Endstation Marseille - Seiler Roland - E-Book

Endstation Marseille E-Book

Seiler Roland

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Beschreibung

Den wegen Sparmassnahmen frühpensionierten ehema-ligen kantonalen Beamten Robert Schneider hat es in die Provence verschlagen. Durch Zufall stösst er auf das Schicksal einer Frau, die einen Teil ihres Lebens im südfranzösischen Internie-rungslager Rivesaltes verbracht und dabei hautnah die Schattenseiten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebt hat. In Marseille rechnet das ehemalige Opfer Schritt für Schritt auf raffinierte Art und Weise mit ihren seinerzei-tigen Peinigern ab.

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Autor

Roland Seiler ist 1946 in Bönigen im Berner Oberland geboren.

Nach einer Lehre als Vermessungszeichner und dem Ingenieurstudium an der Fachhochschule in Basel war er zuerst in der Verwaltung, dann rund 25 Jahre als Verbandsfunktionär tätig.

Während 16 Jahren vertrat er die Sozialdemokratische Partei im Grossen Rat des Kantons Bern.

Seit 1972 ist er verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau in Interlaken und in Cucuron (Provence).

Buch

Den wegen Sparmassnahmen frühpensionierten ehemaligen kantonalen Beamten Robert Schneider hat es in die Provence verschlagen.

Durch Zufall stösst er auf das Schicksal einer Frau, die einen Teil ihres Lebens im südfranzösischen Internierungslager Rivesaltes verbracht und dabei hautnah die Schattenseiten der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts erlebt hat.

In Marseille rechnet das ehemalige Opfer Schritt für Schritt auf raffinierte Art und Weise mit seinen seinerzeitigen Peinigern ab.

Bevor ich alleine sterbe Bevor meine Zeit abgelaufen ist Gibt es eine Sache, die ich erledigen muss.

