Ende einer Illusion - Sarah Frixeder - E-Book
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Ende einer Illusion E-Book

Sarah Frixeder

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Beschreibung

Was macht es mit einem, wenn man erfährt, dass man eigentlich gar kein Mensch ist und man auch noch aus einer Parallelwelt stammt? In Sennas Fall löst es ganz klar emotionales Chaos, Überforderung und Unsicherheit aus. Trotzdem stellt sie sich den Herausforderungen, ihr eigentliches Wesen zu akzeptieren und einen Platz in ihrer ursprünglichen Heimat zu finden. Da das Leben launisch ist, stehen ihr diverse Hürden im Weg ... ein vergangener, ungelöster Anschlag auf ihre Familie, eine launische Gottheit in ihrem Kopf und ein mürrischer, verschlossener Mentor, der ihr im Grunde alles erst eingebrockt hat. Mit Illustrationen aus dem Zeichenstift des Autors!

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Seitenzahl: 659

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Danksagung

Dieses Buch widme ich allen, die sich während

der zähen Entstehung um mich bemüht haben.

Fenris Wappen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Herbst

Kapitel 1: Lapis Deus

Frühling

Kapitel 2: Stacheln

Kapitel 3: An'Fuar

Kapitel 4: Glühwürmchen

Sommer

Kapitel 5: Kristallines Gift

Kapitel 6: Räven - Die Sage der Fuchsfrau

Herbst

Kapitel 7: Alltagswahnsinn

Winter

Kapitel 8: Die Rekrutin

Frühling

Kapitel 9: Krug des Wahnsinns

Sommer

Charaktere Verzeichnis

Einleitung

Herbst

Durch die menschenleeren Hallen des alten Gebäudes hallt das leise Ticken einer Uhr.

Die ehemalige Burg von rund 1490 n. Chr. war einst die geheime Sommerresidenz der ungarischen Herzogin Hedwig Jagiellonica, Gemahlin von Herzog Georg dem Reichen.

Das Gemäuer wurde von Grund auf restauriert und erneuert. Somit kombiniert es die Pracht der Vergangenheit mit dem Komfort der Moderne. Heute, im 21. Jahrhundert, dient das Anwesen als ein Museum und liegt am Rand eines großen Waldes, außerhalb einer unscheinbaren Kleinstadt.

Schwaches Mondlicht dringt schwerfällig durch die großen modernisierten Dachfenster und verstärkt die Schatten in Ecken und Nischen. Ebenso schwer fällt der einzigen Seele in dem dunklen Gebäude ein ruhiger Schlaf.

Der Museumsdirektor schlummert in einem großen, bequemen Ohrensessel, den Kopf nach hinten an die hohe Lehne gelegt. In das Büro schaffte es von dem trägen Mondlicht nur ein schmaler Schein durch die halb geschlossenen Spalten des Lamellenvorhangs. Es zeichnet trotzdem ein hübsches Streifenmuster auf die Oberfläche des dunklen, massiven Schreibtisches. Das Gesicht des Mannes bleibt allerdings in Schatten gehüllt.

Er rührt sich nicht und atmet ruhig, doch in seinem Geist formt sich ein quälender Traum, der ihn nicht zum ersten Mal heimsucht. In diesem Traum findet sich der Direktor in den Ruinen einer einst großen Festhalle wieder.

Er dreht sich einmal um sich selbst und lässt den Blick über die Trümmer gleiten, die selbst für Gestein zu grau sind. Sie erscheinen absolut monochrom. Die einzige Farbe hat der Himmel, aber auch diese Mischung aus Blau und Violett wirkt irgendwie falsch.

Er kehrt zu seinem Startpunkt zurück und wie aus dem Nichts herbeigerufen stehen vier menschliche Gestalten ein Stück entfernt vor ihm. Dahinter, ihm etwas abgewandt, erscheinen zwei weitere Personen. Obwohl ihre Gesichter von tiefen Schatten verborgen sind, erkennt er sie mühelos.

Keiner der Sechs bewegt sich oder sagt ein Wort. Die Szene nimmt an Intensität zu, als sich die Atmosphäre zunehmend geladen anfühlt, obwohl sich nichts regt.

Das Empfinden ähnelt der schwieligen Luft kurz vor einem mächtigen Sommergewitter. Ungemein erdrückend und heiß, so dass jeder Atemzug nicht unerhebliche Anstrengung erfordert.

Ohnehin mit steifer Haltung ausgestattet, spannt sich sein Körper unbewusst noch weiter an. Ein beißender Geruch wie von glühendem Eisen steigt dem Traumwandler in die Nase, da wird ihm soeben qualvoll bewusst, was ihm wieder einmal bevorsteht.

Ein heftiger Ruck lässt den Mann einen Schritt zurück stolpern und ein langer Riss fährt beinahe geräuschlos durch den steinernen Boden. Umso lauter donnern die stechend roten Flammen, die aus den schier endlos tiefen Schlünden im Boden hervorzüngeln und die Personen vor ihm erbarmungslos verschlingen.

Er ruft nach ihnen, will sie vor den Flammen retten und streckt ihnen energisch die Hand entgegen, doch seine Stimme geht im Fauchen des Feuers unter.

Noch während er sich ausstreckt, durchbohren scharfe Pfeilspitzen seine Hände und binden ihn an seine Haltung. Ein stechender Schmerz fährt durch seinen gesamten, verkrampften Körper.

Für einen Moment sieht der Direktor sich selbst wie durch einen Spiegel und erkennt, dass sich mit Stacheln besetzte Ketten um ihn winden und erbarmungslos in sein Fleisch stechen.

Gefesselt und unfähig sich zu bewegen, muss er vom Schmerz gepeinigt zusehen, wie die so sehr vertrauten Gestalten vor ihm in den lodernden Flammen verschwinden.

An dieser Stelle ist der einzige Trost die Hoffnung auf das befreiende Erwachen, so wie immer in diesen Nachtmahre. Doch dieses Mal verändert sich der nagender Traum.

Seine dornigen Fesseln halten ihn weiterhin in den zügellos tobenden Flammen gefangen. Er versucht erneut, sich zu bewegen, aber sogleich bohren sich die Stacheln nur tiefer in seinen Körper und die stechenden Schmerzen lassen ihn seine aussichtslosen Versuche schnell wieder einstellen.

Der Gefangene bemerkt, wie sein Herz ganz untypisch immer schneller zu schlagen anfängt und die Hitze treibt ihm den Schweiß auf die Stirn. Er muss sich zusammenreißen, um nicht laut mit den Zähnen zu knirschen. Er hasst es ungemein, wenn er die Kontrolle verliert.

Dann finden seine Augen in dem Gefängnis aus nur mehr bedrohlichem Feuer und bodenlosem Fels einen Fokus.

Langsam erhebt sich der Körper einer Frau aus dem Flammenmeer, ein kleines Bündel an sich gedrückt, aus dem sich kleine Hände ihrem gesenkten Kopf entgegenstrecken.

Während er wie gebannt die gebeugte und sehr vertraute Frau beobachtet, scheint für einen kurzen Moment alles still zu stehen. Nur mehr das laute Pochen seines Herzens dröhnt in seinen Ohren und die Blutroten Wolken rasen beinahe synchron zu seinem Herzschlag über den schwarz gewordenen Himmel.

Dann hebt sie schlagartig den Kopf und entblößt dem Gefesselten ihr Gesicht.

Er blickt entgeistert in einen Totenschädel, der besetzt ist mit blauen Reptilienschuppen und von der Mitte ihrer Stirn ausgehend glimmende Kristalladern.

Im gleichen Moment scheint ihn etwas direkt vor die groteske Frau gezogen zu haben und ihre Fratze füllt sein ganzes Blickfeld aus.

Sie reißt das Kiefer auf und ein dröhnendes Kreischen entrinnt ihrer Kehle. Es erklingt gleichzeitig von überall, als würde es in seinem Kopf entspringen und nicht von dieser Welt stammen.

Der Schrei reißt den Mann schließlich aus dem halbherzigen Schlaf. Ihm entkommt kein Laut, doch seine Hände umklammern krampfhaft die Stuhllehnen zu seinen Seiten und die Finger bohren sich tief in die Oberflächen.

Der Stuhl und der dicke Lederbezug können von Glück reden, dass sie robust sind.

Weiterhin schweigend, betrachtet er mit steinernem Gesicht seine Hand. Geübt bringt er währenddessen sein rasendes Herz wieder unter Kontrolle und wischt sich missmutig die kleinen Schweißperlen von der Stirn. Mit einer kühlen Ruhe schweift sein kontrollierter Blick zur Uhr an der Wand.

Der Mond hat seinen Platz mit der Sonne getauscht und erhellt gerade genug das Zifferblatt, um es lesen zu können.

Im Zwielicht der frühen Morgenstunde leuchten die Augen des Mannes wie heller Bernstein.

Die Szene wechselt zu einer Uhr vom selben Modell, die in der großen, angebauten Lagerhalle des Museums hängt. Die Nachmittagssonne sucht sich durch die kleinen, hoch liegenden Fenster ihren Weg in den großzügigen Raum hinein. Eine Lastwagenladung mit neuen Ausstellungsstücken wird soeben geliefert und die sperrigen Holzkisten füllen bereits einen Teil der Halle.

Die knapp über zwei Meter hohe Gestalt des Direktors steht vor einer dieser Kisten und betrachtet zurückhaltend, aber mit offensichtlicher Interesse eine große Tonvase. Hinter ihm erklingt die ruhige Stimme einer jungen Frau.

»Direktor van Creyn, das waren die letzten Kisten.«

Er dreht sich um und Senna, eine Angestellte des Museums, die offiziell als Aufsichtskraft der Ausstellungen eingestellt wurde, aber irgendwann das Mädchen für alles geworden ist, hält ihm ein elektronisches Tablet entgegen.

