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Emric E-Book

E. Ording

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Beschreibung

In den Sommerferien ist Rhia mit ihrer Mutter in ein verschlafenes Nest an der englischen Ostküste gezogen. Dort wird ihr bisher ruhiges Leben auf den Kopf gestellt, als ein sprechender Kater sie zu einem geheimen Orden führt, der über uralte Magie herrscht. Schon bald befindet sich Rhia im Zentrum der Aufmerksamkeit, als sich herausstellt, dass sie mit dem Orden mehr verbindet, als ihr lieb ist. Immer tiefer gerät Rhia in ein verworrenes Netz, das bald ihr Leben bedroht...

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Danke

PROLOG

Ein Sturm fegte auf die englische Küste zu und Blitze zuckten über den Himmel, als wollten sie die Schwärze der Nacht vertreiben. Leises Heulen ertönte, als eine Böe durch die schmalen Spalten zwischen den Felsen blies. Es klang wie ein einsamer Wolf, der um einen verlorenen Gefährten trauerte. In der Ferne über dem Meer formierten sich die Gewitterwolken wie eine Armee vor der Schlacht und ein fernes Donnergrollen kündigte bereits ihren baldigen Einzug an. Der Sturm würde in der Nacht auf das Festland treffen, um dort die Vorgärten und Straßen zu verwüsten. Doch es sollte nicht dabei bleiben. Das Unwetter würde nur ein Vorbote sein für das, was sich dort über den Wolken zusammenbraute.

Auf den Klippen hoch über dem Meer stand eine einsame Gestalt und beobachtete das Spektakel. Um sie fegte der Wind und trug ihr den klärenden Geruch des nahenden Regens entgegen. Von ihrem Platz hatte sie einen guten Ausblick auf den Küstenstreifen zu ihren Füßen, wo der Sand von peitschenden Böen wie im Spiel gegen die Felsen geworfen wurde. Die Gestalt breitete die Arme aus und durch ihre weite Kleidung blies der Wind. Ein Luftstoß strich ihr um den Kopf und zerzauste das Haar. Zärtlich wisperte er ihr etwas ins Ohr. Die Gestalt schloss die Augen und lauschte. Der Wind flüsterte von Veränderungen.

1. KAPITEL

Leise vor sich hin summend schob Rhia mit der Hüfte die Tür auf und stellte einen Karton mit Tassen klirrend auf der Theke ab. Mabel, die gerade den letzten Kuchenteller aus seinem Papier wickelte, drehte sich um: „Bitte sei vorsichtig. Die haben ein Vermögen gekostet!“, sagte sie und balancierte umsichtig einen Stapel Porzellan zu einem Regal neben der Kaffeemaschine. Diese war das Erste, das nach der Ankunft ihren Platz in dem kleinen Café gefunden hatte und auch sogleich in Betrieb genommen worden war. „War’s das?“ fragte Mabel und betrachtete das Meer aus Umzugskisten, das sich über Tische und Stühle ergoss.

„Fast. Nur die Kuchenplatten stehen noch im Kofferraum“, antwortete Rhia und wischte sich über die Stirn.

„Sei ein Schatz und hol sie mir eben noch. Wenn du magst, kannst du dich danach oben schon einrichten.“ Mabel strahlte Rhia liebevoll an. „Danke!“, rief sie ihr fröhlich hinterher, als ihre Tochter schon wieder an der Tür war.

Draußen klemmte sich Rhia die letzten beiden Kisten unter den Arm und wandte den Blick zum Meer, wo sie im Licht der untergehenden Sonne kreischende Möwen erkennen konnte, die über den Felsklippen kreisten. „Das ist jetzt unser Zuhause“, dachte sie. Doch egal wie oft sie es auch wiederholte, so richtig fassen konnte sie es noch nicht. Es fühlte sich nicht so an, als hätten sie sich erst an diesem Morgen tränenreich von Freunden und Bekannten verabschiedet, um dann den halben Tag in Mabels altem Austin 1800 über die gewundenen Straßen Südenglands nach Fawns Bay zu fahren - einer neuen, unbekannten Zukunft entgegen. Sie seufzte und ging hinein, um Mabel die letzten Kartons zu bringen.

Rhia schwenkte die Kisten Richtung Tresen, hinter dem ihre Mutter eilig hervorkam, um ihr die Pakete abzunehmen. „Ich danke dir.“ Mabel stellte die Kartons behutsam hinter sich ab und nahm Rhias Hände in ihre, bevor diese sich abwenden konnte.

„Ich bin mir sicher, dass wir beide hier sehr glücklich werden.“ Sie strich ihrer Tochter zärtlich eine verirrte Strähne aus der Stirn. „Es ist eine wunderbare Chance.“

„Da hast du bestimmt Recht“, sagte Rhia lächelnd, konnte ihrer Mutter dabei aber nicht in die Augen sehen.

„Es ist ganz normal nervös zu sein, wenn du irgendwo neu bist“, sagte Mabel und zog ihre Tochter in eine Umarmung. „Aber du findest bestimmt schnell Anschluss.“

Rhia nickte nur. Ihr graute vor nächstem Montag, wenn ihr erster Tag an der Dalton High School bevorstand. Sie tat sich schwer damit neue Leute kennenzulernen und bezweifelte, dass es so einfach sein würde, wie Mabel sich das vorstellte.

Im Hintergrund lief das Radio, während Mabel die Kartons auspackte und die Schränke hinter dem Tresen füllte. Seit sie Wales verlassen hatten, war ihre Mutter wie ausgewechselt fand Rhia und schaute zu, wie sie mit schwingenden Hüften leise mitsang. Der Umzug an die Küste und ein eigenes Café mit Blick aufs Meer war schon seit Rhias Kindertagen Mabels Herzenswunsch. In ihrem alten Zuhause, in Carmarthen in Wales, hatte Mabel als Krankenschwester gearbeitet.

Im Frühling dann hatte Rhias Lehrerin Ms. Wright ihr und ihrer Mutter nahegelegt, Rhia auf eine Schule mit naturwissenschaftlichem Fokus zu schicken.

„Es schmerzt mich das sagen zu müssen“, hatte sie gesagt und Rhia war bei diesen Worten kurz das Herz stehen geblieben. „Aber wir können deine Begabung an dieser Schule nicht in dem Maße fördern wie es wünschenswert ist.“

Sie hatte einige Broschüren verschiedener Schulen auf dem Tisch ausgebreitet. „Es gibt jedoch einige spezialisierte Einrichtungen in Großbritannien, die richtige Labore haben und sogar mit Universitäten kooperieren. Rhia, wenn du dich für eine davon entscheidest, werde ich mit dem Rektor der Schule sprechen, damit du dort angenommen wirst.“

Als Mabel dann einen Monat später das helle kleine Ladenlokal an der Südostküste Englands fand, das in der Nähe einer der Schulen lag, die Ms. Wright erwähnt hatte, erschien es ihnen wie ein Wink des Schicksals und binnen zwei Wochen hatte das Café den Besitzer gewechselt.

Rhia stieg die schmale Holztreppe hinter der Backstube nach oben, wo sich ihre neue Wohnung direkt über der Caféstube befand. Mabel war nach ihrem ersten Besichtigungstermin freudestrahlend zurückgekehrt und hatte berichtet, dass nicht nur „ein kleines schnuckeliges Apartment oberhalb des Cafés“ im Preis mit inbegriffen war, sondern zwei der Zimmer aufs Meer hinausgingen. „Das eine Schlafzimmer hat eine ausgebaute Fensterbank“, hatte sie geschwärmt. „Da kann man Stunden sitzen und mit einer Tasse Tee den Ausblick genießen.“ Dieses Zimmer hatte Mabel Rhia überlassen. „Als Trostpflaster, weil wir doch schon vor deinem Schulabschluss aus Carmarthen wegziehen. Dann hast du einen schönen Rückzugsort“, hatte sie gesagt.

