Endzeitgemäß - Helena Kühnemann - E-Book

Endzeitgemäß E-Book

Helena Kühnemann

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Beschreibung

Merve ist im Transit aufgewachsen, zwischen Schnellstraßen, Musterhäusern und Plastikpflanzen. Hier, wo die Zeit stehengeblieben scheint, betrinkt sich ihr Großvater zu Schlagermusik und wappnet ihr Vater sich für den Weltuntergang. Merve will nur weg; sie sehnt sich danach, endlich ins Ideal aufzusteigen. Dort sind die Menschen mühelos schön, sie verwirklichen sich selbst, verstehen etwas von Konsens und Kimchi. Sie haben statt Routinen ihren Rhythmus gefunden. Das Versprechen: Wer hart genug an sich arbeitet, kann etwas Besonderes sein. Im Ideal hofft Merve auch, ihre Mutter wiederzufinden, die verschwunden ist, als sie ein kleines Kind war.  Kurz vor dem Aufstieg lernt Merve Sven kennen; Sven, der liebevoll und schlagfertig ist, aber im Transit bleiben will. Plötzlich zweifelt Merve: Verliert sie etwas, wenn sie weiter nach dem Ideal strebt? Und lohnt es sich überhaupt noch zu hoffen, während eine Krise die nächste jagt? Endzeitgemäß ist ein zeitgenössisches und kluges Debüt, das von der Suche nach dem glücklichen und erfüllten Leben in einer Endzeit erzählt, die unserer Gegenwart verdächtig nahekommt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Endzeitgemäß

HELENA KÜHNEMANN, Jahrgang 1996, wuchs in einer ostdeutschen Familie auf und ist heute Filmemacherin und Autorin. In Leipzig und Gent begann sie ihr Studium der Medienkunst und des Films, das sie mit der ersten Fassung des Manuskripts von Endzeitgemäß abschloss. Sie ist in der nationalen und internationalen Film- und Kulturszene tätig und lebt in ihrer Heimatstadt Berlin.

Seit Tagen, ja vielleicht Wochen eit Tagen, ja vielleicht Wochen und Monaten verharre ich hier auf auf dem Boden. Linoliumsymbiose. Ich  bin nur noch Gefühl, eine Kombination aus schlechtem Gewissen und Scham, die mich in eine tiefe Dunkelheit gezogen hat. Draußen geschieht eit gezogen hat. Draußen geschieht das Leben. Ich verlasse meine Wohnung nicht. Ich verstecke mich zu Hause, im Privaten, besser: in dem, was noch übrig ist davon. Nachdem ich mich so ausgestellt habe, muss ich mich eintuppern, um wieder zu mir zu finden. Kokon-Stadium.

»Was machen, wenn die Endzeit angebrochen ist? Sprachlich gekonnt werden Grenzen ausgelotet und Ideale infrage gestellt. Mit Merve gemeinsam würde ich jedenfalls sofort auf das Ende warten.« JESSICA LIND

Helena Kühnemann

Endzeitgemäß

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

S. 73: Zitat nach nach Theodor W. Adorno

S. 240: Zitat nach John Lennon

S. 254: Zitat aus dem Song Bye Bye von DJ Schinkensuppe

 

 

ISBN 978-3-8437-3648-0

 

© 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 Berlin

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Autorinnenfoto: © Leonie Viola Janssen

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

Merkwürdig

Agnostiker-Cola

Ein Lächeln wirkt mehr als ein Pie-Chart

Neue Leggins sind wie ein neues Leben

Pissen ist ein Menschenrecht

Dienstleisterin des Todes

Mein Später wird im Hier schon zum Jetzt

TER

Fehlinvestition

Volle Pulle

Der Jahrhundertmaler an der Fritteuse

Schlumpf-Wärme

Mühelos schön

Endzeit-Bingo

Die Durchlässigkeit der Welt

Colabrand

Regelsystem Liebe

Svenni und Siggi

Diffuse Doppeldeutigkeit

Alte Menschen sind meine Spezialität

Jenga-Schmerz

Stille Gräben sind tief

urst Schau

Endlich exklusiv

Rivalinnen

Treibende Tangenten

Was bisher geschah

Gegenbewegung

Mega

MOMMY

ISSUES

Radikale Kapitulation

Das sind nicht die Alkopops meiner Jugend

Die finen Unterschiede

Fehlersuchbild

Ich will nie wieder Bilder produzieren

Die letzte Fassung

Forever? Forever-Ever?

