End of Story - Der Mörder unter uns - A. J. Finn - E-Book

End of Story - Der Mörder unter uns E-Book

A. J. Finn

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Beschreibung

Zwei verschwundene Personen, eine Leiche, ein sagenumwobener Schriftsteller und eine junge Autorin, die tief in das undurchdringbare Netz aus Familiengeheimnissen hineingezogen wird …

Hope und Cole Trapp, Ehefrau und Sohn des berühmten Krimischriftstellers Sebastian Trapp, sind verschwunden. Seit 20 Jahren gibt es keine Spur von ihnen. Wurden sie entführt und ermordet? In Verdacht gerät Trapp. Als Nicky Hunter engagiert wird, um Trapps Memoiren zu verfassen, stößt sie auf ein undurchdringbares Netz aus Geheimnissen. Nach und nach taucht Nicky tiefer in die Familiengeschichte ein und kommt der Lösung des Verbrechens immer näher – und damit auch dem Täter. Doch dann geschieht ein Mord, eine weibliche Leiche treibt im Teich des Hauses ...

Lesen Sie auch den internationalen Bestseller
»The Woman in the Window – Was hat sie wirklich gesehen?«

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Seitenzahl: 610

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Buch

Hope und Cole Trapp, Ehefrau und Sohn des berühmten Krimischriftstellers Sebastian Trapp, sind verschwunden. Seit zwanzig Jahren gibt es keine Spur von ihnen. Wurden sie entführt und ermordet? In Verdacht gerät Trapp selbst. Als Nicky Hunter engagiert wird, um Trapps Memoiren zu verfassen, stößt sie auf ein undurchdringbares Netz aus Geheimnissen. Nach und nach taucht Nicky tiefer in die Familiengeschichte ein und kommt der Lösung des Verbrechens immer näher – und damit auch dem Täter. Doch dann geschieht ein Mord, eine weibliche Leiche treibt im Teich des Hauses …

Autor

A. J. Finn hat für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften geschrieben – unter anderem für die Los Angeles Times, Washington Post und das Times Literary Supplement (UK). Er ist in New York geboren, hat aber zehn Jahre in England gelebt, bevor er nach New York zurückkehrte. Sein Debütroman The Woman in the Window sorgte vor Veröffentlichung weltweit für Furore, wurde in 41 Sprachen übersetzt und von Fox verfilmt.

Von A. J. Finn bereits erschienen

The Woman in the Window. Was hat sie wirklich gesehen?

A. J. Finn

end of story

DER MÖRDER UNTER UNS

THRILLER

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel End of Story bei William Morrow, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieser Roman beruht nicht auf Tatsachen. Namen, Figuren, Orte und Begebenheiten entspringen der Fantasie des Autors und haben keinen realen Hintergrund. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Orten, Organisationen oder Personen, ob lebend oder verstorben, wäre rein zufällig.

Copyright der Originalausgabe © 2024 by A. J. Finn, Inc.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Harper Collins US

Umschlagdesign: Elsie Lyons

Umschlagmotive: yozzo / Getty Images; Shutterstock.com (Dunaeva Natalia; Miloje; LongQuattro); toluk / stock.adobe.comStH · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22949-8V001

www.blanvalet.de

Für Jennifer Noel und Felicity Blunt

Ja, und sogar in feinen Familien, in vornehmen Familien, in sehr hohen Familien … Sie haben keinen Begriff, … was da für Geschichten vorkommen.

Bleak House

Dienstag, 23. Juni

Gleich wird man sie finden.

Im marmorierenden Wasser treibend, die Finger weit gespreizt, das Haar ausgebreitet wie ein japanischer Fächer. Koi gleiten darunter weg, schieben sich hindurch; streichen an ihrem Körper entlang.

Die Filteranlage brummt. Der Teich simmert, schimmert. Sie schaudert leicht an der Wasseroberfläche.

Am frühen Morgen wälzten sich noch dicke Nebelschwaden über den Boden – typischer San-Francisco-Nebel, samtdicht und kühl –, aber inzwischen verbrennen die letzten Schleier in der Wärme, und der Garten der Villa badet im Sonnenschein: die Pflastersteine, die Sonnenuhr, ein stummer Chor von Narzissen. Und natürlich der Teich, dieser perfekt gezogene Kreis nahe der Hauswand mit den glänzenden Fischen und den sterngleichen Seerosen.

Gleich wird ein Schrei die Luft zerreißen lassen.

Bis dahin ist alles still, alles reglos, bis auf das leichte Kräuseln an der Wasseroberfläche, die langsamen Bewegungen der Koi, das Schaudern ihres Körpers.

Auf der anderen Seite des Innenhofs öffnet sich eine Terrassentür, und Sonnenstrahlen prallen vom Glas ab. Ein Atemholen. Dann der Schrei.

Man hat sie gefunden.

Sechs Tage zuvor:Mittwoch, 17. Juni

1.

»Stehen Sie auf ungelöste Fälle?«

Nicky hebt den Blick zum Rückspiegel. Der Taxifahrer blinzelt sie durch schnapsglasdicke Brillengläser an.

»Sieht aus, als würden Sie da einen Krimi lesen«, krächzt er. Das Taxi donnert über ein Schlagloch, erbebt unter ihnen.

Sie hebt das Taschenbuch an. »Agatha Christie. Mord in Mesopotamien.« Der Mann will Unterhaltung, und Nicky möchte ihm den Gefallen tun. Taxifahren ist bestimmt ein einsamer Job.

»Rauchen Sie?«

»Nein, Sir.«

»Gut.« Wobei er sich eine Zigarette zwischen die Zähne schiebt. »Zu hübsch, um jung zu sterben.«

Er zündet die Zigarette mit einem verbeulten Zippo an und Nicky drückt auf die Fenstertaste. Weiße Luft quillt kühl und feucht in den Wagen und flutet den Fond; sie fährt das Fenster wieder hoch, bis nur ein Spalt offen bleibt, und dreht sich der Scheibe zu, sieht ihren Zwilling darin sitzen: die mit Mascara nachgezeichneten Wimpern, den schimmernden Lipgloss auf dem Mund. Sie ist nicht besonders hübsch – das weiß sie, aber es stört sie nicht wirklich.

Das Taxi macht einen weiteren Satz. Ihre Tasche springt vom Rücksitz. »Ich glaube, Sie haben gerade den Bordstein gerammt.«

»Kann sein.« Er starrt grimmig nach vorn. »Hätte nicht gedacht, dass der Flughafen geöffnet ist. Ein Wunder, dass der Flieger überhaupt landen konnte.«

Nicky, keine geborene Fliegerin, empfindet es jedes Mal als Wunder, wenn das Flugzeug landet. Sie schaut an dem Fahrer vorbei in den wabernden Abendnebel, der im Scheinwerferlicht wie Perlmutt glänzt.

»Wir nennen das June Gloom. Ich wette, bei euch drüben im Osten habt ihr im Juni kein so trübes Wetter.«

»Nein.« Bei euch drüben im Osten – das klingt weit entfernt, fast mythisch.

Er grunzt zufrieden, schlägt auf den Blinkerhebel, und im nächsten Moment jagen sie um eine Ecke und schießen hügelaufwärts. Nicky hält sich an ihrem Gurt fest.

»Ungelöste Fälle.« Der Rauch steigt aus seinem Mund, strudelt durch die kalte Luft. »In San Francisco gibts zahllose ungelöste Fälle. Haben Sie schon mal von dem Zodiac-Killer gehört?«

»Er wurde nie erwischt.«

»Er wurde nie – genau.« Er wirft einen strafenden Blick in den Rückspiegel. Nicky verstummt; es ist seine Stadt, seine Geschichte. »Er ist so was wie unser Jack the Ripper. Dann gab’s da noch die Romance of the Skies. Eine Düsenmaschine, die in den Fünfzigern spurlos verschwand. Sie war auf dem Flug nach Hawaii, und auf einmal …« ein Zug an der Zigarette. »Weg.« Eine Qualmwolke.

»Was ist mit ihr passiert?«

»Wer weiß? Mit dem Ghost Blimp wars genauso. Im Krieg stiegen ein paar Jungs aus der Army in einem Zeppelin auf, und als er in Daly City runterkrachte, war kein Mensch mehr an Bord. Der nächste ungelöste Fall, genau wie – da drüben!« Er schwenkt schlaff die Hand nach rechts. »Das älteste Haus in Pacific Heights.«

Nicky blickt auf ein farbloses viktorianisches Haus mit Fenstern wie entsetzt aufgerissenen Augen. »Fünfzig Jahre vor dem großen Erdbeben erbaut«, prahlt der Taxifahrer. »Das Haus hatte damals schon fünf Jahrzehnte auf dem Buckel und trotzdem hat es überlebt.«

»Es sieht überrascht aus«, merkt Nicky an. »Als könnte es kaum glauben, dass es immer noch steht.«

Er grunzt wieder. »Ich kanns auch kaum glauben.«

Sie rumpeln weiter. Links und rechts blitzen im Nebel weiße Straßenschilder auf, nach vorne weisende Phantomfinger: Hier entlang, immer weiter.

»Sie sind aus New York, haben Sie gesagt?«

»Genau.«

»Also, das hier ist das teuerste Viertel im ganzen Land.«

Wie Schemen tauchen am Straßenrand Villen aus dem Nebel auf: elegante Damen des neunzehnten Jahrhunderts, schlank und züchtig in Pastell gehüllt; eine hingebreitete spanische Villa unter wuchernden Efeuranken; ein falsches Tudor-Haus mit Fachwerkbalken und weißem Verputz auf einem Backsteinsockel in Fischgrätmuster; zwei Queen Annes mit Holzverzierungen wie Spitzendeckchen.

»In manchen davon wohnen Techstars«, erklärt ihr der Taxifahrer. »Google. Uber. Über Uber könnte ich Ihnen Sachen erzählen …« Sein Gesicht verfinstert sich, doch erzählen tut er nichts. »Es gibt aber auch noch viel altes Geld. Die Wir-waren-schon-immer-reich-Typen.«

Nebelschleier tasten sich durch die Straßen vor ihnen. Wie Dünung fließen sie über das Pflaster, in steigenden, fallenden Wellen. Nicky hält den Atem an.