Im Gegensatz zu Rhia war Mabel schon ein paar Mal im Haus gewesen, um den Kaufvertrag zu unterschreiben, die ersten Umzugskartons zu transportieren und die Malerarbeiten im Café zu beaufsichtigen, welches vor ihrem Einzug von einer örtlichen Firma modernisiert worden war.

Für weitere Renovierungen hatte das Geld leider nicht gereicht, sodass die obere Etage noch auf dem neusten Stand von 1950 war.

Als Rhia die Tür zur Wohnung aufstieß, kam ihr ein muffiger Luftzug entgegen. Obwohl alle Fenster offenstanden, roch es noch immer stark nach Mottenkugeln und dem Moschus-Parfum von Mrs. Sponge, von der Mabel das Haus gekauft hatte. Rhia vermutete, dass sich der Geruch über die Jahrzehnte in den Wänden und Sesselpolstern festgesetzt hatte.

Die meisten der Möbel waren von der alten Dame zurück-gelassen und von Rhia und ihrer Mutter einfach übernommen worden, damit sie ihre eigenen nicht in einem Transporter durch das halbe Land karren mussten. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, überlegte Rhia ob das nicht vielleicht ein Fehler gewesen war. Im Koch-Ess-Wohnzimmer, welches sich der Länge nach über die eine Hälfte der Wohnung erstreckte, standen massive Sofas mit schrill buntem Blümchenbezug, deren Muster sich als Tapete an den Wänden fortsetzte. Unterbrochen wurde sie nur von wuchtigen dunklen Regalen, die den großen Raum klein und gedrungen wirken ließen.

Mabel hatte ihr berichtet, dass Mrs. Sponge nichts von Modernisierung gehalten hatte und den altenglischen Charme bewahren wollte.

„Das ist ihr auf jeden Fall gelungen“, dachte Rhia und rümpfte die Nase.

Im Moment wurde der rüschige Eindruck noch etwas gedämpft, da die Möbel halb unter den vielen Umzugskartons und Taschen verschwanden, die den Weg von Carmarthen hierher gefunden hatten. Rhia steuerte auf ihr Zimmer zu, das, wie das Bad und Mabels Schlafzimmer, direkt vom Hauptraum abging.

Mit leisem Quietschen schwang ihre Tür nach innen auf und gab den Blick auf einen kleinen Raum frei. Sie quetschte sich zwischen den Kartons hindurch, die sie beim Ausladen direkt hinter der Tür abgestellt hatte, drehte sich um die eigene Achse und begutachtete mit kritischem Blick die Blümchentapete an den Wänden. „Das kann man ja streichen“, sagte sie sich. Unschlüssig beäugte sie den Berg von Kartons und begann dann wahllos sie zu öffnen und den Inhalt auf dem Bett zu verteilen.

Durch den Dielenboden drangen von unten die Klänge des Radios herauf und Mabels Stimme, die zu „Temptation“ von Heaven 17 sang. Rhia verzog grinsend das Gesicht und hoffte, dass bei diesem Katzengejammer keine Artgenossen an der Tür zu kratzen begannen.

Bevor sie sich anderen Dingen zuwandte, kramte sie als erstes ihr eigenes Radio heraus und suchte einen Sender, mit dem sie Mables Musik von unten übertönen konnte. Dann machte sie sich daran, mit Postern und Fotos so viel Tapete wie möglich zu überdecken, während sie durchs Zimmer tanzte. Auch das Poster, das sie von ihrer Klasse als Abschiedsgeschenk be-kommen hatte, um sie in der neuen Heimat an ihre Wurzeln zu erinnern, fand seinen Platz. Darauf stand in Kymrisch: „Bleibe Ruhig und spreche Kymrisch.“ Etwas wehmütig strich Rhia darüber. Sie würde die walisische Sprache vermissen.

Nachdem sie die leeren Taschen unter ihr Bett geschoben hatte, machte Rhia sich in der kleinen Küche eine heiße Schokolade, stieg die Treppen hinunter und trat durch die Hintertür ins Freie. Sie schlenderte mit ihrem dampfenden Becher auf eine Bank oberhalb des Strands zu und setzte sich, um dort die Abendstimmung am Meer zu genießen.

Mit einem zufriedenen Seufzer streckte sie ihre müden Füße vor sich aus und nahm einen großen Schluck Kakao. Von ihrem Platz aus konnte sie hinab auf die Bucht und das fast schwarze Wasser blicken, das in rollenden Wellen auf den Strand rauschte. Die Gischt spritzte an den Felsen empor und Rhia kam die See hier näher vor und die Wellen höher, als an anderen Orten.

Dass sie ans Meer gezogen waren, hatte sie ein wenig über den Umzug und das große Unbekannte hinweggetröstet. Sie liebte die See und das Gefühl der Freiheit, das sie überkam, wenn sie auf die Wogen hinausblickte. Entspannt schloss Rhia die Augen, als die letzten Sonnenstrahlen des Tages über ihre Haut streichelten und genoss die Ruhe dieses Ortes.

In Carmarthen hatten sie in einer kleinen Zweizimmer-wohnung in einer belebten Reihenhaussiedlung gewohnt, um Geld für das Café zu Seite legen zu können. Ihr Zimmer war winzig gewesen und hatte gerade so genug Platz für ihr Bett, den Kleiderschrank und einen kleinen Schreibtisch geboten. Manchmal, wenn sie abends im Bett gelegen hatte, war es ihr schwer gefallen einzuschlafen.

Die Häuser waren alle sehr hellhörig, sodass sie ihre Nachbarn besser kennengelernt hatte, als ihr lieb gewesen war. Die Mieterin über ihnen, eine etwas füllige Ms. Stephen, schien für ihr Leben gerne Hiphop zu tanzen, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kam. Außerdem hatte sie ein Auge auf Mr. Miller von schräg gegenüber geworfen, der mindestens 15 Jahre jünger war als sie und einmal in der Woche Karaoke Partys schmiss. Bei dem Gedanken an ihre schrägen Nachbarn musste Rhia lächeln. Die würde sie bestimmt nicht vermissen.

Die Nachbarn hier schienen allesamt über Sechzig zu sein. Senioren, die sich einen schönen Lebensabend mit vielen malerischen Stunden am Meer machen wollten. Leute in ihrem Alter würde sie wohl eher in der Schule treffen, überlegte Rhia. Sie hatte die Dalton High schon im Internet recherchiert, um an ihrem ersten Tag nicht komplett unvorbereitet dort anzukommen. Eigentlich hatte es ganz nett ausgesehen. Sie lag im Nachbarort und war ein altes Gebäude aus roten Backsteinen mit einer Menge lächelnder Schüler davor.

Ihre alte Schule in Carmarthen war ein in die Jahre gekommener Bau aus den 70ern gewesen - ein architektonisches Verbrechen der Menschheit. Rhia schüttelte sich bei dem Gedanken.

Sie musste sich bei allem Heimweh eingestehen, dass ihr der Neuanfang vielleicht sogar guttun würde. Seit der sechsten Klasse hatte sie nämlich den Ruf gehabt etwas schräg zu sein und auch wenn ihre Klassenkameraden freundlich gewesen waren, hatten sie immer hinter ihrem Rücken getuschelt. Es hatte mit dem Bohnenzucht-Wettbewerb in Biologie begonnen.

Ihr Setzling war damals einer der Kleinsten und Schmächtigsten gewesen, wobei Rhia insgeheim Hannah aus ihrer Klasse verdächtigt hatte, die Namensschilder an den Pflanzen ausgetauscht zu haben. Jedenfalls hatte sie einmal in einer großen Pause heimlich nach ihrer Bohne geschaut. Als sie festgestellt hatte, dass ihre Pflanze noch immer Meilen hinter den anderen her wucherte, hatte sie ihren Setzling verzweifelt angebrüllt, er solle endlich wachsen. Und das hatte die Pflanze getan. Mit großen Augen hatte Rhia zugesehen, wie die Ranke um gute zehn Zentimeter in die Höhe geschossen war und sogar die bisherige Favoriten-Bohne überholte.