Kein Ende in einer Endzeit

U-Turn

Abspann

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Zu jeder Zeit hat man das Gefühl, dass Krisen so schlimm waren wie noch nie. Ich finde den Blick zurück beinahe tröstlich. Der Finger lag schon häufig dicht am Auslöser, der die Gegenwart endgültig hätte auslöschen können. Unerklärlicherweise wurden Lösungen gefunden, selbst die schrecklichsten Katastrophen kriegen sich manchmal wieder ein. Es gehört also auch zum Realistischsein dazu, positive Zufälle mitzubedenken. Diese Einstellung gibt mir in dunklen Zeiten einen beinahe naiven Realismus; meine Waffe gegen die Ohnmacht.

Ich bin im Wandel geboren. Es war eine große Umbruchszeit, in der sich die vielen Krisen zu einem Nadelöhr verdichteten. Damals ist auch das Ideal entstanden. Ich muss ein paar Monate alt gewesen sein, als sich das System besser an die Bedürfnisse der Menschen angepasst hat. Zonen wurden ausgewiesen, die Menschen mussten sich für eine Seite entscheiden. Entweder sie gingen auf Akademien, um aufzusteigen und als Erste das Ideal zu besiedeln, oder sie blieben im Transit. Damals war es noch schwierig, sich zwischen den Zonen zu bewegen. Erst in den letzten Jahren gab es Lockerungen. Der Wandel hat damals ganze Familien auseinandergerissen.

Ich frage mich nicht, warum meine Eltern sich getrennt haben. Wer mit meinem Vater leben will, muss vieles akzeptieren. Mein Vater benötigt eine kompromissbereite Frau. Die Liebe zu ihm muss in der Stärke liegen, seine Fehler aushalten zu können. Ich kann das nicht. Wohin meine Mutter damals gegangen ist, weiß ich bis heute nicht. Meine Väter tun so, als würde sie nicht mehr existieren. So trauert jeder auf seine Art.

Ich habe keine aktiven Erinnerungen mehr an diese fremde Mutter. In meinem Unterbewusstsein mischen sich Ahnungen, in meinen Träumen diffuse Bilder. Ich lebe mit dieser Leerstelle, als fehle mir eine Erfahrung, die andere Menschen verbindet.

Ich bin nicht als Merve geboren. Ich wurde erst später zu ihr.

Als Kind war ich damit beschäftigt, mich anzupassen. Ich habe in einem System mit klaren Regeln funktioniert. Ich war kein widerspenstiges Kind – auch wenn meine Väter das gerne behaupten. Ich habe zur richtigen Zeit geschrien, geschlafen und gegessen. Autoritäten habe ich fragenlos angenommen. Finya, die so ganz anders, viel freiheitlicher aufgewachsen ist, meinte einmal zu mir, das Transit habe mich »erfolgreich dressiert«.

Ich fand es voll gut, so richtig normal zu sein. Der leiseste Ansatz von Wellen im Haar wurde geglättet, Haare dort entfernt, wo sie nicht hingehörten. Ich zog das an, was meine Väter mir herausgelegt hatten, las, was die Kinder in meiner Klasse gut fanden, und aß, was da war. Gehört habe ich die Schlager von Reini. Ich dachte, alle anderen machten es genauso wie ich. Jeden Trend mitzumachen gab mir das gute Gefühl, dazuzugehören. Dass es noch mehr geben könnte als diese Welt, in der der Horizont ein mit Pflastersteinen gefüllter Gabionenzaun ist, kam mir lange nicht in den Sinn.

