The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? - A. J. Finn - E-Book
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The Woman in the Window - Was hat sie wirklich gesehen? E-Book

A. J. Finn

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Beschreibung

Der internationale Bestseller: von 0 auf Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste und von 0 auf Platz 2 der Sunday Times-Bestsellerliste in England!
Die Blockbuster-Verfilmung des SPIEGEL-Bestsellers auf Netflix: mit Amy Adams, Julianne Moore und Gary Oldman in den Hauptrollen!


»Der fesselndste Thriller, den ich seit 'Gone Girl' gelesen habe. A.J. Finn ist ein kühner Debütautor – meisterhaft.« Tess Gerritsen

Anna Fox lebt allein. Ihr schönes großes Haus in New York wirkt leer. Trotzdem verlässt sie nach einem traumatischen Erlebnis ihre vier Wände nicht mehr. Anna verbringt ihre Tage damit, mit Fremden online zu chatten, zu viel zu trinken – und ihre Nachbarn durchs Fenster zu beobachten. Bis eines Tages die Russels ins Haus gegenüber einziehen – Vater, Mutter und Sohn. Bei dem Anblick vermisst Anna mehr denn je ihr früheres Leben, vor allem, als die neue Nachbarin sie besucht. Kurze Zeit später wird sie Zeugin eines brutalen Überfalls. Sie will helfen. Doch sie traut sich nach wie vor nicht, das Haus zu verlassen. Die Panik holt sie ein. Ihr wird schwarz vor Augen. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht, will ihr niemand glauben. Angeblich ist nichts passiert ...

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Anna Fox lebt allein. Ihr schönes großes Haus in New York wirkt leer. Trotzdem verlässt sie nach einem traumatischen Erlebnis ihre vier Wände nicht mehr. Anna verbringt ihre Tage damit, mit Fremden online zu chatten, zu viel zu trinken – und ihre Nachbarn durchs Fenster zu beobachten. Bis eines Tages die Russels ins Haus gegenüber einziehen – Vater, Mutter und Sohn. Bei dem Anblick vermisst Anna mehr denn je ihr früheres Leben, vor allem, als die neue Nachbarin sie besucht. Kurze Zeit später wird sie Zeugin eines brutalen Überfalls. Sie will helfen. Doch sie traut sich nach wie vor nicht, das Haus zu verlassen. Die Panik holt sie ein. Ihr wird schwarz vor Augen. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht, will ihr niemand glauben. Angeblich ist nichts passiert ...

Autor

A. J. Finn hat für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften geschrieben – u. a. für die Los Angeles Times, Washington Post und das Times Literary Supplement (UK). Er ist in New York geboren, hat aber zehn Jahre in England gelebt, bevor er nach New York zurückkehrte. Sein Debütroman The Woman in the Window sorgte vor Veröffentlichung weltweit für Furore, wird in 38 Sprachen übersetzt und derzeit von Fox verfilmt.

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A. J. Finn

Was hat sie wirklich gesehen?

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Christoph Göhler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2018 by A.J. Finn, Inc.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: © Netflix 2021. Used with permission

ED · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22095-2V004

www.blanvalet-verlag.de

Für George

Ich habe das Gefühl, dass in dir

irgendetwas steckt, von dem niemand etwas weiß.

Schatten des Zweifels (1943)

Sonntag, 24. Oktober

Eins

Gleich kommt ihr Mann nach Hause. Diesmal erwischt er sie.

Es gibt nicht einen Streifen Vorhang, nicht eine einzige Jalousie in Nummer 212 – dem rostroten Stadthaus, in dem früher die frischverheirateten Motts wohnten, bis sie sich vor Kurzem wieder entheirateten. Ich habe mit keinem von ihnen beiden je persönlich ein Wort gewechselt, aber gelegentlich checke ich online bei ihnen ein: in seinem LinkedIn-Profil, auf ihrer Facebook-Seite. Ihr virtueller Hochzeitstisch bei Macy’s hat ihre Ehe überdauert: Ich könnte ihnen immer noch Suppenschüsseln kaufen.

Wie gesagt: Nichts verdeckt die Fenster. Ausdruckslos starrt Nummer 212 über die Straße, rötlich und ungeschlacht, und ich starre zurück, beobachte, wie die Herrin des Anwesens ihren Innenarchitekten ins Gästezimmer führt. Was ist bloß mit diesem Haus los? Es ist ein Totenbett der Liebe.

Sie ist wirklich hübsch, ein echter Rotschopf mit grasgrünen Augen und einem Archipel an winzigen Leberflecken, das sich über ihren ganzen Rücken ausbreitet. Viel schöner als ihr Mann, ein gewisser Dr. John Miller, Psychotherapeut – selbstverständlich bietet er Paartherapien an – und einer unter 436 000 John Millers online. Dieses spezielle Exemplar praktiziert nahe Gramercy Park und nur auf Privatrechnung. Laut notarieller Beurkundung hat er 3,6 Millionen für sein Haus bezahlt. Offenbar brummt das Geschäft.

Über seine Frau weiß ich mehr und weniger zugleich. Jedenfalls ist sie keine große Inneneinrichterin; vor acht Wochen sind die Millers hier eingezogen, aber die Fenster sind immer noch nackt, ts-ts. Dreimal die Woche geht sie zum Yoga, trippelt die Treppe hinunter, die Zauberteppich-Matte zusammengerollt unter einem Arm, die Beine in knallenge Lululemon gezwängt. Und offenbar arbeitet sie irgendwo als Freiwillige – montags und freitags verlässt sie das Haus um kurz nach elf, etwa zu der Zeit, zu der ich aufstehe, und kehrt zwischen fünf und halb sechs zurück, gerade wenn ich mich vor meinen Abendfilm setze (Heute im Programm: Der Mann, der zu viel wusste, zum x-ten Mal. Mein Lebensfilm: Die Frau, die zu viel guckte).

Mir ist aufgefallen, dass sie sich nachmittags gern einen Drink genehmigt, so wie ich auch. Ob sie sich auch gern vormittags einen Drink genehmigt? So wie ich?

Nur ihr Alter bleibt mir ein Rätsel, obwohl sie sicher jünger ist als Dr. Miller, auch jünger als ich (und mobiler); ihren Namen kann ich nur vermuten. Für mich heißt sie Rita, weil sie wie die Hayworth in Gilda aussieht. »Ich bin nicht im Geringsten interessiert« – ich liebe diesen Satz.

Ich persönlich bin sehr interessiert. Nicht an ihrem Körper – der bleichen Kammlinie ihrer Wirbelsäule, den gestutzten Schwingen ihrer Schulterblätter, dem babyblauen BH, der ihre Brüste umklammert: Immer wenn die vor meine Linse kommen, in welcher Form auch immer, wende ich den Blick ab. Ihr Leben interessiert mich. Ihrer beider Leben. Zwei mehr als meinem.

Der Ehemann bog eben um die Ecke, kurz nach zwölf, nicht lang, nachdem seine Gemahlin, den Innenarchitekten im Schlepptau, die Haustür zugedrückt hat. Es handelt sich um eine Aberration: Sonntags kehrt John Miller mit unfehlbarer Präzision um Viertel nach drei nach Hause zurück.

Und doch marschiert der gute Doktor in diesem Moment über den Bürgersteig, Dampfwolken vor dem Mund ausstoßend und den schwingenden Aktenkoffer an der Hand, an der ein blinkender Ehering prangt. Ich zoome auf seine Füße: auf Hochglanz polierte ochsenblutrote Oxfords, die das herbstliche Sonnenlicht einfangen und mit jedem Schritt wegkicken.

Ich hebe den Sucher und zoome auf seinen Kopf. Meiner Nikon D5500 entgeht so gut wie nichts, nicht mit dieser Opteka-Linse: wuscheliges Mergelhaar, dünndrahtige Billigbrille, stoppelige Inseln in den flachen Teichen seiner Wangen. Er lässt seinen Schuhen mehr Pflege zukommen als seinem Gesicht.

Zurück zu Nummer 212, wo Rita und der Innenarchitekt sich mit Hochgeschwindigkeit entkleiden. Ich könnte die Auskunft anrufen, mir die Festnetznummer der Millers geben lassen, sie warnen. Aber das tue ich nicht. Wie bei Tierdokumentationen: Wie beim Filmen greifst du beim Observieren nicht in den Lauf der Natur ein.

Dr. Miller ist vielleicht noch eine halbe Minute von seiner Haustür entfernt. Seine Frau bestreicht mit ihrem Mund den Innenarchitektenhals. Runter mit ihrer Bluse.

Weitere vier Schritte. Fünf, sechs, sieben. Noch zwanzig Sekunden, bestenfalls.

Sie packt seine Krawatte zwischen den Zähnen, lächelt ihn an. Ihre Hände nesteln an seinem Hemd. Er weidet sich an ihrem Ohr.

Ihr Gemahl springt über eine hochstehende Gehwegplatte. Fünfzehn Sekunden.

Ich kann fast hören, wie die Krawatte hastig über Kragen und Kopf gezogen wird. Rita fegt sie durchs Zimmer.

Zehn Sekunden. Ich zoome wieder ran, bis die Kameraschnauze praktisch zu zucken beginnt. Seine Hand taucht in die Tasche und mit einem Schlüsselring wieder auf. Sieben Sekunden.

Sie löst ihren Pferdeschwanz, lässt das Haar über die Schultern schwingen.

Drei Sekunden. Er erklimmt die Stufen.

Sie legt die Arme um seinen Hals, küsst ihn leidenschaftlich.

Er rammt den Schlüssel ins Schloss. Dreht.

Ich zoome auf ihr Gesicht, auf die weit aufgerissenen Augen. Sie hat es gehört.

Ich schieße ein Foto.

Und dann klappt sein Aktenkoffer auf.