»Soweit scheint alles okay zu sein.« Sie schmunzelt leicht verstohlen, als sie den vertrauten Direktor beobachtet, während er wie beiläufig, aber sorgsam, die antike Töpferei wieder in ihre Kiste zurücklegt.

Wie Senna es kaum anders von ihm kennt, spart er sich selbst lakonische Phrasen und greift mit einem knappen, kaum merklichen Nicken nach dem Tablet. Als er das Gerät an sich nimmt, be - rühren sich kurz ihre Fingerspitzen und ein Funke, wie ein hastiger Stromschlag, zuckt durch die flüchtige Berührung.

Im selben Moment bemerkt nur der Direktor, wie ein blauer Schimmer durch die weißblonden, ein wenig zerzausten Haare der jungen Angestellten vor ihm wandert.

Senna hebt überrascht die Brauen und betrachtet verwundert ihre Hand, während Abel van Creyn sie mit einem eindringlichen Blick von oben bedenkt. Seine Iris funkelt kurzzeitig wie heller Bernstein und er scheint sie regelrecht zu durchleuchten.

Er wendet sich wortlos ab und richtet die Aufmerksamkeit seiner nun wieder schlichten, braunen Augen auf den Bildschirm des Tablets.

Der große Mann hält es nun für angebracht, ihr zu antworten.

»Danke, Senna. Wir sind für heute fertig.« Seine tiefe Stimme klingt so klar wie ein kalter, wolkenloser Winterhimmel.

FATAL ERROR!

POWER ISSUE; CODE: UNKNOWN

Abel verzieht das Gesicht und brummt missmutig. Der Ton kommt einem gedämpften, animalischen Knurren gleich. Er blickt mit steinerner Miene von dem Bluescreen auf dem Tablet zu Senna auf, die an einen Tisch mittig des Raumes gegangen ist und widmet seine Aufmerksamkeit wieder ihr zu.

»Du beginnst morgen die Frühschicht?«

Sie antwortet etwas geistesabwesend und greift dabei nach ihren Habseligkeiten auf dem Tisch. »Ja, Frühschicht…«

Während Abel weiterspricht, wirft er beiläufig das Tablet fort.

»Am Nachmittag werden die neuen Ausstellungsstücke kontrolliert und katalogisiert. Nach deiner üblichen Schicht kannst du mithelfen.«

Senna, die nun eine Lederjacke trägt und mit einem Motorradhelm hantiert, ist schlagartig wieder bei der Sache. »Na klar, das lasse ich mir nicht entgehen! Laut Lieferschein sind in einer der Kisten Schwerter!« Ihre Augen gewinnen ein munteres Leuchten, das dem schlichten hellbraunen Farbton ihrer Iris einen ungewöhnlich intensiven, fast roten Glanz verleiht.

Er hebt unmissverständlich argwöhnisch eine Braue und entgegnet kühl. »Zerstöre nur nichts, bei deinem überströmenden Enthusiasmus.«

Sie sind jetzt am Tor der Lagerhalle angelangt. Der Direktor steht im Schatten des Eingangs und Senna neben ihrem blauen Café Racer, der an seinem angetrauten Platz direkt am Gebäude parkt.

Sie zieht sich den Helm über den Kopf und spricht nun etwas gedämpft, weil ihr die Polsterung die Backen komprimiert. »Schon klar. Machen Sie sich keine Sorgen.«

Sie hebt die Hand zum Gruß und fährt zunächst spielerisch im Slalom quer über den Parkplatz. Am Ende biegt sie auf die Hauptstraße ein und verschwindet aus dem Sichtfeld.

Abel, der immer noch im kühlen Schatten steht, sieht ihr mit ernstem Blick hinterher. Seine Augen blitzen wieder kurz hell auf, bevor er in der Lagerhalle verschwindet. Noch bevor sich das Tor gänzlich geschlossen hat, leuchtet etwas noch viel helleres zwischen dem letzten Spalt hervor. Ebenfalls nur für den Bruchteil eines Moments. Es öffnet sich nirgends mehr eine Tür.

Jetzt, wo die Sonne verschwunden ist, wartet Senna schon etwas fröstelnd vor dem sich eben hebenden Garagentor eines schlichten aber gepflegten Mehrfamilienhauses. Das Gebäude liegt in einer ruhigen Wohngegend am äußersten Rand der Kleinstadt Burg.

Seit Senna sich entsinnen kann, lebt sie hier mit ihrem Patenonkel im dritten und letzten Stockwerk. Keine sehr große Wohnung, aber groß genug für zwei Personen, zwei individuelle Privatsphären und mit einem gemütlichen Balkon.

Normalerweise ist Senna relativ resistent gegen Kälte, aber heute scheint die Feuchtigkeit des Herbstwetters selbst durch ihre - wie sie selber gestehen muss - nicht ideale Motorradkleidung zu dringen.

So kauert sie sich etwas unbeholfen auf der Maschine zusammen, um etwas mehr von der Wärme des heißen Motors durch die einfache Jeans zu spüren. Erleichtert lässt sie sich schließlich in das geschützte Garagenabteil rollen.

Im dritten Stockwerk angelangt, tritt sie in die wohlig warme Wohnung. Der Flair von praktischer, schwedischer Einrichtung findet sich in allen Ecken der nur bedingt aufgeräumten Wohnung wieder.

Senna wirft ihre Jacke auf einen Stuhl im Hausgang, den bereits ein kleiner Haufen Kleidung besetzt.

»Eirik, ich bin wieder da!«

Auf ihren gerufenen Gruß folgt prompt eine Antwort.

»Ich bin schon wieder tot! So ein Mist!«

Senna folgt dem frustrierten Ruf und schlendert ungerührt in das Wohnzimmer, wo ihr Patenonkel Eirik missmutig auf einer großen Stoffcouch inmitten des geräumigen Raumes lungert.

Sie wirkt belustigt, als sie sein trotziges Gesicht und die zerrupften blonden Haare sieht. Sein Männer-Bun sieht aus, als hätte eine Katze ihn mit einem Wollknäuel verwechselt.

»Der Elektro-Boss?«

Eirik grummelt verdrießlich. »Ja… so ein Bastard.«

Das Wohnzimmer ist der wärmste Raum der Wohnung und aus gutem Grund. Eigentlich bräuchten sie in diesem Raum an kalten Tagen gar keine Heizung. Der Fernseher, mit grob Sennas Körperlänge von knapp 170 cm Diagonale, erfüllt nach nur kurzer Laufzeit einen ähnlichen Zweck und bei Eirik läuft der große Bildschirm grundsätzlich länger. Im Sommer kann es oft sehr unangenehm werden, aber im Moment ist Senna die angestaute Wärme ganz recht.

Sie setzt ihren Weg in die kleine Küche fort, die wie ein zweiter, offener Bereich in das Wohnzimmer integriert ist. Mittels einer Durchreiche hat man das Zentrum des Raums und die Couch gut im Blick. Eirik schimpft in der Zwischenzeit weiter.

»Ich war so knapp davor, ihn klein zu kriegen!« Er gestikuliert vage mit den Fingern.

Senna beginnt damit, den Kühlschrank zu inspizieren und kommentiert eingespielt, »Oh Nein, welch ein Jammer.«

»Das ist dramatisch!« Eirik reißt den Controller in die Höhe. Zu seinem Glück ein kabelloser.

Die Kühlschrank-Inspektorin hat schließlich einen Topf entdeckt, dessen Inhalt ihr gefällt und der leidenschaftliche Spieler kommt für einen Moment wieder in der Realität an.

»Van Creyn hat dich heute lange im Museum behalten? Ist schon nach 21 Uhr.«

»Nein,« erwidert Senna. »Ich war noch mit Fabian und den anderen vom Museum auf einen Feierabend-Trunk im Pub.«

Sie steht jetzt an der Durchreiche, den Kochtopf mit Kürbiseintopf vor sich platziert und spart sich den Teller. Sie fügt knapp hinzu. »Ich habe morgen Frühschicht und bleibe dann noch länger.«

Von Eirik kommt nur ein abwesendes »Mhm…«, der wieder eifrig Tasten drückt und gar nicht mehr richtig zuhört.

Sennas Blick wandert zum Waschbecken und zu einem Geschirrtuch, das sehr unangenehm klamm und nass aussieht. Sie geht noch einmal auf Nummer sicher und dreht den Wasserhahn so blau wie möglich auf.

Im nächsten Moment wickelt sich klatschend das getränkte Tuch um Eiriks Kopf und verdeckt seine Augen.

Es endet in einem verzweifelten, theatralischen Schrei.

Der Nachthimmel ist bewölkt und nicht einmal der bläuliche Schein des Mondes schafft es durch die dichte Wolkendecke. Allein die Lichter der Stadt lassen die Unterseite der Wolken ein wenig unsauber orange erscheinen.

Es herrscht auch fast vollkommene Dunkelheit in der Wohnung von Senna und Eirik. Eine Ausnahme bildet nur das Wohnzimmer, das schwach durch eine kleine Tischlampe beleuchtet ist, die in ihrem Eck mutig den einnehmenden Schatten trotzen will.

Eirik steht in der Düsternis an der Balkontür und telefoniert, während er den Schemen einer Katze beim herumschleichen beobachtet. »Die Illusion wird instabil. Es wird von Tag zu Tag deutlicher.«

Eine knappe Antwort folgt aus seinem Handy. »Ich weiß.«

Eirik ist dieses Verhalten von seinem Gegenüber bereits gewohnt, deshalb fährt er einfach fort. »Es wird langsam Zeit zu handeln, meinst du nicht?«

Die zweite Antwort ist noch kürzer. Ein schlichtes, tiefes »Ja.« Fast ein subtiles Knurren.