»Wir haben auch Krimiautoren in San Francisco. Dashiell Hammett – der wohnte da hinten. In der Post Street.«

Das nächste Schild sticht aus dem Dunst heraus, drängt sie weiter. Hier entlang. Nicht stehen bleiben.

»Ah, jetzt fällt mir noch ein ungeklärter Fall ein.« Er kaut auf der Zigarette. »Ein Krimiautor aus – war das Pac Heights? Jedenfalls irgendwo in der Nähe. Also, eines Nachts verschwinden seine Frau und sein Sohn auf Nimmerwiedersehen.«

Nicky schaudert.

»Als hätten sie sich in Luft aufgelöst. So wie dieses Flugzeug. Das muss vor fünfundzwanzig … nein – zwanzig Jahren gewesen sein. An Silvester neunundneunzig.« Die Worte treiben in einer Rauchwolke und wabern durchs Auto.

»Was ist passiert?«

»Das weiß niemand! Manche hatten den Bruder unter Verdacht – den Bruder des Schreiberlings – oder dessen Frau oder vielleicht beide. Andere waren überzeugt, dass ihr Kind dahintersteckte. Das Kind vom Bruder, meine ich. Es gab auch Angestellte, einen Mann und ein Mädchen. Aber die meisten«, sie kurven um die nächste Ecke, »die meisten glauben, dass er es selber war. Und da wären wir«, verkündet er, während das Taxi unter einem gepeinigten Quietschen am Bordstein bremst und Nicky nach vorn geschleudert wird, dass ihr das Buch vom Schoß rutscht.

Sie verfolgt, wie sich der Taxifahrer aus dem Fahrersitz hievt und zum Kofferraum geht; die Spitze seiner Marlboro sticht wie ein Irrlicht durch den Nebel.

Nicky steckt das Buch in ihre Tasche. Inhaliert tief, hustet – das Auto riecht wie ein Aschenbecher –, und stößt dann die Tür auf, um in den Nebel zu treten. Die Straße gleicht einer Geisterstadt, gesäumt von schattenhaften Häuserkolossen und Fassaden wie Totenköpfen, die sich über die Straße hinweg anstarren. Sie schaudert wieder.

»Schlau von Ihnen, im Pullover zu kommen«, sagt der Taxifahrer, während hinter ihr die Tür klackend ins Schloss fällt.

Nicky sieht an sich herab. Ihr teuerstes Kleidungsstück: aus Kaschmir, ein schlichter Pullover mit V-Ausschnitt, frisch aus der Reinigung. Irgendwo über Oklahoma hat sie Bier darüber gekippt. Ihre Jeans, erkennt sie, ist immer noch mit rauen Hundehaaren übersät, obwohl sie eine ganze Zeitzone damit zugebracht hat, eines nach dem anderen abzuzupfen.

Als sie den Blick wieder hebt, starrt der Taxifahrer mit großen Augen die steile Einfahrt hinauf. Er dreht sich zu ihr um.

»Das ist das Haus«, sagt er. »Von dem ich gerade geredet habe. Wussten Sie das?«

»Schuldig.« Sie fühlt sich auch so.

»O Mann. Und Sie lassen mich einfach weiterquatschen.«

»Ich wollte Sie nicht unterbrechen«, erklärt sie sanft; sie wollte ihn wirklich nicht vorführen. Aber sie hat alles über die Frau und den Sohn gelesen, die eines Nachts auf Nimmerwiedersehen verschwanden; inzwischen weiß sie mehr als die meisten Menschen darüber. Mehr als fast jeder andere.

Der Taxifahrer zieht noch einmal an seiner Zigarette und schnippt sie grimmig auf die Straße, wo sie einen kleinen Kometenschweif von Funken hinter sich herzieht. »Sieh einer an. Ein Freundschaftsbesuch?« Ein Blick auf ihr Gepäck, einen Kabinentrolley und einen kleinen, altmodischen, mit Reiseaufklebern übersäten Überseekoffer mit Lederschnallen und Nagelbeschlag.

»Ich habe einen Termin.« Sie versenkt eine Hand in ihrer Handtasche und zieht drei Zwanziger und einen Fünfer heraus.

Er betastet die Scheine. »Bargeld sieht man heutzutage nicht mehr oft.«

»Ich bin altmodisch.«

»Und Sie haben keine Angst? Sie glauben nicht, dass er die beiden auf dem Gewissen hat?« Raunend, als würde er sie fragen, ob sie nicht der Meinung sei, sie hätte schon genug intus.

»Ich hoffe nicht«, antwortet Nicky fröhlich.

»Na dann. Viel Spaß bei Ihrem ungelösten Fall.« Er geht in einer Nikotinschwade an ihr vorbei; Nicky ist unschlüssig, ob er den Mordfall in Mesopotamien oder den Vermisstenfall in San Francisco meint. Als er sich auf den Fahrersitz sinken lässt, stößt der Wagen ein erschöpftes Seufzen aus, genau wie der Fahrer selbst. »Und viel Spaß in San Francisco«, ruft er ihr zu. »Fünfzig Quadratmeilen, umgeben von Realität.« Die Tür knallt zu.

Nicky bleibt mit dem Rücken zum Fahrzeug und dem Blick auf ihrem Gepäck stehen. Der Motor räuspert sich kurz; aus dem Auspuff strömen Abgase gegen ihr Bein; dann hört sie, wie der Wagen davonrollt.

Als sie sich umdreht, hat sich die Nebelwand schon wieder geschlossen und steht glatt und reglos hinter ihr wie ein vereister Spiegel, so als hätte es das Taxi und den Fahrer nie gegeben.

2.

Sie steht im Nebel, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände um die Schultern geschlossen; sie umarmt sich selbst, wie so oft, wenn sie aufgeregt oder nervös oder beides ist. Sie spürt, wie hinter ihr das Haus den Atem anhält. Genau wie sie.

Nicky neigt nicht zur Dramatik, wirklich nicht – in ihrem Freundeskreis gilt sie als Netteste und gleichzeitig Bodenständigste –, aber sie hat fünf Jahre darauf gewartet, hier anklopfen zu dürfen. Ihre Erinnerung spult im Schnelldurchlauf zurück: durch fünf Sommer, ein verschwommenes Panorama in Stahlblau; durch fünf Winter, Manhattan unter Schnee; bis zu dem Zeitpunkt, als sie in genau diesem Monat vor fünf Jahren ihren ersten Brief schrieb.

Sehr geehrter Mr. Trapp, Sie kennen mich nicht …

Schon als Teenager hatte Nicky Fanbriefe an Krimiautoren und -autorinnen verfasst, in denen sie um Aufklärung und Autogramme gebeten hatte; später, während ihres Studiums, waren es tiefgründigere Schreiben mit komplexeren Fragestellungen gewesen. Sie steht bis heute in Kontakt mit den wenigen, die bereit waren, ihre Laptops zuzuklappen und einen Brief zum Briefkasten zu bringen. Tinte sickert ins Papier ein, unauslöschlich wie eine Narbe; eine E-Mail löst sich in Nichts auf wie ein Atemhauch auf Glas.

Dann, in den Nachwehen des Julis: ein blassblauer Umschlag, ihr Name quer darüber geworfen, tief ins Papier gekerbt: Mr. oder Ms. Nicky Hunter.

Sie inspizierte die Rückseite, die Adresse in San Francisco. Lächelte sanft.

Drei Wochen schliff und feilte sie an ihrer Antwort, bevor sie schließlich den Ball zurückspielte. (Sehr geehrter Mr. Trapp: Ich bin tatsächlich eine Frau.) Ein weiterer Monat, ein weiterer blauer Umschlag. Und so weiter bis in den Herbst, in den Winter, ins neue Jahr, dann durch vier weitere hindurch – mal ein Absatz von ihr, mal ein paar Sätze von ihm –, bis zu seinem letzten Schreiben, wie immer in Druckbuchstaben und rissiger Tinte verfasst, mit schwankenden, taumelnden Buchstaben wie Reisende auf einem Schiff im Sturm.

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in unserem Heim.

Sie reibt sich die Arme. Dreht sich langsam um. Der Nebel reißt auf, teilt sich wie ein Vorhang, enthüllt das Haus, das in einer versteinerten Woge über ihr aufragt.

Ein Neorenaissance-Schloss in Beige, erbaut von Bliss und Faville im Jahr 1905, dem Jahr vor dem Erdbeben; seither Heimstatt von nur vier Familien, die gegenwärtigen Bewohner eingeschlossen. »Eine der elegantesten und geschmackvollsten großen Villen in Pacific Heights, mit einem spektakulären Blick auf die Golden Gate Bridge«, hauchte der Architectural Digest ehrfürchtig in einem Artikel unter der Überschrift Haus der Geheimnisse. »Weitläufig, elegant im Dekor und eifersüchtig bewacht von seinem Hausherrn.« Der Tonfall des Artikels war so kurzatmig gehalten, dass es schon an Asthma grenzte.

Dennoch: Über zwölfhundert Quadratmeter verteilt auf vier Stockwerke (plus Keller). Sieben Schlafzimmer. Acht Badezimmer. Eine Bibliothek mit Walnussvertäfelung und etwa sechstausend Büchern; ein ummauerter Garten mit eingelassenem Teich für die Koi. Durchgehend Parkett in Weißeiche. Vom steilen Schieferdach herunterspähende Gaubenfenster. Eine Eingangshalle mit Gewölbedach. Ein wahres Feuerwerk an exotischen Details.

Nicky blickt auf die Haustür, die Schleuse zu dieser Eleganz, dieser Pracht. Und irgendwo dahinter der Autor, der sie so fasziniert. Sie ist aufgeregt wie ein kleines Mädchen am ersten Schultag.

Vor ihr schwingen sich dreizehn elegante Marmorstufen in die Höhe. Nicky zählt sie ab und streckt dann die Schultern durch. Ihr Körper ist leicht, aber drahtig, gestählt und durchtrainiert; als Nicky Hunter – diese glückliche Person, diese Sanftmut in Person, diese Menschenfreundin – vor fünf Jahren zu boxen begann, entdeckte sie überrascht, dass sie ein gewisses Talent für Jab, Haken und Cross mitbrachte.