Mit wackeligen Beinen war sie rückwärts gestolpert und über ihre eigenen Füße gefallen. Als sie von der Tür her ein Geräusch hörte, hatte sie sich in der Erwartung umgedreht, dass ihre Klassenkammeraden ihr einen Streich gespielt hatten und sich nun ins Fäustchen lachten.

Doch da stand nur James, aus ihrer Klasse, der mit offenem Mund das Geschehen beobachtet hatte. In den nächsten Tagen hatte er überall herumerzählt, was passiert war. Er war allerdings als notorischer Lügner bekannt, deshalb hatte ihm anfangs keiner die Geschichte so recht abnehmen wollen.

Auch Mabel hatte ihrer Tochter versichert, dass die anderen Kinder das Ganze schnell wieder vergessen würden, doch in dem Punkt hatte sie ihre Klassenkameraden leider unterschätzt. Seit diesem Tag war sie „das Bohnenmädchen“ gewesen und diesen Spitznamen bis zuletzt nicht los-geworden. Doch an ihrer neuen Schule war sie ein unbeschriebenes Blatt.

Plötzlich riss eine Stimme sie aus ihren Gedanken. „Wer sitzt denn da auf meinem Lieblingsplatz? Oh, ein unbekanntes Gesicht. Ich könnte ihr auf den Schoß springen und wir teilen uns das Plätzchen einfach.“ Überrascht über den merk-würdigen Kommentar wandte sich Rhia um, sah jedoch niemanden. Nur eine schwarze Katze bewegte sich geschmeidig auf ihre Bank zu. Sonst war die Straße leer, bis auf eine ältere Dame, die sich mit ihrem Rollator gemächlich den Bürgersteig entlangarbeitete. Aber sie konnte es nicht gewesen sein, die Stimme hatte männlich geklungen.

Die schwarze Katze sprang neben Rhia auf die Bank. „Hm, du hast ungewöhnliche Augen Kindchen: Schwarz; nein Dunkel-blau. Warum schaust du so verschreckt? Man könnte meinen, du hättest ein Monster mit drei Köpfen vor dir.“

Das Maul der Katze hatte sich nicht bewegt. Rhia starrte das Tier entgeistert an. „Mädchen, jetzt guck doch nicht so einfältig. Hast du noch nie einen Kater gesehen?“ Rhia wandte den Blick ab und griff sich an den Kopf. „Ich habe wohl zu wenig getrunken. Oder es war der viele Zucker“, murmelte sie und stand auf.

Sie hatte schließlich den ganzen Tag drinnen Kisten ausgeräumt und Mabels Kuchenproviant aufgefuttert, den sie für die Fahrt gebacken hatte. Rhia war die kritischste Test-Esserin ihrer Mutter, wenn es um die Entwicklung und Verfeinerung ihrer Rezepte ging und Mabel setzte ihr alle Experimente vor, bevor sie sie in größerem Rahmen ausprobierte.

Rhia ging zurück ins Haus, wobei sie die Blicke der Katze im Rücken zu spüren glaubte.

Am nächsten Morgen wurde sie von dem Geruch frischer Pancakes und Kaffeeduft geweckt. Sie musste unwillkürlich lächeln. Was gab es Besseres, als auszuschlafen und anschließend mit ihrem Lieblingsfrühstück in den Tag zu starten. Rhia drehte sich auf die Seite und warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. 7:30 Uhr. Viel zu früh, dafür, dass sie keine Schule hatte. Doch Mabel war bestimmt schon seit sechs auf den Beinen, viel zu aufgeregt, um länger im Bett zu bleiben. Rhia rollte aus dem Bett und zog sich an.

In der Küche saß ihre Mutter, mit Lesebrille und einer Tasse Kaffee in der Hand, stirnrunzelnd über die Zeitung gebeugt. Ihre braunen Haare, die sie sonst immer in einem Dutt trug, hingen ihr offen über die Schultern, sodass man gut die ersten grauen Strähnen erkennen konnte, die Mabel sonst zu verbergen suchte.

Sie schaute hoch, als sie Rihas Schritte auf den Dielen hörte: „Guten Morgen mein Schatz“, sagte sie und stand auf, um Rhia einen großen Becher Kaffee einzugießen und frische Pancakes auf einen Teller zu stapeln, den sie ihr rüberschob.

„Wie hast du geschlafen in deiner ersten Nacht hier?“, wollte ihre Mutter wissen. „Wusstest du, dass der Traum deiner ersten Nacht in Erfüllung geht?“

Rhia machte ein unbestimmtes Geräusch und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. Sie hatte mehrfach von der Katze geträumt, die, wie in ihrer Sinnestäuschung am Abend, mit ihr geredet hatte. Sie hoffte inständig, dass dieser Traum nicht wahr werden würde, weil sie sonst wohl nicht sehr viel von ihrem neuen Zuhause haben würde, bevor man sie wegen Wahnvorstellungen in eine Klinik einwies.

„Also ich hatte einen wundervollen Traum“, schwärmte Mabel. „Das Café war ein voller Erfolg und ein gutaussehender Herr aus der Nachbarstadt wurde Stammgast bei mir“, sagte sie und zwinkerte verschmitzt.

„Mom, lass das“, stöhnte Rhia und hielt sich die Ohren zu, bevor sich ihr Kopfkino einschalten konnte.

Ihre Mutter hatte schon lange keinen festen Partner mehr gehabt, sehr zum Leidwesen von Rhia, der stets Mabels volle Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt und wann immer sie nach ihm gefragt hatte war ihre Mutter ihr ausgewichen, bis Rhia es schließlich aufgab.

Sie angelte nach der Zeitung. „Steht etwas Interessantes drin?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

„Es hat schon wieder eine Überschwemmung gegeben“, sagte Mabel in besorgtem Ton. „Dutzende Tote. Das ist jetzt die siebte dieses Jahr. Es wird wirklich immer schlimmer. Wir können von Glück sagen, dass wir selbst noch keine erlebt haben.“

Rhias Blick fiel auf die Bilder der gewaltigen graubraunen Wassermassen, aus denen gerade noch vereinzelte Hausdächer ragten. „Ich wünschte, man könnte das irgendwie verhindern“, sagte Rhia traurig. „Ich freue mich, dass dir das wichtig ist“, entgegnete Mabel und blickte ihre Tochter liebevoll an. „Es gibt leider immer noch viel zu viele Menschen, die sich über das Klima und das Leid anderer keine Gedanken machen“, meinte Mabel bedauernd und strich Rhia über das Haar. Rhia betrachtete derweilen mit düsterer Mine die Bilder der Umweltkatastrophe. „Schau mal im Lokalteil. Ich habe da vorhin gelesen, dass es im Nachbarort eine Jugendtanzgruppe gibt“, erzählte Mabel und blätterte auf die entsprechende Seite. „Die suchen noch Leute“, meinte sie betont beiläufig.

Rhia zog die Nase kraus. „Ich will nicht tanzen. Das hat schon in Carmarthen keinen Spaß gemacht“, erklärte sie und ließ großzügig Sirup über ihr Frühstück laufen.

„Und ein Chor?“, schlug Mabel stattdessen vor, doch Rhia schüttelte nur kauend den Kopf.

„Du könntest vielleicht-“, setzte Mabel erneut an.

„Moooom“, unterbrach Rhia mit vollem Mund ihren neuen Ansatz sie unter Leute bringen zu wollen. „Ich krieg das schon allein hin. Erstmal will ich ankommen und wenn ich die ersten Tage an der Dalton High gut überstanden habe, schaue ich mich vielleicht um. Bis dahin komm ich auch ohne Leute in meinem Alter klar.“

Mabel kaute auf ihrer Unterlippe herum.

„Ich finde schon noch Anschluss“, sagte Rhia zuversichtlich, ohne Mabel anzusehen. Außerdem habe ich doch dich“, schob sie hinterher.