Das Ideal war bei mir zu Hause ein Tabuthema. Meine Väter sprachen von »Aufsteiger-Schafen«, »Ideal-Deppen« und »Wandel-Profiteuren«. Sie empfanden die Aufsteiger-Szene als arrogant und oberflächlich. Eine Ansammlung »illusorischer Weltverbesserer«. Die da oben, die da oben.

Ihre ablehnende Haltung machte mich stutzig – und neugierig. Neid ist immerhin die moderne Form der Anerkennung. Also versuchte ich, so viel wie möglich darüber zu erfahren, und alles, was ich erfuhr, war großartig: Das Ideal ist ein Ort, an dem aus dem Leben der Menschen Geschichten werden. Wo man sein darf, wer man ist, wo man sich in jeder Hinsicht entfalten kann. Die Menschen werden zu Hauptfiguren ihres Lebens; hier wird ihre Andersartigkeit nicht nur akzeptiert, sie wird speziell gefördert und herausgearbeitet. Sie vertreten individuelle Standpunkte, besitzen außergewöhnliche Qualitäten, leben das besondere Leben. Glück findet sich nicht im Konsum, sondern im Charakter. Diese Welt ist in einem ausgewogenen Verhältnis geschmackvoll und gleichzeitig naturbelassen.

Seit meinem Aufstieg war ich erst ein paar Mal im Ideal. Vor meinem inneren Auge sehe ich noch die Fassaden unter der Abendsonne: Sie sind taupe, sage, amber und mauve. Die Straßen leuchten grün. Anstelle der Autos gibt es Platz für Menschen, die in bequemen Unisex-Klamotten Käse kaufen oder die Alternativen dazu. Im Sommer fühlen sich die Städte nach einer lauen Sommerbrise und Urlaub an. Im Winter sind die Orte gemütlich, und selbst der Rückzug in die Dunkelheit ist erträglich. Der Aufstieg bedeutet für mich die Freiheit, endlich anzukommen.

Merkwürdig

Rentner grölen auf der Bühne über Sehnsucht und Petting und treffen damit den Nerv ihrer Generation. Der Raum schalalalalat – mein Opa Reini, erste Reihe, mit dabei. Er hält drei Humpen im Arm, als ich mich zu ihm drehe, sind sie leer und rutschen ihm aus der Armbeuge. Ich beuge mich vor, will sie auffangen – aber sie haben sich vervierfacht, sind überall, zerspringen lautstark. Ich richte mich wieder auf; Opa trägt auf einmal das Gesicht meiner Mutter. Ich muss geblinzelt haben. Neben mir steht wieder Reini, dann schaue ich mir auf einmal selbst in mein fahles, etwas verzerrtes Gesicht. Was in allen drei Gesichtern bleibt, sind unsere Augen – gelb umkreiste Schlunde, die mich jetzt im freien Fall in eine ungeahnte Tiefe ziehen. Kein Boden unter mir, fliege ich? Ich falle, bis ich auf dem Merchandise-Tisch lande und damit endlich aufwache.

Kopfschmerzen. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, wo ich bin, einen weiteren, um mir sicher zu sein, wer ich bin. Meine Gelenke knacken, als ich sie zaghaft bewege, aus der Ferne höre ich den Lärm der Schnellstraße. Durch halb geschlossene Rollos scheint sanftes Morgenlicht in mein Gesicht. Ein fahler Geschmack hält sich in meinem Mund, dabei hatte ich doch nur das eine alkoholfreie Bier, anders als Opa.