Sie wuchtet ihren Koffer hoch, klemmt die Trolley-Tasche unter den anderen Arm und erklimmt die steilen Stufen.

Vor der Tür setzt sie Koffer und Tasche ab. Aus dem Holz wölbt sich ein Türklopfer: Ein extravagant verschnörkeltes und oben verdicktes Fragezeichen, das etwas von einer Brillenschlange hat. Nicky fährt es mit einer Hand nach und zielt dann mit einem Finger auf die Klingel.

Die Klingel schreit auf, erstirbt.

Sehr geehrter Mr. Trapp: Sie kennen mich nicht, aber ich halte es für möglich, dass ich in Ihrem Roman einen Lapsus entdeckt habe …

Das schnelle Klicken eines Schlosses. Nicky tritt einen Schritt zurück.

Die Tür öffnet sich.

Ihr gegenüber steht, vor bernsteingelbem Licht, die schönste Frau, der sie je begegnet ist.

3.

Während Diana ihr Darjeeling einschenkt, betrachtet Nicky sie eingehend.

Sie strahlt ein inneres Leuchten aus – wie eine Laternen-Lady. Über vierzig, mit üppigen Wimpern und ausgeprägtem Amorbogen an der Oberlippe. Das Haar fällt ihr lose über die Schulter. Ein uneitles taubenblaues Kleid – eine uneitle Frau, ungeachtet ihrer Schönheit: ein schüchternes Lächeln, das eine Bein züchtig über das andere geschlagen. Ihre Stimme (»Milch? Zucker?«) ist leise, klingt wie eingestaubt.

Diana schaut auf, und Nickys Blick wandert sofort durch den Salon: über die mit Schmetterlingen bedruckten Tapeten; über die Stehlampen beiderseits der Sofas, den kleinen Kronleuchter. Durch die zweiflügelige Terrassentür kann sie in den Garten sehen, der dämmernd im dahinsiechenden Tageslicht liegt. An einer Wand ein schmales Bücherregal; unter ihren Füßen ein kunstvoll abgewetzter Perserteppich. Wir waren schon immer reich.

Oder jedenfalls lange genug.

»Und Ihre Reise war …?« Die Frage verpufft. Dianas Akzent ist wie Nebel, im Kern englisch und an den Rändern ausgefranst.

»Holprig.«

»Von New York an?«

»Vom Flughafen an bis hierher. Wir konnten keine zwei Meter weit sehen. Es war fast, als würde ich an einen geheimnisvollen Ort verfrachtet. So wie in Der Daumen des Ingenieurs.«

Diana blinzelt höflich.

»Von Sherlock Holmes«, ergänzt Nicky.

»Ach so.«

»Es geht darin um diesen Ingenieur – nein danke; nur Milch –, einen Hydraulikingenieur, der vom Bahnhof zu einem zwölf Meilen entfernten, mysteriösen Haus gebracht wird. Die Kutschenfenster sind verdunkelt, und die Fahrt scheint kein Ende zu nehmen. Anschließend versuchen seine Kunden ihn in dem fraglichen Haus umzubringen. Und zwar in einer Hydraulikpresse. Dann kombiniert Sherlock Holmes, dass das Haus in Wahrheit in der Nähe des Bahnhofs steht. Die Kutschenfahrt war nur vorgespielt: Der Ingenieur wurde sechs Meilen vom Bahnhof weg- und wieder zurückgefahren.«

Diana kneift die Lippen zusammen. »Ich muss gestehen«, es klingt wirklich nach einem Geständnis, »ich bin kein so großer Fanatiker in Bezug auf Krimis wie Sie. Sie beide.« Jetzt ein Stirnrunzeln. »Wobei ›Fanatiker‹ nicht böse gemeint ist.«

»Ich hätte es auch nicht so aufgefasst. Was lesen Sie denn gern?«

Diana nennt eine Nobelpreisträgerin und zwei französische Romanschriftsteller.

»Wir haben nichts gemeinsam«, stellt Nicky fest.

»Ich habe jahrelang Französisch unterrichtet. Und Latein. Aber ich habe einige Ihrer Arbeiten gelesen – ich kann mich an den Essay über Edgar Allan Poe und an den über Ngaio Marsh erinnern. Ihre Texte haben etwas sehr Menschliches. Ich nehme an, wir neigen dazu, Krimiautoren als Möchtegernkiller zu sehen, nicht wahr? Als verhinderte Mörder? Aber nach Ihren Essays hätte ich sie alle gern kennengelernt. Vor allem wollte ich ihre Bücher lesen.« Sie nimmt einen Schluck Tee. »Und Sie unterrichten Krimischreiben?«

»Ich biete im Sommersemester ein Krimiseminar an. Ansonsten können meine Studenten schreiben, was sie wollen. Gewöhnlich ist es Belletristik. Ich führe ihnen vor Augen, dass viele berühmte amerikanische Romane im Grunde Kriminalromane sind. Lolita beispielsweise. Wer die Nachtigall stört. Der große Gatsby – eine reine Detektivgeschichte. Auch wenn der Detektiv keine Marke und keinen breitkrempigen Hut trägt, versucht er doch, ein Geheimnis aufzudecken.«

Diana nimmt wieder einen Schluck Tee, und Nicky senkt den Blick auf ihren Schoß, zupft ein Hundehaar von ihrem Knie. Sie nimmt sich fest vor, weniger zu reden. »Ach ja – ich habe etwas mitgebracht«, redet sie prompt weiter und zieht dabei den Reißverschluss ihrer Reisetasche auf. »Ich habe es nicht geschafft, es schöner zu verpacken …« Obwohl sie sich vierzig Minuten abgemüht hatte, die Zunge zwischen den Zähnen wie ein kleines Mädchen, das ein Bild auszumalen versucht.

Es ist unübersehbar eine Lupe, trotzdem fragt Diana höflich, was es wohl sein könnte, ehe sie das Geschenkpapier abschält. »Ach, wie bezaubernd – so ein schöner Griff. Aus Kupfer? Wie alt ist sie denn?«

»Vom Anfang der Zwanzigerjahre.«

»Das wird ihn wahnsinnig freuen.«

»Das Mindeste, was ich tun konnte.« Nicky sieht den Dampf über ihrem Tee aufsteigen. »Ich bin Ihnen so dankbar«, hört sie sich sagen und sieht wieder Diana an. »Das ist ein … wirklich außergewöhnliches Privileg.«

Ein Lächeln, ein schüchternes Lippenlupfen. »Haben Sie schon einmal an einem ähnlichen Projekt gearbeitet?«, fragt Diana. »Einer … Privatbiografie? Nur für geliebte Menschen?« Wobei sie zaghaft auf sich selbst deutet, als wäre sie nicht sicher, ob sie wirklich geliebt wird. »Gibt es dafür eigentlich einen Begriff?«

»Noch nie. Und ich kenne keinen.«

»So typisch für Sebastian, dieser Paukenschlag in letzter Minute. Ich habe ihm vorgeschlagen – ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel –, ich habe ihm natürlich vorgeschlagen, dass er es selbst niederschreiben sollte, aber …« Ein Achselzucken. »Er hat Angst, dass er nicht mehr die Zeit hat, etwas Ordentliches zu Papier zu bringen. Außerdem kann er nur aus seiner Perspektive schreiben. Und er möchte etwas mit …« Wieder verglimmt der Satz.

»… unterschiedlichen Erzählperspektiven«, vollendet Nicky den Satz.

»Exakt.«

»Wie geht es ihm?«

Die Untertasse klirrt, als Diana sie auf dem Tisch abstellt. »Offenbar bringt dich ein Nierenversagen erst um, wenn … es dich eben umbringt. Man kippt zwar nicht irgendwann tot um, aber offenbar kann man damit bis kurz vor dem Ende mehr oder weniger wie gewohnt weiterleben. Wenn auch mit mehr Schlaf. Also, er hat noch ein paar Monate. Vermutlich.«

Nicky nickt.

»Obwohl ich aus Erfahrung weiß, dass man ihn nie unterschätzen darf.« Diana streicht mit beiden Händen über ein Schienbein. »Außerdem freut er sich so auf Ihr Treffen.«

»Nicht so sehr wie ich.«

»Das können Sie unter sich ausfechten. Er liebt ebenbürtige Gegner.«

Der Schlag einer sonoren Glocke außerhalb des Zimmers. Diana sieht auf ihre Armbanduhr. »Haben Sie schon gegessen?«

»Ich könnte ein Sandwich vertragen«, gibt Nicky zu. »Oder ein Spiegelei.«

»Wie wär’s mit beidem? Ich mache Ihnen ein Croque Madame.« In akzentfreiem Französisch. Diana streicht im Aufstehen ihr Kleid glatt. »Ein hochtrabendes Wort für ein Schinken-Käse-Sand…«

In diesem Moment bricht eine Flutwelle in den Salon.

Durchläuft ihn, überschwemmt ihn – Nicky hätte es nicht gewundert, wenn die Möbel auf den Schallwellen zu treiben begonnen hätten; wenn Fenster zerborsten wären; der Kronleuchter zu schaukeln begonnen und seine Kristalle verstreut hätte.

»Bringt mir das Kind!«

4.

Ihr stockt das Herz.

Das Echo tropft von der Decke herab, versickert im Boden – dunkel und voll und donnergöttlich.

»Klingt nicht nach einem Mann, der im Sterben liegt, oder?«, fragt Diana, und Nicky sieht eine zarte Morgenröte auf ihre Wangen treten: eine Frau, die ihren Mann liebt. »Nehmen Sie sich in Acht«, rät sie Nicky. »Dieses Haus trägt den Schall. Hier gibt es keine Geheimnisse.«

Nicky steht auf, hängt sich die Tasche über, wischt die Hände an ihren Schenkeln ab (wozu sind schwitzige Hände eigentlichgut?) und folgt ihrer Gastgeberin in das große Gewölbe der Eingangshalle, wo Dianas Pumps – natürlich zurückhaltend – über den Boden klackern. Eine prachtvolle Treppe mit breit hingelagertem Fuß führt ins Obergeschoss und teilt sich dort. Nicky folgt Diana schweigend zum oberen Treppenabsatz.