„Ich will dir doch nur den Einstieg erleichtern“, sagte ihre Mutter seufzend und umarmte ihre Tochter von hinten. „Mein kleiner Spatz. Ich habe dich halt lieb.“ „Ich dich doch auch“, sagte Rhia versöhnlich und drückte Mabels Hand. „Was steht heute an?“

„Du könntest mir nach dem Frühstück ein paar Dinge besorgen, wenn das in Ordnung ist“, bat Mabel und zauberte eine Einkaufsliste hervor, die sie Rhia neben den Teller legte. „Ich bräuchte auch noch zwei Kartons Eier. Die letzten sind leider im Frühstück verschwunden und ich würde gerne noch ein paar Rezepte testen vor der Eröffnung.“

Rhia nickte mit vollem Mund. Wenn ihre Mutter Pancakes machte, konnte sie sie um fast alles bitten. Mabel zog aus einer der Umzugskisten noch einen Stapel Visitenkarten des Cafés hervor und zwinkerte. „Wenn du da bist, kannst du ja gleich noch ein bisschen Werbung für unser „Möwennest“ machen.“ „Gleich nach dem Frühstück“, versprach Rhia und wischte sich einen Siruptropfen vom Kinn.

Am Hinterausgang des Cafés, der gleichzeitig der Eingang zu ihrer Wohnung war, schloss sich ein kleiner Platz an, um den noch sechs weitere Häuser im Halbkreis standen. Die Blumenkästen vor den Fenstern waren bunt bepflanzt und ein paar vereinzelte Rosen harrten noch in der spätsommerlichen Sonne aus.

Ihr sanfter Duft stieg Rhia in die Nase, als sie mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen den Platz überquerte. Dieser Ort wirkte wie aus einem Bilderbuch entsprungen, dachte Rhia während sie durch die schmalen und sauberen Gassen des Ortes zum Lebensmittelgeschäft spazierte.

Dieser wurde von einem kauzigen kleinen Mann namens Mr. Dickens geführt, der, wie Mabel berichtet hatte, viele Produkte vom Dickens‘en Familienhof bezog, den er seinem Sohn vermacht hatte. Als Rhia das Geschäft betrat, war er gerade dabei sich bei einer älteren Dame darüber zu beklagen: „Mein Sohn lässt den Hund im Wohnzimmer schlafen. Ich sag noch zu ihm, sag ich ihm, das ist ein Arbeitstier….“ Der Blick der Dame war abwesend in die Ferne gerichtet und ließ vermuten, dass es ihr ziemlich egal war, wo der Hund der Familie schlief.

Rhia lächelte den beiden kurz zu und legte die Visitenkarten des Cafés zu der Auslage von Prospekten mit regionalen Angeboten und Ankündigungen.

Anschließend streifte sie durch die Gänge des Ladens und versuchte Mable‘s Liste abzuarbeiten. Der Laden war klein und verwinkelt, aber überraschend gut sortiert. Sie entdeckte viele Produkte, die auch in den großen Filialen von Tesco und Salisbury zu finden waren. Gerade suchte sie im Gewürzregal nach Vanille, als sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass jemand den engen Gang betrat, in dem sie stand. Sie hob den Blick. Es war ein Junge um die Achtzehn.

Er hatte funkelnde dunkelbraune Augen und verstrubbelte schwarze Haare, deren Spitzen von der Sonne gebleicht waren. Über knielangen Cargo Shorts trug er ein T-Shirt, das seine Armmuskulatur betonte und Rhia hatte sofort den Eindruck, er wäre gerade noch mit einem Surfbrett auf den Wellen unterwegs gewesen. Solche Kerle kannte sie nur aus Filmen, die sie sich mit Freundinnen angeschaut hatte.

Bis auf wenige Ausnahmen, hatten die Jungs auf ihrer alten Schule alle rote Haare gehabt, waren blass und ungefähr so durchtrainiert wie eine Stange Lauch. Als er Rhias Blick auffing grinste er selbstsicher, bevor er sich lässig den Regalen zuwandte. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden und schob sich eilig an ihm vorbei, tiefer ins Innere des Ladens. Als sie ihn streifte, stieg ihr ein würziger Duft von Rosmarin in die Nase, gemischt mit dem Geruch von nassen Kellern. Rhia runzelte die Stirn. „Untypisch für einen Surfer“, überlegte sie.

Keine fünf Minuten später kreuzten sich ihre Wege erneut. Mit Eiern, Kondensmilch und Soßenbinder unter dem Arm, besah Rhia sich gerade das Sortiment an Schokolade, das eindrucksvoller war als in ihrem alten Gemischtwarenladen. Auch wenn ihre Mutter den halben Tag in der Küche mit Backen zugange war, hatte Rhia eine Schwäche für Schokolade und konnte nie genug davon bekommen.

Der Beach Boy grinste sie breit an, als er sich in dem schmalen Gang an ihr vorbei schob und Rhia beeilte sich so zu tun, als wäre sie völlig von der Auslage eingenommen. „Der muss sich ja für unwiderstehlich halten“, dachte sie und schielte aus dem Augenwinkel zu ihm hinüber. Er war gleich neben ihr stehengeblieben und betrachtete ebenfalls das Angebot.

„Ich steh auf Schokolade“, ließ er sie ungefragt wissen, als er merkte, dass Rhia ihn beobachtete. Rasch wandte sie sich ab, griff sich die erstbeste Tafel und ließ den Schoko-Surfer stehen. Seine Blicke brannten förmlich in ihrem Rücken, als sie den Gang hinunterlief.

Als sie sich an der Kasse anstellte, roch sie wieder diesen Mix aus Rosmarin und nassem Keller und drehte sich um. Hinter ihr stand der Beach Boy-Macho. „Sag mal, stalkst du mich?“, fragte er und zwinkerte. Rhia zog eine Augenbraue hoch. Wer war denn hier bitte der Stalker? Doch der Fremde schien nicht auf eine Antwort zu warten. “Ich bin Aiden Conley“, stellte er sich unaufgefordert vor.

Er grinste wieder verschmitzt und streckte seine Hand aus. Rhia schaute ihn einen Augenblick unschlüssig an.

„Rhia“, sagte sie dann schlicht. Seine Hand übersah sie geflissentlich. Sie wollte ihn nicht auch noch ermutigen sie weiter voll zu quatschen.

„Du bist nicht aus Fawns Bay, oder?“, fragte Aiden, dem die kleine Abfuhr nicht aufgefallen zu sein schien. „Ich habe dich hier noch nicht gesehen.“ „Gut aufgepasst. Nein, Aliens haben meine Mutter und mich gestern vom Mutterschiff auf die Erde gebeamt“, antwortete Rhia, bevor sie sich stoppen konnte. Das Café würde sie ihm gegenüber auf keinen Fall erwähnen. Es fehlte ihr gerade noch, dass er dann mit seiner Surfer-Clique dort aufschlagen würde.

„Ah“, sagte Aiden und seine Augen funkelten amüsiert. „Wenn du willst führ ich dich ein bisschen rum. Ich kenn mich hier gut aus.“

„Danke, aber so groß ist das Kaff- äh… Dorf ja nicht“, lehnte sie ab.

Aidens Art erinnerte Rhia an einen Typ in ihrer alten Schule - Tyler. Er hatte eine dichte blonde Mähne gehabt und leuchtend grüne Augen, die einen tollen Kontrast zu seiner ebenmäßigen olivfarbenen Haut bildeten.

Er war selten ohne eine Traube kichernder Mädchen in seiner Nähe anzutreffen gewesen, da er zwischen dem untrainierten Gemüse an der Schule hervorstach wie eine Leuchtboje. Zu ihrem Leidwesen musste Rhia sich eingestehen, dass auch sie nicht immun gegen seinen Charme gewesen war.

Letztes Jahr waren sie einen Monat lang miteinander ausgegangen und Rhia hatte in der Zeit vor Glück eine Handbreit über dem Boden geschwebt, weil er sie, „das Bohnenmädchen“, auserwählt hatte.

