglich die illokutionäre Kraft entsprechender Sprechakttypen. Dass dieses Vorgehen eine verkürzte Sichtweise bedingt, hat z.B. Marten-Cleef (1991: 99–122) gezeigt. Die Autorin weist darauf hin, dass die illokutionäre Kraft von Beschimpfungen wie in Beispiel (1) – (2) nicht unbedingt mit der Bedeutung des Verbs verachten zusammenfällt, sondern auch Enttäuschung, Bewertung und ggf. sogar Scherz beinhalten kann, wenn die Äußerung z.B. von einem freundlichen Lachen begleitet wird.

(1)

Ich Trottel!

(2)

Du Idiot!

Im Anschluss an Bühlers Sprachtheorie könnte man argumentieren, dass hier nicht nur der Satztyp und nicht in erster Linie ein expressiver Ausdruck (Trottel, Idiot) als Illokutionsindikator angenommen werden soll, sondern die gesamte Äußerung, die dem Sprechhandlungsmuster (3) folgt, Träger der Illokution ist. Bühler (19652: 32) führt als Beweis dafür, dass es bei solchen Äußerungen nicht so sehr auf das Schimpfwort selbst ankommt, sondern auf den „Ton“ der Gesamtäußerung, das Beispiel vom Bonner Studenten an, der „im Wettkampf das schimpftüchtigste Marktweib mit den Namen des griechischen und hebräischen Alphabetes allein (῾Sie Alpha! Sie Beta! …’) zum Schweigen und Weinen gebracht haben“ soll.

(3)

Du X!

Searle (1969) weist bei seiner Besprechung einiger Beispiele für Sprechakte, die er später der Klasse der Expressiva zurechnet, darauf hin, dass die psychischen Zustände, die in diesen Handlungen ausgedrückt werden, im Grunde emotionale Zustände (feelings) sind, z.B. Dankbarkeit beim Danken, Freude über die Ankunft des Hörers beim Willkommenheißen, Freude über das Glück des Hörers beim Beglückwünschen. Andere Sprechakttypen bringen andere Typen von Intentionen zum Ausdruck, z.B. Glauben (Assertiva), Wünsche (Kommissiva), Verlangen (Direktiva). Während aber die anderen Sprechakttypen die jeweiligen mentalen Zustände zusätzlich zu ihrem illokutionären Zweck zum Ausdruck bringen, ist deren Ausdruck im Falle von Expressiva der illokutionäre Zweck schlechthin (cf. Searle 1976: 23). Damit eng verbunden ist ihre Eigenschaft, keine Anpassungsrichtung zu haben und die Wahrheit der ausgedrückten Proposition zu präsupponieren (Searle 1976: 12, cf. auch Kissine 2013: 181). Da Searle zugleich davon ausgeht, dass beinahe allen Sprechakten eine Proposition zugrunde liegt, beschreibt er die Expressiva mit der symbolischen Formel (4), wo E für den illokutionären Zweck, das Nullsymbol ø für das Fehlen der Anpassungsrichtung, die Variable P für die möglichen psychologischen Zustände und die Variablen S/H für den Sprecher bzw. Adressaten stehen, dem eine Eigenschaft (property) auf der Ebene der Proposition zugeschrieben wird.

(4)

E ø (P) (S/H + property)

Auf die in der gegebenen Proposition dargestellte Sachlage soll sich die emotionale Einstellung des Sprechers beziehen, die dem Hörer kommuniziert wird (cf. Searle/Vanderveken 1985: 58). Diese Auffassung der Proposition wird von Hanks (2018) entschieden zurückgewiesen. Hanks rechnet Expressiva zu den „non-propositional speech acts“, wofür nicht zuletzt die Unmöglichkeit spricht, ihre Anpassungsrichtung zu bestimmen. Ähnlich wie Austin den Behabitiva konnte auch Searle den Expressiva keine Anpassungsrichtung zuweisen, was damit zusammenhängt, dass ihnen keine Glückensbedingungen zugewiesen werden können. Expressiva können weder wahr noch falsch sein, weder kann die jeweilige Sprecherintention vom Hörer erfüllt werden, noch kann der Hörer den Sprecher für Ihre Erfüllung verantwortlich machen. Wenn also der propositionale Gehalt Ausgangspunkt für die Bestimmung von Erfüllungsbedingungen der Sprechakte sein soll, verfehlt seine Annahme ihren Zweck bei Sprechakten, die keine Erfüllungsbedingungen besitzen (cf. Hanks 2018: 141)3.

Auf die Unmöglichkeit, Glückensbedingungen für Expressiva anzugeben, verweist auch Sander (2013): „[W]eder sind hier die Wörter ‚deskriptiv‘ auf die Welt ausgerichtet, noch soll sich im ‚präskriptiven‘ Modus die Welt nach dem Wort richten“ (Sander 2003: 12). Im Unterschied zu Deskriptionen stellen sie keine Berichte über innere Zustände dar, und im Unterschied zu Versprechungen und Aufforderungen entbehren sie einer sozialen Verpflichtung. Der soziale Aspekt spielt dabei dennoch eine wichtige Rolle. Was mit ihnen ausgedrückt wird, sind sozialisierte Emotionen bzw. Kognitionen davon, und erst sekundär individuelle emotionale Einstellungen (cf. Sander 2003: 22).

An dieser Stelle muss Searles Konzeption sekundärer und ggf. unbewusster bzw. unbeabsichtigter Intentionen erwähnt werden, die sich auf Austin zurückführen lässt. Austin (1962) lässt z.B. bei seinen Exercitiva die Möglichkeit zu, dass der Sprecher eine Illokution vollzieht, ohne die entsprechende Intention zu haben, lediglich deshalb, weil seine Äußerung im gegebenen Kontext mit guten Gründen als diese Illokution wahrgenommen werden kann. Sie verändert den sozialen Kontext unabhängig von Sprecherintentionen, wenn der Sprecher bestimmte Befugnisse besitzt und die erforderliche Formel vor entsprechendem Auditorium äußert. In Bezug auf expressive Sprechakte kann in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden, ob ihr Glücken von emotionalen Einstellungen bzw. Empfindungen des Sprechers oder von ihrer Rezeption abhängt. Besteht ferner ihr illokutionärer Zweck lediglich darin, Einstellungen zu einem Sachverhalt auszudrücken, „ohne dass weitere Konsequenzen intendiert sind“ (Liedtke 2016: 61)? Können schließlich Expressiva nur tatsächlich beim Sprecher vorhandene innere Zustände ausdrücken, oder sind sie eher Ausdruck sozialer Verpflichtung zu diesen Zuständen? Mit Sander (2003) lässt sich die letztere Frage wie folgt formulieren: