Engel sterben - Eva Ehley - E-Book
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Eva Ehley

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Beschreibung

Ein Teufel im Paradies Auf Sylt staut sich die Hitze, alles redet vom Jahrhundertsommer, als innerhalb weniger Tage drei kleine Mädchen spurlos verschwinden. Es gibt keine Zeugen, keine Hinweise, keine Lösegeldforderung. Die Reichen und Schönen verlassen die Insel. Die Polizei arbeitet auf Hochtouren. Aber es sind nicht die Ermittler, die dem Täter gefährlich nahe kommen. Es sind vier Menschen, die auf den ersten Blick nichts verbindet: Eine Mutter, die ihre kleine Tochter schon verloren glaubt. Ein alternder Journalist, alkoholabhängig und seit Jahren auf der Suche nach der ganz großen Story. Eine ehrgeizige Maklerin, die ihren Erfolg nicht aufs Spiel setzen will und stattdessen mit ihrem Leben spielt. Und eine junge Frau, die sich um ihre Kindheit betrogen fühlt und nachts lautlos und ohne Spuren zu hinterlassen in die Villen am Watt einbricht, um an fremdem Leben teilzuhaben

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Eva Ehley

Engel sterben

Kriminalroman

FISCHER E-Books

Inhalt

Prolog Das Haus am WattDienstag, 21. Juli, 16.05 Uhr, Wattvilla, KampenMittwoch, 22. Juli, 19.07 Uhr, Weststrand, ListMittwoch, 22. Juli, 19.50 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDonnerstag, 23. Juli, 9.30 Uhr, Zöllner-Immobilien, KampenDonnerstag, 23. Juli, 11.07 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDonnerstag, 23. Juli, 11.13 Uhr, Kurverwaltung KampenDonnerstag, 23. Juli, 11.50 Uhr, Zöllner-Immobilien, KampenDonnerstag, 23. Juli, 15.20 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDonnerstag, 23. Juli, 20.30 Uhr, Zöllner-Immobilien, KampenDonnerstag, 23. Juli, 21.15 Uhr, Möwengrund, ListFreitag, 24. Juli, 8.30 Uhr, Braderuper HeideFreitag, 24. Juli, 9.10 Uhr, Finkenweg, KampenFreitag, 24. Juli, 10.45 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandFreitag, 24. Juli, 11.50 Uhr, Braderuper Weg, KampenFreitag, 24. Juli, 12.29 Uhr, Kindergarten WenningstedtFreitag, 24. Juli, 15.40 Uhr, Weststrand, ListFreitag, 24. Juli, 17.15 Uhr, Hauptstraße zwischen List und KampenFreitag, 24. Juli, 17.32 Uhr, Braderuper HeideFreitag, 24. Juli, 18.05 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandFreitag, 24. Juli, 18.14 Uhr, Möwengrund, ListSamstag, 25. Juli, 10.30 Uhr, Zöllner-Immobilien, KampenSamstag, 25. Juli, 12.25 Uhr, Möwengrund, ListSamstag, 25. Juli, 14.30 Uhr, Mittelstieg, HörnumSamstag, 25. Juli, 16.10 Uhr, Wattvilla, KampenSamstag, 25. Juli, 18.12 Uhr, Braderuper Weg, KampenSamstag, 25. Juli, 20.05 Uhr, Wattvilla, KampenSamstag, 25. Juli, 20.06 Uhr, Möwengrund, ListSamstag, 25. Juli, 20.25 Uhr, Wattvilla, KampenSamstag, 25. Juli, 20.40 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandSamstag, 25. Juli, 21.19 Uhr, Wattvilla, KampenSamstag, 25. Juli, 21.28 Uhr, Wattvilla, KampenSamstag, 25. Juli, 21.31 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandSonntag, 26. Juli, 8.02 Uhr, Strönwai, KampenSonntag, 26. Juli, 10.40 Uhr, Möwengrund, ListSonntag, 26. Juli, 10.59 