Die Katze ist in der Dunkelheit verschwunden und Eirik lässt sich nicht beirren. Er gibt munter von sich, »Ich schlage ein gemütliches Kaffeekränzchen bei uns vor! Vielleicht hält es den Schrecken in Grenzen, wenn sie sich zumindest in ihrem gewohnten Umfeld befindet.«

»Hm. Ich melde mich morgen.« Daraufhin erklingt das „Klick“ des Auflegens und das eintönige Schweigen der toten Leitung.

Eirik blickt stirnrunzelnd auf sein Handy hinab und seufzt mit einem melodischen Brummen. Wortkarg oder nicht, er weicht ohne große Zweifel aus, so wie immer.

Als Senna am nächsten Morgen erwacht, ist etwas ganz und gar nicht richtig. Sie blinzelt verwirrt und reibt sich über das Gesicht, um den Schlaf und einen möglichen Traumzustand wegzuwischen. Bedauerlicherweise ändert sich nichts.

Sie befindet sich nicht mehr in ihrem Schlafzimmer, sondern in einem weitläufigen Raum mit einer Deckenhöhe, bei der einem schwindlig werden kann. Senna starrt angestrengt nach oben und kann nicht so recht begreifen, wie Wolken in einen Raum gelangen können.

Ihr kommen Gedanken an eine bestimmte Zauberschule in den Sinn und sie muss schmunzeln. Nur mühselig löst sie ihren Blick von der Decke und steigt aus dem Bett, nur um ohne Orientierung in eine Richtung zu gehen.

Es herrscht vollkommene Stille, abgesehen von den leisen Schritten ihrer blanken Füße auf dem Steinboden.

Sie stutzt in dem Moment, als sie ihre Aufmerksamkeit auf den Grund unter ihr richtet. Mit einem Mal fühlt sich der Boden an, als hätte er die Sonnenstrahlen eines ganzen Tages in sich aufgenommen. Durch die angenehme Wärme des Steins beschleicht sie ein seltsam vertrautes Gefühl und sogar ein skurriler Anflug von Geborgenheit, trotz der Leere Ihres Umfelds. Ehe Senna sich einen Reim daraus machen kann, schlägt das wohlige Empfinden in eine drückende und heiße Atmosphäre um, als würde gleich ein Sommergewitter niedergehen.

Dann bricht schlagartig der ganze Boden zusammen, begleitet von einem ohrenbetäubenden Kreischen.

Gleißend rote Flammen verschlingen den gesamten Raum, zusammen mit Senna.

Bereits beim plötzlichen Erwachen in ihrem einfachen Schlafzimmer mit moderater Deckenhöhe kann sie sich nicht mehr an den merkwürdigen Traum erinnern.

Sie blinzelt benommen die Decke an und wundert sich nur über ihr sehr schnell pochendes Herz, als wäre soeben ein Schock durch ihren Körper gefahren.

Allmählich beruhigt sich ihr Puls wieder und nun wartet sie darauf, dass sich ihre Beine von selbst aus dem Bett bewegen. Da dies leider nicht eintritt, rollt sie sich schwerfällig von der Matratze, um in einen Tag zu starten, bei dem ein zäher Verlauf vorprogrammiert ist.

Der Alltag nimmt nichtsdestotrotz seinen gewohnten Lauf und im Museum herrscht ruhiger, routinierter Betrieb.

Wie vorhergesehen, zieht sich für Senna der Tag wie zu lange gekauter Kaugummi. Ihr ist nicht direkt langweilig, während sie hier und da die üblichen Botengänge zwischen den Abteilungen erledigt und zwischendurch Zeit findet, ihren eigentlichen Aufgaben nachzugehen. Dennoch erscheint ihr jede Stunde surreal lang.

In der Ausstellung sagenhafter Gemälde beobachtet die junge Frau eher geistesabwesend, wie Direktor van Creyn eine noch viel finstere Miene als sonst schneidet, während er ein Bild mit einem Drachen schlachtenden Barbaren betrachtet. Man kann fast den Eindruck gewinnen, dass er sich von der Darstellung persönlich angegriffen fühlt.

Senna beschleicht ein seltsam vertrautes Gefühl, als sie dem großen Mann zusieht. Irgendwo hatte sie so ein Empfinden schon einmal. Vielleicht in einem kürzlichen Traum? Sie schüttelt den Kopf, um sich aus ihren Träumereien zu reißen.

Nach gut fünf Jahren stellt sich schließlich eine Art von Vertrauen ein, obgleich der verschlossene Direktor selten etwas allzu persönliches von sich preisgibt. Wahrscheinlich bekommt Senna noch am meisten von seinen Eigenheiten mit, da sie sehr oft mit ihm zusammenarbeitet.

Da wäre zum Beispiel seine Vorliebe für Töpfe. Pardon, antike und historisch wertvolle Handwerkskunst aus keramischer Masse.

Nach einem abschließenden Abstecher als Aufsicht an der Kasse hat Senna ihre Schicht für heute beendet und sich zu den vier Lageristen in die Lagerhalle gesellt. Mittlerweile sind die Deckel aller Kisten geöffnet und Holzspäne haben sich wie Konfetti über den ganzen Boden verbreitet.

Während Senna zwei Listen halbherzig miteinander vergleicht, schweift sie immer wieder ab und nimmt nur selektiv ihre Umgebung wahr. Ihr steigt der Duft des Holzes in die Nase, während das Geschnatter der anderen wie die Hintergrundmusik in einem Fahrstuhl ihr durchdringt. Dann sieht sie nur noch den Kontrast der schwarzen Buchstaben auf dem weißen Papier. Alles um sie herum verschwimmt und sie hat das Gefühl, gar nicht wirklich anwesend sein. Ganz so, als wären Körper und Kopf betäubt, oder gar voneinander getrennt.

Deshalb bekommt sie es gar nicht wirklich mit, wie einer ihrer Kollegen schwungvoll zum Tisch in der Mitte eilt, wo sich die Museumsbesatzung versammelt hat und sich bereits Ordner und Papiere stapeln. Er legt obenauf zwei Gruppenfotos, damit alle sie gut sehen können und ihre eigentliche Arbeit in den Hintergrund geschoben wird.

»Ich habe die Mitarbeiterfotos der letzten Jahre im Archiv gefunden!« Er deutet aufgeregt auf das erste Bild. »Das ist von diesem Jahr und das andere ist von vor 16 Jahren.« Er blickt bedeutungsvoll in nicht beeindruckte Gesichter, was aber seinen Enthusiasmus nicht mindert. »Damals hat van Creyn hier angefangen. Fällt euch etwas an unserem heutigen Direktor auf?«

Jetzt wird zumindest ein Augenpaar groß. Anna, das Mädchen von der Kasse, wird gleich ganz aufgeregt.

»Wahnsinn! Er sieht auf beiden Fotos genau gleich aus!«

Fabian, der Fotofinder, nickt energisch. »Er hat sich überhaupt nicht verändert. Nicht einmal ein graues Haar und bei der tiefschwarzen Mähne müssten die auffallen. Ich schätze, er war Ende 20, höchstens 30, als er hier angefangen hat. Also sollte er jetzt in einem Alter sein, wo man die ersten Anzeichen sehen müsste! Ich hab ihn heute bei jeder Gelegenheit beobachtet, um ganz sicher zu gehen und konnte kein einziges weißes Haar entdecken. Nur von seinem bösen Blick die Falten auf der Stirn, die er aber schon seit immer hat.«

»Bist du sicher?! Wie gemein! Ich will auch ewige Jugend!« Die quirlige Anna ist ganz in ihrem Element, zu tratschen.

»Vielleicht ist er ja ein Vampir!« Fabian spekuliert in einem, wie er hofft, mysteriösen Tonfall und gestikuliert anschaulich, bevor er Senna einen verstohlenen Blick zuwirft. »Was sagt denn seine persönliche Assistentin dazu? Hast du schon einmal seine Fangzähne erspähen können oder deckst du ihn vielleicht sogar, wenn er einer Jungfrau an den Hals geht?«

Der plötzliche Themenwechsel und vor allem, so direkt angesprochen zu werden, reißt Senna aus ihrem Delirium. Während Anna aufgeregt quietscht, blinzelt sie Fabian schlichtweg überrascht und irritiert an.

Die anderen beiden Kollegen, Julia und Thomas, verdrehen nur mit einem leichten Schmunzeln die Augen. Sie kennen diese kleinen, harmlosen Spinnereien von Fabian allzu gut.

Ausgelassen spinnt er seine Gedanken weiter. »He, du siehst aus, als hättest du eine Gehirnwäsche hinter dir. Verdächtig, verdächtig!« Er schnippt mit den Fingern. »Habt ihr ihn schon mal außerhalb des Museums gesehen?«

Thomas seufzt leise und zuckt desinteressiert mit den Schultern, während er leicht raunend entgegnet, »Nein, aber so wie er aussieht, verbringt er seine Zeit außerhalb vom Museum ausschließlich beim Pumpen im Fitnessstudio.«

Julia grinst schief. »Kann ich mir glatt vorstellen. Sein Bizeps ist recht ansehnlich. Mich würde interessieren, was er vorher gemacht hat. Er ist nicht aus dieser Gegend, oder?« Sie blickt in ahnungslose Gesichter und Thomas zuckt erneut mit den Schultern.

Ihnen nähert sich beinahe verstohlen ein großer, stiller Schatten, gefolgt von einer angespannten Präsenz.

Auf einmal wirken Julia und Thomas wieder sehr beschäftigt und ernst. Fabian fällt die Veränderung nicht auf, der zu sehr in Fahrt ist. Den Einwurf von Thomas und Julia hat er scheinbar gar nicht mitbekommen.