Zack Hemsey

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Marseille, Januar 2018

Kapitel 2: Marseille, Januar 2018

Kapitel 3: Montredon La Madrague, Mai 1995

Kapitel 4: Montredon La Madrague, Januar 2018

Kapitel 5: Berlin, April 1930

Kapitel 6: Montredon La Madrague, April 1996

Kapitel 7: Interlaken, Februar 2018

Kapitel 8: Moskau, Oktober 1932

Kapitel 9: Bern, Februar 2018

Kapitel 10: Marseille–Antibes, November 1996

Kapitel 11: Paris, Juli 1936

Kapitel 12: Bern, Februar 2018

Kapitel 13: Antibes, November 1996

Kapitel 14: Albacete, September 1936

Kapitel 15: Barcelona, April 2018

Kapitel 16: Antibes, 13. November 1996

Kapitel 17: Marseille, November 1996

Kapitel 18: Zürich, September 1936

Kapitel 19: Albacete, Oktober 1936

Kapitel 20: Albacete, November 1936

Kapitel 21: Barcelona, April 2018

Kapitel 22: Arles–Montpellier, Mai 1997

Kapitel 23: Barcelona, Juli 1938

Kapitel 24: Gurs, April 1939

Kapitel 25: Montredon La Madrague, Mai 2018

Kapitel 26: Arles, Oktober 1997

Kapitel 27: Rivesaltes, Juli 1941

Kapitel 28: Rivesaltes, Mai 2018

Kapitel 29: Perpignan, November 1942

Kapitel 30: Dresden, Juni 2018

Kapitel 31: Arles, November 1997

Kapitel 32: Marseille, November 1997

Kapitel 33: Montredon La Madrague, Juni 2018

Kapitel 34: Cucuron, September 2018

Kapitel 35: Perpignan, März 1943

Kapitel 36: Perpignan, August 1944

Kapitel 37: Marseille, August 2018

Kapitel 38: Perpignan, Oktober 1945

Kapitel 39: Rivesaltes, Oktober 1962

Kapitel 40: Marseille, Juli 1998

Kapitel 41: Aix-en-Provence, August 2018

Kapitel 42: Marseille, September 1998

Kapitel 43: Rivesaltes, Mai 1963

Kapitel 44: Montredon La Madrague, August 2018

Kapitel 45: Marseille, Oktober 1998

Kapitel 46: Marseille, 13. November 1998

Kapitel 47: Marseille, September 2018

Kapitel 48: Rivesaltes, 13. November 1964

Kapitel 49: Marseille, November 2018

Kapitel 50: Marseille, November 2018

Kapitel 51: La Ciotat, November 2018

Kapitel 52: Montredon La Madrague, November 2018

Kapitel 53: Marseille, November 2018

Epilog

Prolog

Ungläubig blickte er blutüberströmt in die Augen, in denen er eine Mischung aus Spott und Genugtuung zu entdecken glaubte.

Er ahnte, dass die Kugel sein Herz getroffen hatte und er sterben würde.

«Wie konnte ich die Warnsignale übersehen? Warum tappte ich ahnungslos in diese Falle?», begann er zu grübeln.

Beim Ertönen der Polizeisirene verschwand das Gesicht mit den Augen, die ihn eindringlich beobachtet hatten. Er war allein und keine tröstende Hand begleitete ihn bei seinen letzten Atemzügen.

«Eine weitere Abrechnung unter Banden – bereits das elfte Opfer in diesem Jahr!», konstatierte der junge Gendarm und faltete lässig die weisse Leichendecke auseinander.

Erst als er den Toten erkannte, erstarrte er und war froh, dass sein erfahrener Kollege ihm beim Decken des ihnen wohlbekannten Leichnams behilflich war.

1

Marseille, Januar 2018

«¡Tengo miedo!», flüsterte – nein: hauchte die Frau neben mir in mein rechtes Ohr und krallte ihre zitternden Finger mit erstaunlicher Kraft in meinen Arm.

«Fürchten Sie sich vor dem Sterben?»

«Nein, nicht der unausweichliche Tod macht mir Angst und an ein Danach glaube ich sowieso nicht. Grauen bereitet mir einzig die Vorstellung eines schier endlosen Todeskampfes!»

Seit kurz nach Mitternacht sass ich nun im Hospital Saint Joseph am Boulevard de Louvain, im 8. Arrondissement von Marseille, um Carmen-Olga García in ihren letzten Stunden beizustehen.

Der freundliche Krankenpfleger hatte von Zeit zu Zeit hereingeschaut, die drei Bildschirme überwacht, die leeren Infusionsbeutel ersetzt und jeweils der dösenden Patientin liebevoll die schweissfeuchte Stirne gewaschen und die Mundschleimhaut befeuchtet.

In einer Art Halbschlaf schien sie oft während längerer Phasen weit weg zu sein. Beim Erwachen sahen ihre Augen mit einem getrübten Blick in die Ferne. Ihre unregelmässigen Atemzüge waren von einem rasselnden, fast grunzenden Geräusch begleitet und wiesen zeitweise längere Pausen auf.

Aus dem gegen Westen orientierten Fenster konnte ich im Morgendunst die Nachbildung von Michelangelos David-Statue am Rond-point du Prado und draussen im Meer das Château d’If erkennen.

Ich musste kurz eingenickt sein, als die Türe aufging und die junge Ärztin zur Visite eintrat. Sie musterte mich skeptisch und erkundigte sich, ob ich mit der Patientin verwandt sei.

«Nein, ich bin ein Bekannter von Madame García. Sie hat mich rufen lassen, weil sie mich zu ihrem Testamentsvollstrecker erkoren hat.»

«Besitzen Sie eine Vollmacht?»

«Nicht wirklich.»

«Dann muss ich Sie bitten, das Zimmer zu verlassen!»

«Das kommt nicht in Frage», meldete sich nun die Todgeweihte mit überraschend deutlicher Stimme. «Monsieur Schneider reste à ma côté!»