Ein Schneegestöber an Papieren verteilt sich im Wind. Ich ziele mit der Kamera wieder auf Dr. Miller, auf das knappe »Shit«, das sein Mund formt; er stellt den Aktenkoffer an der Türschwelle ab, stampft ein paar Seiten unter diesen glänzenden Schuhen fest, sammelt weitere und klemmt sie sich unter die Arme. Ein freiheitsliebender Zettel hat sich in der Astgabel eines Baumes verfangen, doch er sieht ihn nicht.

Wieder auf Rita, die eilig mit den Armen in die Ärmel taucht, sich das Haar zurückstreicht. Sie flüchtet aus dem Zimmer. Der Innenarchitekt hüpft, unvermittelt alleingelassen, vom Bett, hebt seine Krawatte auf, stopft sie in die Hosentasche.

Ich atme aus, als würde Luft aus einem Ballon zischen. Ohne es zu merken hatte ich den Atem angehalten.

Die Haustür geht auf: Rita stürmt die Stufen hinunter, ruft ihrem Mann etwas zu. Er dreht sich um; ich nehme an, dass er lächelt – sehen kann ich es nicht. Sie bückt sich und liest ein paar Papiere vom Gehweg auf.

Der Innenarchitekt erscheint in der Tür, eine Hand in der Hosentasche, die andere grüßend erhoben. Dr. Miller winkt zurück. Er steigt zur Haustür hoch, hebt seinen Aktenkoffer an, und die beiden Männer geben sich die Hand. Sie gehen ins Haus, Rita bildet die Nachhut.

Na schön. Vielleicht beim nächsten Mal.

Montag, 25. Oktober

Zwei

Der Wagen dröhnte eben vorbei, langsam und düster wie ein Leichenwagen, mit in der Dunkelheit aufblitzenden Heckleuchten. »Neue Nachbarn«, erkläre ich meiner Tochter Olivia.

»In welchem Haus?«

»Auf der anderen Seite vom Park. Zwei-null-sieben.« Inzwischen stehen sie, verschwommen wie Gespenster, auf der Straße in der Abenddämmerung und exhumieren Kartons aus dem Kofferraum.

Sie schlürft.

»Was isst du da?«, frage ich. Heute ist chinesischer Abend, versteht sich; sie isst Lo Mein.

»Lo Mein.«

»Aber nicht, während du mit Mommy redest, klar?«

Sie schlürft wieder und kaut. »Mo-om.« Es ist ein ständiger Zankapfel zwischen uns; sie hat gegen meinen Willen das Mommy zu etwas Stumpfem, Plumpem abgewetzt.

»Lass es gut sein«, rät Ed – allerdings ist er Daddy geblieben.

»Du solltest rübergehen und Hallo sagen«, schlägt Olivia vor.

»Das würde ich wirklich gern, Hase.« Ich wandere nach oben, in den ersten Stock, wo ich einen besseren Blick habe. »Weißt du, dass hier jetzt überall Kürbisse stehen? Alle Nachbarn haben einen. Die Grays sogar vier.« Ich habe den Treppenabsatz erreicht, das Glas in der Hand, und der Wein schwappt gegen meine Lippe. »Ich wünschte, ich könnte dir einen Kürbis aussuchen. Sag Daddy, er soll dir einen besorgen.« Ich nehme einen Mundvoll Wein, schlucke. »Sag ihm, er soll gleich zwei besorgen, einen für dich und einen für mich.«

»Okay.«

Ich erblicke mich im dunklen Spiegel der Gästetoilette. »Bist du glücklich, Süße?«

»Ja.«

»Nicht einsam?« Sie hatte nie wirkliche Freunde in New York; sie war immer zu schüchtern, zu klein.

»Nö.«

Ich spähe in das Dunkel am oberen Ende der Treppe, in die Düsternis über uns. Tagsüber fällt die Sonne durch das kuppelförmige Oberlicht; nachts ist es ein weit aufgerissenes Auge, das in die Tiefe des Treppenaufgangs starrt. »Vermisst du Punch?«

»Nö.« Auch mit dem Kater kam sie nicht klar. An einem Weihnachtsmorgen attackierte er sie, zog seine Krallen in zwei blitzschnellen Streichen über ihr Handgelenk, einmal von oben nach unten und links nach rechts. In einem grellen Gittermuster trat das Blut aus der Haut, ein rotes Tic-Tac-Toe, und Ed hätte den Kater fast aus dem Fenster geschleudert. Jetzt halte ich Ausschau nach ihm und entdecke ihn zusammengerollt auf dem Sofa in der Bibliothek, von wo aus er mich beobachtet.

»Lass mich mit Daddy reden, Hase.« Ich erklimme die nächste Treppe, spüre den Läufer rau unter meinen Sohlen. Rattan. Was haben wir uns nur dabei gedacht? Das Material zieht Flecken magnetisch an.

»Hey, Schlafmütze«, begrüßt er mich. »Neue Nachbarn?«

»Ja.«

»Hast du nicht erst neue Nachbarn bekommen?«

»Das war vor zwei Monaten. Auf Zwei-zwölf. Die Millers.« Ich kehre um und gehe die Stufen wieder hinunter.

»Und wo ziehen die neuen Leute ein?«

»In Zwei-null-sieben. Auf der anderen Seite des Parks.«

»Die Nachbarschaft verändert sich.«

Ich erreiche den Treppenabsatz, umrunde ihn. »Sie haben nicht viel mitgebracht. Nur ein Auto voll.«

»Schätze, der Umzugswagen kommt später.«

»Schätze ich auch.«

Stille. Ich trinke einen Schluck.

Jetzt bin ich wieder im Wohnzimmer, am Kamin, die Ecken sind in Schatten getaucht. »Hör mal …«, setzt Ed an.

»Sie haben einen Sohn.«

»Was?«

»Einen Sohn«, wiederhole ich und presse die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. In dieser Ecke von Harlem sind noch keine Natriumdampflampen gesprossen, und die Straße wird nur von einem Zitronenschnitz Mond erhellt, trotzdem kann ich ihre Silhouetten ausmachen: ein Mann, eine Frau und ein großer Junge, die Kartons zur Haustür verfrachten. »Ein Teenager«, ergänze ich.

»Halt dich zurück, meine Schöne.«

»Ich wünschte, du wärst hier«, sage ich, ehe ich mich bremsen kann.

Es kommt völlig unerwartet. Für Ed auch, so wie es sich anhört. Es bleibt still.

»Du brauchst mehr Zeit«, sagt er irgendwann.

Ich bleibe still.

»Die Ärzte meinen, zu viel Kontakt ist ungesund.«

»Ich bin die Ärztin, die das gesagt hat.«

»Du bist eine von ihnen.«

Ein Knacken hinter mir – ein Funke im Kamin. Die Gasflammen setzen sich murmelnd im Kaminrost.

»Warum lädst du die neuen Nachbarn nicht zu dir ein?«, fragt er.

Ich leere mein Glas. »Ich glaube, für heute reicht es.«

»Anna.«

»Ed.«

Ich kann ihn fast atmen hören. »Tut mir leid, dass wir nicht bei dir sind.«

Ich kann fast mein Herz hören. »Mir auch.«

Punch hat mich nach unten verfolgt. Ich hebe ihn auf einen Arm, ziehe mich in die Küche zurück. Lege das Telefon auf die Küchentheke. Noch ein letztes Glas vor dem Zubettgehen.

Ich packe die Flasche an ihrer Gurgel, drehe mich zum Fenster um, zu den drei auf dem Gehweg spukenden Gespenstern, und erhebe den Wein in einem stillen Toast.

Dienstag, 26. Oktober

Drei

Letztes Jahr um diese Zeit wollten wir das Haus verkaufen, hatten sogar schon eine Maklerin engagiert; Olivia sollte im folgenden September in eine Schule in Midtown wechseln, und Ed hatte für uns ein Sanierungsobjekt in Lenox Hill aufgetrieben. »Das wird lustig«, versprach er. »Ich werde ein Bidet einbauen, nur für dich.« Ich boxte ihn gegen die Schulter.

»Was ist ein Bidet?«, fragte Olivia.

Doch dann ging er, und sie ging mit ihm. Deshalb hat es mir aufs Neue das Herz durchbohrt, als ich mir gestern Abend die ersten Worte unserer tot geborenen Annonce ins Gedächtnis rief: HARLEM-JUWEL – LIEBEVOLLRESTAURIERTESBAUDENKMALAUSDEM 19. JAHRHUNDERT! DASIDEALEHEIMFÜREINEFAMILIE! Über Juwel und Baudenkmal hätte man streiten können, denke ich. Harlem ist unstrittig, 19. Jahrhundert ebenso (1884). Liebevoll restauriert kann ich bezeugen, und teuer dazu. Ideales Heim für eine Familie stimmt auch.

Mein Wirkungsbereich und seine Außenposten:

Untergeschoss: besser gesagt Maisonette, laut der Maklerin. Unter Straßenniveau, aber über die gesamte Etage und mit separatem Eingang; Küche, Bad, Schlafzimmer, kleines Arbeitszimmer. Eds Arbeitsplatz über acht Jahre hinweg – immerzu war der Tisch mit Blaupausen belegt, pinnten Auftragsbesprechungen von Handwerkern an der Wand. Gegenwärtig vermietet.

Garten: oder besser Innenhof, erreichbar über das Erdgeschoss. Ein See aus Kalksteinplatten; darauf zwei nicht mehr benutzte hölzerne Liegestühle; dazu eine im hintersten Eck lümmelnde Esche, staksig und einsam wie ein Teenager ohne Freunde. Oft habe ich das Bedürfnis, sie zu umarmen.