»Dann seine Augen! Manchmal leuchten sie ganz seltsam hell und verdächtig. Ganz und gar nicht normal. Wenn ihr mich fragt…!«

»…Solltest du besser auf der Hut sein. Vielleicht beiße ich, wenn die Arbeit nicht zeitgemäß erledigt wird.« Schließlich hat der Schatten mit den streng verschränkten Armen genug gehört und die tiefe Stimme von Direktor van Creyn schneidet Fabian ruhig und kühl, so wie man es von ihm kennt, das Wort ab.

Sowohl Fabian als auch Senna, die schon länger wieder abgeschweift ist, zucken schlagartig vor Schreck zusammen.

Senna muss sich lediglich von der Überraschung erholen, während der etwas zu laute Lagerist bleich geworden ist.

Er wagt es nicht, sich umzudrehen und dem durchdringenden Blick von Abel van Creyn zu begegnen. Würde man aber in diesem Moment das Gesicht des Museumsdirektors wissenschaftlich genau analysieren, könnte man ein unmerkliches, amüsiertes Grinsen erkennen.

Wenn man will, hört man wieder das Ticken der in jedem Raum einheitlichen Uhr. Es ist bereits nach 18 Uhr, als die Belegschaft ihre Arbeit beendet. Die Letzten, die das Museum verlassen, sind Senna und Fabian.

Sie stehen am Haupttor der Empfangshalle und Fabian hat bereits eine Hand auf der Türklinke.

Senna gestikuliert auf eine Tür hinter den Kassen. »Mein Motorrad steht wieder beim Lagertor, also gehe ich hinten raus.«

Fabian winkt und drückt jetzt die Tür auf. »Alles klar, komm gut nach Hause und versuch, nicht zu sehr zu träumen.«

Er schickt noch ein schiefes Grinsen hinterher. Sie versichert pflichtbewusst, vorsichtig zu sein, winkt ebenfalls und steuert auf die mit „No Entry, Staff only!“ ausgeschilderte Brandschutztür zu, durch die sie über einen langen, engen Gang zu einer weiteren, massiven Schutztür in die Lagerhalle gelangt.

Bei ihrem Café Racer angekommen, hält sie für einen Moment inne und genießt die kühle, herbstliche Nachtluft. Der frische Wind, der ihr über das Gesicht streicht und ihre Haare noch ein wenig mehr zerzaust, ist eine richtige Wohltat. Er scheint die Benommenheit des Tages hinweg zu pusten.

Sie holt noch einmal tief Luft und stülpt sich den beklemmenden Motorradhelm über den Kopf.

Zur gleichen Zeit steht Abel van Creyn in Gedanken vertieft in seinem Büro am Fenster und blickt durch die nur halb geöffneten Schlitze der Rollläden. Obgleich eher sein versunkener Geist der Grund ist, weshalb er die dunkel werdende Welt draußen nicht deutlich sieht.

Mit enormem Widerwillen muss er sich eingestehen, dass er verunsichert ist. Ihm ist klar, dass etwas geschehen muss, und zwar bald, aber vielleicht kann es nicht schaden, noch einen oder zwei Tage zu warten. Die anderen wissen zumindest schon, dass das heimliche Spielchen bald ein Ende haben wird und im Prinzip ist ihm das auch ganz Recht. Das Pendeln geht Abel allmählich gehörig auf den Geist. Man wird immer im falschen Moment auf der anderen Seite gebraucht… Außerdem ist dieser Ort viel zu einschränkend für seinen Typ.

Seine Gedanken werden vom bekannten Dröhnen eines Motors unterbrochen. Er lauscht dem Motorradgeräusch, während es sich entfernt.

Die primär in ihm rumorende Frage ist eigentlich, was kommt danach auf sie zu? Wie soll er sich verhalten?

Er wird erneut unterbrochen. Dieses Mal vom Klingeln seines Telefons. Beim Anblick der Nummer geht eine seiner Brauen skeptisch nach oben und er hebt wenig begeistert ab.

»Ich sagte doch…!«

Eiriks aufgeregte Stimme unterbricht Abel ungehalten.

»Abel, hör zu! Ein Eile ist durch ein Portal geschlüpft und zwar im Wald, der auf Sennas Heimweg liegt! Wo ist sie?!«

Etwas Unförmiges kriecht unsicher und wankend durch den Wald. Es streift an einem Baum entlang und hinterlässt mit seinen Krallen unter splitternder Baumrinde grobe Spuren im Holz.

Es torkelt ziellos und irritiert weiter voran, schlägt hier und dort Schneisen ins Unterholz und zieht sich schließlich mühselig eine Böschung empor.

Senna fährt gemächlich ihre gewohnte Route durch den Wald und genießt die kühle, nach Blättern und Erde duftende Herbstluft.

Sie hat mit Absicht das Visier von ihrem Helm ein Stück offen gelassen, um den vollen Luftzug zu spüren, auch wenn ihre Augen dabei etwas zu sehr tränen.

Der Herbst ist definitiv Sennas liebste Zeit des Jahres. Wer könnte auch, neben den erdigen Düften und dem warmen Licht der emsigen Erntezeit, den Kürbissen widerstehen?

Das besagte goldene Herbstlicht hat schon längst seine letzten Strahlen durch den Wald dringen lassen und nur mehr die Scheinwerfer des Motorrads erhellen die wenig befahrene Waldstraße.

Sie biegt um eine Kurve und genießt das Gefühl des Fliegens, während sie in der Schräglage der Schwerkraft trotzt. Sie denkt allmählich darüber nach, ihr Visier zu schließen und hebt schon die Hand vom Lenker, da fällt das Licht auf eine kriechende Gestalt auf der Straße, die direkt den Blick auf die herankommende Motorradfahrerin richtet.

Sie kann kaum abbremsen - was in Schräglage auf feuchtem Boden und ohne der Hand auf dem Kupplungshebel so eine Sache ist - geschweige denn einen Satz denken, da schießt ihr die Gestalt in einem mächtigen Sprung entgegen.

In diesem kurzen Moment erkennt sie nur eine fürchterliche, langgezogene Fratze mit hervorquellenden, blutunterlaufenen Augen.

Zähne blitzen auf und das Wesen kracht mit voller Wucht gegen ihr Motorrad.

Die sonst recht sichere Fahrerin kommt aus der Spur und die Reifen rutschen auf dem nassen Laub weg. Senna fliegt von der Maschine und überschlägt sich. Sie landet so hart mit dem Rücken auf dem Asphalt, dass ihr für einen Moment die Luft aus den Lungen gepresst wird und das schmerzerfüllte Keuchen noch in der Brust stecken bleibt.

Nach gefühlt ewig langen Sekunden ohne einen Atemzug, zieht sie wieder scharf die Luft ein. Benommen und schnaufend murmelt sie etwas von, »Sollte über bessere Motorradmontur nachdenken…«

Jetzt kehrt auch das Gefühl in ihren Körper zurück und sie spürt die nasse Kälte des Bodens bis tief in ihre Knochen kriechen. Aber ist das wirklich nur die Kälte?

Senna setzt sich schwerfällig auf, zuckt dabei leicht zusammen und zieht sich den Helm vom Kopf. Ein leichtes Kitzeln über ihrer Braue verrät das feine Rinnsal Blut, das aus einer leichten Platzwunde an ihrer Stirn hinab läuft. Sie achtet aber nicht lange darauf.

Ein hässliches, kratzendes Geräusch, untermalt von einem animalischen Knurren, jagt ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken, der nichts mit dem klammen Boden zu tun hat. Dazu versetzt ihr das Entsetzen einen Stich in den Magen.

Was zum Teufel ist das? Sie starrt das Wesen an, das grob das Motorrad von sich fort schiebt, das auf ihm gelandet ist.

Es fixiert Senna aus heimtückischen, angriffslustigen Glupschaugen. Eine merkwürdige Mischung aus violettem Blut und Speichel rinnt dem Monster aus dem Maul. Die Kamikaze-Kreatur rappelt sich mit seinen feingliedrigen Armen, die fast so lang wie sein Körper sind, unkoordiniert auf. Dabei gibt es ein ersticktes Gurgeln von sich und verteilt seinen blutigen Speichel auf der Straße.

Die Erscheinung hat beinahe etwas menschliches wären da nicht die kaum proportionalen Deformationen und die Schuppen.

Senna weicht hektisch und auf den nassen Blättern rutschend zurück. Sie flucht leise, als ihr Fuß auf dem nassen Untergrund davon gleitet und sie hart auf ihrem Ellbogen landet. Sie schafft es dennoch, den Blick unverwandt auf die bedrohliche Kreatur zu heften, die sich ihr stetig nähert.

Die dramaturgische Belichtung von unten aufgrund des Motorradscheinwerfers mildert die Erscheinung der Kreatur keineswegs.

Sie hat das Gefühl, als würde ihr Herz auf Höhe des Kehlkopfes einen schnellen, irischen Stepptanz aufführen.

In ihrem panischen Fokus auf die monströse Gestalt blendet Senna alles um sich herum aus, bis unnatürlich laut das Brummen eines Motors ihre Aufmerksamkeit gewinnt. Einen kurzen Moment später erscheinen die Lichter von Autoscheinwerfern, die direkt auf das Wesen und sie gerichtet sind.

Beide erstarren wie zwei verschreckte Rehe, doch das Auto beschleunigt signifikant.

Das sabbernde Ding kann nur noch den Kopf drehen, dann klebt es schon auf der Windschutzscheibe und fliegt über das Autodach hinweg. Ruckartig hält das schwarze Auto neben Senna, die noch immer wie versteinert auf der Straße sitzt und höchstens noch der Tanzeinlage ihres Herzens ein bisschen Beachtung schenkt.