Damit war das Geplänkel beendet. Statt beleidigt oder verärgert zu sein, begegnete mir die Ärztin mit einem verständnisvollen Lächeln. Routiniert führte sie die üblichen Untersuchungen durch, studierte die Aufzeichnungen und tippte etwas in ihr Tablett.

Schliesslich bat sie mich höflich auf den Gang hinaus.

«Ihre Bekannte wird bald sterben. Wenn Sie einverstanden sind, verzichten wir auf lebensverlängernde Massnahmen und verabreichen nur noch schmerzstillende Mittel.»

Bei meiner Rückkehr aus der Spital-Cafeteria, wo ich mir mit schlechtem Gewissen die Zeit gestohlen hatte, um mich mit einem doppelten Espresso und einem frischen Croissant etwas zu stärken, war nur noch ein einziger Bildschirm in Betrieb.

Gedankenverloren beobachtete ich abwechslungsweise den Bildschirm, auf dem die Pulstätigkeit angezeigt wurde, und die Sterbende, die nun mit offenen Augen dalag, ihre Umgebung aber nicht mehr wahrzunehmen schien. Ihre Gesichtszüge waren zwar ausdruckslos, machten aber einen friedlichen Eindruck. Wenige kurze Atemzüge wurden nun von längeren Atempausen unterbrochen.

Noch einmal drückte sie ihre schweissfeuchten, sich kühl anfühlenden Finger in meinen Unterarm. Mehrmals schnappte sie nach Luft, dann bäumte sie sich ein wenig auf und verstummte mit einem tiefen Seufzer.

Auf dem Bildschirm wurde nur noch eine horizontale Linie aufgezeichnet.

Carmen-Olga García hatte im 81. Lebensjahr die Welt verlassen – ohne sichtbaren Todeskampf, so, wie sie sich das gewünscht hatte.

2

Marseille, Januar 2018

Während ich auf die Ärztin wartete, die formell den Tod bestätigen und den Totenschein ausfertigen sollte, erinnerte ich mich, wie ich im letzten Sommer Madame García kennengelernt hatte.

«Meine Mutter hiess Olga Schmidt und stammte aus Deutschland», hatte sie mir ihr perfektes Deutsch erklärt und war ohne Umschweife auf das Geschäftliche übergegangen.

Schnell waren wir handelseinig geworden. Sie war bereit, mir ihr renovationsbedürftiges kleines Häuschen am Boulevard de la Grotte Rolland in Montredon La Madrague zum Preis von 250 000 Euro zu verkaufen.

Nach längerer Suche hatte ich gefunden, was ich mir vorgestellt hatte.

Das in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erbaute Häuschen lag in dem von mir bevorzugten Stadtteil von Marseille und entsprach trotzdem meinen finanziellen Möglichkeiten. Meine Versicherung, die Mutuelles du Mans Assurances MMA, hatte mir 300 000 Euro für mein ehemaliges Haus in Cucuron ausbezahlt, nachdem ich darauf verzichtet hatte, dieses nach der erfolgten Brandstiftung wiederaufzubauen.

Das Geld sollte somit ausreichen, um mein neues Zuhause zu sanieren und nach meinen Bedürfnissen einzurichten.

«Ich werde nicht mehr lange leben!», hatte mir die alte Dame zu verstehen gegeben. «Nach dem Lungenkrebs und meiner Weigerung, mich einer Operation zu unterziehen, haben die Ärzte Leber- und Knochenmetastasen gefunden. Sie geben mir nur noch ein paar Monate! Ich hatte mein Leben bereits geregelt, bevor ich 2015 ins Altersheim eingetreten war. Nun bin ich zum Sterben bereit und will nur noch, dass mein Haus in gute Hände kommt. Dem Nachbarn, der Ihnen die Liegenschaft gezeigt hat, haben Sie einen guten Eindruck gemacht. Der günstige Preis hängt aber nicht nur mit dem baulichen Zustand zusammen, sondern ist an eine entscheidende Bedingung geknüpft.»