Zwischen zwei hohen Fenstern hängt ein Gemälde. In Öl, aber so klar und fein gemalt, dass es fast fotografisch wirkt. Nicky bleibt davor stehen.

Ein Paar auf einer Bank: der Mann schlank wie ein Degen, in einem elfenbeinfarbenen Anzug steckend, an seinem Hals ein überquellender Krawattenschal, eine Braue stark hochgezogen; die Frau breit lächelnd in dunkelroter Hose und einem am Hals offenen, dunkelblauen Poloshirt. Neben dem Mann steht, in seinen Arm eingehakt, ein dickliches, etwa dreizehnjähriges Mädchen in einem weißen Sommerkleid. Auf dem Schoß der Frau sitzt ein kleiner blonder Junge, genau wie sie in Rot und Blau gekleidet. Er stellt lächelnd ein »Gartenzaungebiss« zur Schau, wie Nickys Onkel solche Zahnreihen gern nannte (»Hier ’ne Lücke, da ’ne Lücke.«). In den Händen hält er einen weißen Papierschmetterling.

Eines Nachts verschwinden seine Frau und sein Sohn auf Nimmerwiedersehen, sagte der Taxifahrer. An Silvester neunundneunzig. Als Hope und Cole Trapp, Frau und Sohn des gefeierten Kriminalschriftstellers, an zwei unterschiedlichen Orten in San Francisco verschwanden … um nie wiederaufzutauchen.

Worte, die in Nickys Ohren nach Theaterdonner klingen. Nur dass sich das Trappsche Mysterium als echte Sensation erwies – eine Zeitschrift erhob den Vorgang zum »verblüffendsten literarischen Entschwinden seit Agatha Christies elf Tagen auf der Flucht 1926« –, das noch heute, zwei Jahrzehnte später, im Internet herumgeistert, genau wie in den Hirnen der Taxifahrer und in Nickys Kopf.

Diana biegt nach rechts ab, an einer Treppe vorbei, dann wieder nach links, und führt Nicky durch einen Flur, auf dem ein roter Teppich die Schritte schluckt. Auf einer Seite säumen Wandleuchter ihren Weg; auf der anderen sickert durch eine Folge hoher Fenster gedämpftes Abendlicht herein. Das Haus ist in Hufeisenform angelegt, mit Flügeln zu beiden Seiten des kleinen Gartens, in dem sich ein kniehohes Heckenlabyrinth eingerollt hat. In einer entlegenen Ecke, am Schnittpunkt zweier Mauern, sieht sie den Teich, unter dessen Oberfläche orange leuchtende Fische dahintreiben.

Seine Fische. Sein Labyrinth. SeinHeim! »Der Meisterschwindler«, feierten ihn die Kritiker einst; der Schöpfer von Simon St. John, dem englischen Gentleman-Detektiv (und seiner treuen französischen Bulldogge Watson); ihr Briefpartner über die vergangenen fünf Jahre hinweg. Und nun schlendert sie durch sein Haus.

Nicky spürt das Blut in ihren Adern glühen wie in Neonschläuchen.

Sie kommen an eine angelehnte Eichentür. Das Türblatt wird von einem faustgroßen, elfenbeinhellen Totenkopf vor zwei gekreuzten Knochen geschmückt. Im Kiefer baumelt ein Metallring. Der Mann hat definitiv eine Schwäche für Türklopfer, denkt Nicky und starrt in die leeren Augenhöhlen, während Diana dreimal anklopft. Und wartet.

»Herr-rein!« Gerade, dass die Tür nicht bebt.

Sie treten herr-rein.

In einen Raum, den sie nur als Gemach beschreiben kann: tief und breit und hoch, mit Holzdielen und einer Decke aus Walnussholz. Nicky blickt auf eine Reihe hoher Fenster mit blank geputzten Scheiben und auf die Golden Gate Bridge, die sich dahinter über die dunkle Bucht spannt; aber der Raum selbst schluckt – höhlenartig, hungrig – das Abendlicht, frisst es auf.

Über die anderen Wände ziehen sich deckenhohe Regale, die unter den erwähnten sechstausend eng gepackten Büchern ächzen. Da drüben, knapp über dem Boden, ein paar ledergebundene Sammelbände mit goldgeprägtem JOHNDICKSONCARR auf dem Rücken; über Nickys Kopf Stapel von babyblauen Taschenbüchern (Frühe Detektivgeschichten, viktorianische Kriminalistinnen, Morde in geschlossenen Räumen) mit brüchigen, rissigen Bücherrücken; auf Höhe ihrer Hand ein Roman von Ellen Raskin mit kaschiertem Hochglanzeinband und daneben anscheinend eine Erstausgabe von Der Monddiamant, drei Bände in violettem Leinen. Regalbrett über Regalbrett voller rissiger, gebrochener und fleckiger Buchrücken, die mit winzigen, wie Goldstaub funkelnden Glanzbuchstaben tätowiert sind.

Spektakulär, denkt Nicky. Absolut spektakulär.

An einem Regal lehnt eine Leiter, die Füße in kleinen Rollen, das obere Ende in eine Bronzeschiene unter dem obersten Fach eingehakt. Nickys Blick folgt dem Lauf der Schiene bis zum tiefsten, abgelegensten Ende des Raumes.

Dort hinten in der Wand gibt es einen Kamin, in dem Flammen winken, als wollten sie Nicky einladen, vor ihnen niederzuknien. Sie würde sofort in Flammen aufgehen, denkt sie; sie ist völlig ausgetrocknet.

Und vor dem Kamin steht ein Schreibtisch – alt und aus Holz.

Und auf dem Schreibtisch eine Schreibmaschine – alt und aus Metall.

Und hinter der Schreibmaschine sitzt ein Mann – alt, aber älter, als er aussieht, wie Nicky weiß. Langsam erhebt er sich und entfaltet dabei wie bei einem Klappmesser jeden Zentimeter seines unglaublich langen Körpers. Er neigt den Kopf.

»Hallo, Mr. oder Ms. Hunter«, begrüßt er sie. »Ich bin Sebastian Trapp.«

5.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie warten ließ. Ein schrecklicher Auftakt für eine Geschichte. Niemand mag es, wenn zu viel herumgesessen wird.« Seine Stimme ist wie verknitterter Samt, satt und tief und abgewetzt; sie durchläuft mühelos den Raum.

Nicky zittert, was sie selbst überrascht.

Plötzlich senkt sich die Stimme um eine Oktave: »›Ich habe solche Symptome schon öfter gesehen‹«, fährt er mit Schauspielerstimme fort. »›Wir können davon ausgehen, dass die junge Dame verwirrt ist …‹«, und in diesem Moment geht ihr ein Licht auf: Holmes, Eine Frage der Identität, als der Detektiv seine neueste Klientin in der Baker Street beobachtet. Ein Lächeln zupft an ihren Mundwinkeln.

»›Aber hier nähert sie sich uns persönlich, um uns von unseren Zweifeln zu erlösen‹«, fordert er sie heraus.

Diana murmelt in ihrem Rücken: »Nach Ihnen.«

Nicky nähert sich langsam, während Sebastian hinter seinem Schreibtisch fortfährt: »›Fortwährend zeigt ihr Gesicht einen Ausdruck der Angst. Ich hoffe, sie kann mir vertrauen. Sie würde bald herausfinden, dass ich ihr bester Freund wäre.‹« Er neigt den Kopf. »›Doch bis sie spricht, kann ich nichts dazu sagen.‹«

Jetzt erst bemerkt Nicky den wackligen Stuhl vor dem Schreibtisch; jetzt erst bemerkt sie die neben der Schreibmaschine auf der Schreibunterlage arrangierten Accessoires: eine kleine schmiedeeiserne Galgenschlinge; einen bronzenen Kerzenständer ohne Kerze; ein leeres, viperngrünes Giftfläschchen ohne Verschluss; einen schlanken, silbernen Dolch; eine Webley-Fosbery Halbautomatik – Simon St. Johns bevorzugte Waffe.

Der Tisch ist aus dunkler Eiche, die Tischplatte eine gläserne, Handbreit tiefe Vitrine, in der sich zahllose Insekten tummeln, ein bunter Schwarm von Schmetterlingen, rot und azurblau und tropisch rosa, jeweils auf einen Korken gepinnt, die Flügel kapitulierend ausgebreitet.

Drei weitere Schritte, dann steht Nicky ihm gegenüber. Sie widersteht der Versuchung, schützend die Arme um ihren Körper zu schließen. Er ist nur ein Mann, ermahnt sie sich. Ein Mann, der, wie ein Kritiker anmerkte, »die besten viktorianischen Krimis seit dem Ende des viktorianischen Zeitalters« schrieb. Ein Mann, dessen Bücher sie über Jahre hinweg in Erstaunen versetzt haben.

Er ist so groß.

Und hat etwas Patrizierhaftes, mit seiner scharfen Nase und dem kantigen, geteilten Kinn; den hohen Wangenknochen und dem Schlag stahlgrauer Haare. Er trägt einen schattengrauen Dreiteiler und eine rote, unter dem Adamsapfel verknotete Krawatte. »Man hat das Gefühl, dass er sich kleidet wie sein Serienheld, und zwar exakt bis auf die Taschenuhr«, hatte irgendwer geschrieben – und da ist sie schon, eine feine Kette, die von der Westentasche zu einem Knopf unterhalb der Brust führt.

»Was führt Sie zu mir?«

Nicky sagt nichts.

»In Ihren Briefen sind Sie viel gesprächiger.«

Nicky sagt nichts.

Seine Augen werden schmal. »¿Habla inglés?«

»Sie ist sehr wohl gesprächig.« Diana stellt sich neben Nicky. »Ihr hat es nur die Stimme verschlagen. Deinetwegen.« Wobei sie ihm die Lupe überreicht. »Und sie hat dir ein bezauberndes Geschenk mitgebracht.«

»Hüte dich vor Danaern mit Geschenken«, sagt er. »Sie sind doch keine Danaerin, oder?«

Nicky schüttelt den Kopf.

»Du hast recht, Schatz, sie kann keine Sekunde den Mund halten.«

»Wenn du aufhören würdest, Agatha Christie zu zitieren …«

»Conan Doyle«, korrigieren Sebastian und Nicky sie im Chor.