Das Fahrzeug hat einen ansehnlichen, gesprungenen Kreis an der Scheibe, so wie die eine oder andere Delle auf der Motorhaube und dem Dach abbekommen. Das Wesen jedoch, das mit einem schwungvollen Aufschlag auf dem harten Asphalt gelandet ist, wirkt wie ein unheilbar gestauchter Haufen und rührt sich nicht mehr.

Die Autotür öffnet sich und Abel van Creyn, dem lädierten Etwas zugewandt, steigt aus dem Fahrzeug. »Das hat besser funktioniert als erwartet. Stabiles Transportmittel, dieses Auto.«

Senna blinzelt verdutzt und etwas benebelt zu dem großen Mann hinauf. Langsam sinkt ihr Adrenalinspiegel und macht Platz für die schockierende Wirkung des Unfalls und der skurrilen Situation.

Sie fröstelt und eine Gänsehaut jagt ihren Rücken hinauf, während sich eine bekannte Taubheit verstohlen in ihrem Körper breit macht.

»Direktor van Creyn?«

Er richtet seinen kühlen, nichtssagenden Blick auf sie hinab.

»Du darfst mich beim Vornamen nennen. Bist du unversehrt?«

»Ich- weiß nicht…« Vor Sennas Augen beginnen Sterne zu tanzen, nachdem sich ihr Herzschlag etwas beruhigt hat.

Sie versucht erfolglos zu ignorieren, dass ihr Sichtfeld enger wird. Die junge Frau nimmt schon gar nicht mehr wahr, dass sie mit durchweichten Klamotten auf einem kalten und nassen Boden sitzt. Nur ihr Körper scheint davon durchaus Notiz zu nehmen und beginnt zu zittern.

Die sehr schnell dichter werdende Dunkelheit und die munter tanzenden Sterne verdrängen schlussendlich effizient ihr Bewusstsein.

Abel betrachtet sie für einen Moment stumm von oben, dann richtet er die Aufmerksamkeit auf das gefaltete Etwas auf der Straße.

Der große Mann hebt mit kühler Miene den Arm. Seine Augen leuchten nun ganz klar in einem kräftigen, hellen Bernsteingelb.

Auf einmal züngeln blaue Flammen um seine ausgestreckte Hand, die seinen Arm empor lecken und den Stoff seines Anzugärmels verkohlen, aber seine Haut darunter unversehrt lassen.

Er nähert sich mit bestimmten Schritten den Überresten der Kreatur, die stechenden, reptilienartigen Augen in kalter Abscheu darauf fixiert.

Gedämpfte und vertraute Stimmen dringen bruchstückhaft an Sennas Ohr. Sie versteht zwar noch kein Wort, aber sie beginnt Details wahrzunehmen. Zum Beispiel ist der Untergrund weich und bequem, also liegt sie offenbar nicht mehr auf nassem Laub und kaltem Asphalt. Ihre Nase teilt ihr jetzt auch mit, dass jemand Kürbiseintopf aufgewärmt hat. Sie beschleicht ganz langsam ein vages Gefühl von Enttäuschung. Vermutlich ist der Topf jetzt leer.

Schließlich kehrt ihr Bewusstsein wieder soweit zurück, dass sie das Gesprochene im Hintergrund auch versteht.

»Bist du dir sicher, dass sie okay ist? Sie sieht noch immer so blass aus…«

»Ja, ich bin mir sicher.«

Die knappe und kühle Antwort findet ihren Ursprung unverkennbar bei Direktor van Creyn - also, neuerdings Abel - und beim Gedanken an ihn kehren auch die restlichen Erinnerungen zurück. Sie ist kopfüber von ihrem Racer geflogen und zwar wegen einem - Was war das eigentlich? Sicher kein Tier.

»Und wenn sie doch schlimmer verletzt ist? Kopfverletzungen sind tückisch.«

»Eirik, du vergisst anscheinend, was sie ist.«

Senna öffnet nun die Augen und erblickt über sich Eiriks Profil. Von weiter vorne erklingt Abels typischer, barscher Tonfall.

»Reiß dich zusammen! Du verhältst dich wie eine Glucke.«

»Verzeihung, dass ich mich um sie sorge! Ich habe sie schließlich großgezogen, während du dich halb aus der Affäre gezogen hast!« Eiriks Empörung lässt seine Stimme etwas höher werden.

Senna erspart Abel eine Entgegnung, indem sie sich vorsichtig aufsetzt und meint, »so schlimm ist Eirik auch wieder nicht…«

Voller Erleichterung umarmt ihr Ziehvater sie sogleich überschwänglich. »Senna! Das ist mein Mädchen!«

»...zumindest meistens.« Sie windet sich aus seiner Umklammerung und drückt ihn sanft von sich weg. Mit milder Überraschung stellt sie fest, dass der Unfall kaum Spuren hinterlassen hat. Nur ein leichtes Ziehen über der Braue und das aufgescheuerte Knie der Jeans zeugen davon, dass sie sich vor kurzem kopfüber von ihrem Motorrad gestürzt hat. Ihre Aufmerksamkeit gilt einer viel dringenderen Angelegenheit.

Sie lässt den Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Abel steht mit verschränkten Armen bei der Balkontür. Sennas Augen bleiben direkt an ihm hängen und er begegnet ihrem eindringlichen Blick stumm und ausdruckslos.

Als wäre dies eine passive Aufforderung, beginnt Senna ohne Umschweife zu sprechen. »Was hat mich da angegriffen?«

Abel gibt zunächst keine Antwort. Er steht weiterhin ungerührt da, aber er dreht den Kopf weg und späht nur noch von der Seite herüber.

Eirik fixiert ihn streng. »Abel, das ist jetzt dein Part!«

Senna bleibt nicht viel Zeit, um über Eiriks Worte verwirrt zu sein, denn Abel öffnet den Mund. Ihr Erstaunen gilt nun ganz und gar ihm.

»Das war ein Eile. Eine Kreatur aus einer anderen Welt.« Er macht eine kurze Pause, während er die Arme streng verschränkt hält und sich keine Gefühlsregung anmerken lässt. »Eirik und ich sind auch von dort. Diese Parallelwelt heißt Mundus.« Er zögert erneut und dieses Mal huscht der Schatten einer undurchsichtigen Regung über sein Gesicht. »Auch du stammst aus dieser Welt.«

Auf diese kurze und extravagante Erläuterung folgt eine angespannte Stille. Senna beschleicht das Gefühl in einen Witz geraten zu sein, den sie nicht versteht.

In ihr breitet sich wieder eine seltsame Taubheit aus und ihre Miene ist ausdruckslos, als sie schließlich kommentiert. »Ich bin wohl heftiger auf den Kopf gefallen, als ich dachte…«

Abel hebt missbilligend eine Braue. Dann eben auf dem praktischen Weg. Der ist ihm ohnehin sympathischer.

Nach wie vor mit erhobener Braue wirft er Eirik einen unmissverständlichen Blick zu. Für Abels Geschmack grinst der etwas zu ausgelassen und voller Vorfreude zurück.

Stirnrunzelnd hält Senna ihre Aufmerksamkeit noch für einen kurzen Moment auf Abel gerichtet, dann dreht sie ihren Kopf ihrem Patenonkel zu.

Entsetzt schnellt sie zurück und klammert sich an die Rückenlehne der Couch. »Holla, die Waldfee!?«

Ein Eirik mit gräulicher Haut, langen, spitzen Ohren und violetten Augen grinst sie unverändert verschmitzt an. Von seiner ursprünglichen Gestalt sind nur die blonden Haare geblieben.

»Keine Waldfee. Ich bin ein Eisalb und kann Portale erschaffen. Deshalb bin ich hier, um ein Auge auf sie zu haben und wenn nötig, Durchgänge zwischen den Welten zu öffnen oder zu schließen.«

Die Worte sprudeln munter aus ihm heraus, denn seit Jahren hat er auf den Moment der Enthüllung gewartet. Eirik lächelt unentwegt bis über beide Ohren, während er aufgeregt wie eine kleiner Junge mit einem Überraschungsset voller Sammelkarten in den Händen, auf weitere Reaktionen seiner Ziehtochter wartet.

Senna findet keine Erwiderung. Sie kann den starren Blick nur mühsam von dem neuen Erscheinungsbild ihres nun fremd wirkenden Patenonkels lösen, aber schließlich dreht sie sich Abel in der Erwartung zu, mehr spitze Ohren und seltsame Hautfarben zu erblicken.

Er steht nach wie vor als Mensch mit schlichten, schwarzen Haaren da. Jedoch fällt ihr jetzt auf, dass seine Augen unnatürlich hell geworden sind. Ein intensiver bernsteinfarbener Gelbton. Sie hat den Eindruck, als würden sie glühen und bis auf die Rückseite ihres Hinterkopfs starren.

Sie bringt etwas stockend hervor, »Und- und du? Was bist du?«

Abel antwortet wieder einmal nicht mit Worten.

Mit immer größer werdenden Augen sieht Senna entgeistert zu, wie sich seine langen Haare in einem fließenden Übergang von Schwarz in ein dunkles und dezentes Smaragdgrün verwandeln. Seine Ohren werden zwar kaum merklich länger, wachsen aber am Ende spitz zusammen und bilden leichte Kerben am Rand. Die Pupillen in seinen leuchtend gelben Augen formen sich zu Schlitzen, gleich einem Reptil. Die Nägel werden länger, krallenartig und aus seinem Kopf, etwas oberhalb seiner Schläfen, wachsen zwei lange, leicht nach innen gebogene Hörner.

Eirik hebt bei dem Anblick anzüglich die Brauen. »Oh, sogar mit Hörnern. Ich bin beeindruckt.«

Der neuerdings gehörnte Museumsdirektor würdigt ihn keines Blickes und richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf Senna, die mit offenem Mund dasteht.