Erdgeschoss: first floor bei uns, ground floor für die Briten, premier étage für die Franzosen (ich bin weder das eine noch das andere, habe aber einen Teil meiner Assistenzzeit in Oxford verbracht – in einer Maisonette, wie es der Zufall will – und in diesem Juli mit einem Online-Kurs Französisch angefangen). Küche – offen und »erlesen« (wieder die Maklerin), mit einer Tür nach hinten zum Garten sowie einem Seitenausgang, der direkt in den kleinen Park führt, welcher zwischen unserem Haus und dem nächsten liegt. Dielen aus Weißbirke, inzwischen mit Merlot-Klecksern gesprenkelt. Im Flur eine Toilette – das rote Gelass, wie ich es nenne – in »Tomato Red« laut dem Benjamin-Moore-Katalog. Wohnzimmer mit Sofa und Couchtisch und ausgelegt mit einem Perserteppich, der sich immer noch weich unter den Sohlen anfühlt.

Erster Stock: die Bibliothek (Eds; überladene Regale, rissige Buchrücken, stockfleckige Schutzumschläge, alles eng gepackt) und das Arbeitszimmer (meines; karg, luftig, ein Mac-Desktop auf einem IKEA-Tisch – mein Onlineschach-Schlachtfeld). Zweite Toilette, hier eingebläut in »Heavenly Rapture«, wobei »himmlische Verzückung« ein hochgestecktes Ziel für eine Toilette ist. Und eine tiefe Abstellkammer, die ich eines Tages in eine Dunkelkammer umwandeln könnte, falls ich je von Digital zu Film wechseln sollte. Doch ich glaube, ich verliere allmählich das Interesse.

Zweiter Stock: das Eltern-(Mutter-?)Schlafzimmer mit Bad. Dieses Jahr habe ich viel Zeit im Bett verbracht; es ist eine dieser Schlafsystem-Matratzen, die zweifach einstellbar sind. Ed hat seine Seite fast daunigweich programmiert; meine ist auf »hart« eingestellt. »Du schläfst auf Beton«, meinte er mal und klopfte dabei mit den Fingern auf das Laken.

»Und du auf einem Kumulus«, erklärte ich ihm. Danach gab er mir einen langen und sinnlichen Kuss.

Als beide gegangen waren, in diesen schwarzen, leeren Monaten, als ich kaum das Bett verlassen konnte, wälzte ich mich ständig wie eine langsame Woge von einem Ende zum anderen, wobei ich mich abwechselnd in das Laken ein- und wieder auswickelte.

Außerdem das Gästeschlafzimmer mit angeschlossenem Bad.

Dritter Stock: zu früheren Zeiten die Dienstbotenetage, jetzt Olivias Reich, das darüber hinaus über ein zweites Gästezimmer verfügt. Manchmal gehe ich nachts in ihrem Zimmer um wie ein Gespenst. An anderen Tagen stehe ich in der Tür und schaue dem langsamen Reigen der Staubflocken im Sonnenschein zu. Manchmal suche ich den dritten Stock wochenlang nicht auf, bis er zu einer Erinnerung zu zerfließen beginnt, so wie das Gefühl des Regens auf meiner Haut.

Wie dem auch sei. Morgen spreche ich wieder mit ihnen. Währenddessen kein Lebenszeichen von den Menschen jenseits des Parks.

Mittwoch, 27. Oktober

Vier

Ein schlaksiger Teenager schießt aus der Haustür von Nummer 207 wie ein Rennpferd aus der Startmaschine und galoppiert die Straße entlang nach Osten, an meinem Haus vorbei. Ich bekomme ihn nur kurz zu sehen – ich bin früh aufgewacht, nach einer langen Nacht mit Goldenes Gift, und hadere gerade mit mir, ob ein Schluck Merlot weise wäre; doch meine Augen erhaschen noch einen blonden Schopf und einen Rucksack, der nur mit einem Riemen an einer Schulter hängt. Dann ist er weg.

Ich kippe Wein in ein Glas, lasse mich nach oben treiben und an meinem Schreibtisch nieder. Greife nach meiner Nikon.

In der Küche von 207 sehe ich den Vater, groß und breit, von hinten angeleuchtet durch einen Fernseher. Ich presse die Kamera ans Auge und zoome rein: die Today Show. Ich könnte nach unten gehen und meinen eigenen Fernseher einschalten, sinniere ich, gleichzeitig und parallel zu meinem Nachbarn schauen. Oder ich gucke einfach so, auf seinem Gerät, durch die Linse.

Das gefällt mir besser.

Es ist schon eine Weile her, seit ich die Fassade betrachtet habe, aber Google liefert mir die Streetview-Ansicht: weißer Stein, ein Anflug von Beaux-Arts, gekrönt von einem Balkon auf dem Dachfirst, einem sogenannten Witwensteg. Von meinem Haus aus sehe ich natürlich nur die Seite ihres Hauses; die Ostfenster gewähren mir freien Blick in die Küche, in ein kleines Wohnzimmer im ersten Stock und in das Zimmer darüber.

Gestern rückte ein Kommando von Umzugsleuten an, die Sofas und Fernseher und einen antiken Kleiderschrank ins Haus schleppten. Der Ehemann dirigierte den Trupp, seine Frau habe ich seit dem Abend ihres Einzugs nicht mehr gesehen. Ich frage mich, wie sie wohl aussieht.

Es ist Nachmittag, und gerade als ich dabei bin, Rook&Roll Schachmatt zu setzen, läutet jemand an der Tür. Ich schlurfe nach unten, schlage kurz auf den Öffner, entriegele die Wohnungstür und sehe meinen Mieter im Hausgang stehen, unrasiert und sexy. Er sieht wirklich gut aus: markantes Kinn und Augen so tief und dunkel wie Falltüren. Gregory Peck nach einer langen Nacht (ich bin nicht die Einzige, die so denkt. David hat gelegentlich Damenbesuch, habe ich bemerkt. Gehört, genauer gesagt).

»Ich fahre heute Abend nach Brooklyn«, meldet er sich ab.

Ich streiche mir mit der Hand durchs Haar. »Okay.«

»Brauchst du noch was, bevor ich verschwinde?« Es klingt wie ein Angebot, wie eine Zeile aus einem Film Noir. Du spitzt einfach die Lippen– und bläst.

»Danke. Ich habe alles.«

Er sieht an mir vorbei, kneift die Augen zusammen. »Soll ich eine Birne wechseln? Ist ganz schön dunkel hier drin.«

»Ich hab’s gern düster«, sage ich. Wie meine Männer, hätte ich am liebsten hinzugefügt. Ist das ein Witz aus Airplane? »Dann viel …« Spaß? Vergnügen? Sex? »… Vergnügen.«

Er dreht sich um.

»Du weißt, dass du auch einfach durch die Kellertür reinkommen kannst«, erkläre ich ihm und probiere es mit Leichtigkeit. »Gut möglich, dass ich zu Hause bin.« Ich hoffe auf ein Lächeln. Er wohnt jetzt seit zwei Monaten hier, und ich habe ihn noch kein einziges Mal lächeln sehen.

Er nickt. Er geht.

Ich schließe die Tür.

Ich studiere mich im Spiegel. Ein Speichenrad von Falten rund um die Augen. Ein Legatobogen aus dunklem Haar, hier und dort grau getigert, der mir lose auf die Schultern fällt; Stoppeln in den Armbeugen. Mein Bauch ist erschlafft, Grübchen tüpfeln meine Schenkel. Beinahe transparent blasse Haut, violett fließende Adern an den Armen und Beinen.

Grübchen, Tüpfel, Stoppeln, Falten: Ich muss an mir arbeiten. Früher war meine Bodenständigkeit durchaus reizvoll, fanden manche Männer, fand Ed. »Du warst für mich immer das Mädchen von nebenan«, sagte er traurig, kurz vor dem Ende.

Ich schaue auf meine Zehen, die sich auf den Fliesen einrollen – lang und dünn, einer (oder zehn) meiner Pluspunkte, aber inzwischen eher Marderkrallen. Ich durchwühle meinen Medizinschrank, in denen sich die Pillenbehälter stapeln wie Totempfähle, und fördere einen Nagelknipser zutage. Endlich ein Problem, das ich beheben kann.

Donnerstag, 28. Oktober

Fünf

Gestern wurde die Verkaufsurkunde online gestellt. Meine neuen Nachbarn heißen Alistair und Jane Russell; sie haben dreikommavierfünf Millionen Dollar für ihre bescheidene Herberge bezahlt. Google verrät mir, dass er Partner in einer mittelgroßen Beraterfirma ist und zuvor in Boston stationiert war. Sie lässt sich nicht ausforschen – Jane Russell in eine Suchmaschine einzugeben, ist ein fruchtloses Unterfangen.

Sie haben sich eine lebendige Nachbarschaft ausgesucht.

Das Heim der Millers gegenüber – lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet – ist eines von fünf Stadthäusern, auf die ich aus den nach Süden gehenden Straßenfenstern meines Hauses blicken kann. Im Osten stehen die Gray Sisters, die eineiigen Zwillinge: identische Gesimse über den Fenstern, die gleichen flaschengrünen Haustüren. Im rechten Haus – der etwas graueren Schwester, finde ich – wohnen Henry und Lisa Wasserman, langjährige Anwohner, »seit vier Jahrzehnten und bald fünf«, tönte Mrs. Wasserman, als wir einzogen. Sie war vorbeigekommen, um uns (»ins Gesicht«) zu sagen, wie sehr sie (»und mein Henry«) die Ankunft »des nächsten Yuppie-Clans« in einer »früher mal richtig netten Nachbarschaft« missbilligte.

Ed tobte. Olivia taufte ihren Plüschhasen Yuppie.

Die Wassermänner, wie wir sie wenig originell nannten, haben seither kein Wort mehr mit mir gewechselt, obwohl ich inzwischen auf mich allein gestellt und mein eigener Clan bin. Genauso wenig wohlgesonnen scheinen sie den Bewohnern der zweiten Gray Sister zu sein, einer Familie mit dem passenden Nachnamen Gray. Zwillingsmädchen im Teenager-Alter, der Vater Partner in einer kleinen, aber feinen Firma für Unternehmensübernahmen, die Mutter eine eifrige Lesekreis-Gastgeberin. Das Buch des Monats, angepriesen auf ihrer Meetup-Seite und in diesem Moment seziert von acht Frauen zwischen vierzig und fünfzig im Wohnzimmer der Grays: Im Dunkeln von Thomas Hardy.