Diana wirft die Hände hoch. »Ich komme in ein paar Minuten wieder«, sagt sie. »Heute gehst du früh zu Bett, junger Mann.«

Sie sehen einander an, während sie aus dem Zimmer geht. Die Flammen schwatzen leise flüsternd im Kamin.

»Was ist mit Mord im Orientexpress?«, fragt Nicky schließlich.

»Es lebt!« Er setzt sich, deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. »Bitte. Was ist mit Mord im Orientexpress?«

Sie stellt die Tasche auf ihren Schoß. »Sie haben gesagt, dass es niemand mag, wenn in einer Geschichte zu viel herumgesessen wird. Aber die ganze Geschichte ist im Grunde nur eine Aneinanderreihung von Befragungen.«

»Aber sie beginnt nicht so. Sie beginnt mit Rummel und Trubel und Hast. Der Vorhang sollte immer schwungvoll gehoben werden. Um die Dinge in Bewegung zu bringen.« Er schnippt einen Füllfederhalter über die Schreibunterlage; Nicky sieht zu, wie er über das Leder rollt. »Also, beschleunigen wir die Dinge!« Er zieht eine Schublade auf, zieht einen Brief heraus und zieht ein Blatt Papier aus dem Umschlag.

Und beginnt ihren ersten Brief vorzulesen.

Sehr geehrter Mr. Trapp,

Sie kennen mich nicht, aber ich halte es für möglich, dass ich in Ihrem Roman Little Boy Blue auf einen Fehler gestoßen bin. Es fühlt sich wie ein Sakrileg an, das auch nur zu behaupten!

Er blickt Nicky düster an.

Auf Seite 222 in meiner Ausgabe behauptet St. John, Der erbleichte Soldat und Die Löwenmähne seien die einzigen Holmes-Geschichten, die von Holmes selbst und nicht von Dr. Watson erzählt werden. Wenn mich nicht alles täuscht, wird aber auch Das Musgrave-Ritual – genau betrachtet – von Holmes erzählt.

Hochachtungsvoll

Nicky Hunter

»Sehen wir uns Ihren Brief an. Nein – nehmen wir zuerst den Umschlag in Augenschein.« Er schiebt ihn über den Schreibtisch.

Nicky nimmt ihn in Augenschein: das leicht verknitterte Papier, die Verlagsadresse in ihrer klaren Handschrift. Die verblassten Wellen des Poststempels. Die immer noch farbenprächtige Schmetterlingsbriefmarke.

»Der Limenitis Archippus hat mich ausgesprochen gefreut«, ergänzt Sebastian. »Eine nette Aufmerksamkeit. Immerhin ist dies …« Er schwenkt die Lupe. Inspiziert die Briefmarke durch die Linse.

»Es ist ein Monarchfalter, glaube ich?«, sagt sie. Simon St. Johns Lieblingsinsekt.

»Ein weitverbreiteter Irrtum. Es ist sein Stellvertreter – der Vizekönig. Ein Mimikrifalter. Er hat sich im Verlauf der Evolution dem giftigen Monarchfalter angeglichen. Wobei Lepidopterologen vor einiger Zeit festgestellt haben, dass tatsächlich beide Gattungen giftig sind.«

Nicky schiebt den Unterkiefer von links nach rechts. Eine Kindheitsangewohnheit; du wirst dir noch den Kiefer ausrenken, haben ihre Eltern sie immer gewarnt. »Wieso sollte er sich dann einer anderen giftigen Spezies angleichen?«

»Vielleicht weiß er nicht, dass er giftig ist«, erwidert Sebastian fröhlich. »Vielleicht ist der Vizekönig gar nicht so unschuldig. Wo war ich? Richtig: Ich habe für mein fünftes Buch einen Grafologen konsultiert. Einen Experten für Handschriften.«

Nicky weiß, was ein Grafologe ist.

Er tippt auf den Umschlag. »Durch Ihre Buchstaben weht ein leichter Ostwind. Sie neigen sich nach links. Eine rebellische Persönlichkeit.«

Nicky wartet ab.

»Hier, auf dem Umschlag: ›Sebastian‹ und ›Francisco‹.« Der Stift bewegt sich von einem Wort zum anderen. »Sie setzen die i-Punkte links über den Stamm. Das deutet darauf hin, dass Sie prokrastinieren.«

Sie lächelt höflich.

»Und …« Plötzlich flackert in seiner Miene etwas auf, fast wie eine Flamme hinter einer Glasscheibe. Er lehnt sich zurück. »Wo bin ich vom Weg abgekommen?«

»Ganz am Anfang. Ich bin Linkshänderin.«

Er klatscht sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Natürlich. Natürlich.«

»Die Neigung meiner Buchstaben bedeutet demnach …«

»Dass Ihnen Regeln wichtig sind.«

»Und meine i-Punkte stehen für …«

»Methodik. Ach, eine Linkshänderattacke. Mit der hatte ich nicht gerechnet. Was würde Simon dazu sagen?«

»Sagen Sie ihm nicht, was er sagen soll?«

»Wir sprechen nicht mehr miteinander. Ist Ihnen vielleicht kalt? Das sind zwar nur Gasflammen, aber sie wärmen immerhin ein wenig.«

»Mir ist nicht kalt«, sagt Nicky, der leichter Schweiß auf der Stirn steht.

»Gut. Mein Kamin ist immer an. Ich mag es, wenn er brennt.« Sebastians Blick zuckt kurz zum Umschlag. Lächelnd tippt er auf die Briefmarke. »Ist das wirklich schon fünf Jahre her?«

Praktisch die längste Beziehung ihres Lebens. »Ich habe Ihren jüngsten Brief mitgebracht«, sagt sie und zieht dabei einen blauen Umschlag aus ihrer Tasche. »Darf ich?«

»Nur zu gern.«

Sehr geehrte Miss Hunter,

der Tod hat schon Bessere ereilt. Der Tod hat schon Schlechtere ereilt. Nun wird er mich ereilen.

Vor fünf Wochen habe ich erfahren …

»Wir wissen, was ich erfahren habe«, sagt er.

Nicky springt zum nächsten Absatz.

Ich bin Geschichtenerzähler. Ein uraltes Gewerbe, zu dem ich siebzehn Romane beigetragen habe, die hoffentlich über die Dauer ihres Copyrights hinaus Bestand haben werden.

Sie lächeln beide. Seines erlischt zuerst.

Doch ich habe schon vor Simon St. John ein Leben geführt. Auch neben ihm und nach ihm. Es gibt Passagen aus jenem Leben, jener Geschichte, die ich gern dokumentieren würde, um meine Leser mit etwas Glück zu unterhalten (denn natürlich bin ich Unterhalter) oder sie sogar – darf ich so anmaßend sein? – zu erhellen.

Sie verstummt. »Ich meine mich zu entsinnen, dass da noch mehr kam«, sagt Sebastian.

Da kam noch mehr, aber Nicky fühlt sich unwohl bei Komplimenten, zumindest, wenn sie an sie gerichtet sind.

Ihre veröffentlichten Arbeiten sind tiefgründig und menschlich – Eigenschaften, die nur wenige Kritiker auszeichnen. Sie kennen Simon durch und durch, und selbstverständlich bin ich ebenso Teil von ihm, wie er Teil von mir ist. Darum sehe ich in Ihnen, Miss Hunter, die ideale Zuhörerin für die letzte Geschichte, die ich je erzählen werde. Ich sehe in Ihnen eine Erzählerin, die meine Geschichte allen weitertragen kann, die sie hören mögen.

In drei Monaten werde ich tot sein. Kommen Sie und erzählen Sie meine Geschichte.

»Und im Postskriptum schlugen Sie ein Ankunftsdatum vor und sagten, ich solle …«

»Ein Kleid und eine Partymaske mitbringen, genau. Und was verraten Ihnen meine kalligrafischen Künste?«

»Dass Sie mit Schreibmaschine geschrieben haben.«

»Aber sicherlich nicht signiert.«

»Doch, aber die Signatur beschränkt sich auf zwei Buchstaben.«

Er lacht leise. »Das zeichnet eine Signatur aus.«

Nicky faltet den Brief zusammen. Irgendwo außerhalb der Bibliothek ächzt das Haus wie ein alter Mann beim Aufstehen.

»Das ist Otis, unser Aufzug«, seufzt Sebastian. »Eines Tages wird er mich umbringen. Allerdings wird er sich beeilen müssen.« Zwei knochige Finger wandern die Kette seiner Taschenuhr entlang, seiltanzen über die Senke in der Mitte, dann hoch zum Westenknopf. »Wir sprechen hier nicht über eine ausgewachsene Biografie – nichts derart Ödes. Eher so etwas wie ein …«

»Erinnerungsbuch?«

Die Finger pausieren in ihrem Marsch. »Bei meinem Wort, Watson, Sie halten bewundernswert Schritt. Ein Erinnerungsbuch.« Ein kurzer Ruck an der Kette und die Uhr rollt aus der Tasche.

»Die gehörte meinem Vater«, sagt er. »Eines seiner wenigen Geschenke an mich. Diese Uhr und das militärische Gehabe.« Er streckt sie über den Schreibtisch.

Behutsam hebt Nicky die Uhr aus seiner Hand. Das Metall ist kühl. Es ist etwas eingraviert. Der Text lautet: DERBESTEMÖRDERISTDIEZEIT.

Sie schiebt den Daumennagel in die Einkerbung am Deckel, fragt sich, ob sie ihn aufklappen soll. Sieht auf. Ein leises, zufriedenes Lächeln steht auf seinem Gesicht, und seine Augen funkeln wie Rasierklingen. Nicky unterdrückt ein Schaudern.

Sie drückt die Uhr in seine Hand. Als ihre Fingerspitzen über seine Haut streichen, stockt ihr der Atem.