Mit der Annahme, dass der geheimnisvolle Museumsdirektor ein Vampir ist, lag Fabian etwas daneben. Nicht aber mit der Vermutung, dass etwas an dem großen Mann verdächtig und ungewöhnlich ist. Vor Senna steht nun die Lösung des Rätsels.

Abel seufzt genervt und ungeduldig. »Beenden wir das Theater.« Er hebt die rechte Hand und leuchtende Runen schlingen sich zu einer immer größer werdenden Spirale um sie. Im selben Augenblick erstrahlt ein Oval aus Licht auf Sennas Stirn, das an ein Auge erinnert, um kurz darauf wieder gleißend zu zerspringen. So schnell wie die leuchtenden Symbole um Abels Hand aufgetaucht sind, verschwinden auch sie wieder.

Eine erwartungsvolle Stille herrscht im Zimmer. Eirik und Abel beobachten Senna. Die starrt wiederum ohne ersichtliche Reaktion Abel an.

Dann zuckt sie mit den Schultern und hebt die Hände auf Schulterhöhe. »Okay, das war… seltsam. Unterstreicht diese absurde Situation.« Sie wechselt in eine eher schnippische Haltung. Allmählich wird ihr alles zu bunt. »Wozu war der Spezialeffekt gut?«

Wortlos, aber mit einem ungeduldigen Blick dreht Abel ihren Kopf mit einer Hand in Richtung des Spiegels an der hinteren Wand. Sie ist im ersten Moment so überrascht über seine Handlung, dass sich ihr Körper nur verzögert mitdreht.

Senna blickt zunächst unbeeindruckt in das Glas, in Erwartung ihres genervten und konfusen Spiegelbildes, doch ihr blinzelt eine Überraschung entgegen.

Ihre Augen verengen sich skeptisch, während sie ein fremdartiges Abbild betrachtet, das neben der neuen, seltsamen Erscheinung Abels steht. Auch das Spiegelbild kneift misstrauisch die Augen zusammen.

Dann begreift Senna und sie, als auch das Abbild, reißen erschrocken die Augen auf. »Das bin Ich!?«

Ihre Haare haben jetzt einen gedämpften Blauton angenommen und ihre Augen leuchten in einem satten Rubinrot. Selbst ihre Ohren gleichen denen von Abel.

Senna blickt weiter ungläubig auf das, was ihr im Spiegel auf glei - che weise entgegen starrt und ihre Gedanken rasen.

Ist das hier gerade real? Das kann nicht sein! Ist alles, wovon sie ausgegangen ist, ein Trugbild?

Wieder einmal hat sie das Gefühl, als würde ihr Körper nicht wirklich zu ihr gehören. Dieses Mal aus einem recht ersichtlichen Grund.

Sie beobachtet sich selbst im Zustand eines distanzierter Zuschauers, wie ihre Hände an ihre geröteten Wangen wandern und spürt nur die Hitze der Aufregung.

Sie hat sich schon immer irgendwie fremd gefühlt und anders, aber solche Individuen sind nicht selten. Schließlich entwickelt man sich immer weiter - zumindest in der Regel - und wird unweigerlich mit Veränderungen konfrontiert.

Man fühlt sich fehl am Platz, bis man den Ort gefunden hat, an dem man mit Überzeugung sagen kann, da gehöre ich hin! Selbst dann kann immer ein Funke Skepsis durch den ständigen, launischen Wandel des Lebens entfacht werden. Die einen verspüren dies ausgeprägter als andere, aber dass sie auf einmal aus einer anderen Welt stammen soll? Das kann doch nur ein absurder Traum sein!

Abels Stimme erklingt für Senna wie aus weiter Ferne und sie kann kaum die gesprochenen Worte wahrnehmen.

»Dein richtiger Name lautet Crescentia van Glays. Wir gehören zur Gattung der Drachen. Drachen der jungen Generation, um genau zu sein.«

Senna dreht halb den Kopf, ohne dabei die Augen von ihrem Abbild zu lassen. »Was?«

»Es ist an der Zeit, dass wir gehen.«

»Halt! Stopp!« Jetzt durchfährt Senna ein kalter Stich und ihr Entsetzen gilt ganz und gar dem großen Mann vor ihr. »Gehen?! Wohin!?« Als sie den Blick zu ihm empor richtet, kommt er ihr seltsamerweise noch viel größer vor.

Er verschränkt wieder die Arme und hebt fast vorwurfsvoll eine Augenbraue. »In unsere Welt. Dachtest du etwa, du könntest dein Leben jetzt wie gewohnt hier fortsetzen?«

»Ich… Momentan fällt mir das Denken etwas schwer.« Ihre Stimme versagt und die kurzzeitig aufbrausende Aufregung schlägt in eine niedergeschlagene Hilflosigkeit um.

Er zeigt keinerlei Reaktion auf ihre Antwort und wendet sich stattdessen an Eirik. »Ein Portal, bitte.«

Ehe dieser etwas entgegnen kann, und seinem angespannten Blick nach zu urteilen liegt ihm etwas auf der Zunge, findet Senna wieder Worte und sie sprudeln mit wachsender Verzweiflung aus ihr hervor.

»Wieso kann ich nicht wie Eirik hier bleiben? Ich verstehe das alles nicht…«

Eirik legt ihr väterlich die Hände auf die Schultern und hofft, die Situation ein wenig zu entschärfen. »Weil es mein Job ist, hier zu sein. Ich muss darauf achten, dass alles auf seiner Seite der Dimensionen bleibt.«

Senna fällt ihm hastig ins Wort. »Ich könnte das doch auch tun!?«

Eirik schüttelt den Kopf und streicht ihr sanft über die Stirn, wobei er an ihrer Schläfe verharrt. Er lächelt beschwichtigend.

»Nein, Senna. Du musst jetzt in unsere eigentliche Heimat zurück, damit du dich richtig kennenlernen kannst. Es ist notwendig...«

Senna drückt ihn trotzig von sich weg. »Ich soll jetzt einfach so mein ganzes Leben wegwerfen? Ich verstehe das alles nicht! Wieso habt ihr mich in das verwandelt!?« Jetzt hat sie neben der Verwirrung und der Verzweiflung auch der Ärger eingeholt, der ihre Stimme anhebt.

»Falsch.« Abel begegnet ihrem langsam aufbrausenden Gemüt kühl und belehrend, was in Senna kurz einen Nerv zucken lässt.

»Das ist dein wahres Wesen. Ich habe deinen Geist all die Jahre lang mit einer Illusion getäuscht. Doch alles hat seine Grenzen und das Trugbild ist brüchig geworden. Erneuern ist nicht mehr möglich. Außerdem ist die einhergegangene Unterdrückung deiner Seele noch nie in so einem Ausmaß erzwungen worden.« Er hält kurz inne. Falls überhaupt jemand dieses extreme Wagnis jemals eingegangen ist. Er bezweifelt es... »Mehr als 22 Jahre lang war deine Seele passiv. Man weiß nicht welche Auswirkung eine plötzliche, unkontrollierte Freilassung deines Manas bewirkt hätte und Konsequenzen sind auch so nicht auszuschließen.«

Während Abel spricht, sieht Senna ihn mit zunehmend glasiger werdendem Blick an und der leicht offen stehende Mund unterstreicht ihre verwirrte Erscheinung.

Unterdrückte Seele? Mana? Eine Illusion? Gerade das Wort Illusion versetzt ihr irgendwie einen Stich in den Magen.

Eirik legt einen Arm um sie und drückt sie an seine Seite. »Momentan klingt das alles noch sehr kryptisch für dich, ganz klar. Aber mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit kommt alles von allein. Wahrscheinlich fühlt es sich dann sogar ganz natürlich an. Du wirst sehen!«

Ihm begegnet ein sehr ungläubiger und beinahe missmutiger Blick. »Ich bin offenbar nicht, wer ich mein ganzes Leben lang dachte zu sein?«

Eirik schenkt ihr ein ernstes und fürsorgliches Lächeln. »Das stimmt nicht. Wer du bist, ist nicht von dem Was abhängig. Dein Verhalten und dein Handeln sind ausschlaggebend. Vergiss das nicht.«

Senna starrt jetzt finster auf den Boden, während die zwei Männer sie gespannt beobachten. Zumindest bei Eirik kann man von einer Anspannung sprechen. Abels starre Miene stellt wie immer ein Rätsel über sein eigentliches Empfinden dar.

Nach einem Moment der Stille richtet sie den Blick auf den drakonischen Museumsdirektor.

»Habe ich eine Wahl?«

Er antwortet lakonisch, ohne zu zögern und ohne einen Hauch von Mitgefühl.

»Nein, die hast du nicht.«

Eirik steht mitten im Wohnzimmer, hebt beide Arme und wie zuvor bei Abel, leuchten Runen auf. Sie schlingen sich träge in kreisförmigen Spiralen um seine ausgestreckten Glieder. Sein Gesicht wirkt dabei ungewöhnlich blank, als würde er sich von allem lösen, um sich absolut auf eine Sache zu fokussieren.

Fast gemächlich und nur von einem leisen Surren begleitet, zuckt ein weißer Blitz senkrecht durch den Raum vor Eirik. Dann öffnet sich mitten in der Luft ein fransiger Riss, der weit genug aufklafft, um eine Person durchzulassen.

Lichter tanzen wie kleine Blitze um die surreale Öffnung und das Zentrum führt in vollkommene Schwärze. Das Portal macht keine Geräusche oder gibt anderweitige Erkennungszeichen von sich. Wenn man die Augen schließt, würde man es gar nicht bemerken.

Sennas Verwirrung und die Entgeisterung werden durch das schwarze Loch in ihrem Wohnzimmer nicht verringert.

Eirik wischt zufrieden die Hände aneinander ab, als hätte er nur Mal eben einen staubigen Vorhang zur Seite geschoben, dann dreht er sich mit einem sanften Lächeln zu seiner Ziehtochter um.