Ich habe es ebenfalls gelesen und mir ausgemalt, ich wäre Teil der Gruppe, würde Kuchen mümmeln (keiner zur Hand) und Wein nippen (machbar). »Wie fandest du das Buch, Anna?«, würde Christine Gray mich fragen, und ich würde antworten: »Finster.« Dann würden wir beide lachen, was der Lesekreis tatsächlich in diesem Moment tut. Ich versuche mit ihnen zu lachen. Und nehme einen Schluck.

Westlich der Millers wohnen die Takedas. Der Mann ist Japaner, die Mutter weiß, ihr Sohn überirdisch schön. Er ist Cellist; in den warmen Sommermonaten übt er hinter weit geöffneten Salonfenstern, und Ed schob unsere daraufhin oft ebenfalls hoch. Eines Abends in einem längst vergangenen Juni tanzten wir, Ed und ich, zu den Klängen einer Bach-Suite: Mein Kopf auf seiner Schulter, seine Finger fest hinter meinem Rücken verschränkt, so schwebten wir durch die Küche, während der Junge von gegenüber unwissentlich nur für uns spielte.

Im letzten Sommer wanderte seine Musik immer wieder von seinem Haus zu meinem, näherte sich meinem Wohnzimmer, klopfte höflich ans Fenster: Lass mich rein. Ich tat es nicht, ich konnte nicht – ich öffne nie die Fenster, nie –, trotzdem konnte ich sie murmeln und flehen hören: Lass mich rein. Lass mich rein!

Nummer 206–208, ein leer stehendes Backstein-Doppelhaus, flankiert das Haus der Takedas. Eine Baugesellschaft hat es im November vorletzten Jahres gekauft, aber eingezogen ist bisher niemand. Ein Mysterium. Fast ein ganzes Jahr klammerte sich ein Gerüst wie ein hängender Garten an die Fassade; dann verschwand es über Nacht – das war ein paar Monate, bevor Ed und Olivia mich verließen –, und seither tut sich nichts mehr.

Dies also ist mein südliches Imperium mit seinen Untertanen. Mit keinem dieser Menschen bin ich befreundet; die meisten sind mir nur ein- oder zweimal begegnet. Stadtleben, nehme ich an. Vielleicht hatten die Wassermänner nicht unrecht. Ich frage mich, ob sie wohl wissen, was aus mir geworden ist.

Eine verlassene katholische Schule grenzt östlich an mein Haus, lehnt sich praktisch daran an: St. Dymphna, schon seit unserem Einzug verrammelt. Wir drohten Olivia gern, sie dorthin zu schicken, wenn sie sich nicht benehmen wollte. Schartiger Backstein, verdreckte, dunkle Fenster. Wenigstens ist es mir so in Erinnerung; es ist schon einige Zeit her, seit ich es das letzte Mal zu Gesicht bekommen habe.

Und im Westen grenzt mein Haus an den Park – winzig, nur zwei Grundstücke breit und zwei tief, mit einem schmalen Backsteinpflasterweg, der unsere Straße mit der nördlich von uns verbindet. An beiden Enden hält jeweils ein flammend belaubter Bergahorn Wache; ein niedriger Eisenzaun säumt beide Seiten ein. Es ist, wie die viel zitierte Maklerin sagte, ein Idyll.

Und dann ist da das Haus jenseits des Parks: Nummer 207. Die Lords verkauften es vor zwei Monaten, räumten es umgehend und flogen nach Süden zu ihrer Ruhestandsvilla in Vero Beach. Auftritt Alistair und Jane Russell.

Jane Russell! Meine Physiotherapeutin hatte noch nie von ihr gehört. Blondinen bevorzugt, sagte ich.

»Kann ich nicht bestätigen«, erwiderte sie. Bina ist noch jung, vielleicht liegt es daran.

Das war erst vorhin; bevor ich ihr widersprechen konnte, hatte sie mein Bein über das andere geflochten und mich dadurch nach rechts kippen lassen. Der Schmerz verschlug mir den Atem. »Deine Sehnen brauchen das«, versicherte sie mir.

»Hexe«, keuchte ich.

Sie presste mein Knie auf den Boden. »Du bezahlst mich nicht dafür, dass ich nett zu dir bin.«

Ich verzog das Gesicht. »Kann ich dich dafür bezahlen, dass du verschwindest?«

Bina besucht mich einmal die Woche, um mir zu helfen, das Leben zu hassen, wie ich gern sage, und um mir Updates über ihre sexuellen Abenteuer zu geben, wobei die ungefähr so aufregend sind wie meine eigenen. In Binas Fall allerdings, weil sie so wählerisch ist. »Die eine Hälfte der Typen auf diesen Apps verwendet Fotos, die mindestens fünf Jahre alt sind«, beschwert sie sich, wobei sich ein Wasserfall von Haaren über ihre eine Schulter ergießt, »und die andere Hälfte ist verheiratet. Und die andere Hälfte ist aus gutem Grund Single.«

Das macht drei Hälften, aber ich debattiere nicht über mathematische Feinheiten, während mir das Rückgrat ausgerenkt wird.

Vor einem Monat bin ich auf Happn gegangen, »nur aus Neugier«, wie ich mir einredete. Happn hatte Bina mir erklärt, verkuppelt dich mit Menschen, die deinen Weg kreuzen. Aber wenn du mit niemandem den Weg kreuzt? Wenn du dich immer auf denselben 350 Quadratmetern bewegst und nie darüber hinaus?

Ich weiß es nicht. Das erste Profil, das aufleuchtete, war das von David. Sofort habe ich mein Account gelöscht.

Inzwischen ist es vier Tage her, dass ich Jane Russell das letzte Mal gesehen habe. Sie war definitiv anders gebaut als das Original mit den Torpedobrüsten und der Wespentaille, aber das bin ich auch. Ihren Sohn habe ich nur das eine Mal gesehen, gestern früh. Der Ehemann hingegen – breite Schultern, volle Augenbrauen, messerscharfe Nase – ist in seinem Haus ständig sichtbar: beim Eierschlagen in der Küche, beim Lesen im Wohnzimmer, bei einem gelegentlichen Blick in das obere Zimmer, als würde er nach jemandem suchen.

Freitag, 29. Oktober

Sechs

Heute erst meine Französisch-Leçon, dann abends Les Diaboliques. Der Ehemann eine miese Ratte, seine Gemahlin sein »kleiner Ruin«, eine Geliebte, ein Mord, ein verschwundener Leichnam. Ist ein verschwundener Leichnam überhaupt zu schlagen?

Doch erst ruft die Pflicht. Ich schlucke meine Pillen, parke mich an meinem Desktop, schubse die Maus zur Seite, tippe das Passwort. Und logge mich in die AGORA ein.

Zu jeder beliebigen Stunde, und zwar Tag und Nacht, sind mindestens ein paar Dutzend User online, ein Sternbild, das die ganze Welt umspannt. Einige davon kenne ich namentlich: Talia aus der Bay Area; Phil aus Boston; eine Anwältin aus Manchester mit dem gar nicht anwaltsmäßigen Namen Mitzi; Pedro, ein Bolivianer, dessen Englischbrocken wahrscheinlich auch nicht schlimmer sind als mein Pidgin-Französisch. Andere verwenden Spitznamen, mich eingeschlossen – in einem pfiffigen Moment entschied ich mich für Annagoraphobe, doch dann outete ich mich gegenüber einer anderen Userin als Psychologin, und das sprach sich in Windeseile herum. Darum heiße ich mittlerweile thedoctorisin. Sie hat jetzt Sprechstunde.

Agoraphobie: wörtlich übersetzt die Furcht vor dem Marktplatz, tatsächlich der Oberbegriff für ein ganzes Spektrum von Angststörungen. Erstmals dokumentiert Ende des 19. Jahrhunderts, ein Jahrhundert später »kodifiziert als eigenständige diagnostische Einheit«, obwohl sie Komorbiditäten mit einer Panikstörung aufweist. Wer mag, kann all das in der fünften Ausgabe der Diagnostischen Kriterien nachlesen, die gemäß der englischen Vorgabe abgekürzt unter DSM-5 firmiert. Der Titel hat mich immer amüsiert; er hört sich an wie eine Filmreihe. Hat Ihnen Psychische Störungen 4 gefallen? Dann werden Sie die Fortsetzung lieben!

Die medizinische Literatur ist ungewöhnlich fantasievoll, wenn es um die Diagnose geht. »Agoraphobische Ängste … manifestieren sich unter anderem beim unbegleiteten Aufenthalt außerhalb des Hauses; im Gedränge oder beim Schlangestehen; auf Brücken.« Was würde ich nicht darum geben, auf einer Brücke zu stehen. Verflucht, was würde ich nicht dafür geben, Schlange zu stehen. Auch das hier gefällt mir: »Im Theater auf einem Mittelplatz zu sitzen.« Einem Mittelplatz, bitte sehr!

Viele von uns – die am schwersten Betroffenen, also jene mit einer posttraumatischen Belastungsstörung – sind ans Haus gefesselt, müssen sich vor der chaotischen, überfüllten Welt da draußen verstecken. Manche fürchten die wogenden Menschenmassen; andere das Tosen des Verkehrs. Bei mir sind es die weiten Himmel, der endlose Horizont, das bloße Exponiertsein, die erdrückende Last, sich im Freien zu befinden. »Offene Räume«, bezeichnet es das DSM-5 vage und beeilt sich dann, zu seinen 186 Fußnoten zu kommen.

Als Psychologin würde ich sagen, dass der Leidende eine Umgebung sucht, die er kontrollieren kann. Das ist die klinische Auffassung. Als Leidende (und das ist wirklich die Bezeichnung) sage ich, dass die Agoraphobie mein Leben nicht so sehr eingeschränkt hat, als dass sie zu meinem Leben geworden ist.