»Haben Sie schon meine Tochter kennengelernt?«, fragt er. »Nein? Das Kind bräuchte eine ordentliche Tracht Prügel. Also, sprechen Sie mit Maddy; sprechen Sie mit meinem idiotischen Neffen. Er erträgt es nicht, wenn er übergangen wird. Sprechen Sie mit Simone, meiner – seiner Mutter. Sie duldet es nicht, dass sie übergangen wird. Natürlich mit Diana. Vielleicht mit einigen Gästen auf unserer Party nächste Woche; die Menschen werden nachsichtig, wenn du im Sterben liegst. Auch nachdem du gestorben bist – nil nisi bonum, Sie wissen schon –, aber ich würde es gern vorher hören.«

Nicky nickt. »Ich habe mich gefragt, ob ich auch mit Ihrem ehemaligen Assistenten sprechen sollte? Isaac …«

»Isaac Murray.« Sebastian sieht sie verschlagen an. »Den Burschen habe ich zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Aber ich konnte ihn gut leiden. Und wichtiger noch, er konnte mich gut leiden. Isaac muss demzufolge in aller Ausführlichkeit zitiert werden. Ich werde Diana bitten, ihn anzurufen.«

»Und wie lange habe ich, bis …«

»Bis zu meinem vorzeitigen Ableben? Drei Monate.« Sebastian deckt die Hand über die Webley, liebkost die Ameisenbärenschnauze.

»Nein, ich – ich wollte fragen, wie lange ich hierbleiben soll.«

»Gewiss nicht länger als drei Monate. Wer weiß eigentlich, dass Sie in San Francisco sind?«

Nicky lächelt nervös. »Ach – meine Freunde. Alle. Also nicht alle, versteht sich …«

»Aber mehr oder weniger schon.« Er erwidert ihr Lächeln.

»Hat er sich benommen?« Nicky dreht sich in ihrem Stuhl um und sieht Diana in der Tür stehen, ein Phantom im Halbdunkel.

»Einigermaßen.«

»Einigermaßen«, wiederholt Sebastian wohlgefällig. »Hast du eben im Otis dein Leben aufs Spiel gesetzt?«

»Das war Freddy, der Nickys Koffer ins Dachgeschoss gebracht hat. Fred ist Sebastians Neffe«, erläutert Diana.

»Deiner auch, Schatz.«

»Na gut. Er arbeitet als Baseball- und Fußballtrainer in der Highschool.«

»Er trainiert Soccer.«

»Was überall sonst auf der Welt als Fußball bezeichnet wird, nachdem es im Unterschied zu einigen anderen Sportarten mit einem Ball und Füßen gespielt wird. Fred hat den Sommer über frei und ist so nett, seinem Onkel bei der Dialyse und seinen Medikamenten und anderen Besorgungen zu helfen. Er ist äußerst hilfsbereit.«

»Er ist ein Esel.«

»Hör auf. Für dich geht es jetzt ins Bett – morgen ist reichlich Zeit zum Reden. Ich warte hier.«

Nicky steht zusammen mit Sebastian auf und will sich von ihm verabschieden.

Aber im selben Moment steht er schon neben ihr, Schulter an Schulter, sie mit dem Gesicht zum Feuer, er mit dem Gesicht zur Tür. »Danke, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben«, sagt er. »Nachdem Sie bei jedem zweiten Autor, über den Sie geschrieben haben, etwas Gutes ausgraben konnten, werden Sie bestimmt auch in mir etwas Gutes finden.« Ein Grinsen. »Hoffentlich müssen Sie nicht allzu tief graben.«

Er riecht ganz dezent nach Salzwasser und Seife. Sie atmet tief ein. Er senkt den Kopf zu ihrem, als wollte er sie auf die Wange küssen. Ihr Herz klopft wild.

Und dann flüstert Sebastian Trapp so leise, dass sie hinterher nicht weiß, ob er überhaupt etwas gesagt hat: »Sie und ich könnten sogar ein, zwei alte Geheimnisse aufklären, wenn wir schon dabei sind.«

6.

Erst als sie sicher ist, dass er den Raum verlassen hat, spürt sie, wie ein leises Schaudern sie durchläuft.

Sie und ich könnten sogar ein, zwei alte Geheimnisse aufklären.

Einen wilden Moment sieht sich Nicky als junge Detektivin in einem Jugendbuch, ein Geschöpf aus Papierbrei und schwarzer Tinte. Eine Hauptfigur.

Ihr Blick liegt auf der Schreibmaschine mit ihren im Feuerschein glänzenden Tasten, dem gedrungenen, wie sprungbereiten Korpus; es ist eine Remington, wie sie weiß, und sie hat jede Seite ausgespien, die Sebastian Trapp je veröffentlicht hat.

Er höchstpersönlich.

Sogar drei Monate vor seinem Ende versprüht er noch Energie: Selbst als er nur vor ihr saß, schien sie von ihm auszustrahlen wie von einem sterbenden Stern. Sein Blick, während sie seine Taschenuhr untersuchte; seine in ihrem Ohr schmelzende Stimme. Ehrfurcht erfüllt sie. Und Furcht.

Und Neugier.

Langsam geht sie um den Schreibtisch herum, hört das Flüstern der Flammen. »Huch«, entfährt es ihr, als in ihrer hinteren Hosentasche ihr Handy zu zittern beginnt.

»Schon ermordet?«, fragt er mit der angeschlagenen Stimme, die Nicky immer noch mag.

Sie lächelt und widersteht der Versuchung, sich auf Sebastians Stuhl niederzulassen. »Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich in diesem Haus ermordet würde.«

»Warum flüsterst du?«

»Warum rufst du an, Irwin?«

Irwin ist sein zweiter Vorname. Im Lauf der zwei Jahre, die sie zusammen waren, hatte sich Nicky angewöhnt, ihn damit aufzuziehen; als er mit ihr Schluss machte, war ihre erste Frage: »Weil ich dich immer Irwin nenne?« (Nein: weil sie »zu nett« für ihn war. So nett, dass sie Freunde blieben. So nett, dass Nicky ihn in den vergangenen sechs Monaten kein einziges Mal darauf hingewiesen hat, wie oft er anruft oder schreibt – nämlich fast täglich.)

»Warum ich anrufe? Ich verweise auf meine vorige Frage zu einem möglichen Mordfall.«

»Ich bin gerade in seiner Bibliothek.«

»Die voller Waffen ist, wette ich.«

Ihr Blick fliegt über den Schreibtisch: Galgenschlinge, Dolch, Giftflasche. Pistole. Sie überlegt, ob sie sie berühren darf.

»Im Ernst, Babe.« Er stutzt. Eine alte Angewohnheit. »Noch mal, im Ernst: Glaubst du nicht, dass der Typ ein Killer ist?«

»Wäre ich hier, wenn ich glauben würde, dass der Typ ein Killer ist? Er hat Bücher geschrieben, die ich liebe, er hat ein interessantes Leben geführt – ich bin überglücklich, dass er mich eingeladen hat. Wie geht es Potato?«

»Ich habe ihm erzählt, dass du nie wieder zurückkommst.«

»Ich schneide dich in Stücke.«

»Jesus. Dabei bist du angeblich so nett.«

»Manche sagen zu nett.« Sie holt kurz Luft. »Also, wie geht’s meinem Hund?«

»Willst du mit ihm sprechen?«

Die Welt hinter dem Fenster verdüstert sich plötzlich; die Flammen im Kamin verebben, der Schaukasten im Schreibtisch hüllt sich in Dunkelheit – die Bibliothek verschwindet. Es wird hier abends schnell dunkel.

»Ich will ihn nicht verwirren. Aber danke fürs Hundesitten.«

»Ist fast wie in alten Zeiten. Ich nehme an, ich war deine dritte Wahl.«

Die vierte. »Die erste. Du findest unter dem Kissen ein kleines Dankeschön. Ich muss Schluss machen.« Eine Packung Oreos. Es führt zu nichts, wenn sie allzu nett ist.

Ein Knacken wie ein Peitschenknall im Kamin, und Nicky eilt zu ihrer Tasche, eilt an den Bücherreihen, der Leiter, den Fenstern vorbei in das weiche Licht im Flur. Rechts von ihr windet sich eine schmale Hintertreppe ins Halbdunkel, als hätte sie Böses im Sinn, darum geht Nicky den Weg zurück, den sie gekommen ist. Sie wird im Salon auf Diana warten.

Am oberen Treppenabsatz bleibt sie stehen. Vor dem Porträt steht ein Mann und sieht finster zu der Familie auf.

Massig, einen Meter achtzig groß, Muskelpakete in den Hemdsärmeln. Ein Leinenshirt, das in den Jeans steckt. Tintenschwarzes Haar, das fast bläulich schimmert; grobkörnige Stoppeln auf Wangen und Kinn.

»Bis heute«, sagt er, ohne den Blick vom Gemälde zu nehmen, »warte ich darauf, dass mir ihre Blicke folgen.« Seine Stimme ist tief, der Akzent kalifornisch.

Nicky wartet. Nicky ist erfahren im Warten.

Als er sie mit seinen braunen Augen ansieht, lugen sie unter dichten, schwarzen Wimpern hervor; die Pupillen sind voll. »Freddy.«

»Nicky.« Sein Händedruck ist fest, aber ihrer genauso. Sie lächelt ihn an – es ist aufregend, einen weiteren Trapp kennenzulernen –, und er erwidert ihr Lächeln ungezwungen.

»Freddy«, sagt er noch einmal und wie beim ersten Mal. »Sebastian ist mein Onkel. Ich bin der Hausbursche. Nein, war nur Spaß: Dreimal in der Woche werfe ich den ollen – den ollen Dialyseapparat an, sonst nichts. Und heute Abend habe ich dein Gepäck nach oben geschleppt.«

»Danke.«

»Gab nicht viel zu schleppen. Hast du dich verlaufen?« Wobei er mit einem Finger an ihr vorbeizeigt, in Richtung Bibliothek. »Dort liegt Sebastians Reich. Und da entlang …« Mit einem Daumenschwenk über die Schulter, »hätten wir Hopes Büro und den Wintergarten, ohne Witz. Inzwischen völlig überwuchert.« Er sieht an ihr vorbei, und schlagartig beginnt er zu strahlen: ein Megawattlächeln wie von einem Kellner an seinem ersten Arbeitstag oder von einem Kinderstar. »Alles gut?«, ruft er.