Wortlos umarmt er Senna fest, betrachtet sie einen Moment lang, wobei er ein leises, wehmütiges Seufzen nicht unterdrücken kann und schiebt sie vor das Portal.

Senna fühlt sich wie ferngesteuert und betäubt. Sie stolpert mehr schlecht als recht vorwärts, den Blick halb auf Eirik gerichtet, dann wandern ihre Augen widerstrebend zum Portal.

Abel, der zuvor wartend an der Seite gestanden hat, schleicht ruhig wie ein Raubtier näher und stellt sich unbemerkt hinter sie.

Er hat die zu langen Krallen und die Hörner wieder verschwinden lassen und wirkt, abgesehen von wenigen Details, wieder fast wie ein normaler Mensch.

Jetzt, wo sie direkt vor dem Portal steht, nimmt Senna einen leichten Luftstrom wahr, der sie sanft in Richtung der schwarzen Leere ziehen will.

Ein trotziger Automatismus will sie wieder zurückweichen lassen, doch da spürt sie den Widerstand einer flachen Hand an ihrem Rücken. Ehe sie sich versieht, schubst Abel sie schwungvoll nach vorne, direkt hinein in das Portal.

Eirik blinzelt perplex und starrt ein bisschen entgeistert in die schwarze Leere, die Senna vollständig verschluckt hat. »Also wirklich, Abel… das war grob.«

Abel zuckt gleichgültig mit den Schultern und geht ebenfalls auf das Portal zu.

Kurz davor verharrt er und dreht sich noch einmal zu Eirik um.

»Das hätte ich fast vergessen. Fang.« Er wirft Eirik einen kleinen, glänzenden Gegenstand zu. »Die Schlüssel für das Auto. Das Motorrad ist wahrscheinlich noch im Wald.« Mit diesen Worten verschwindet auch er in der Schwärze des Portals.

Eirik steht einfach nur regungslos da. Er hält die Schlüssel nachdenklich in der Hand, während sich das Portal nach seinem letzten Passanten von selbst wieder schließt.

Woher hat van Creyn eigentlich das Auto? Hat er überhaupt einen Führerschein? Wohl kaum…

Senna schwebt verloren in der kompletten Schwärze, die sich direkt an den Sturz in das Portal angeschlossen hat.

Sie ist so überwältigt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie spürt nur, wie eine nicht identifizierbare Kraft sie nach vorne zieht.

Sehr schnell verliert sie in dieser dunklen Unendlichkeit jegliches Zeitgefühl, aber irgendwann wird ein seltsames Schimmern vor ihr sichtbar.

Könnte das etwas wie das Ende eines Tunnels sein? Hoffentlich nicht DER Tunnel.

Während sie sich darauf konzentriert und immer näher schwebt, erfüllt sie ein plötzliches Schaudern. Sie spürt, wie eine Gänsehaut ihre Arme und den Rücken hinauf kriecht.

Senna fühlt sich beobachtet. Eine Beklommenheit geht damit einher, als ob etwas nach ihrem Brustkorb greifen und fest zudrücken würde. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals und ein penetrantes Rauschen drückt auf ihre Ohren.

Immer mehr Furcht kriecht wie Kälte in ihr empor und ihr Magen krampft sich unheilvoll zusammen.

Da erscheint direkt vor ihr aus dem Nichts ein pikaresk grinsender Totenschädel.

Über die Erscheinung ziehen sich Kristalladern und leuchten intensiv bläulich in der Dunkelheit. Drei schwarze Augenhöhlen sind direkt auf Senna gerichtet. Grell leuchtende Pupillen stechen aus der Schwärze der Höhlen hervor, fixieren und durchbohren sie.

Sennas Magen macht einen Hüpfer und entsetzt lehnt sie sich in der Leere zurück.

Im nächsten Moment explodiert das weiße Licht in den Höhlen des grinsenden Schädels und sie sieht noch weniger als zuvor, nicht einmal die eigene Hand vor Augen. Nur ein leises, neckisches Kichern klingt in ihren Ohren.

Kapitel 1

Lapis Deus

Frühling

»Die Natur von Mundus erwacht, wenn die der Erde schlafen geht.«

Dem gleißenden Licht folgt das Zwielicht der Morgendämmerung.

Neben Senna steht Abel gerade auf den Beinen, während sie auf allen Vieren einen steinigen Erdboden anstarrt und den Anflug einer Rebellion ihres Magens niederringt.

Sie kommt sich vor wie ein seekranker Passagier auf einem Boot mit starkem Seegang oder ein Seebär mit Landkrankheit.

Noch ehe sie sich vollständig sammeln kann und die Straße, auf der sie gelandet sind, als solche erkennt, marschiert Abel schon den Kiesweg entlang. Er steuert geradewegs auf ein mächtiges Stadttor direkt vor ihnen zu.

In der schwachen Dunkelheit ist ein riesiges, eisernes Wappen zu erkennen, das zwei stilisierte Kreaturen darstellt. In ihrer trüben Benommenheit kann Senna aber nur die grobe Form ausmachen. Allerdings meint sie, keltische Knotenmuster erahnen zu können.

Sie kommt etwas unsicher wieder auf die Füße und versucht, ohne dabei ihre Beine oder den Inhalt ihres Magens zu verlieren, zu ihm aufzuschließen.

Am liebsten hätte sie Abel auf das eben Geschehene nach dem Sturz in das Portal angesprochen, aber sie hat das dumpfe Gefühl, dass er sie nur schief ansehen würde. Bei all den schrägen Erlebnis - sen ist sie sich nicht ganz sicher, was Einbildung und was Realität ist. Wahrscheinlich hat sie das nur in einer kurzzeitigen Ohnmacht oder etwas dergleichen geträumt. Außerdem verschwimmt die Erinnerung an einen starrenden Totenschädel immer mehr, je länger sie sich daran zu erinnern versucht.

Das alleine bestätigt ihre Vermutung, dass es nur ein Traum gewesen sein musste. Vermutlich steckt sie sogar noch mitten drinnen, also folgt sie Abel schlichtweg und bleibt stumm.

Noch dazu befürchtet sie noch immer, dass sie sich übergeben muss, wenn sie den Mund aufmacht.

Der Neuankömmling sieht sich nach wie vor etwas benommen um und erblickt schemenhafte Hügel und Felder, über die sich vage das Morgengrauen am Himmel abzeichnet. Ein Wald erstreckt sich auf der westlichen Seite und scheint ein ganzes Stück in alle Richtungen zu gehen.

Es ist relativ kühl, aber die Luft riecht nicht nach Herbst und Anzeichen von ersten Schneeflocken, sondern nach Frühling und wiederkehrender Natur.

Tatsächlich scheinen die Gerüche hier um einiges intensiver zu sein, so seltsam sich das im ersten Moment auch anhört.

Senna hat den Eindruck, dass die Atmosphäre irgendwie sauberer ist, wie wenn man sich ganz tief in den Bergen und weit weg von Städten und Menschen befindet. Die gute Luft hilft ihr ein bisschen, ihren Kopf von den Nebeln der Benommenheit zu befreien und auch die Übelkeit flaut allmählich ab.

Sie erreichen das Tor, zu dessen Seiten sich hohe, massive Steinmauern erstrecken. Die groben Schemen von Steinsoldaten auf Podesten sind entlang der Mauer im Halbdunkel zu erkennen. Über die ganze Länge der dicken Mauern hinweg stehen diese Statuen ungerührt Wache. Auf der westlichen Seite verliert sich die Stadtmauer in dem beachtlichen Wald. In Abständen ragen schmale Türme empor, auf denen kleine Lichter leuchten.

Senna bemerkt, dass der Schein nicht wie bei Fackeln oder Laternen herumtanzt, sondern gleich einer Glühbirne ein ruhiges konstantes Leuchten abgeben.

Auf einem Turm neben dem Tor lässt Licht eine sich öffnende Luke erkennen und dunkel zeichnet sich ein Kopf vor dem erleuchteten Viereck ab. Dann verschwindet die Silhouette wieder und auch der kleine Ausguck schließt sich.

Nach einer kurzen Pause, in der Abel mit den Händen in den Taschen da steht und in Sennas Körper das vollständige Gefühl zurückkehrt, öffnet sich vor ihnen eine schmale Tür in dem sehr robusten und mit massiven Eisenbeschlägen bestückten Stadttor.

Ein schwaches Licht fällt auf die beiden Wartenden und Senna kann wieder nur Schemen vor der Helligkeit erspähen. Noch bevor Abel den ersten Schritt macht, erklingt eine tiefe, warme Stimme von der anderen Seite des Durchgangs.

»Abel! Das ging jetzt doch schnell! Wie erfreulich!«

»Die Umstände waren eher unerfreulich. Zum Glück hat der Eile ansonsten keinen Schaden angerichtet. Das hätte nur unnötige Arbeit bedeutet.«

Abels nüchterner Tonfall steht ganz klar im Kontrast zu dem anderen Sprecher.

Senna folgt ihm mit Vorsicht über die Schwelle und erblickt jetzt die zur Stimme gehörende Person. Ein großer und muskelbepackter Mann, den Ohren nach zu urteilen ein normaler Mensch, steht ebenso breit wie grinsend da und strahlt sie an.

Sein dunkles, kastanienbraunes Haar, das er zu einem frech abstehenden, kurzen Pferdeschwanz trägt, zeigt im Licht einer Laterne seinen kessen, roten Schimmer. Auch das Pony gibt ihm ein leicht jungenhaftes Aussehen, was einen faszinierenden Kontrast zu seiner kräftigen Statur und der dunklen, militärischen Uniform ergibt. Der lange Waffenrock reicht ihm bis knapp unter die Waden und betont seine Größe noch etwas mehr. Das linke Auge ist unter einer schwarzen Augenklappe versteckt, aber alte, grobe Narben lugen an manchen Stellen unter der Abdeckung hervor. Sie sehen ganz nach einer groben Verätzung aus.