Der AGORA-Willkommensscreen begrüßt mich. Ich überfliege die Foren, durchkämme die Threads. SEIT 3 MONATENIMHAUSGEFANGEN. Ich weiß, wie das ist, Kala88; hier sind es fast zehn Monate, ohne Aussicht auf Besserung. AGORASTIMMUNGSABHÄNGIG? Klingt eher nach sozialer Phobie, EarlyRiser. Oder einer gestörten Schilddrüse. FINDENOCHIMMERKEINENJOB. Ach, Megan – ich weiß, und du tust mir leid. Dank Ed brauche ich keinen, aber mir fehlen meine Patienten. Ich sorge mich um meine Patienten.

Eine Neue hat mich angeschrieben. Ich verweise sie an das Überlebenshandbuch, das ich im Frühjahr quasi aus dem Handgelenk verfasst habe: »Dann hast du eben eine Angststörung« – ich finde, der Titel klingt angenehm launig.

Frage: Wie bekomme ich was zu essen?

Antwort: Blue Apron, Plated, HelloFresh … in den USA gibt es unzählige Lieferdienste! Im Ausland sind wahrscheinlich ähnliche Anbieter zu finden.

Frage: Wie komme ich an meine Medikamente?

Antwort: Alle größeren Apothekenketten in den USA liefern inzwischen an die Haustür. Falls es Probleme gibt, soll sich dein Arzt an die Apotheke wenden.

Frage: Wie halte ich das Haus sauber?

Antwort: Putz es! Bezahl jemanden dafür oder mach es selbst (ich tue weder das eine noch das andere. Meine Wohnung könnte einen Großputz vertragen).

Frage: Was ist mit dem Müll?

Antwort: Den können die Putzleute rausbringen, oder du bittest einen Freund oder eine Freundin um Hilfe.

Frage: Was unternehme ich gegen die Langeweile?

Antwort: Nun, das ist eine schwere Frage …

Et cetera. Insgesamt bin ich recht zufrieden mit dem Dokument. Hätte es zu gern selbst gehabt.

Jetzt erscheint ein Chatfenster auf meinem Bildschirm.

Sally4th: hallo doc!

Ich spüre, wie ein Lächeln an meinen Lippen zupft. Sally: sechsundzwanzig, in Perth beheimatet, wurde am Ostersonntag dieses Jahres missbraucht. Sie erlitt einen Armbruch und schwere Quetschungen an den Augen und im Gesicht; ihr Vergewaltiger wurde nie identifiziert oder gefasst. Sally verbrachte vier Monate in den eigenen vier Wänden, komplett abgeschnitten in der abgelegensten Stadt der Welt, geht aber seit gut zehn Wochen wieder aus dem Haus – Mörderleistung, wie sie selbst sagen würde. Psychologische Betreuung, Aversionstherapie und Propranolol. Nichts geht über Betablocker.

thedoctorisin: Selbst hallo! Alles okay?

Sally4th: alles ok! picknick heute vormittag!!

Sie hat immer gern Ausrufezeichen verwendet, selbst als sie noch in den Tiefen ihrer Depression feststeckte.

thedoctorisin: Und wie war’s?

Sally4th: hab überlebt!

Und sie mag Emojis.

thedoctorisin: Du bist eine Überlebenskünstlerin! Wie läuft’s mit dem Inderal?

Sally4th: gut, bin auf 80mg runter

thedoctorisin: 2x am Tag?

Sally4th: 1x!!

thedoctorisin: Minimaldosis! Fantastisch! Nebenwirkungen?

Sally4th: trockene augen, sonst nichts

Damit kann sie sich glücklich schätzen. Ich nehme ein ähnliches Medikament (neben vielen anderen), und ab und zu sprengen mir die Kopfschmerzen den Schädel. PROPRANOLOLKANNZUMIGRÄNE, HERZARRYTHMIEN, ATEMNOT, DEPRESSION, HALLUZINATIONEN, SCHWERENHAUTREAKTIONEN, ÜBELKEIT, DIARRHÖ, ABNEHMENDERLIBIDO, SCHLAFLOSIGKEITUNDBENOMMENHEITFÜHREN. »Diese Medizin braucht entschieden mehr Nebenwirkungen«, sagte Ed zu mir.

»Spontane Verbrennungen«, schlug ich vor.

»Höllenscheißerei.«

»Ein langsamer, qualvoller Tod.«

thedoctorisin: Irgendwelche Rückfälle?

Sally4th: letzte woche ein leichtes flattern

Sally4th: habs aber überstanden

Sally4th: atemübungen

thedoctorisin: Die gute alte Papiertüte.

Sally4th: komm mir saudämlich dabei vor aber es funzt

thedoctorisin: Das tut es wirklich. Gut gemacht.

Sally4th: thanx

Ich trinke einen Schluck Wein. Das nächste Chatfenster poppt auf: Andrew, ein Mann, den ich in einem Forum für Filmklassiker-Enthusiasten kennengelernt habe.

Graham-Greene-Serie @Angelika dieses WE?

Ich zögere. Kleines Herz in Not ist mein Lieblingsfilm – der zum Unglück verdammte Butler; der schicksalhafte Papierflieger –, und Ministerium der Angst habe ich das letzte Mal vor fünfzehn Jahren gesehen. Und natürlich haben alte Filme mich und Ed zusammengebracht.

Aber ich habe Andrew meine Situation noch nicht erklärt. Kann nicht trifft es ziemlich genau.

Ich kehre zu Sally zurück.

thedoctorisin: Gehst du weiter zur Therapie?

Sally4th: klar thanx. aber nur noch 1x die woche. sie sagt ich mach mich super

Sally4th: der schlüssel ist pillen und poofen

thedoctorisin: Schläfst du gut?

Sally4th: hab immer noch albträume

Sally4th: du?

thedoctorisin: Ich schlafe ständig.

Wahrscheinlich zu viel. Ich sollte mit Dr. Fielding darüber sprechen. Weiß aber noch nicht, ob ich es tun werde.

Sally4th: und wie gehts bei dir voran? fit für den großen kampf?

thedoctorisin: Ich bin nicht so schnell wie du! PTBS ist richtig fies. Aber ich bin zäh.

Sally4th: bist du!

Sally4th: wollte hier nur kurz nach meinen freunden schauen – ich denk an euch!!!

Ich verabschiede mich von Sally, weil sich in diesem Moment mein Tutor auf Skype einwählt. »Bon jour, Yves«, murmle ich vor mich hin. Ich begreife, dass ich mich freue, ihn zu sehen – das tintenschwarze Haar, den dunklen Glanz seiner Haut. Diese ineinander stürzenden Brauen, die sich wölben wie ein accent circonflexe, wenn ihn wieder mal mein Akzent irritiert.

Falls Andrew sich nochmals meldet, werde ich ihn ignorieren. Vielleicht endgültig. Filmklassiker teile ich mit Ed. Und sonst niemandem.

Ich wende die Sanduhr auf meinem Schreibtisch und beobachte, wie die kleine Sandpyramide zu pulsieren scheint, während die Körnchen die Oberfläche kräuseln. So viel Zeit. Fast ein Jahr. Ich habe das Haus seit fast einem Jahr nicht mehr verlassen.

Na ja, beinahe. Fünfmal in acht Wochen habe ich es nach draußen geschafft, nach hinten, in den Garten. Meine »Geheimwaffe«, wie Dr. Fielding es nennt, ist dabei mein Regenschirm – eigentlich Eds Regenschirm, ein Klappergestell. Dr. Fielding, auch er ein Klappergestell, steht dabei jedes Mal wie eine Vogelscheuche im Garten, während ich die Tür aufstoße, den Schirm abwehrbereit vorgestreckt. Ein Druck auf die Feder, und der Schirm erblüht; ich starre eisern in seine Eingeweide, auf die Rippen und die Haut. Ein dunkles Schottenmuster, vier schwarze Quadrate auf jedem Feld des Baldachins, vier weiße Linien als Kett- und Schussfäden. Vier Quadrate, vier Linien. Viermal schwarz, viermal weiß. Einatmen und bis vier zählen. Ausatmen und bis vier zählen. Vier. Die magische Zahl.

Der Regenschirm ragt mir voran wie ein Säbel, wie ein Schutzschild.

Und dann trete ich ins Freie.

Aus, zwei, drei, vier.

Ein, zwei, drei, vier.

Das Nylon erglüht gegen die Sonne. Ich steige die erste Stufe hinab (natürlich sind es vier) und hebe den Regenschirm gegen den Himmel, nur ein bisschen, bis ich Dr. Fieldings Schuhe, seine Schienbeine sehen kann. In meinen Augenwinkeln beginnt die Welt zu brodeln, als würde Wasser in eine Taucherglocke eindringen.

»Denken Sie immer daran, dass Sie Ihre Geheimwaffe dabeihaben«, ruft Dr. Fielding.

Daran ist absolut nichts geheim, will ich ihn anschreien; es ist ein beschissener Regenschirm, den ich hier im hellen Tageslicht schwinge.

Aus, zwei, drei, vier; ein, zwei, drei, vier – und ganz unerwartet funktioniert es: Ich gleite die Stufen hinab (aus, zwei, drei, vier) und mache ein paar Schritte über den Rasen (ein, zwei, drei, vier). Bis in mir die Panik aufwallt, eine unaufhaltsame Flut, die mein Blickfeld eintrübt und Dr. Fieldings Stimme ertränkt.

Und dann … am besten nicht daran denken.

Samstag, 30. Oktober

Sieben

Ein Gewitter. Die Esche duckt sich, der Kalkstein glänzt finster und nass. Ich muss daran denken, wie ich einmal ein Glas auf der Terrasse fallen ließ; es zerplatzte wie eine Seifenblase, der Merlot breitete sich lodernd über den Stein aus, flutete dunkel und blutig durch die Adern der Pflasterung, geradewegs auf meine Füße zu.