Dann hatte sie jedoch feststellen müssen, dass er sie nur benutzt hatte um Cindy, ein Mädchen mit dem Aussehen einer Elfe und dem Hirn einer Erbse eifersüchtig zu machen. Es hatte geklappt und Cindy hatte ihn unter tränenreichen Liebesbekundungen zurückgenommen.

Für Rhia hatte die Geschichte sehr unschön geendet. Sie war damals aus allen Wolken gefallen und ohne Fallschirm direkt auf den Boden geknallt. Wochenlang hatte sie heftigen Liebeskummer gehabt und sich bei ihren beiden Freundinnen ausgeheult. Was für eine Zeitverschwendung.

Das würde ihr bestimmt nicht noch einmal passieren. Außerdem wollte sie erst mal in Erfahrung bringen, wer der Kerl war. In einem Dorf dieser Größe musste man vorsichtig sein und sie wollte nicht womöglich Mabels Ruf beschädigen indem sie mit ihm ausging, bevor ihre Mutter eine Chance hatte, alle mit ihren Backkünsten in den siebten Kuchenhimmel zu befördern.

„Ich kenne eine schöne Bucht nicht weit von hier“, versuchte Aiden es erneut, und trat lässig einen Schritt auf sie zu. „Das könnte anstrengend werden“, dachte Rhia bei sich.

Die Schlange bewegte sich und sie war an der Reihe, sodass sie Aiden eine Antwort schuldig blieb.

Beim Verlassen des Geschäfts sah sie, wie er bei den Prospekten stehen blieb und die Visitenkarte des Cafés in die Hand nahm. Hatte er sie beim Betreten des Ladens beobachtet?

Aiden blickte auf und schaute in ihre Richtung. Hastig wandte Rhia sich ab und trat hinaus ins Freie. Er schien sich offensichtlich über das Frischfleisch im Dorf zu freuen. „Ihm wird hoffentlich bald klar, dass ich keines seiner Surfer Girls werde“, dachte Rhia grimmig.

Mit zwei großen Einkaufstüten beladen, schlenderte Rhia die sonnigen Straßen von Fawns Bay hinab und schaute noch in den zwei anderen Läden des Ortes vorbei, in der Hoffnung, die letzten Punkte auf ihrer Liste abzuhaken.

Die Dinge, die es in ihrem Dörfchen schlicht nicht zu kaufen gab, besorgten sie am Sonntag im benachbarten Städtchen Roforth. Da am nächsten Tag die Schule losgehen sollte, mussten sie auch dafür noch Besorgungen machen und so fuhren sie noch vor dem Frühstück mit dem Bus landeinwärts.

Mabel wollte die Gelegenheit nämlich nutzen, um dort die örtliche Konkurrenz auszukundschaften und hatte bereits im Internet recherchiert, welche Cafés im Ort beliebt waren. Sie führte ihre Tochter zielstrebig zu einem niedlichen kleinen Laden, der etwas versteckt in einer schmalen Seitengasse lag. Drinnen war es voll und die Luft summte von der Vielzahl der Gespräche. Sie bestellten Scones mit Clotted Cream und Marmelade für Rhia, während Mabel ein Stück Torte zum Frühstück essen wollte.

Sie entschied sich für einen Klassiker, der laut ihrer Aussage in jedem englischen Café zu finden sein sollte. Bis ihr Essen serviert wurde, schaute Mabel sich fortwährend im Raum um, der mit vielen bunt zusammengewürfelten Sesseln und Tischchen gemütlich eingerichtet war.

„Es ist wichtig den Markt zu kennen“, raunte sie Rhia zu, als sich auch schon die Kellnerin mit ihrer Bestellung näherte. „Schnell sind sie aber“, stellte Mabel flüsternd fest. „Das ist wichtig.“

Genüsslich schob sie sich ein Stück Torte in den Mund. „Schau, der hier ist zu lange gerührt worden und die Creme ist sehr buttrig“, urteilte Mabel fachmännisch mit vollem Mund. Sie lehnte sich über den Tisch, um von Rhias Scones zu probieren. „Etwas zu viel Backpulver“, befand sie und stellte zufrieden fest, dass ihr ihr eigenes Gebäck um einiges besser schmeckte.

Bevor sie wieder aufbrachen, ließen sie sich von der Bedienung noch den Weg zum Bekleidungs-geschäft erklären, wo sie Rhias Ausstattung für die Dalton High kaufen konnten.

„Weißt du, ich glaube es ist wichtig, dass ich die Umgebung kennenlerne, damit ich den Touristen Ausflugstipps geben kann“, plapperte Mabel aufgeregt und hakte sich bei ihrer Tochter unter. „Das wissen die Leute immer zu schätzen.“

Sie bogen in die Einkaufsstraße von Roforth ein, die sich als gerade, kopfsteingepflasterte Straße mit historischen Fassaden durch den Stadtkern zog.

„Oh, und was hältst du davon, wenn wir auch walisische Spezialitäten anbieten? Unter dem Motto ‚Kommen Sie auf den Geschmack‘? Oder noch besser, immer wechselnde Spezialitäten, bis wir wissen, was die Leute mögen“, überlegte Mabel laut.

Rhia musste schmunzeln und zog Mabel in das Bekleidungsgeschäft, an dem sie sonst einfach vorbeigelaufen wäre.

Der Laden war übersichtlich und kaum besucht. Hinter der Kasse lümmelte eine junge Frau herum, die am Handy spielte und den Eintretenden wenig Beachtung schenkte. Rhia streifte durch den Laden und nahm hier und da ein Kleidungsstück vom Haken, während Mabel den Zettel der Schule aus den Untiefen ihrer Handtasche hervorkramte.

Sie strich ihn glatt und suchte mit einer Präzision nach den Kleidungsstücken der Uniform, mit der Mütter auch verschwundene Dinge aufspüren konnten, die kein Kind fand, auch wenn es noch so gründlich suchte.

Die Schuluniform der Dalton High bestand aus einer weißen Bluse mit dunkelblauem Blazer, einem blau-weiß gemusterten Rock und dunkelblauen Kniestrümpfen. „Eine deutliche Verbesserung zu deiner alten Schule“, befand Mabel und Rhia konnte nur aus ganzem Herzen zustimmen. Den grauen Faltenröcken und grell türkisen T-Shirts mit passenden Kniestümpfen würde sie bestimmt nicht nachtrauern.

Nach einem gemütlichen Spaziergang durch die engen Gassen von Roforth, durch die sich auch einige Tagesausflügler aus den umliegenden Städten und Dörfer schoben, ließen sie sich von der Museumsbahn zurück nach Fawns Bay bringen.

Der Lokführer, ein graubärtiger gemütlicher Rentner, der sich liebevoll um die Gäste und die alte Eisenbahn kümmerte, erzählte viele Anekdoten aus den Anfängen des regionalen Schienenverkehrs.

So erfuhren sie, dass die Dampflok noch heute auf einem alten Gleissystem verkehrte, das früher einmal die Ost- und Westküste verbunden hatte, weil keiner hatte Geld ausgeben wollen, um die alten Schienen abzureißen. Daher, so meinte der Alte scherzhaft, könnte man auch theoretisch heute noch mit der Bahn bis nach London oder quer durch das Land nach Cardiff fahren. „Da hätten die schicken Städter in ihren geschniegelten Anzügen aber was zu gucken“, lachte er, dass sein dicker Bauch bebte.

Rhia schaute hinaus und beobachtete, wie die Büsche und Bäume links und rechts der Gleise als grüner Schleier vorbeizogen.

Ihre Mutter war von einer älteren Frau in buntem Kleid und ordentlich drapierter Dauerwelle ins Gespräch verwickelt worden, welcher der Blumenladen in Fawns Bay gehörte.

Sie erzählte Mabel gerade einige Geschichten aus der Zeit, als das Café noch von Mrs. Sponge geführt worden war.