Es ist viel zu früh in meinem Wahlkinderzimmer. Meine Füße stoßen an die Bettkante, als ich versuche, mich zu strecken. In diesem engen, länglichen Schlauch, in dem nur das Kinderbett, die kleine Anrichte und eine Kommode Platz finden, habe ich mich noch nie wohlgefühlt. Seit meinem Auszug hat Opa den Raum konserviert; er ist inzwischen das, was aus den meisten leeren Kinderzimmern wird – eine Mischung aus Abstellkammer, Wäscheraum und der stillen Erinnerung an eine vergangene Adoleszenz. Es riecht sauber und steril. Am Rand des kleinen Holzbetts kleben glitzernde Sticker. An den Wänden hängen Tierposter aus der Apothekenzeitung. Daneben ausklappbare Postkarten von Jugendstars und Schlager-Idolen des Transits. In meinem Film gibt es eine Szene über diesen Raum – wenig sagt so viel über einen Menschen aus wie sein Kinderzimmer –, darüber liegt meine eigene Stimme, die die Frage stellt: »Was bleibt, wenn alles geht?« Heute befremdet mich die schreiende Anwesenheit der Vergangenheit, ein unerwünschter Gast in meinem Leben, wenn sich schon gestern eine Ewigkeit her anfühlt.

Benommen hieve ich mich in die Senkrechte. Ich ächze dabei, froh darum, dass mich niemand so sieht. Ich atme tief ein, inhaliere alles Unpersönliche. Brand – meine Kehle trocknet aus, also setze ich mich in Bewegung. Mein Gaumen will gerade nichts lieber als eine eiskalte Cola.

Das Haus meines Großvaters ist wie jedes Musterhaus genormt; die Räume sind so miteinander verbunden, dass man eine Runde durch das Unter- und Obergeschoss drehen kann. Ich trete vom Gästezimmer in das Wohnzimmer. An der Nordseite hat Opa sein persönliches Luxuselement gebaut: Der Wintergarten ist eine kleine, dreieckige Erkerverglasung mit Blick zur Straße. In der Ferne flitzen Autos vorbei; Berufsverkehr. Im Garten blickt man auf den Pool, also ein Wasserbasseng, in dem Laub schwimmt. Ich erinnere mich daran, wie Opa das Becken früher gereinigt hat. In der Rechten hielt er den Kescher, das linke Bein streckte er gerade nach hinten raus. Opa hat das gefischte Laub vom Grund zusammengeklaubt, sich kurz zu beiden Seiten umgeschaut. Als er sich sicher sein konnte, dass ihn außer mir niemand sah, hat er den Laubberg genommen und ihn hauruckmäßig über den Zaun auf das Grundstück von Herrn K. geschmissen. Laubfischen war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Jetzt ist das Nachbargrundstück durch einen riesigen, mit Pflastersteinen gefüllten Metallzaun abgetrennt. Gabionenzäune sind im Kommen, die Mauern ersetzen die charmanten, selbst gebauten Holzzäune von früher. Opa hat nicht mehr die Kraft, den Kescher anzuheben. Der Garten verkommt.

Ich öffne die vergilbte Tür zur Küche. Es riecht nach Essigreiniger, altem Waschlappen und stehendem Filterkaffee. Die Uhr an der Wand ist eine typische Transit-Uhr. Die Zeiger bewegen sich so laut und schwerfällig, als hätten sie ein anderes Maß für Sekunden. Zeit fühlt sich langsamer an in den Häusern der Bleiberlinge. Eine konstante Erinnerung, dass sie im Alltag zerrinnt.

Geübt öffne ich die Tür zum Kühlschrank, der mich herausfordernd ansurrt. Dieser Geruch riecht säuerlich-salzig nach Fleisch, das sein Mindesthaltbarkeitsdatum lange überschritten hat. Im Gemüsefach stapeln sich Grillsoßen, darüber zwei Tupperboxen, eine für Käse und eine für Wurst. Die Teewurst ist an den Rändern schon leicht vergilbt. Alles in meinem Bauch dreht sich. In der Tür steht eine beinahe leere Zweiliterflasche Cola, aus der jemand vor langer Zeit die Luft gelassen hat. Ich lasse die Tür von selbst zufallen, laufe zur Spüle, fülle mir schnell ein Glas Wasser und trinke es langsam. Früher meinte Opa, das helfe gegen Traurigkeit.