Manchmal, wenn der Himmel tief hängt, stelle ich mir vor, ich säße irgendwo da oben in einem Flugzeug oder auf einer Wolke und hätte die ganze Insel im Blick: die Brücken, die wie Speichen von der Ostseite ausgehen; die Autos, die davon angezogen werden wie Fliegen von einer Glühbirne.

Es ist so lang her, seit ich den Regen gespürt habe. Oder den Wind – das Streicheln des Windes, hätte ich um ein Haar gesagt, nur hört sich das an wie eine Phrase, die man in einer Supermarkt-Romanze lesen würde.

Trotzdem stimmt es. Und den Schnee auch, aber Schnee will ich nie wieder spüren.

Heute Morgen steckte in der Fresh-Direct-Lieferung ein Pfirsich zwischen meinen Granny Smiths. Ich frage mich, wie das passieren konnte.

An dem Abend, an dem wir uns kennenlernten, in einem Programmkino, in dem 39 Stufen lief, glichen Ed und ich unsere jeweiligen Jugendgeschichten ab. Meine Mutter, erzählte ich, hatte mich mit alten Thrillern und Film-Noir-Klassikern hochgepäppelt; in meiner Jugend war mir die Gesellschaft von Gene Tierney und Jimmy Stewart lieber als die meiner Klassenkameraden. »Ich kann mich nicht entscheiden, ob das jetzt niedlich oder traurig ist«, meinte Ed ganz offen, der bis zu diesem Abend noch nie einen Schwarz-Weiß-Film gesehen hatte. Innerhalb von zwei Stunden klebte sein Mund an meinem.

Du meinst wohl, dein Mund klebte an meinem, höre ich ihn in meinem Kopf sagen.

In den Jahren vor Olivia schauten wir mindestens einmal pro Woche einen Film – all die uralten Krimis aus meiner Kindheit: Frau ohne Gewissen, Das Haus der Lady Alquist, Saboteur, Spiel mit dem Tode… An jenen Abenden lebten wir ganz monochrom. Für mich war es eine Chance, alte Freunde wiederzusehen; für Ed eine Gelegenheit, neue kennenzulernen.

Und ständig erstellten wir Listen. Die Filmserie Dünner Mann, vom besten Film (dem Original) bis zum schlimmsten (Das Lied des dünnen Mannes). Die besten Filme aus der Rekordernte 1944. Joseph Cottons Glanzmomente.

Natürlich kann ich auch allein Listen erstellen. Zum Beispiel: die besten nicht von Hitchcock gedrehten Hitchcockfilme. Und los geht’s:

Le Boucher, jenen frühen Claude Chabrol, bei dem Hitch, wie es die Legende will, selbst gern Regie geführt hätte. Die schwarze Natter mit Humphrey Bogart und Lauren Bacall – ein Valentinsgruß aus San Francisco, samtig vor Nebel und obendrein ein früher Vorläufer all jener Streifen, in denen sich eine Filmfigur unters Messer legt, um unerkannt zu bleiben. Niagara mit Marylin Monroe in der Hauptrolle; Charade mit Audrey Hepburn; Maskierte Herzen mit Joan Crawfords Brauen in der Hauptrolle. Warte, bis es dunkel ist: wieder Hepburn, diesmal als blinde Frau, die in ihrer Kellerwohnung gestrandet ist. Ich würde durchdrehen in einer Kellerwohnung.

Jetzt Filme, die Hitch nachdatieren: The Vanishing– spurlos verschwunden mit seinem Nackenschlag-Finale. Frantic, Polanskis Ode an den Meister. Side Effects– tödliche Nebenwirkungen, das als Anti-Pharmazie-Tirade beginnt, bevor es aalglatt in ein völlig anderes Genre abgleitet.

Okay.

Populäre falsche Filmzitate: »Spiel’s noch einmal, Sam« – Casablanca, so heißt es, nur dass weder Bogart noch Bergman den Satz je sagen. »Er lebt« – Frankenstein verweigert seinem Monster das Geschlecht; stattdessen heißt es grausam: »Es lebt.« »Elementar, mein lieber Watson«, taucht zwar tatsächlich in den ersten Holmes-Streifen der Tonfilmära auf, ist aber nirgendwo im Conan-Doyle-Universum niedergeschrieben.

Okay.

Was jetzt?

Ich klappe den Laptop auf, statte der AGORA einen Besuch ab. Eine Nachricht von Mitzi aus Manchester; ein Fortschrittsbericht, verfasst von Dimples2016 in Arizona. Nichts Bemerkenswertes.

Im vorderen Salon von Nummer 210 zieht der Takeda-Junge den Bogen über das Cello. Weiter im Osten flüchten die vier Grays vor dem Regen und stürmen gerade lachend die Stufen vor ihrem Haus hinauf. Jenseits des Parks füllt Alistair Russell ein Glas am Wasserhahn in der Küche.

Acht

Gerade als ich am späten Nachmittag kalifornischen Pinot Noir in ein Whiskyglas gieße, läutet es an der Tür. Ich lasse das Glas fallen.

Es zerplatzt, und eine lange Weinzunge leckt über die weiße Birke. »Fuck!«, schimpfe ich. (Mir ist aufgefallen: Wenn ich allein bin, fluche ich öfter und lauter. Ed wäre schockiert. Ich bin schockiert.)

Ich habe gerade eine Faustvoll Küchenpapier abgerissen, als es noch einmal läutet. Wer zum Teufel?, denke ich – oder habe ich es ausgesprochen? David ist vor einer Stunde weggegangen, weil er etwas in East Harlem zu erledigen hat – ich habe ihn vom Arbeitszimmer aus losgehen sehen –, und Lieferungen erwarte ich auch keine. Ich bücke mich, presse die Papiertücher auf den Schlamassel und marschiere dann zur Tür.

Eingerahmt im Bildschirm der Sprechanlage sehe ich einen schlaksigen Jugendlichen in enger Jacke stehen, der mit beiden Händen eine kleine weiße Schachtel umklammert. Es ist der Junge der Russells.

Ich drücke die Sprechtaste. »Ja?«, frage ich. Weniger einladend als Hallo, aber höflicher als Wer zum Teufel?

»Ich wohne auf der anderen Seite des Parks«, sagt er, nein, ruft er fast, mit unwahrscheinlich süßer Stimme. »Meine Mom hat mir aufgetragen, Ihnen das hier zu bringen.« Ich beobachte, wie er die Schachtel zum Lautsprecher streckt; dann dreht er sich, unschlüssig, wo die Kamera versteckt sein könnte, mit erhobenen Armen im Kreis.

»Am besten …«, setze ich an. Soll ich ihn bitten, die Schachtel im Hausgang abzustellen? Nicht besonders nachbarschaftlich, nehme ich an, aber ich habe seit zwei Tagen nicht gebadet, und die Katze könnte ihn attackieren.

Er steht immer noch vor der Haustür, die Schachtel hoch erhoben.

»… kommst du einfach rein«, beende ich den Satz und drücke auf den Summer.

Ich höre das Schloss aufschnappen und nähere mich der Wohnungstür, ganz vorsichtig, so wie Punch sich Fremden nähert – oder früher einmal genähert hat, als noch Fremde ins Haus kamen.

Ein Schatten türmt sich hinter dem Milchglas auf, verschwommen und schlank, fast wie ein Schössling. Ich drehe den Knauf.

Er ist wirklich groß und blauäugig, hat ein Babyface mit einer sandblonden Tolle und einer hellen Narbe, die eine Kerbe durch eine Braue schlägt und sich dann auf seiner Stirn verliert. Vielleicht fünfzehn. Er sieht aus wie ein Junge, den ich mal kannte, den ich mal geküsst habe – im Sommercamp in Maine, vor einem Vierteljahrhundert. Ich mag ihn.

»Ich bin Ethan«, sagt er.

»Komm rein«, wiederhole ich.

Er tritt ein. »Es ist dunkel hier drin.«

Ich drücke den Lichtschalter an der Wand.

Während ich ihn mustere, mustert er das Zimmer: die Gemälde an den Wänden, die auf der Chaiselongue lungernde Katze, den Haufen aus durchnässten Papiertüchern, der auf dem Küchenboden zerschmilzt. »Was ist passiert?«

»Es gab einen kleinen Unfall«, sagte ich. »Ich bin Anna. Fox«, ergänze ich, falls er es lieber förmlich hat; ich wäre alt genug, um seine (junge) Mutter zu sein.

Wir geben uns die Hand, dann überreicht er mir die bunte, fest verschlossene und mit Schleifen verzierte Schachtel. »Für Sie«, sagt er schüchtern.

»Stell sie einfach da drüben ab. Möchtest du vielleicht was trinken?«

Er tritt ans Sofa. »Könnte ich ein Wasser haben?«

»Sicher.« Ich kehre in die Küche zurück, beseitige die Unordnung. »Setz dich ruhig. Eis?«

»Nein danke.« Ich fülle ein Glas, dann noch eins und ignoriere dabei die Flasche Pinot Noir auf der Küchentheke.

Die Schachtel steht auf dem Couchtisch neben meinem Laptop. Ich bin immer noch in der AGORA eingeloggt, wo ich DiscoMickey vorhin durch eine drohende Panikattacke geleitet habe; sein Dankesschreiben leuchtet mir vom Bildschirm entgegen. »Na schön«, sage ich, setze mich neben Ethan und stelle ein Glas vor ihm ab. Ich klappe den Computer zu und greife nach dem Geschenk. »Dann wollen wir mal sehen, was wir hier haben.«

Ich zupfe an dem Band, mache den Deckel auf und hebe aus einem Seidenpapiernest eine Kerze – eine von denen, in deren Wachs Blüten und Stängel gefangen sind wie Insekten im Bernstein. Ich halte sie vor mein Gesicht und spiele ein bisschen Theater.