„Vor ein paar Jahren hatte Mrs. Dickens sich einmal bei ihr beschwert, dass sie immer nur die gleichen Kuchen backt“, erzählte sie verschwörerisch. „Daraufhin hat Mrs. Sponge ihr einen Milchkaffee mit Vollmilch serviert. Und die arme Mrs. Dickens war doch Laktoseintolerant. Das gab vielleicht ein Gezeter. Wissen Sie, Mrs. Sponge hatte es gar nicht gern, wenn jemand an ihrem Café etwas auszusetzen hatte“, schmunzelte die alte Dame. „Das war aber noch bevor sie etwas wirr im Kopf wurde. Ihr Sohn hat sie jetzt zu sich geholt, weil sie standhaft behauptete das Haus würde von Geistern heimgesucht werden.“

Plötzlich schlug sie sich die Hand vor den Mund und schaute Mabel mit großen Augen an. „Oje, nicht dass ich sie jetzt verschreckt habe, meine Liebe. Das war bestimmt nicht meine Absicht.“

Doch Mabel lachte nur. „Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Tochter und ich sind spukfest.“

2. KAPITEL

Den Kopf in den Nacken gelegt, stand Rhia da und blickte an ihrer neuen Schule empor: Ein erhabener Bau aus dem vorletzten Jahrhundert ragte vor ihr in die Höhe. Mit den großen Fenstern und Türmchen erschien Rhia die Schule noch eindrucksvoller als auf den Bildern im Internet und prickelnde Aufregung erfüllte sie.

Über den feinsäuberlich gestutzten Rasen strömten Schüler an ihr vorbei zum Eingang und rempelten sie im Gehen an. Ihr kam der Gedanke, dass sie es wohl kaum noch deutlicher hätte machen können, dass sie neu war und senkte rasch den Blick. Sie schloss sich dem Schülerstrom an und trat durch die geschwungene Doppeltür.

Drinnen war es kühl und ein leichter Geruch von Reinigungsmitteln hing in der Luft.

Die äußere Imposanz setzte sich in der Eingangshalle fort, die sich über zwei Stockwerke erstreckte. Rhia ließ ihren Blick über die stuckverzierte Decke und die breite marmorne Treppe wandern, welche hinauf ins erste Geschoss führte.

Die Wände zu beiden Seiten wurden von Vitrinen gesäumt, die mit den Pokalen und Auszeichnungen der Schule für Mathe Olympiaden, Sci-Tech Challenge, Wissenschaftswettbewerbe, Jugendförderpreise und Rudern gefüllt waren und jedem Neuankömmling unter die Nase rieben, was für ein außergewöhnliches Institut die Dalton High School war.

Die Halle vibrierte förmlich von den hunderten von Stimmen und Rufen der Schüler, die nach den Ferien ihre Freunde begrüßten und mit einem Mal fühlte Rhia sich trotz der vielen Leute etwas verloren. Sie hielt ein vorbeigehendes Mädchen mit Puppengesicht und langen braunen Haaren an und fragte nach dem Weg zum Sekretariat. In einem Schreiben der Schule hatte es geheißen, dass sie sich dort am ersten Tag melden sollte, um ihren Stundenplan ausgehändigt und einen Spind zugewiesen zu bekommen.

Während sie sich durch die Schülergrüppchen hindurchschlängelte, warf sie einen kurzen Blick auf ihre Uhr und stellte erleichtert fest, dass es immer noch 20 Minuten bis Unterrichtsbeginn waren, obwohl sie heute Morgen länger im Bad gebraucht hatte als üblich. In der vergangenen Nacht hatte sie vor Nervosität nur wenig geschlafen und entsprechend viel Zeit vor dem Spiegel verbracht, um die Schatten unter ihren Augen weg zu schminken.

Eine drahtige Frau um die Fünfzig wuselte geschäftig im Büro herum und blickte auf, als Rhia eintrat. Die Dame hatte lebhafte hellbraune Augen, braune Locken und sie trug eine knallgrüne Brille. Mit ausgestreckter Hand schritt sie lächelnd auf Rhia zu und schüttelte zur Begrüßung ihren ganzen Arm. „Ich bin Ms. Holly“ stellte sie sich vor. „Und du musst Rhiannon Talley sein. Willkommen an der Dalton High.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Aber nur Rhia bitte“, sagte Rhia.

„Du kommst genau richtig, ich bin gerade mit Emily fertig geworden. Da können wir jetzt noch schnell in Ruhe zusammen nach deinem Stundenplan gucken.“ Sie deutete einladend auf einen der Stühle vor ihrem Tisch. „Bitte, nimm doch Platz.“

Rhia setzte sich auf die äußerste Stuhlkante und auch Ms. Holly ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder, woraufhin sie halb hinter dem riesigen Bildschirm verschwand, der darauf stand. Schon tauchten ihre Augen über dem Monitor wieder auf.

„Hm, ich glaube, du bist kleiner als Emily. Nimm doch einfach deinen Stuhl und setz dich neben mich. Dann können wir zusammen auf den Bildschirm gucken.“

Gemeinsam tüftelten sie einen Stundenplan für Rhia aus, der neben ein paar Fächern die sie an ihrer alten Schule gehabt hatte nun auch Biotechnologie und Quantenmechanik enthielt.

Während sie die Fächer zusammenfügte unterbrach Ms Holly sich immer wieder selbst, um Rhia weitere Informationen zum Schulalltag zu geben: „Dann legen wir Quantenmechanik vor Mathe, dann kommst du in die Klasse von Mrs. Mules. Mittwochnachmittags ist übrigens immer Tanz-AG, wenn du sowas magst und wir haben einen Lese Club. Mittagspause ist von 12:15 Uhr bis 13:15 Uhr. Danach können wir donnerstags Kunst bei Mr. Turner dazu nehmen, freitags ist dann ja schon Schulschluss. Das Sekretariat ist eigentlich immer besetzt, außer in der vierten Stunde, da habe ich eine halbe Stunde Pause. Wir haben noch mehr AGs als Tanzen und den Lese Club, aber das steht alles am schwarzen Brett, also schau da am besten da, was dich interessiert.“

Sie blickte Rhia erwartungsvoll an. „Ich glaube, dass war erstmal das Wichtigste. Hast du noch Fragen?“

Rhia schüttelte langsam den Kopf und nahm den frisch ausgedruckten Stundenplan entgegen, den Ms. Holly ihr freudestrahlend hinhielt. Ihr Kopf platzte jetzt schon vor Informationen und die erste Stunde hatte noch nicht einmal begonnen.

Anschließend stiegen sie zusammen die Stufen hinauf in den ersten Stock, wo sich ein breiter Korridor vor ihnen erstreckte, der links und rechts von langen Spind-Reihen gesäumt wurde. Als es klingelte, überreichte Ms. Holly Rhia ihre Spind-Nummer samt Kombination für das Schloss und zeigte ihr ihren ersten Klassenraum.

„Viel Erfolg“, sagte Ms. Holly und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter, bevor sie durch die heraufströmenden Schülermassen zurück ins Sekretariat eilte.

Zögernd betrat Rhia den Raum. Sie spürte die neugierigen Blicke der anderen auf sich ruhen, doch niemand sprach sie an. Viele Plätze waren schon besetzt, doch Rhia entdeckte einen freien Tisch in der Nähe der Fenster und ließ sich dort nieder.

Kaum dass sie saß, marschierte eine junge Frau um die Dreißig mit energischen Schritten in das Klassenzimmer. Sie war braun gebrannt und hatte gefärbte blonde Locken.