«Bedingung?»

«Ja. Sie bekommen das Haus nur, wenn Sie bereit sind, mein Testament zu vollstrecken.»

«Dann müsste ich aber den Inhalt des Testamentes kennen.»

«Mein letzter Wille besteht nur aus folgenden drei Punkten:

Meine Leiche soll eingeäschert und die Asche ohne jegliches Zeremoniell auf dem Meer vor Marseille verteilt werden.

Mein Vermögen ist bis auf 20 000 Euro der Organisation Médecins Sans Frontières zu übergeben.

Die von mir aufgezeichnete Lebensgeschichte muss am 13. November 2018 als ganzseitiges Inserat in der Zeitung La Provence publiziert werden.»

«Ihre Lebensgeschichte?»

«Ich werde Ihnen die Niederschrift in einem verschlossenen Umschlag übergeben. Sie dürfen diesen nach meinem Tod öffnen, aber erst im November 2018 veröffentlichen. Warum das am 13. November erfolgen muss, werden Sie verstehen, wenn Sie den Text gelesen haben.»

Die akkurat formulierte Bedingung war mir ohne weiteres erfüllbar erschienen und ich hatte in den doch etwas sonderbaren Handel eingewilligt.

Madame García hatte die Angelegenheit sorgfältig vorbereitet und dem in unmittelbarer Nähe des Spitals gelegenen Notariatsbüro Feraud et Voglimacci die nötigen Unterlagen zur Verfügung gestellt.

Bereits zwei Tage nach meinem ersten Zusammentreffen mit der altersschwachen, aber willensstarken Frau hatten wir an ihrem Krankenbett einen Vorvertrag, den so genannten «compromis d’achat», unterzeichnet.

Gleichzeitig war das Notariatsbüro zum Abschluss des definitiven Kaufvertrages bevollmächtigt worden.

Nach der Erledigung der erforderlichen Todesformalitäten fuhr ich sofort nach Hause, um das geheimnisvolle Kuvert zu öffnen und in die Lebensgeschichte der Verstorbenen einzutauchen.

3

Montredon La Madrague, Mai 1995

«Du musst unbedingt deinen Lebenslauf zu Papier bringen. Das bietet ohne weiteres Stoff für einen Roman oder sogar für einen Film!», hatte ihr verstorbener Gatte sie immer wieder ermuntert.

Nach ihrem vor fast 30 Jahren erfolgten fluchtartigen Wegzug aus Perpignan und der Rückkehr in ihre Geburtsstadt Barcelona war Carmen-Olga Schmidt froh gewesen, im Institut Català Incade de Dermatologia i Cirurgia Plàstica eine Stelle als Krankenschwester gefunden zu haben.

Emanuel García leitete damals als Oberarzt die im Aufbau befindliche Abteilung, die sich auf Hautkrebsfälle spezialisieren sollte.

Carmen hatte zwar keinen blassen Dunst von diesem medizinischen Spezialgebiet gehabt und war in erster Linie wegen ihrer Sprachkenntnisse angestellt worden, sprach sie doch neben Spanisch und Katalanisch auch fliessend Französisch und Deutsch.

Als weltweit eine der ersten Kliniken wurden später im Institut Català Incade Behandlungen mit dem vom amerikanischen Physiker Theodore Maiman entwickelten Rubinlaser angewandt und Carmen war zur rechten Hand von Professor García geworden.

An ihrem 50. Geburtstag hatte ihr zehn Jahre älterer Chef sie zum Nachtessen ins noble Restaurant Tram Tram an der Carrer Major de Sarrià eingeladen und mit einer romantischen Szene um ihre Hand angehalten.

Zwei Monate später hatten sie im kleinen Kreis Hochzeit gefeiert. Emanuel kannte den Grund für ihre Frigidität und hatte ihren Wunsch nach getrennten Schlafzimmern diskussionslos akzeptiert.