»Lavendel«, erklärt Ethan eilfertig.

»Dachte ich mir.« Ich atme tief ein. »Ich labe Lievendel.« Das war nichts. »Ich liebe Lavendel.«

Er lächelt, ein Mundwinkel zuckt nach oben, als hätte jemand mit einem Faden daran gezupft. Er wird mal ein gut aussehender Mann, erkenne ich, und das schon in ein paar Jahren. Diese Narbe – die Frauen werden sie lieben. Vielleicht lieben die Mädchen sie jetzt schon. Oder die Jungs.

»Meine Mom hat mich gebeten, sie Ihnen zu bringen. Also schon vor Tagen.«

»Das ist sehr nett von ihr. Eigentlich sollten die neuen Nachbarn euch Geschenke bringen.«

»Eine Lady war schon da«, sagt er. »Sie hat uns erklärt, dass wir kein so großes Haus brauchen, wenn wir so eine kleine Familie sind.«

»Ich wette, das war Mrs. Wasserman.«

»Ja.«

»Die braucht ihr nicht zu beachten.«

»Haben wir auch nicht.«

Punch ist von der Chaiselongue auf den Boden gesprungen und nähert sich vorsichtig. Ethan beugt sich vor und legt die Hand mit der Handfläche nach oben auf den Teppich. Der Kater bleibt stehen, schreitet dann auf uns zu und schnuppert an Ethans Fingern. Als er anfängt, an ihnen zu lecken, kichert Ethan.

»Ich liebe Katzenzungen«, sagt der Junge, als wäre das ein Geständnis.

»Ich auch.« Ich trinke einen Schluck Wasser. »Sie sind mit Hakenpapillen überzogen – kleinen Stacheln«, erläutere ich, falls er das Wort Papille nicht kennt. Mir geht auf, dass ich nicht so recht weiß, wie ich mit einem Teenager sprechen soll; meine ältesten Patienten waren zwölf. »Soll ich die Kerze anmachen?«

Ethan zuckt mit den Achseln, lächelt. »Klar.«

Im Schreibtisch finde ich ein Streichholzbriefchen, kirschrot, über das die Worte THEREDCAT marschieren; ich kann mich noch erinnern, wie ich mit Ed dort essen war, vor inzwischen über zwei Jahren. Oder drei. Hühnchen-Tajine, glaube ich, und ich kann mich entsinnen, dass er den Wein lobte. Damals trank ich noch nicht so viel.

Ich reiße ein Streichholz an, entflamme den Docht. »Schau dir das an«, sage ich, während eine kleine Feuerklaue an der Luft kratzt; die Flamme erblüht, eine Blüte flammt auf. »Wie schön.«

Sanfte Stille liegt über dem Raum. Punch zieht ein paar Achter um Ethans Beine und schnellt dann auf seinen Schoß. Ethan lacht, ein helles Bellen.

»Ich glaube, er mag dich.«

»Schätze ich auch.« Er krümmt den Finger hinter dem Ohr des Katers und beginnt, ihn sacht zu kraulen.

»Er mag die wenigsten Menschen. Ein Griesgram.«

Ein tiefes Grummeln, das klingt wie ein leiser Motor. Punch hat tatsächlich zu schnurren begonnen.

Ethan grinst. »Ist er eine reine Hauskatze?«

»Er hat eine Katzenklappe in der Küchentür«, sage ich und deute darauf. »Aber er bleibt fast immer im Haus.«

»Braver Junge«, murmelt Ethan, als Punch sich in seine Armbeuge gräbt.

»Wie gefällt dir euer neues Haus?«, frage ich.

Er hält inne und knetet mit den Knöcheln den Kopf des Katers. »Mir fehlt unser altes«, antwortet er nach kurzem Nachdenken.

»Kann ich mir vorstellen. Wo habt ihr vorher gewohnt?« Natürlich weiß ich die Antwort.

»Boston.«

»Was hat euch nach New York verschlagen?« Auch das weiß ich.

»Mein Dad hat einen neuen Job.« Genau genommen hat seine Firma ihn versetzt, aber ich werde ihm kaum widersprechen. »Mein Zimmer hier ist größer«, sagt er, als wäre ihm die Erkenntnis gerade erst gekommen.

»Die Leute, die vor euch dort gewohnt haben, haben viel am Haus gemacht.«

»Meine Mom sagt, sie haben es totalsaniert.«

»Genau. Totalsaniert. Und sie haben im Obergeschoss ein paar Zimmer zusammengelegt.«

»Waren Sie schon mal in unserem Haus?«, fragt er.

»Ein paar Mal. Ich kannte sie nicht besonders gut – die Lords. Aber sie gaben jedes Jahr eine Vorweihnachtsparty, und zu der war ich eingeladen.« Tatsächlich war ich vor knapp einem Jahr das letzte Mal zu Besuch. Ed war mit mir dort. Zwei Wochen später ging er.

Allmählich entspanne ich mich. Ganz kurz glaube ich, dass es Ethans Gesellschaft ist – er ist sanft und unkompliziert; selbst der Kater erkennt das –, doch dann begreife ich, dass ich in den Therapeuten-Modus zurückgefallen bin, jenes Hin und Her, Geben und Nehmen von Fragen und Antworten. Neugier und Einfühlungsvermögen: das Handwerkszeug meines Metiers.

Und im nächsten Moment, für einen kurzen Augenblick, bin ich wieder dort, in meiner Praxis an der East 88th Street, in dem kleinen, verschwiegenen, in sanftes Licht getauchten Raum, in dem zwei weiche Sessel einander an den Ufern eines blauen Teppichs gegenüberstehen. Der Radiator zischt.

Die Tür gleitet auf, und dahinter, im Wartebereich, sehe ich das Sofa, den Holztisch; die windschiefen Stapel von Highlights und Ranger Rick; die bis zum Rand mit Legosteinen gefüllte Tonne; die schnurrende Whitenoise-Maschine in der Ecke.

Und Wesleys Tür. Wesley, mein Partner, mein Mentor während des Aufbaustudiums, der Mann, der mich als Therapeutin für seine Praxis rekrutiert hat. Wesley Brill – oder Wesley Brillant, wie wir ihn nannten, Wesley der Wildhaarige, Träger der verschiedenfarbigen Socken, der Blitzgescheite, die Donnerstimme. Ich sehe ihn in seinem Sprechzimmer, in dem er in seinem Eames-Liegesessel lagert, die langen Beine in die Mitte des Raumes zielend, mit einem Buch im Schoß. Das Fenster steht offen, es schnauft Winterluft herein. Er hat geraucht. Er sieht auf.

»Hallo, Fox«, sagt er.

»Mein neues Zimmer ist größer als mein altes«, wiederholt Ethan.

Ich lehne mich zurück, schlage die Beine übereinander. Die Pose fühlt sich absurd an. Ich frage mich, wann ich das letzte Mal die Beine übereinandergeschlagen habe. »Und in welche Schule gehst du?«

»In gar keine«, sagt er. »Mom unterrichtet mich.« Bevor ich etwas erwidern kann, nickt er zu einem Foto auf einem Beistelltisch hin. »Ist das Ihre Familie?«

»Ja. Das sind mein Mann und meine Tochter. Ed und Olivia.«

»Sind sie zu Hause?«

»Nein, sie wohnen nicht mehr hier. Wir sind getrennt.«

»Oh.« Er streichelt Punch über den Rücken. »Wie alt ist er?«

»Er ist acht. Und wie alt bist du?«

»Sechzehn. Im Februar werde ich siebzehn.«

So ähnlich würde Olivia auch antworten. Er ist älter, als er aussieht.

»Meine Tochter wurde im Februar geboren. Am Valentinstag.«

»Ich am achtundzwanzigsten.«

»Knapp vor dem Schalttag«, sage ich.

Er nickt. »Und was arbeiten Sie?«

»Ich bin Psychologin. Ich arbeite mit Kindern.«

Er rümpft die Nase. »Wieso sollten Kinder zum Psychologen müssen?«

»Aus allen möglichen Gründen. Manche von ihnen haben Schulprobleme, andere Schwierigkeiten zu Hause. Wieder andere machen eine schwere Zeit durch, nachdem sie an einen neuen Ort gezogen sind.«

Er sagt nichts.

»Wenn du zu Hause unterrichtet wirst, musst du wohl außerhalb der Schule neue Freunde finden, nehme ich an.«

Er seufzt. »Mein Dad hat einen Schwimmverein gefunden, in den ich gehen soll.«

»Wie lange schwimmst du schon?«

»Ich hab mit fünf angefangen.«

»Dann bist du bestimmt ein guter Schwimmer.«

»Ich bin ganz okay. Mein Dad sagt, ich hätte Talent.«

Ich nicke.

»Okay, ich bin ziemlich gut«, gibt er bescheiden zu. »Ich gebe Unterricht.«

»Du gibst Schwimmunterricht?«

»Für Behinderte. Also nicht für Menschen mit körperlichen Behinderungen«, schränkt er ein.

»Sondern mit Entwicklungsstörungen.«

»Genau. In Boston hab ich das ziemlich viel gemacht. Und hier würde ich es gern wieder machen.«

»Wie bist du darauf gekommen?«

»Die Schwester meines Freundes hat Down-Syndrom, und sie hat vor ein paar Jahren die Olympiade geschaut und wollte unbedingt schwimmen lernen. Also hab ich es erst ihr beigebracht und dann ein paar anderen Kindern aus ihrer Schule. Und so kam ich in die ganze …« – er tastet nach dem richtigen Wort – »Szene, schätze ich.«

»Ist doch toll.«

»Ich hab’s nicht so mit Partys und so.«

»Nicht deine Szene.«

»Nee.« Dann lächelt er. »Absolut nicht.«

Er dreht den Kopf, sieht zur Küche. »Ich kann von meinem Zimmer Ihr Haus sehen«, sagt er. »Es ist da oben.«

Ich drehe mich um. Falls er das Haus sehen kann, bedeutet das, dass sein Fenster nach Osten in Richtung meines Schlafzimmers geht. Kurz löst die Vorstellung leichte Beklemmungen aus – immerhin ist er ein Junge, ein Teenager. Zum zweiten Mal frage ich mich, ob er vielleicht schwul ist.