Sie begrüßte die Klasse mit einem strahlenden Lächeln, das blendend weiße Zähne entblößte. „Hallo zusammen“, flötete sie und stellte eine überdimensionale Handtasche auf dem Lehrerpult ab. „Ich bin Mrs Mules für die, die meinen Namen über die Sommerferien wieder aus ihren hübschen kleinen Köpfchen gelöscht haben. Wir haben dieses Schuljahr das Vergnügen, uns zusammen ein paar Theorien der Quantenmechanik anzuschauen.“

Sie strahlte in die Runde. „Außerdem haben wir ab heute zwei neue Schülerinnen“, sagte Mrs. Mules und blickte suchend im Klassenzimmer umher, bis sie ihre neuen Schützlinge gefunden hatte. „Rhiannon Talley und Emily Darling. Bitte helft ihnen ein bisschen, bis sie sich bei uns zurechtgefunden haben“, sagte Mrs. Mules ehe sie sich der Tafel zuwandte.

Rhia blickte sich überrascht um und schaute auf die Stelle, auf die ihre Lehrerin gedeutet hatte. Dort saß ein Mädchen mit einem schmalen blassen Gesicht und dunkelbraunen langen Haaren, in denen ein Haufen Schmetterlingsklammern steckten. Viel mehr konnte sie über die Köpfe der anderen jedoch nicht erkennen ohne aufzustehen, was peinlich geworden wäre.

„Wir steigen heute erst einmal langsam ein und ich erkläre euch die Grundlagen, die ihr zum Teil schon aus dem letzten Jahr kennen solltet“, fuhr Mrs. Mules enthusiastisch von der Tafel aus fort und Rhia drehte sich wieder um. „Ich habe für euch eine Übersicht über dieses Halbjahr mitgebracht und einen Text für heute, bis wir die Bücher haben“, fügte sie hinzu und begann in ihrer Tasche zu kramen.

In den Plan der Schule versunken lief Rhia, hier und da jemand anrempelnd, den Korridor hinab auf der Suche nach ihrem nächsten Klassenzimmer. Sie steuerte gerade auf eine offene Tür an der gegenüberliegenden Seite zu, als ihr jemand von hinten die Hand auf die Schulter legte und sie erschrocken herumfahren ließ. Es war ein Mädchen in ihrem Alter, mit einem runden sommersprossigen Gesicht und roten Locken, die sich wild um ihren Kopf kringelten.

„Hi, ich bin Lynn“, sagte das Mädchen strahlend und streckte ihr die Hand entgegen.

Rhia musste verwirrt geguckt haben, denn Lynn fügte hinzu: „Wir haben zusammen Theorien der Quantenmechanik.“

„Oh“, sagte Rhia und ergriff ihre Hand. „Rhia. Tut mir leid, ich hatte dich nicht gesehen.“

„Macht doch nichts, ich saß ja auch hinter dir“, meinte Lynn und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Also wo kommst du her? Irgendwo nördlich? Du hast so einen Dialekt.“

„Wales“, sagte Rhia und hoffte inständig, dass Lynn sie nicht bitten würde etwas auf Kymrisch zu sagen.

„Das ist toll“, sagte Lynn und ihre Augen begannen zu leuchten. „Mae Cymru yn wych.“

„Du sprichst Kymrisch?“, fragte Rhia verblüfft.

„Nur ein paar Worte. Aber ich verstehe das ein oder andere“, sagte sie bescheiden und lächelte breit.

„Kommen deine Eltern da her?“, wollte Rhia wissen.

Sie hätte es sich nie träumen lassen in der Schule auf jemand zu stoßen mit dem sie Walisisch sprechen konnte. Vielleicht würde sie doch nicht so großes Heimweh bekommen.

„Nein. Meine Familie lebt schon seit Generationen in Fawns Bay“, sagte Lynn. „Mich fasziniert einfach die Sprache“, schob sie erklärend hinterher.

„Du wohnst auch in Fawns Bay?“, fragte Rhia erfreut. „Meine Mom und ich sind vor ein paar Tagen dorthin gezogen. Wenn du möchtest, kannst du bei uns im ‚Möwennest‘ vorbeischauen. Dann bring ich dir gerne noch mehr Kymrisch bei“, bot sie an.

„Oh, wie schön. Ich habe schon gesehen, dass unser kleines Nest Zuwachs bekommen hat. Freut mich sehr“, erwiderte Lynn, wobei ihr letzter Satz halb vom Klingeln der Schulglocke übertönt wurde. Sie wandte sich einer offenen Klassenzimmertür zu ihrer Linken zu. „Ich hab jetzt Englisch. Weißt du wo du hin musst?“, wollte sie wissen.

„Ich finde es schon“, meinte Rhia zuversichtlich und deutete wage, quer über den Gang auf eine Tür. „Ok. Bis später dann. Wenn du magst, können wir heute Mittag zusammen essen“, bot Lynn an und verschwand winkend in ihrem Raum.

Umsichtig balancierte Rhia ihr Tablett mit einem Teller, auf dem verschiedenen Breisorten ineinanderliefen, vor sich. Zum Mittagessen gab es eine gelblich braune Pampe, die wohl Kartoffelbrei war und einen grünen Brei aus zerdrückten Erbsen.

Ratlos blieb sie mit ihrem vollen Tablett in dem belebten Speisesaal stehen und hielt Ausschau nach Lynns roten Locken, konnte sie aber nirgends entdecken. Stattdessen sah sie die andere neue Schülerin mit den Schmetterlingsklammern, die allein an einem Tisch saß und ging auf sie zu.

„Hi! Emily oder? Kann ich mich zu dir setzten?“, fragte Rhia und stellte ihr Tablett ab.

Emily nickte. „Warum nicht“, sagte sie und schob ihre Sachen zusammen, um etwas Platz zu schaffen

„Du bist auch neu hier, stimmt‘s?“, wollte Rhia wissen und begann die beiden Breisorten auf ihrem Teller zu vermischen.

„Ich bin vorher auf eine andere Schule in der Nähe gegangen, hatte aber keine Lust mehr darauf. Es war langweilig. Die Fächer waren öde und die Leute auch. Aber ich fürchte, dass wird hier nicht anders sein.“

Sie warf Rhia einen kurzen Seitenblick zu.

„Wo kommst du her?“, fragte Rhia und versuchte die unhöfliche Bemerkung nicht auf sich zu beziehen. „London, aber wir sind vor fünf Jahren hergezogen. Das war die beschissenste Idee überhaupt, wenn du mich fragst“, sagte sie und stocherte lustlos in ihrem Essen herum.

Emily machte keinerlei Anstalten weiterzusprechen und als die Stille zwischen ihnen sich zunehmend zu einem unbequemen Schweigen ausdehnte, fragte Rhia sie schließlich, ob sie auch in Fawns Bay wohne, hauptsächlich um das Gespräch irgendwie am Laufen zu halten.

„Gott bewahre, nein. Ich wohne hier in Roforth“, sagte Emily verächtlich und fuhr fort ihr Essen mit der Gabel zu durchlöchern.

Rhia betrachtete Emily verstohlen von der Seite.

Sie wirkte etwas unnahbar, fand Rhia und gehörte eindeutig zu den Mädchen, die zwar die Schuluniform trugen, aber auf eine Art und Weise, die nur haarscharf an einer Verwarnung vorbeischrammte.

Ihr Rock war etwas kürzer als erlaubt und wenn sie saß, konnte man erkennen, dass sie ihre grobmaschigen Strümpfe mit Strapsen festhielt. Ihre Bluse war etwas zu tief aufgeknöpft und die Ärmel ihres Blazers hochgekrempelt. Dazu trug sie dicken Lidstrich, der den Eindruck machte, als würde er ein paar Pfund wiegen und ihr einen leichten Schlafzimmerblick verlieh.

Als wäre das noch nicht genug, hatte sie zusätzlich zu den Schmetterlingsklammern noch eine gute Handvoll kleiner schwarzer Klammern in ihrer Frisur, die vereinzelte Strähnen in einer Art Hochsteckfrisur oben hielten.

Ihr Erscheinungsbild hatte etwas Individuelles, das Rhia irgendwie faszinierte, weil sie so offenkundig gegen das System rebellierte. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass man es sich mit Emily besser nicht verscherzte.