Senna möchte sich nicht einmal vorstellen, wie sein offensichtlich kaputtes Auge darunter aussehen muss.

»Einen schönen, sehr frühen Morgen! Du bist also die junge Lady Senna van Glays. Willkommen in Fenris!« Er klopft ihr väterlich, aber etwas zu kräftig auf die Schulter und sie stolpert überrascht ein kleines Stück zur Seite, bevor sie verlegen und überrumpelt etwas stammelt.

»Oh! Ähm, Danke… Äh, Wer…?« Der große Mann vervollständigt ihren Satz. »Pinarox Estreal mein Name und du kannst mich duzen. Ich bin der General der Armee von Fenris und somit der Chef von diesem verklemmten Eiszapfen hier!«

Abel hebt ausdruckslos eine Braue und fügt zur für diese Uhrzeit zu energetischen Ansprache von General Pinarox Estreal hinzu,

»zumindest ist er das formal.«

Pinarox lacht unbekümmert und warmherzig. »Und er ist mein ältester Freund, deshalb lasse ich ihm die Untergrabung meiner Autorität ein Mal durchgehen.« Er würde jetzt mit einem Auge zwinkern, wenn er es richtig könnte und so grinst der General nur spitzbübisch.

Senna schaut ihn halb verständnislos, halb verlegen an. »Fenris? Ist das der Name von diesem Ort?«

Der einäugige Mann macht einen erstaunten Eindruck und wendet sich fragend an Abel. »Hast du ihr noch nichts über dieses Land erzählt? Was weiß sie denn schon?«

Abel schüttelt mit steinerner Miene den Kopf. »Nicht viel. Es hat sich noch nicht ergeben.«

»Noch nicht ergeben… soso.« Pinarox hebt vielsagend die Brauen. Er kann sich tatsächlich vorstellen, was sich ergeben hat. Unterm Strich nichts, denn dafür kennt er seinen verschlossenen Freund gut genug. Er fühlt sich verpflichtet, etwas nachzuhelfen.

Der große Mann stemmt die Fäuste in die Seiten und wendet sich wieder an die verwirrte und überforderte Senna. »Dann lass dir von mir eine kurze Zusammenfassung geben. Wir sind hier in der Stadt Grauvarg, die Hauptstadt von Fenris. Das Land der Albe und eines der fortschrittlichsten und stärksten Länder in Mundus. Unsere Gründer haben die Kultivierung der Kristalle bewerkstelligt. Eine große wirtschaftliche, militärische und technologische Errungenschaft.« Er gestikuliert zu einem eindrucksvollen, komplexen Paradebeispiel. Einer Straßenlaterne, die mit ihrem stolzen, konstanten Leuchten antwortet und eine gesprungenes Glas aufweist.

Senna kann nicht anders, als etwas ungläubig in das Licht zu starren und fühlt sich ein bisschen wie eine unterbelichtete Motte. Vielleicht hat sie es sich nur eingebildet, aber bei seinen letzten Worten hat sie fast so etwas wie Sarkasmus herausgehört.

Die nach oben gedrehte Hand von Pinarox fährt weiter zu Abel, der sich stark unter Kontrolle halten muss, um nicht die Augen zu verdrehen. »Abel ist Kommandeur einer Sondereinheit für außergewöhnliche Fälle und die Eliminierung der Eile. So ein Wesen hast du ja schon kennengelernt, wie ich gehört habe?«

Senna löst sich von dem Licht und nickt vorsichtig. Auch der General stimmt in ein zustimmendes Nicken ein.

»So ein Zwischenfall ist absolut nicht die Regel.« Er wirft Abel einen verstohlenen Blick zu. »Dürfte höchstens das erste oder zweite Mal passiert sein, seit wir ein stärkeres Auge darauf haben…?« Der General erntet von seinem Offizier nur einen teilnahmslosen Gesichtsausdruck und ein unbestimmtes Schulterzucken, also fährt er fort. »Wir hatten natürlich in der Vergangenheit schon Probleme mit diesen Monstern, sonst gäbe es Abel und seine kleine Einheit nicht. Aber sie scheinen immer lästiger zu werden und das noch oben drauf…« An diesem Punkt beschließt Abel, den anschwellenden Redefluss des aufgeschlossenen Mannes mit einer knappen Geste zu unterbrechen.

Pinarox zuckt unbekümmert mit den Schultern. »In Ordnung. Wir sehen uns dann später bei der Sitzung.«

Die verstummten Haltungen beider Männer halten vorerst auch die stetig wachsende Ansammlung an Fragen in Sennas Kopf in Schach, während ihre Augen verunsichert von Abel zurück zu Pinarox wandern. Der General wirft Senna sein Grinsen als Äquivalent für das Zwinkern zu und Abel scheucht sie weiter.

Da sie noch immer Schwierigkeiten hat, ihre Situation zu verdauen, lässt sie alles über sich ergehen. Vielleicht erwacht sie doch irgendwann Zuhause und in ihrem weichen Bett.

Um ihre Gedanken abzulenken, richtet sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung und als erstes fällt ihr eine majestätische Statue mitten auf dem gut beleuchteten Vorplatz auf.

Zwei große, Autorität ausstrahlende Gestalten deuten mit übereinander gelegten Armen Richtung Stadttor. Ein Mann und eine Frau, offensichtlich ein Paar, mit langen und spitz zulaufenden Ohren. Zu ihren Füßen liegt ein kleines Rudel Wölfe. Sogar verspielte Jungtiere verstecken sich unter den ästhetisch dargestellten, erwachsenen Wölfen.

Wie auch das Wappen am Stadttor zieren keltische Knotenmuster das Podest, so wie die langen Gewänder und Rüstungsteile der Statuen. Nach diesem Anblick ist Senna relativ überzeugt, dass das Wappen auf dem Tor auch zwei Wölfe darstellt.

Abels Stimme reißt sie aus ihrer Faszination.

»Schlag keine Wurzeln.« Er geht ohne abzuwarten weiter voran und sie eilt ihm nach einem kurzen Zögern wieder hinterher.

»Wohin gehen wir?«

»Ich habe im Zentrum eine Wohnung.« Damit scheint er wieder anzunehmen, genug gesagt zu haben, da er Senna nicht einmal ansieht.

So betrachtet sie wieder eingehender ihre Umgebung.

Allerdings bleibt in ihr ein leicht mulmiges Gefühl in der Magengegend zurück, wie bei einem inneren Konflikt von zu vielen, unausgesprochenen Dingen.

Die Straße, der sie folgen, ist sauber gepflastert. Im Allgemeinen sehen die gemauerten Gebäude und Wege der Stadt ordentlich und nach relativ fortschrittlicher Bauweise aus.

Zwischen den verschiedenen Häusern verlaufen von Dach zu Dach eiserne Drähte, die an Stromkabel erinnern. In der Ferne ragen stellenweise hohe Türme empor, von denen die Kabel entspringen und die Umgebung in einem gewissen Radius verbinden.

Dann und wann blitzen ganz kurz kleine Funken an den Kabeln auf, die daran entlang zu springen scheinen. Senna meint, bei einem in der Nähe die flüchtige Form von Runen erkannt zu haben.

Die Stadt ist in drei Ebenen aufgebaut. Auf der Obersten sind Türme und das Dachwerk eines großen Schlosses zu sehen. Überschattet wird das Dach des Schlosses von den Schemen einer fast unverhältnismäßig großen Krone eines mächtigen Baumes.

Auf den anderen beiden Ebenen erstreckt sich die Stadt und teilt sich mit dem Prachtbauwerk auf der obersten Stufe die zahlreichen Baumwipfel, die über die Dächer hinausragen.

Die Gebäude bestehen vor allem aus Stein, Metall und Glas. Vereinzelt finden sich auch Holzfassaden und Fachwerkbauten in dem Stadtbild. Der Stil erinnert an viktorianische und europäische Architektur im anfänglichen Jugendstil.

An den Fronten vieler Gebäude fallen Senna wieder die nordisch anmutenden Verzierungen auf, so wie Statuen und Darstellungen von Wölfen, die immer wieder an passenden Stellen und auch versteckt auftauchen.

Wo Platz übrig ist, lässt man die Natur frisch, fromm, fröhlich und frei austreiben.

Sie passieren eine hohe Mauer, die einen Parkbereich abgrenzt und nun fallen Senna Details auf, die der Pracht und Sauberkeit der Stadt einen kleinen Abbruch tun.

Auf dem großflächigen Mauerwerk erstrecken sich ganz offensichtlich provokante Plakate mit Phrasen wie: »Man beißt nicht in die Hand die einen füttert!« oder »Bei Mater, haltet in Ehre die Traditionen!«.

Die Meisten sind aber in einer eigenartigen oder zu schlampigen Schreibschrift geschrieben, die Senna beim Vorbeilaufen nicht entziffern kann.

Ihnen kommt ein Mann entgegen, der eine Uniform trägt, die der von Pinarox ähnelt, allerdings mehr auf Fußsoldat hinweist. Sein Waffenrock ist nur hüftlang und seine Ärmel weisen jeweils nur einen dunkelroten Streifen auf.

Er nickt Abel respektvoll zu, der die Geste knapp erwidert.

Senna folgt dem Mann mit ihrem Blick, der sich jetzt an den Plakaten zu schaffen macht und sie hastig entfernt. Er sieht gar nicht glücklich dabei aus und ist vermutlich froh, dass zu so früher, dämmernder Stunde kaum jemand auf den Straßen unterwegs ist. Die wenigen Passanten sind mit ihren morgendlichen Pflichten genug beschäftigt.