Mit Wehmut blickte Carmen heute noch auf die nur gerade sieben Jahre dauernde Ehe zurück – zweifellos die glücklichste Phase ihres Lebens. Noch immer haderte sie mit dem abrupten Ende ihres Geliebten, der unverhofft einem Herzinfarkt erlegen war.

Sie war zwar nun als Alleinerbin eine wohlhabende Frau geworden, aber das konnte sie in keiner Art und Weise über den grossen Schmerz hinwegtrösten. Die oberhalb von Barcelona gelegene luxuriöse Attikawohnung hatte sie von einem Immobilienhändler verkaufen lassen und war umgehend in das kleine Haus am Boulevard de la Grotte Rolland gezogen, das Emanuel Jahre zuvor von einer alleinstehenden Tante geerbt hatte.

Dass sie nun in Marseille wohnte, war somit mehr dem Zufall als einer Planung zu verdanken.

«Du musst unbedingt deinen Lebenslauf zu Papier bringen. Das bietet ohne weiteres Stoff für einen Roman oder sogar für einen Film!», hörte sie Tag und Nacht die Stimme des Verstorbenen.

Nach langem Zögern und Abwägen hatte sie beschlossen, seinem Rat zu folgen.

«Wo soll ich anfangen?», hätte sie ihn gerne gefragt. «Im Grunde genommen muss ich mit der Lebensgeschichte meiner Mutter beginnen, denn ihr Schicksal hatte einen entscheidenden Einfluss auf meine Biographie!», murmelte sie vor sich hin – fast in der Hoffnung, Emanuel würde ihr antworten.

Schliesslich entschied sie, provisorisch fünf Kapitel vorzusehen:

Mutter: Kommunistin und Kämpferin (1908 – 1936)

Spanien: Krieg ohne Chance (1936 – 1939)

Rivesaltes: 25 Jahre Elend (1939 – 1964)

Barcelona: 30 Jahre Glück (1964 – 1995)

Marseille: Endstation – Abrechnung (1995 – ????)

Das Enddatum liess sie vorläufig offen, weil dabei auch noch die Verwirklichung dessen zu beschreiben sein würde, was sie noch vorhatte – wahrscheinlich der wichtigste Teil der Geschichte!

4

Montredon La Madrague, Januar 2018

Trotz meiner inneren Spannung und einer ungeduldigen Neugier nahm ich mir nach der Rückkehr Zeit, vor dem Stillen meines Wissensdurstes die leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen.

In unmittelbarer Nähe meines neuen Heims hatte ich mir etwas Essbares besorgt.

Die mitteilsame Patronne in der Boucherie Fortin hatte mir bestätigt, die verführerisch aussehenden Caillettes seien eine weit herum geschätzte Hausspezialität. Sie persönlich sei für deren Herstellung verantwortlich und verwende dazu bestes Schweinefleisch vom Hals – nicht etwa Fleischresten, wie in anderen Metzgereien üblich. Das in Streifen geschnittene Fleisch werde mit Knoblauch, sorgfältig ausgewählten Kräutern und Weisswein aus Cassis während einer Nacht mariniert. Am nächsten Tag lasse sie die Farce zusammen mit angebratenen Zwiebeln, Speck und Schweineleber durch den Wolf, gebe schliesslich etwas Rahm, frische Eier sowie blanchierte, getrocknete und gehackte Spinat- und Mangoldblätter dazu und rolle die tennisballgrossen Kugeln in Schweinenetz ein. Schliesslich würden die Caillettes im Ofen bei 180 Grad gegart, so dass sie warm oder kalt wie eine Terrine genossen werden könnten.

Das Wasser war mir längst im Mund zusammengelaufen, aber es war mir nicht gelungen, Madame Fortin in ihrem Redeschwall zu bremsen. Auf jeden Fall kaufte ich gleich ein halbes Dutzend frische Caillettes.