„Du bist aber auch nicht von hier, oder?“, fragte Emily irgendwann, als der Essensbrei auf ihrem Teller bereits feiner durchlöchert war, als ihre Stümpfe. „Nein“, gestand Rhia und erzählte ihr von Wales und dem Café am Meer.

„Find ich gut“, sagte sie zu Rhias Überraschung. „Du kannst gerne mal auf einen Kaffee vorbeischauen“, bot Rhia rasch an.

Emily nickte, sagte jedoch nichts. „Hast du eigentlich einen Freund?“, fragte sie dann unvermittelt mit bohrendem Blick.

„Nein“, gestand Rhia und dachte schaudernd zurück an ihre letzte unglückliche Beziehung mit Tyler. Die Bilder, wie er Cindy auf dem Schulball seine Zunge bis zum Anschlag in den Mund gesteckt hatten, verursachten bei ihr immer noch einen Würgreflex. Rhia hatte die ganze Zeit direkt neben ihm gestanden und versucht, sich die Demütigung nicht anmerken zu lassen. Hinterher war es Tyler dann irgendwie gelungen, Rhia als die Böse dastehen zulassen, die sich zwischen Cindy und Tyler gedrängt hatte. Das wiederum hatte die Freunde der beiden gegen sie aufgehetzt und ihr einige unangenehme Wochen beschert.

Nach diesem Desaster hatte Rhia nie wieder ein Wort mit ihm oder Cindy gesprochen. Soweit sie wusste, waren die beiden aber immer noch ein Paar. „Ich habe nicht so viel Glück in der Liebe“, fügte sie laut hinzu, um den Gedanken an Tyler zu verscheuchen.

„Ich auch nicht. Der Referendar an meiner alten Schule meinte, ich sei ihm zu jung. Schwachsinn.

Aber man hat sich erzählt, dass die heißen Typen alle hierhin gehen. Vielleicht ist ja auch was für uns dabei“, sagte Emily und sah sich aufmerksam im Saal um. Auch Rhia blickte vom Tisch auf und sah zufällig, wie Lynn sich mit einem vollen Tablett zwischen den Tischen hindurchschlängelnd auf sie zu bewegte. „Da bist du ja“, sagte sie, als sie ihren Tisch erreicht hatte und ließ sich auf den freien Platz Rhia gegenüber fallen.

Emily blickte sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Emily - Lynn, Lynn - Emily“, stellte Rhia die beiden einander vor.

„Du bist nicht bei mir in Mathe, oder?“, fragte Emily Lynn, die den Kopf schüttelte.

„Glückwunsch“, sagte Emily trocken. „Woher kennt ihr euch?“, wollte sie dann wissen.

„Wir haben alle drei zusammen Theorien der Quantenmechanik“, erwiderte Rhia und Lynn sagte zeitgleich „wir wohnen beide in Fawns Bay.“

„Aufregend“, sagte Emily gelangweilt und musterte Lynn unter ihren schweren Augenlidern heraus, sodass diese unruhig hin und her rutschte.

„Ich muss dann auch. Man sieht sich“, sagte Emily, stand auf und schnappte sich ihr halbvolles Tablett.

Als sie außer Hörweite war, entspannte Lynn sich sichtlich.

„Kennt ihr euch schon näher?“, fragte sie skeptisch, und beobachtete Emilys Rückseite, die sich einem Tisch mit Jungs aus dem Football-Team näherte. „Nein, ich wollte sie nur mal kennenlernen. Sie ist schließlich auch neu“, antwortete Rhia und kam endlich dazu ihre Kartoffel-Erbsen-Pampe in den Mund zu schieben. Beinahe hätte sie sie wieder ausgespuckt. Lynn grinste.

„Halte dich besser vom Kartoffelbrei fern“, riet sie Rhia überflüssigerweise. „Ich weiß nicht, was sie da reintun, aber es schmeckt wie WC-Reiniger.“

Rhia, die den Brei hinuntergewürgt hatte, nickte und schob das Tablett von sich weg.

„Außerdem besser kein Hackbraten und kein Vanillepudding“, fügte Lynn hinzu, und schob ihr die Hälfte ihres Käse-Sandwiches hin. „Die Pasteten sind in der Regel essbar und die Sandwiches auch“, sagte sie und biss in ihr Brot.

Mit vollem Mund bemerkte sie: „Wenn du Lust hast, können wir auch mal nach der Schule in die Innenstadt. Dann zeig ich dir da die besten Plätze, falls dir mal nicht nach Mensaessen ist.“

Rhia nickte und lächelte Lynn dankbar an und als sie nachmittags um halb fünf die Hintertür des „Möwennests“ aufschloss, war sie müde aber erleichtert. Der erste Schultag war insgesamt doch gar nicht so schlecht gewesen.

3. KAPITEL

Am Wochenende, ein paar Tage nach Schulbeginn öffnete das „Möwennest“ erstmals seine Türen für Gäste.

Der Samstag begann für Rhia um 6 Uhr früh, weil ihre Mutter auf genügend Vorbereitungszeit bestanden hatte, bevor das Café um elf Uhr die ersten Gäste empfangen würde. Als Rhia müde zum Frühstück in die Küche geschlurft kam, war ihre Mutter schon seit zwei Stunden auf den Beinen. In der Hand hielt sie ihre dritte Tasse Kaffee und zitterte vor Aufregung und Koffein.

Nach einem schnellen Frühstück scheuchte Mabel ihre Tochter hinunter in die Backstube, wo sie den Morgen damit verbrachte, Scones zu backen und Sandwiches und Obstsalate zuzubereiten. Einige Kuchen für heute hatte ihre Mutter am Vortag vorbereitet und über Nacht im Keller durchziehen lassen. Doch die Sandwiches mussten frisch zubereitet werden und die Scones sollten praktisch ofenwarm auf die Teller der Gäste kommen.

Während Rhia buk, füllte Mabel die Vasen mit frischen Blumen, die Vitrinen mit den Kuchen und frisch gemahlenen Kaffee in die Espressomaschine. Immer wieder kam sie jedoch nach hinten in die Backstube, um ihrer Tochter bei der Arbeit auf die Finger zu schauen.

Sie wusste, dass sie heute Nachsicht mit ihr haben musste, immerhin ging es für Mabel hier um ihren Lebenstraum, merkte aber, wie sie den Teig zunehmend energischer knetete.

„Willst du lieber selbst backen?“, fragte sie ihre Mutter entnervt, als Mabel zum fünften Mal innerhalb einer Stunde zu ihr kam, um ihr auf die Finger zu schauen. „Nein, nein, ich vertrau dir. Du hältst dich ja an das Rezept. Außerdem wollte ich nochmal schnell über die Tische wischen“, sagte sie und eilte davon. Rhia rollte die Augen. Bestimmt waren die Tische noch feucht vom letzten Mal.

Um halb elf hatte Mabel sie hinauf in die Wohnung gescheucht, damit sie sich umzog und frisch machte. Rhia hatte sich das Mehl von Gesicht und Armen gewischt und ihre Haare gezähmt, die wild nach allen Seiten abgestanden hatten, als sie das Haarnetz vom Kopf zog. Während sie sich umzog, meinte sie Mabels Absätze auf den Dielen des Cafés nervös auf und ablaufen zu hören.

Im Spiegel betrachtete sie mit schief gelegtem Blick ihr Erscheinungsbild und zupfte an den Sachen herum, die Mabel ihr für das Servieren im Café gekauft hatte. Sie waren denen, die ihre Mutter heute trug nicht unähnlich.

Die Bluse spannte etwas über der Brust, aber die hellblaue Farbe harmonierte gut mit ihren rotblonden Haaren. Nur der graue Rock betonte ihre Hüfte etwas zu sehr, fand sie. Vielleicht hätte sie ihre Mutter bitten sollen, die Kleidung eine Nummer größer zu kaufen. Seufzend zupfte sie am Rock herum, aber etwas anderes zum Anziehen für heute hatte sie nicht.