Die Erinnerung an das Schlagerkonzert gestern schießt in meine Gedanken. »Durch sein, mit jemandem durch sein« – in meinem Kopf hängt sich der Satz des Sanitäters in Dauerschleife auf. In meinen Knochen sitzt noch immer der Schock; die Angst, die Sorge, das schlechte Gewissen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wie ich es gelernt habe, schiebe ich die unangenehmen Gedanken wieder weg, während ich routiniert das Tablett mit dem Entenmuster hinter der Mikrowelle hervorziehe. Darauf bereite ich das Katerfrühstück für Opa zu.

Diesmal versuche ich, die Luft anzuhalten, bevor ich den Kühlschrank öffne. Unter den Grillsoßen finde ich eine angebrochene Blechdose mit Sauerkraut. Fermentiertes ist vermutlich unser einziger gemeinsamer Nenner. Ich lege also eine Gabel Sauerkraut auf den Teller. Damit forme ich einen Mund. Dazu kommen zwei Würfel Bergkäse aus der Käse-Tupper. Der Teller sieht jetzt aus wie ein nett gemeinter Smiley. Ich lächle den Smiley an. Er lächelt gequält zurück.

Ich schließe die Tür mit meiner Hüfte, nehme das Tablett in die Rechte und drehe mich der Tür zum Flur zu. Eine Treppe führt von ihr in das Obergeschoss, Opas Reich. Das Geräusch meiner Schritte auf den Stufen, im Viervierteltakt bauen sich die Erinnerungen an gestern zusammen. Diesmal kann ich sie nicht wegschieben. Für einen Moment muss ich innehalten, mir ist schwindelig, und ich stütze mich am Geländer ab, um nicht umzufallen. Das Tablett wackelt gefährlich.

Es sollte ein ganz normaler Besuch werden. Na ja, normal. Opa hat mich maßgeblich erzogen, ich verbringe also mein Leben in einer Bringschuld. Wie so häufig, wenn er mir etwas vorschlägt, konnte ich nicht Nein sagen, so sind wir in dieser elendigen Turnhalle gelandet. »Schlager, die magst du doch.« Bringt nichts, ihm zu erklären: »Ja, als ich fünf war.« Opa hält nun mal gern an Altem fest; an Erinnerungen und Vorstellungen seiner Welt.

Das Schlagerkonzert war mental fordernder als Pogo. Die Turnhalle hell, die vielen weißen Hautflächen reflektierten das Licht. Alles voller Eheleute im Discofox: Händchenhaltend wurde mit steifen Hüften getanzt. Im Transit scheidet noch der Tod, nicht der gegenseitige Respektverlust. Diejenigen, die keine Hand zu halten hatten, klammerten sich mit ihren von Krampfadern durchzogenen Händen an ihren Hugo oder wie mein Opa an seinen Bierhumpen: »Wärmt von innen drinnen.«

Opa ist ein so kontrollierter Mann, dass es manchmal komplett ins Gegenteil schlägt; so wie gestern, als er sich vor meinen Augen in die Besinnungslosigkeit gesoffen hat. Ich war nur kurz auf dem Klo. Als ich zurückkam, lag er einfach so da, in der Mitte der Tanzfläche, Augen geschlossen, wie tot. Während ich mich durch die beigen Massen zu ihm kämpfte, spürte ich nur Widerstand und Ohnmacht. Vor ihm kniend, suchte ich nach seinem Puls, der stille Körper vibrierte im Takt der Musik, in mir pure Panik, bis von irgendwoher andere Hände kamen. Mit einem der Kellner – zu dem Zeitpunkt habe ich ihm noch keine Beachtung geschenkt – zog ich Opa über den Boden in Richtung Ausgang, mein Blick gesenkt, hundert Blicke auf uns gerichtet, dann wuchteten wir ihn im Foyer gemeinsam auf den Merchandise-Tisch. Sanis kamen zu Hilfe. Ich wartete, bis der Tropf kickte, besorgt strich ich über Opas Hand.