In der gleich um die Ecke liegenden Boulangerie Gonzales hatte ich noch eine Baguette erstanden, öffnete eine Flasche roten Bandol und genoss die einfache, aber köstliche Mahlzeit.

Danach reinigte ich den Esstisch, schenkte mir noch ein Glas Bandol ein und öffnete mit dem sauberen Brotmesser endlich den geheimnisvollen Briefumschlag.

Ich entdeckte einerseits einen Bund mit auf einer offensichtlich älteren Schreibmaschine eng beschriebenen Seiten. Jeweils mehrere Blätter waren mit Klammern zu fünf Faszikeln zusammengeheftet, die mit einem Deckblatt versehen waren und folgende handschriftliche Titel trugen:

Olga Schmidt

Spanischer Bürgerkrieg

Rivesaltes

Barcelona

Marseille

«Was bedeutet wohl Rivesaltes?», fragte ich mich und tippte den Namen in die Suchmaschine meines Laptops ein.

In der elektronischen Enzyklopädie Wikipedia las ich:

«Rivesaltes (auf Katalanisch Ribesaltes) ist eine Gemeinde mit 8678 Einwohnern (Stand 1. Januar 2015) im Département Pyrénées-Orientales in der Region Okzitanien im Süden Frankreichs.

Die Gemeinde liegt ungefähr acht Kilometer nördlich von Perpignan sowie zehn Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Die Einwohner werden Rivesaltais genannt.

Rivesaltes ist Namensgeber für das Weinbaugebiet Rivesaltes sowie für den Muscat de Rivesaltes. Auf dem Gemeindegebiet werden darüber hinaus Weine unter den Herkunftsbezeichnungen Côtes du Roussillon und Côtes du Roussillon-Villages angebaut.

Siehe auch: → Camp de Rivesaltes (Gedenkstätte)»

Unter Camp de Rivesaltes erfuhr ich:

«Das Lager von Rivesaltes (franz. Camp de Rivesaltes) wurde 1939 als Militärlager errichtet und diente ab 1941 der Internierung verschiedener Bevölkerungsgruppen. Es befindet sich ca. 45 Kilometer nördlich der spanischen Grenze nahe der Stadt Perpignan im französischen Departement Pyrénées-Orientales.

Im 612 Hektar grossen Lager wurden ab Januar 1941 spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, nicht sesshafte Bevölkerungsgruppen („Zigeuner“) aus dem Elsass sowie ausländische Juden interniert.

Der wohl dunkelste Abschnitt der Lagergeschichte beginnt im August 1942 mit der Bestimmung zum Hauptsammellager für die in Frankreich gefangen genommenen Juden. Bis November 1942 wurden ca. 2300 von ihnen aus Rivesaltes über das Sammellager Drancy (bei Paris) ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert.

Ein weiteres einschneidendes Kapitel stellte der Algerienkrieg im Jahre 1962 dar, in dessen Folge ab September die zivilen algerischen Hilfstruppen der französischen Armee in Algerien, die so genannten „Harkis“, untergebracht wurden. Bis Dezember 1964 wurden über 20 000 Harkis durch das Lager geschleust.

Das Lagergelände, das sich heute am Rande eines Industriegebietes erstreckt, wird inzwischen wieder grösstenteils vom französischen Militär genutzt.

Auf einem Abschnitt entstand 2015 nach den Plänen des renommierten Architekten Rudy Ricciotti das Mémorial du Camp de Rivesaltes, eine Gedenkstätte, die die Geschichte des Lagers aufarbeiten und dokumentieren soll.»

Nebst den fünf Faszikeln mit den Aufzeichnungen von Madame García befanden sich mehrere sorgfältig ausgeschnittene und auf A4-Blätter aufgeklebte Zeitungsausschnitte bei den Unterlagen.

Auch hier waren jeweils mehrere Seiten mit Klammern zu drei Bünden zusammengeheftet.