Und dann sehe ich, dass sein Blick glasig geworden ist.

»Oh …« Ich schaue nach rechts, wo die Box mit den Taschentüchern sein sollte, wie früher in meiner Praxis. Stattdessen steht dort ein Bilderrahmen, aus dem Olivia zahnlückig zu mir aufstrahlt.

»Tut mir leid«, sagt Ethan.

»Nein, das ist völlig in Ordnung«, erkläre ich ihm. »Was ist denn?«

»Nichts.« Er reibt sich die Augen.

Ich warte kurz ab. Er ist ein Kind, rufe ich mir in Erinnerung – groß und stimmbrüchig, aber trotzdem ein Kind.

»Mir fehlen meine Freunde.«

»Darauf würde ich wetten. Natürlich.«

»Ich kenn hier niemanden.« Eine Träne kullert über seine Wange. Er wischt sie mit dem Handballen weg.

»Umzuziehen ist nie einfach. Als ich hierhergezogen bin, habe ich auch eine Weile gebraucht, bis ich jemanden kennengelernt habe.«

Er schnieft laut. »Wann sind Sie hergezogen?«

»Vor acht Jahren. Nein, inzwischen sind es neun. Aus Connecticut.«

Er schnieft wieder, wischt sich mit dem Finger unter der Nase entlang. »Das ist nicht so weit weg wie Boston.«

»Nein. Aber jeder Umzug ist schwierig.« Ich würde ihn gern in den Arm nehmen. Aber das werde ich nicht. NEWYORKEREREMITINBEFUMMELTNACHBARJUNGEN.

Eine Weile sitzen wir schweigend da.

»Kann ich noch ein Wasser haben?«, fragt er.

»Ich bringe es dir.«

»Nein, kein Problem.« Als er aufsteht, gleitet Punch elegant an seinem Bein hinunter und rollt sich unter dem Tisch zusammen.

Ethan tritt an das Spülbecken in der Küche. Während der Hahn läuft, stehe ich auf, gehe zum Fernseher und ziehe die Schublade unter dem Gerät auf.

»Magst du Filme?«, rufe ich. Keine Antwort; ich drehe mich um und sehe ihn in der Küchentür stehen und auf den Park hinausschauen. Die Flaschen im Recycling-Eimer neben ihm glänzen fluoreszierend.

Nach einer Sekunde dreht er sich zu mir um. »Was?«

»Magst du Filme?«, wiederhole ich. Er nickt. »Komm und sieh dir das mal an. Ich habe eine ziemlich große DVD-Sammlung. Sehr groß. Viel zu groß, sagt mein Mann.«

»Ich dachte, Sie beide wären getrennt«, murmelt Ethan, während er herkommt.

»Trotzdem ist er immer noch mein Mann.« Ich inspiziere den Ring an meiner linken Hand, drehe ihn. »Aber du hast recht.« Ich deute auf die offene Schublade. »Falls du dir irgendwas davon ausleihen möchtest, dann nur zu. Habt ihr einen DVD-Player?«

»Mein Dad hat einen externen für seinen Laptop.«

»Der wird reichen.«

»Vielleicht darf ich ihn mir ausleihen.«

»Hoffen wir es.« Allmählich entwickle ich ein Gespür für Alistair Russell.

»Was sind das für Filme?«

»Vor allem alte.«

»So in Schwarz-Weiß?«

»Hauptsächlich in Schwarz-Weiß.«

»Ich hab noch nie einen Schwarz-Weiß-Film gesehen.«

Ich reiße die Augen auf. »Dann mach dich auf was gefasst. Die besten Filme sind in Schwarz-Weiß.«

Er sieht mich zweifelnd an, späht aber in die Schublade. An die zweihundert Hüllen, von Criterion und KINO, die Hitchcock-Box von Universal, ausgewählte Film-Noir-Sammlungen, Krieg der Sterne (ich bin auch nur ein Mensch). Ich inspiziere die Rücken: Die Ratte von Soho. Die Frau am Abgrund. Leb wohl, Liebling. »Hier«, verkünde ich, löse eine Hülle heraus und reiche sie Ethan.

»Night must fall«, liest er vor.

»Das Richtige für den Anfang. Spannend, aber nicht gruselig.«

»Danke.« Er räuspert sich, hustet. »Entschuldigung«, sagt er und nimmt einen Schluck Wasser. »Ich bin allergisch gegen Katzen.«

Ich starre ihn an. »Warum hast du nichts gesagt?« Wütend fixiere ich den Kater.

»Er ist so freundlich. Ich wollte ihn nicht beleidigen.«

»Das ist lächerlich«, erkläre ich ihm. »Aber auf eine nette Art.«

Er lächelt. »Ich muss los.« Er kehrt zum Couchtisch zurück, stellt sein Glas darauf ab und beugt sich vor, um Punch durch die Glasplatte hindurch anzusprechen. »Nicht wegen dir, Alter. Braver Junge.« Er richtet sich auf und klopft seine Hände an den Hosenbeinen ab.

»Möchtest du noch eine Kleiderrolle? Gegen die Hautschuppen?« Ich weiß nicht, ob ich überhaupt eine habe.

»Geht schon.« Er sieht sich um. »Könnte ich kurz auf die Toilette?«

Ich deute zum roten Gelass. »Fühl dich wie zu Hause.«

Während er darin ist, betrachte ich mich prüfend im Spiegel über der Kommode. Heute Abend ist unbedingt eine Dusche fällig. Oder allerspätestens morgen.

Ich kehre zum Sofa zurück und klappe den Laptop auf. Danke für deine Hilfe, hat DiscoMickey geschrieben. Du bist meine Heldin.

Während die Spülung rauscht, hacke ich eine kurze Antwort in die Tasten. Gleich darauf tritt Ethan aus der Toilette und wischt sich die Hände an den Jeans trocken.

»Alles erledigt«, informiert er mich. Er geht zur Tür, die Hände tief in den Hosentaschen. Ein Schuljungenschlendern.

Ich folge ihm. »Vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist.«

»Bis bald«, sagt er, als er die Tür aufzieht.

Bestimmt nicht, denke ich. »Bestimmt«, sage ich.

Neun

Nachdem Ethan gegangen ist, sehe ich mir ein weiteres Mal Laura an. Eigentlich kann der Film nicht funktionieren: Clifton Webb, der durch die Kulisse stakst, Vincent Price, der sich an einem Südstaatenakzent probiert, diese drapierten Fingerzeige. Aber er funktioniert sehr wohl, und ach, diese Musik. »Leider haben sie mir das Drehbuch und nicht die Filmmusik geschickt«, beklagte sich Hedy Lamarr einst.

Ich lasse die Kerze brennen, der winzige Flammentropfen pulsiert vor sich hin.

Und dann aktiviere ich, die Filmmusik von Laura auf den Lippen, mit einem Wischen das iPhone und mache mich im Internet auf die Suche nach meinen Patienten. Meinen ehemaligen Patienten. Vor zehn Monaten habe ich sie alle verloren: Ich verlor Mary, neun Jahre, die mit der Scheidung ihrer Eltern zu kämpfen hatte; ich verlor Justin, acht, dessen Zwillingsbruder an einem malignen Melanom gestorben war; ich verlor Anne-Marie, die sich mit zwölf immer noch vor der Dunkelheit fürchtete. Ich verlor Rasheed (elf, Transgender) und Emily (neun, Mobbingopfer); ich verlor eine extrem depressive kleine Zehnjährige namens Joy (ausgerechnet!). Ich verlor all ihre Tränen und Probleme, ihren Zorn und ihr Aufatmen. Ich verlor damals neunzehn Kinder. Zwanzig, meine Tochter mitgezählt.

Natürlich weiß ich, wo Olivia jetzt ist. Bei den anderen habe ich versucht, sie halbwegs im Auge zu behalten. Nicht allzu offensichtlich, versteht sich – eine Psychologin sollte ihre Patienten nicht ausforschen, und das schließt die ehemaligen Patienten ein. Aber etwa einmal im Monat schwillt die Sehnsucht so an, dass ich ins Netz gehe. Mir stehen ein paar Tools zur Internetrecherche zur Verfügung: ein Fake-Profil bei Facebook; ein ungenutztes LinkedIn-Profil. Doch bei jungen Menschen reicht die Google-Suche praktisch immer aus.

Nachdem ich von Avas Sieg beim Buchstabierwettbewerb, Jacobs Wahl in den Schülerrat der Mittelschule gelesen, die Instagram-Alben von Graces Mutter überflogen und mich durch Bens Twitter-Account gescrollt habe (er sollte unbedingt seine Datenschutz-Einstellungen anpassen), nachdem ich mir die Tränen von den Wangen gewischt und drei Gläser Roten geleert habe, finde ich mich in meinem Schlafzimmer wieder, wo ich mich durch das Fotoalbum auf meinem Handy wische. Und dann spreche ich, mal wieder, mit Ed.

»Rate mal«, sage ich, so wie jedes Mal.

»Du hast ganz schön Schlagseite, Schlafmütze«, bemerkt er.

»Es war ein langer Tag.« Ich blicke auf mein leeres Glas, spüre ein schuldbewusstes Prickeln. »Was macht Livy so?«

»Sie macht sich für morgen fertig.«

»Ach. Als was verkleidet sie sich?«

»Als Gespenst«, sagt Ed.

»Da hast du Glück gehabt.«

»Wie meinst du das?«

Ich lache. »Letztes Jahr ging sie als Feuerwehrauto.«

»Mann, dafür haben wir Tage gebraucht.«

»Ich