Als er gerade seine Augen öffnete, schäkerte er schon wieder: »Habt ihr och was Härteres?«

Sein Blick taxierte mich nur kurz, dann versuchte er gleich, den Sanitäter zu bezirzen, als wenn nichts gewesen wäre. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, diesen unverbesserlichen Mann.

Der Sanitäter neben mir bemerkte, wie sich meine Fingerknöchel weiß färbten, als ich meine Hände zusammendrückte: »In fünfzehn Minuten sind wir mit ihm durch.« Durch sein, mit jemandem durch sein.

Ich öffne die Augen, die Fingerkuppen meiner rechten Hand krallen sich wieder ins Fleisch, für einen Moment konzentriere ich mich auf meine Wut, aber bekanntermaßen hält sich das Gefühl bei mir nicht lange. Meistens verändert es sich schnell und wird zu Sorge, Traurigkeit oder Schuld. Auch dieses Haus appelliert an mein schlechtes Gewissen, weil ich zu selten da bin. Wenn doch, schafft Opa es jedes Mal, mich danach für eine Weile fernzuhalten. In der Zwischenzeit parkt er sich selbst im Loch.

Oben angekommen, klopfe ich zaghaft an die angelehnte Tür. Mit einer Hand öffne ich sie. Reini liegt im Bett. Ich laufe um ihn herum und gehe neben ihm in die Hocke. Das Tablett schiebe ich auf die Ecke des Nachttischs. Opa öffnet seine Augen einen Spaltbreit. Er hat fast etwas von einem Reptil, einer Echse oder so. Die einst großen, grünen Augen sind mit dem Alter in ihre Höhlen zurückgewandert und formen nun wachsame Pupillen. Damit taxiert er das Tablett, richtet sich ein Stück auf, nimmt wie selbstverständlich die kleine Gabel und schlägt zu. Gekonnt schiebt er sich Sauerkraut in seinen halb geöffneten Mund.

Ich verharre neben ihm, starre abwechselnd zu ihm und zu dem Teller, der nur noch aus den Käseaugen besteht, fast so gelb wie der Rand unserer Pupillen. Das Auffällige an unseren Augen ist ein gelber Kreis, der Pupille und Iris miteinander verbindet. Babsi nennt ihn »den goldenen Kranz«. Ich überlege, wie ich ein Gespräch über den gestrigen Abend starten soll, mit dem ich ihn erreiche, ohne zu tadeln. Ich hole gerade tief Luft, will ansetzen, da imitiert Opa mit seiner Hand eine Trinkbewegung. Ich rolle mit den Augen, manchmal stellt Opa sich extra faul, wenn ich da bin. Brummend stehe ich auf, um in der Küche Kaffee aufzusetzen. Reini zwinkert mir nervös zu. Er liebt das braune Gesöff, ich bekomme davon Panikattacken.

Das war schon früher so – wir hatten jeden Tag eine feste Zeit für KK, Kaffee-Kuchen. In unserem persönlichen Ritual schoben wir uns nach der Schule Fertigkuchen mit Sprühschlagsahne in den Wanst. Ich mochte KK, Opa war meistens für den Moment seltsam entspannt. Er erzählte mir dann von seiner Lebensaufgabe, dem Betrieb, und ich lauschte pflichtbewusst. Seine Berufslaufbahn nennt er andächtig »50 Jahre Arbeitsleben, null Krankheitstage«. Ich verstehe bis heute nicht, was genau er gemacht hat. Sobald er über Arbeit spricht, verwendet er komplizierte Abkürzungen und genießt die Geschäftigkeit, die es ihm verleiht.