Nun war mein Interesse für die Biografie von Carmen-Olga García definitiv geweckt.

5

Berlin, April 1930

Die 22-jährige Olga Schmidt brütete über der Continental-Schreibmaschine und suchte verzweifelt nach einem passenden Anfang für den Bericht, den sie für Die Rote Fahne verfassen sollte.

Sie sass in der düsteren Redaktionsstube, die seit vier Jahren im Karl-Liebknecht-Haus an der Kleinen Alexanderstrasse untergebracht war.

Trotz der mit besten Noten abgeschlossenen Sekretärinnenausbildung an der Berufsfachschule des Letten-Vereins hatte Olga infolge der allgemeinen Wirtschaftskrise vorerst keine geeignete Anstellung gefunden und deshalb den Haushalt ihres verwitweten Vaters besorgt, den sie ab und zu an Veranstaltungen der Kommunistischen Partei KPD begleitet hatte.

Kurz nach dem Tod des Vaters hatte ihr ein Funktionär der KPD eine Praktikantinnenstelle bei der Redaktion vermittelt und nun sollte sie ihren ersten Bericht unter der Rubrik «Ein Jahr nach dem Blutmai» schreiben.

Die damaligen Erlebnisse waren ihr so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Kein Tag verging, ohne dass die Ereignisse in ihrem Kopf wie in einem Film abliefen, und manche Nacht schreckte sie auf, weil die entsetzlichen Anblicke ihr in ihren Träumen aufblitzten.

Gemeinsam mit ihrem Vater hatte Olga im April 1929 noch an der Parteisitzung teilgenommen, an der einstimmig beschlossen worden war, am Aufruf zur Teilnahme an der traditionellen Maikundgebung festzuhalten, trotz des vom Berliner Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel erlassenen Verbotes für Versammlungen unter freiem Himmel.

Am Mittwoch, 1. Mai, waren dem Aufruf der KPD nur zirka 8000 Menschen gefolgt, weil mit Ausschreitungen gerechnet worden war. Die Berliner Polizei ging in der Folge rigoros mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstrierenden vor, liess gar Panzerfahrzeuge mit Maschinengewehren auffahren und versuchte die Menge mit Warnschüssen einzuschüchtern.

Die Auseinandersetzungen eskalierten an den folgenden zwei Tagen, als Polizeieinheiten die Arbeiterviertel in Wedding und Neukölln durchkämmten, willkürlich Wohnungen durchsuchten und zahlreiche Menschen verhafteten.

Die Polizeiführung verhängte in ganz Berlin eine Ausgangssperre, die Fenster gegen die Strassen mussten geschlossen bleiben und die Räume durften nicht beleuchtet werden.

Vater Schmidt widersetzte sich trotzig diesen Anweisungen und wurde kurzerhand erschossen, als er eine vor seiner Wohnung vorbeiziehende Polizeieskorte als Faschobande beschimpft hatte. Neben Schmidt wurden über 30 weitere Zivilisten während den Mai-Unruhen 1929 in Berlin von Polizeikräften getötet.

Olga konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten – einerseits, weil sie den gewaltsamen Tod ihres Vaters immer noch nicht verarbeitet hatte, anderseits, weil sie nicht imstande war, ihre Gefühle zu Papier zu bringen.

Eine Stunde später lieferte sie dem Chefredaktor ihren kurzen Bericht ab und ergänzte diesen mit dem Liedtext Roter Wedding.

Vater starb aufrecht

Mein Vater Karl-Friedrich Schmidt wurde im Dreikaiserjahr 1888 geboren. Im Alter von zwölf Jahren nahm ihn seine Mutter mit zu einer Parade mit Kaiser Wilhelm II. und schämte sich, als ihr Sohn den von ihm verlangten Bückling verweigerte. Zeit seines Lebens machte Vater keine Bücklinge, kroch vor niemandem und verachtete die Schleimscheisser.