Nicky dreht sich um und sieht die Dame des Hauses die Treppe herunterkommen. Ein Schlüssel baumelt an ihren Fingern. »Entschuldige, dass ich dich noch mal herbestellt habe, Freddy. Es war den Weg kaum wert.«

»Immer gern.« Er richtet sein Lächeln auf Nicky. »Soll ich dir dein Zimmer zeigen?«

»Das wäre nett.«

»Das übernehme ich«, sagt Diana, und im nächsten Moment fliegt ihre Hand zum Mund. »Ihr Sandwich. Ihr Croque Madame. Wie dumm von mir. Ich weiß nicht, warum ich in letzter Zeit derart zerstreut bin.«

Nicky weist sie nicht darauf hin, dass ihr Ehemann in wenigen Monaten ins Jenseits eingehen wird. »Schon okay«, sagt sie, wobei ihr Magen protestiert. »Ich würde sowieso gern noch mal losziehen. Ich war ewig nicht mehr in San Francisco.«

»Ich kann noch ein paar Minuten bleiben«, bietet Freddy ihr an. »Falls du jemanden brauchst, der dich fährt. Ist im Service eingeschlossen.«

»Den brauche ich auf jeden Fall.«

Diana sieht ihn weiter kritisch an. »Danke, Fred. Und noch einmal – na schön.« Sie dreht sich um, geht die Treppe wieder hinauf. Nicky folgt ihr.

Die Treppe kringelt sich empor zu einem langen, lichtgrün tapezierten Flur. »Die Schlafzimmer«, erklärt Diana noch auf der Treppe. »Die meisten sind Kuriositätenkabinette, wie er es nennt. Vollgestopft mit Rüstungen und Spinnrädern und einer beunruhigenden Anzahl an ausgestopften Tieren oder …«

Als sie sich dem dritten Stock nähern und der Treppenaufgang unter ihnen im Dunkel entschwindet, sieht Nicky oben an der Treppe ihren Koffer im Halbdunkel vor einer Tür stehen. Diana wird langsamer; ihre Knöchel spannen sich an, als sie den Schlüssel fester fasst.

»Sebastian dachte, dass Sie vielleicht etwas Privatsphäre möchten. Also – hier wären wir auf dem Dachboden.« Eine Pause. »Und hier der Schlüssel.« Womit sie ihn in Nickys Hand drückt.

Nicky hebt ihn an – schwer liegt er in ihrer Hand – und schiebt ihn unter einem metallischen Schrappen ins Schloss.

Dreht ihn.

Die Tür schwingt auf.

Der Raum strömt einen miefigen Staubgeruch aus, als würde er ihn aushusten. Diana hustet ebenfalls. »Ich dachte, wir hätten alles durchgelüftet«, murmelt sie, hebt Nickys Koffer an und tritt ein.

Nicky steht neben ihrer Reisetasche und wagt einen Blick in den in grauem Licht badenden Dachboden. Ein weiter Raum breitet sich vor ihr aus, auf einer Seite mit ungenutztem Mobiliar vollgestellt – einem Diwan mit Damastbezug, einem bodentiefen Spiegel voller Spinnweben, einer Harfe von der Größe eines Walkiefers – und auf der anderen Seite mit einem Doppelbett, einer Kommode und einem Rollschreibtisch ausgestattet; direkt an der Wand stehen in einer langen Reihe Kinderbücher mit rissigen Rücken in Bonbonfarben. Sie erkennt die Agatha-Christie-Taschenbücher wieder, die sie als Kind gelesen hat.

Jeweils sechs Gauben dominieren beide Seiten des Dachbodens, und zwischen ihnen schweben Galaxien von Staub im fahlen Licht.

Diana tritt an das Bett, legt den Koffer darauf ab, schaltet die Stehlampe ein. Der tiefe Raum schluckt das Licht komplett. »Es wirkt ein bisschen wie bei Miss Havisham aus Dickens’ Große Erwartungen. Sie spielen nicht zufällig Harfe?«

»Ich bin ein bisschen eingerostet.« Nicky steht immer noch in der Tür. Das ist das Zimmer eines verloren gegangenen Kindes.

Diana geht weiter zum Sekretär; der Schirm der Schreiblampe erstrahlt ampelgrün. »Das Bad ist dort drüben.« Eine offene Tür in einer entlegenen Ecke – pfenniggroße Fliesen und eine Wanne mit Klauenfüßen. »Früher waren das hier die Dienstbotenräume, als es noch Dienstboten gab.«

»Ich verstehe.« Nicky fragt sich, ob sie überhaupt hier sein sollte.

»Der Hausschlüssel.« Diana legt ihn auf den Schreibtisch und neben ein Blatt Papier. »Ich habe Ihnen meine Handynummer aufgeschrieben und die von Madeleine und auch die von Freddy, falls er Sie irgendwohin fahren soll. Sebastian glaubt nicht an Handys. Das Wi-Fi-Passwort lautet Watson7. Großes W, die Sieben als Ziffer. Kommen Sie, kommen Sie!«

Nicky betritt den Dachboden, wagt sich Schritt für Schritt vor, durchquert weiche Lichtteiche, einen nach dem anderen, drei, vier, fünf. Der Bereich um das Bett leuchtet wie ein heimeliges Lagerfeuer, als sie sich nähert, den rumpelnden Trolley hinter sich herziehend. »Morgen Nachmittag kommt unsere Haushaltshilfe«, erklärt ihre Gastgeberin. »Falls Sie den Raum für Sie aufhübschen soll. Adelina ist eine Heilige und eine Tyrannin.«

»Danke.«

Diana kehrt zur Tür zurück. »Betrachten Sie es als Ihr Zimmer und Ihr Heim. Und …«

Nicky wartet.

Diana lächelt und verschwindet. Ihre Schritte verhallen in den Tiefen des Treppenhauses.

Nicky dreht sich um. Neben dem Spiegel steht eine Gipsbüste, ein wohlproportionierter, lorbeerbekränzter Kopf, und direkt daneben lehnt ein Strauß von Kricketschlägern an einem Martinitisch. In einem Karton ein Kronleuchter, der seine Kristallstränge auf den Boden ergießt; außerdem ein enthauptetes Schaukelpferd; vier oder fünf alte Landkarten, gerahmt, aber mit abblätternder Vergoldung; und dort, knapp über dem Boden, ein funkelndes Augenpaar.

Nicky weicht zurück. Die Augen starren sie an.

Sie entdeckt ein weiteres Paar direkt daneben. Dann noch eines. Und noch eines. Insgesamt elf Augen von sechs französischen Bulldogen mit erhobenen Köpfen und gespitzten Ohren. Ein Wachkommando aus untoten Kaniden.

Nicky muss beinahe lachen. Sie geht vor dem ersten Hund in die Hocke, einem tintenschwarzen Exemplar mit Hängebacken, und inspiziert die Marke am Halsband: WATSONVI. Sein Nachbar, ein muskelbepackter Schecke: WATSON V. Dann ein kleiner Brauner und so weiter, bis Nicky einem buntscheckigen Zyklopen Augen in Auge gegenüberhockt: WATSON.

Sie geht zum Schreibtisch, steckt den Hausschlüssel in die Tasche. Zieht die Schublade auf – eine Kinderschere, eine Plastiklupe, Neonmarker. Sie stellt sich die Hände vor, die das alles gehalten haben, und sieht ihre eigenen Hände zittern.

Aus einem Fenster schaut sie nach unten. Eine einsame Straßenlaterne. Wolken umschwärmen den aufgehenden Mond.

Ihr Zeh stößt an einen staubüberzogenen Magic 8 Ball – eine Art Wahrsagekugel für Kinder in Form einer Billardkugel. Sie hebt sie auf, überlegt kurz, schüttelt sie und sieht die blaue Pyramide auf einem Floß von kleinen Luftblasen aufsteigen: UNMÖGLICHVORHERZUSAGEN.

Ein Schimmern über ihrem Kopf. Über dem Bett, jenseits der Lampe, ist die Decke mit Sternen beklebt – blass und selbstleuchtend, kaum von der Deckenfarbe zu unterscheiden. Nicky kneift die Augen zusammen und der kleine Kosmos offenbart sich.

C O L E

Sie setzt sich auf das Bett – überraschend fest und mit frischem Bettzeug bezogen –, und seufzt leise, während das Licht aus dem Raum sickert, sich die Fenster verdunkeln und sich die Umrisse der Möbel auflösen.

Cole Trapps Kinderzimmer. Wer hätte das gedacht.

7.

Freddys ausgemergelter Nissan ist mit einem CD-Wechsler ausgestattet. »Der ausschlaggebende Grund für den Kauf dieser Schönheit«, erklärt er.

»Und was hast du eingelegt?« Nicky hofft, dass es keine Arschlochmusik ist.

»Hauptsächlich Maroon 5. Und ein Audiobuch von Onkel Sebastian. Jack Fell Down.« In dem zum ersten Mal Simon St. Johns Erzfeind auftaucht – eine an Professor Moriarty erinnernde, immer nur »Jack« genannte Figur. »Ich dachte, dann hätten wir was, worüber wir reden können. Er und ich. Bevor er den Löffel abgibt.«

»Und hat es funktioniert?«

»Nein. Wohin soll’s gehen?«

Sie verlassen Pacific Heights; wenn Freddy das Lenkrad dreht, spannen sich Muskelbänder in seinen Unterarmen. Nicky studiert sein Gesicht. Mein idiotischer Neffe, hat Sebastian gesagt. Eigentlich würde sie sich gern mit ihm unterhalten – sie ist hergekommen, um etwas über die Trapps zu erfahren, sogar über ihre idiotischen Ableger –, aber nach dem Taxifahrer und der Missus und dem Mister sind ihr die Worte ausgegangen. Stattdessen betrachtet sie Freddy, vergleicht ihn mit dem Jungen auf den Fotos vor zwanzig Jahren, als er in den Zeitungsartikeln als der Teenager-Traum-Cousin im Trappschen Familienmysterium hingestellt wurde. Er sieht immer noch gut aus, so Typ Baseballspieler, wirkt aber gleichzeitig umgänglich mit seinem draufgängerischen Lächeln und dieser leicht beschränkt klingenden Stimme; das hatten die Bilder nicht vermittelt.