Während ich warte, dass das heiße Wasser durch den Tropf in die Kanne läuft, stecke ich mein Gerät in die altertümlich wirkende Steckleiste hinter dem Kühlschrank. Es fährt langsam hoch, ich bewege mich auf der Startseite meiner Plattform. Finya und Lasse haben einen neuen Clip hochgeladen, auf dem sie glücklich ihre Fensterläden renovieren. Sophie hat einen Beitrag zu der aktuellen politischen Debatte um Menstruationstangas gepostet. Ich überfliege den Text und werde dabei seltsam emotional. Ich verbringe einen Moment zu lang auf ihren Profilen. Der innere Druck steigt wieder in mir. Dieses Jahr werden wir alle pitchen, der Aufstieg rückt endlich in greifbare Nähe. In wenigen Tagen starten die Zwischenstände, und ich habe noch keine Idee, wie mein Ende aussehen soll. Jetzt vibriert mein Gerät, ich bekomme eine Kurznachricht, oje – Verpflichtungen.

Wanna hang?

Die Nachricht ist von Sven. Ich lasse das Gerät fast fallen, vor Schreck. Kurz klicke ich auf sein Profil, viel gibt es nicht zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass er mich sucht, geschweige denn so schnell findet. Normalerweise lässt man sich lange Zeit, bevor man den anderen kontaktiert, um zu zeigen, dass man total unabhängig ist und kein kompletter Creep. Im Transit ist das Warten außerdem Machtdemonstration.

Ich will nicht warten. Ich bin keine Wartende.

Klar. Wann?

Das Gerät in meiner Hand wird ganz warm, als wolle es mir zeigen, dass ich auf einem guten Weg bin. Seine Antwort kommt binnen Sekunden.

Gleich. Wo?

Ich denke kurz nach und wähle dann das Naheliegende.

Center-Platz.

Er reagiert mit einem Tapback-Daumen-nach-oben auf die Antwort und beendet damit das kurze Gespräch.

Ich war gestern sehr energisch aus der Veranstaltungshalle getreten. Die Glastür im Foyer schwang lautlos vor und zurück, ich inhalierte die frische Luft, um mich zu sortieren. Auf dem Vorplatz verharrte ich eine Weile stumm, der orangerote Himmel über meinem Kopf, grauer Asphalt unter meinen Füßen, ein schwerer Brocken im Bauch. Während mein Kopf Endlosschleifen drehte, bewunderte ich die schönen Farben vor meinem Auge; diesen epischen Blick. Vielleicht könnte das mein Endbild werden, dachte ich, während ich das Szenario vor meinen Augen unauffällig filmte. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sich der Kellner, der mir gerade noch geholfen hatte, neben mich stellte. Er war jünger als die anderen, ein paar Jahre älter als ich und passte damit noch weniger in diese Umgebung.

»Ich bin übrigens Sven.« Diesmal streckte er seine Hand in meine Richtung. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, also formte ich reflexartig eine Faust. Fistbumpen zur Begrüßung, na toll. Ich beobachtete ihn mit klarem Blick, sein Lachen klang rau und irgendwie dreckig, während er mich ebenfalls etwas zu lange ansah. Wir hatten jetzt etwas gemein; das niedrig hängende Licht des Abends. Sein Blick war so eindringlich, dass er aus meinen Füßen einen Nebel in meinen Kopf zog, der sich kribbelnd ausbreitete und damit alles lahmlegte. Ich erwiderte also nur »Merve«, etwas anderes fiel mir nicht ein.

»Ist das dein echter Name?« Seine Augen wirkten provozierend. Sie funkelten hellgrau und sahen fast so aus, als hätte man einem stechenden Eisblau die Sättigung entzogen. Ich fragte mich, woran er mir angesehen hatte, dass ich Aufsteigerin war, vielleicht an der Kleidung, vielleicht an meiner Ausstrahlung. Viele der Aufsteigenden legten ihre Geburtsnamen ab, wenn sie auf die Akademie kamen. Wahllos zuckte ich mit meinen Schultern. In meinem Kopf kramte ich bereits nach einem anderen Thema, ich wollte auf Attacke, aber hatte vergessen, wie. Er trank einen Schluck aus seiner Colaflasche und fragte nichts mehr. Auf einmal umgab uns eine Stille, vor der ich Angst hatte, aber anders als erwartet war sie angenehm. Sie fühlte sich vertraut an.

»Danke«, sagte ich dann.

»Passt.«

Bei der Erinnerung an seinen Blick wird mir auch jetzt ganz mulmig, aber gut mulmig, so warm und ungewiss. Sven war merkwürdig. Und das bedeutet vor allem auch, dass etwas würdig ist, bemerkt zu werden.

Die Kaffeetasse in der Hand gehe ich diesmal mit einem kleinen Schmunzeln nach oben zu Opa. Als er mich durch die offene Tür kommen sieht, richtet er sich stöhnend auf. Sein Nachttisch ist so voll, dass ich die Tasse einfach auf den Boden neben dem Bett stelle. Für einen kurzen Moment halte ich unentschlossen inne.

»Musste wieder los?«, fragt er erschöpft.

»Ja«, antworte ich und knie mich diesmal neben ihn auf den Boden, um ihn zum Abschied zu umarmen. Opa sagt, das mit dem Hinknien solle ich mir fürs Sterbebett aufheben, ich sage tadelnd: »Ach, Opa«, weil ich es nicht mag, wie er ständig Witze über seinen eigenen Tod macht.

»Wird ja nicht das letzte Mal gewesen sein«, murmelt Opa in mein Ohr, als ich ihn kurz drücke. Ich schlucke, bin froh, dass er mein Gesicht nicht sehen kann, und nicke beflissen. Wenn er wüsste, dass ich im letzten Jahr vom Aufstieg bin. Als ich wieder stehe, sieht er zu mir auf. Meine Lippen tragen wieder das kleine Lächeln, er sieht zerbrechlich aus, wie er so daliegt.

»Ich war och mal so alt wie du«, sagt er dann mit Blick auf mein Gesicht.

»Was meinst du, Opa?«

»Na ja, in der ersten Hälfte von deim Leben schauste auf die Geburt. Damit fängt’s ja an. Da schauste zurück zum Anfang. Da will man och alles wissen, wo man herkommt, wer man is’ und so.« Er macht eine Pause und trinkt einen Schluck von dem Kaffee. Es blubbert aggressiv in seinem Magen. Er verzieht das Gesicht. »Dis ändert sich. Dann begreift man das Leben mit Blick auf’n Tod und überlegt sich, was das Richtige is’ für ein.«

Ich schaue ihn etwas ratlos an. Er hat dann selbst genug von seiner Sentimentalität, winkt mich hektisch raus zur Tür, er wolle jetzt seine Ruhe haben. Als ich den Treppenabsatz erreiche, schaue ich mich noch einmal durch die geöffnete Tür zu ihm um. Er sieht, während er leidet, seltsam zufrieden aus.

Agnostiker-Cola

Die Nachbarschaft in der Transitgemeinde ist meine persönliche Vorhölle; überall sichtdichte Zäune, schwarze Fensterläden und Plastikpflanzen im Eingangsbereich. Aus der Ferne hört man die Schnellstraße. Die Transitgemeinde befindet sich zudem in der Einflugschneise des Flughafens der Transitstadt. Der fliegt primär Kurzstrecke. In periodischen Abständen ertönt über meinem Kopf ein lautes Dröhnen, es klingt nach Ambient-Doom, Musik der Menschen, die versuchen, der Transitgemeinde zu entfliehen.

Die komplette Siedlung formiert sich, wie Opas Haus, nach Musterhaus-Katalogen, nur kuratiert hier niemand. Die Grundstücke sind alle genormt. Von den feinen Abweichungen kann man auf das Einkommen der Nachbarn schließen. Wer protzt, wählt einen Türbogen aus falschem Marmor, eine Hausfarbe mit glitzerndem Sandstein oder die Garage, in die zwei Autos passen. Das Bittere in der anthrazitgefärbten Vorstadtwelt ist die Mentalität der Menschen. Sie verbringen ihre Lebenszeit damit, auf die anderen zu schauen anstatt auf sich selbst.