Freddy bremst vor einer Ampel, grunzt und verzieht das Gesicht im roten Schein der Armaturenbeleuchtung. »Hab mir letztes Jahr eine Labrumläsion eingehandelt«, erläutert er. »Jetzt beklagt sich meine Schulter hin und wieder. Vollkommen grundlos. Wie ein verzogenes Kind. Wie wär’s damit?«

Ein kleiner Diner an der Ecke wie eine Leihgabe aus den Fünfzigerjahren.

Als Freddy darauf deutet, schiebt sich sein Ärmel nach oben und Nicky entdeckt in der Haut über seinem Ellbogen eine kleine tätowierte Textzeile. Er lenkt den Wagen an den Straßenrand, bremst.

»Möchtest du mitkommen?«, fragt sie höflich.

Er kaut auf seiner Lippe. »Schon, aber – ich bin zu einem Turnier verabredet.« Er nennt ihr ein Computerspiel. Nicky hat es einst durchgespielt und daraufhin ihre Begeisterung für Computerspiele verloren. Sie fummelt an ihrem Gurt.

»Aber du hast meine Nummer, oder? Falls ich dich auflesen soll. Mit dem Auto.« Sie hebt den Blick und sieht ihn rot werden. Könnte auch die Armaturenbeleuchtung sein.

Der Gurt schliddert über ihre Brust. »Diana hat sie mir aufgeschrieben. Danke fürs Fahren«, sagte sie schon im Aussteigen, die Laptoptasche über der Schulter.

»Willkommen in San Francisco. Lass dich nicht dumm anmachen«, ergänzt er noch, dann rollt der Nissan davon, gefolgt von einer Kielwelle aus Maroon-5-Gejammer.

Der Diner: Jukebox, laminierte Speisekarten, Abbildungen der Vorspeisen. Nicky verzieht sich in eine Nische und überprüft in einem glänzenden Serviettenspender ihr verzerrtes Spiegelbild. Klappt den Laptop auf.

Klappt den Laptop zu. Lehnt sich zurück.

»Darf’s was sein?«

Setzt sich auf. »Ein Corona, bitte. Mit Limette.« Lehnt sich wieder zurück.

Ein Rätsel oder zwei …

Cole und Hope Trapp verschwanden am Silvesterabend 1999 – oder, streng genommen, am folgenden Tag, an dem sie vermisst gemeldet wurden, denn beide waren noch nach Mitternacht gesehen worden, wenn auch an unterschiedlichen Orten: Cole um Viertel nach zwölf im Stockbett seines Cousins Frederick, kurz bevor Freddy einschlief; Hope vor einem Schnapsladen im Presidio, wo Sebastians Bruder und Schwägerin sie um 01:50 Uhr absetzten und wo sie einen besonders exotischen Mezcal für die legendäre Silvesterfeier der Trapps (»Schillernd!« »Protzig!« »Glamourös!« überschlugen sich die Zeitungen) nachkaufen wollte. Sie würde danach mit dem Taxi nach Pacific Heights zurückfahren, hatte sie den beiden erklärt, und dem letzten Nachzügler ihren Schlummertrunk bringen.

Zehn Minuten später warfen Dominic und Simone einen Blick in das Schlafzimmer ihres Sohnes. Freddy sahen sie zusammengerollt im unteren Bett liegen; daraus schlossen sie, dass Cole oben lag, mussten aber später zugeben, dass sie nicht wirklich nachgesehen hatten. (»Unerklärlich!« »Schockierend!« Unvorstellbar!«)

Madeleine Trapp, die Tochter, fuhr am Neujahrsmorgen um 09:00 Uhr von ihrer Studentenwohnung außerhalb des Universitätscampus in Berkeley nach Pacific Heights (der Freund ihrer Mitbewohnerin bestätigte, dass er um kurz nach drei vor dem Bad mit ihr zusammengestoßen sei), während Sebastian etwa zur selben Zeit bei seinem Bruder anrief und sich nach Hope erkundigte, die nicht mehr aufgetaucht war, bevor er zu Bett gegangen war; er war davon ausgegangen, dass sie in der Nacht bei Dominic und Simone gestrandet wäre und noch dort sei.

Das sei sie nicht, erklärte ihm Dominic. Ebenso wenig wie – eröffnete ihm in diesem Moment Freddy, den das Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen hatte – der kleine Cole.

Nur Stunden später wurden erste Ermittlungen aufgenommen. Überwachungsbänder wurden gesichtet – vom Flughafen und Bahnhof, von Taxiständen und Highways. Nachbarn wurden vernommen; Klassenkameraden befragt; die (schillernden, prominenten, glamourösen) Partygäste gaben bereitwillig Auskunft. Doch …

»Ein Corona mit Limette.«

Nicky lächelt und setzt die Flasche an, lässt das Bier durch den Limettenschnitz strömen.

Die Kellnerin wedelt sich mit einer Speisekarte Luft zu. »Auch was zu essen?«

»Einen Burger, bitte. Blutig.«

»Wir sind ein veganes Café, Süße. Darum heißen wir auch Give Peas a Chance.

Gib Erbsen eine Chance. Oh Mann, gottverfluchtes San Francisco. Nicky verschluckt ein Seufzen und bestellt Karotten und eine Portion Hummus. Schließt wieder die Augen.

Irgendwann schoben die Leiter der Ermittlungen – ein knorziger Veteran kurz vor der Pensionierung und eine scharfsichtige, grünhaarige junge Frau, die erst seit zwei Jahren bei der Polizei war – den Fall auf die Warmhalteplatte. Da waren Hope und Cole schon sechs Monate verschwunden.

Hatten sie gemeinsam die Flucht ergriffen? Waren beide zusammen entführt worden? Das konnte doch unmöglich ein Zufall sein? Im Internet – die Sache ereignete sich in den späten Frühzeiten des World Wide Web – webten Verschwörungstheoretiker ihre Spinnennetze, und nach Klicks dürstende Webseiten garnierten Fotos von Hope und Cole mit grellen Schlagzeilen: SEKTENWAHN! ZEUGENSCHUTZPROGRAMM! VONAUSSERIRDISCHENENTFÜHRT!

Im Februar sprach die Polizei Sebastian von jedem Verdacht frei und dankte ihm für die konstruktive Zusammenarbeit. Noch am selben Tag reiste er nach England, wo er und Hope vor Jahren ein Cottage in ihrer Heimat Dorset gekauft hatten, und dort blieb er, während Madeleine wieder an ihre Uni zurückkehrte und Dominic und Simone und Freddy ihr Leben wiederaufnahmen.

Mangels Kadaver drehten irgendwann auch die wie Aasgeier über dem Fall kreisenden Medien ab.

Ende des Jahres tauchte Sebastian Trapp wieder in San Francisco auf, nur um gleich wieder so spurlos zu verschwinden wie der Hof des Vikars in London Bridges, wie die gestohlene Urne in Ashes, Ashes. Wie seine Frau und sein Kind.

Zehn Jahre lang sollte er kein neues Buch schreiben. Fünfzehn Jahre lang nicht wieder heiraten, wobei die Wahl seiner Braut durchaus für Aufsehen sorgte.

Denn es gab im Haus – nicht zu vergessen – zwei Hilfskräfte. Ehemann und Ehefrau hatten jeweils Unterstützung, er bei seinen Recherchen, sie bei ihren Komiteearbeiten. Sebastians Assistent war ein Student namens Isaac.

Hopes Assistentin eine junge Engländerin namens Diana.

8.

Nicky sitzt fast zwei Stunden im Café. Eine Handvoll Freunde haben ihr geschrieben, alle mit dem gleichen witzigen Bist-du-schon-tot-Spruch; sie schickt ihnen ein Lebenszeichen und versichert ihnen, dass sie einen Leibwächter oder wenigstens ein Body-Double einstellen wird. Vor dem Fenster wird die Luft von neuem Nebel getrübt, durch den vereinzelt Autos treiben – ganz anders als die Lavaströme von Heckleuchten in New York. Sie zählt neun Teslas, bevor sie bezahlt und sich ein Taxi nimmt.

Wieder erklimmt sie die Stufen; wieder streicht sie mit einem schlanken Finger über den Fragezeichentürklopfer. Aber diesmal schiebt Nicky den Hausschlüssel ins Schloss, dreht ihn und öffnet die Tür. In der höhlenartigen Eingangshalle brennt warmes, weiches Lampenlicht; am anderen Ende gleitet die Treppe in die Dunkelheit empor, dem Porträt entgegen, das als Schattenriss über dem oberen Ende hängt. Die Fenster zu beiden Seiten sind schwarz.

In der Stille fühlt sie sich wie ein Teenager, der sich nachts ins Haus schleicht.

»Und wo waren Sie so lange unterwegs?«

Nicky schreckt zusammen und sieht nach rechts.

Dort liegt ein Zimmer, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Durch die offene Tür wird der Rücken einer Frau sichtbar, die sich über einen Spieltisch beugt. Während Nicky auf sie zugeht, zählt sie fünf weitere Tische, jeweils mit Puzzleteilchen übersät: In einer Ecke ein Schwarm von sahnig orange-weißen Clownfischen; gleich daneben John Singer Sargents Madame X mit zwei nackten Armen und Wespentaille, aber ohne Kopf.

Sie tritt über die Schwelle – und ins neunzehnte Jahrhundert, ins alte England. Über alle vier Wände zieht sich ein extravagantes Wandgemälde: London im Licht der Gaslaternen, mit regenglänzendem Kopfsteinpflaster, nebligen Seitengassen, Pferd und Kutsche in glänzendem Schwarz … und über die Steine stolpernd, durch den Nebel schreitend, um das Hansom Cab rennend – Waisenkinder und Trunkenbolde und Marktschreier und Ratten und Katzen und zwei Gentlemen mit silbergekrönten Spazierstöcken. Eine komplette Wand wird von der Fassade einer Taverne eingenommen: die milchigen, rußigen Fenster, hinter deren Scheiben verlorene Seelen vor ihrem Pint sitzen, sind offenbar auf Verdunkelungsrollos gemalt worden, die vor den Frontfenstern des Hauses angebracht sind.

Nicky studiert die Frau von hinten. Ihr blondes Haar ist nachlässig frisiert, ihre Schulterpartie rund. Blauer Rauch kringelt sich über ihrem Kopf. In einer Hand birgt sie ein Weinglas mit einer Pfütze Rotwein. Nicky würde zu gern ihr Gesicht sehen.