Uhr, Wattvilla, KampenSonntag, 26. Juli, 14.50 Uhr, Flughafen SyltSonntag, 26. Juli, 14.55 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandSonntag, 26. Juli, 20.17 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 26. Juli, 20.29 Uhr, Alte Landstraße, WesterlandSonntag, 26. Juli, 20.55 Uhr, Hauptstraße, KampenSonntag, 26. Juli, 22.30 Uhr, Möwengrund, ListSonntag, 26. Juli, 23.04 Uhr, Hauptstraße, KampenSonntag, 26. Juli, 23.20 Uhr, Lister Straße, KampenSonntag, 26. Juli, 23.22 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 26. Juli, 23.22 Uhr, Wattvilla, KampenSonntag, 26. Juli, 23.23 Uhr, Braderuper Weg, KampenSonntag, 26. Juli, 23.31 Uhr, Braderuper Weg, KampenMontag, 27. Juli, 6.40 Uhr, Alte Dorfstraße, WesterlandMontag, 27. Juli, 9.05 Uhr, Möwengrund, ListMontag, 27. Juli, 9.15 Uhr, Braderuper Weg, KampenMontag, 27. Juli, 10.12 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandMontag, 27. Juli, 10.17 Uhr, Möwengrund, ListMontag, 27. Juli, 10.25 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandMontag, 27. Juli, 12.25 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandMontag, 27. Juli, 16.00 Uhr, Wattvilla, KampenMontag, 27. Juli, 17.02 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandMontag, 27. Juli, 17.21 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandMontag, 27. Juli, 19.09 Uhr, Braderuper Weg, KampenMontag, 27. Juli, 23.40 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDienstag, 28. Juli, 8.42 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDienstag, 28. Juli, 11.43 Uhr, Kurverwaltung KampenDienstag, 28. Juli, 12.30 Uhr, Wattvilla KampenDienstag, 28. Juli, 12.35 Uhr, Wattvilla, KampenDienstag, 28. Juli, 12.37 Uhr, Möwengrund, ListDienstag, 28. Juli, 13.22 Uhr, Kriminalpolizei WesterlandDienstag, 28. Juli, 13.33 Uhr, Kampener HeideDienstag, 28. Juli, 13.43 Uhr, Lister StraßeDienstag, 28. Juli, 13.44 Uhr, Wattvilla, KampenDienstag, 28. Juli, 13.47 Uhr, Wattvilla, KampenDienstag, 28. Juli, 13.48 Uhr, Kampener HeideDienstag, 28. Juli, 13.52 Uhr, Braderuper Straße, KampenDienstag, 28. Juli, 13.53 Uhr, Wattvilla KampenDienstag, 28. Juli, 14.00 Uhr, Hauptstraße zwischen Westerland und WenningstedtDienstag, 28. Juli, 14.03 Uhr, Braderuper Weg, KampenDienstag, 28. Juli, 14.04 Uhr, Braderuper Straße, WenningstedtMittwoch, 29. Juli, 19.45 Uhr, Pizzeria Tino, WesterlandDonnerstag, 13. August, 17.00 Uhr, Wattvilla, KampenEpilog Das Haus am Watt, Juli 1979Textauszug aus dem nächsten [...]

Prolog Das Haus am Watt

In all ihren Grüntönen erstreckt sich die bucklige Sylter Heide zwischen Braderup und Kampen. Im Westen wird sie vom Golfplatz und einigen Weideflächen begrenzt, im Osten führt sie bis hinunter zu dem schlickigen Strand am Watt. Silbergrau schimmert dort das Wasser zwischen Insel und Festland, wo man im glasigen Dunst einige Windräder ahnen kann. Es ist schon Abend, blaue Stunde. Auf der Braderuper Seite der Heide schmücken einzelne Friesenhäuser wie hingetupft eine schmale Stichstraße. Der Asphalt ist noch aufgeheizt von der Sonne des Tages, es hat seit Wochen nicht geregnet. Da weder Autos noch Fußgänger zu sehen sind, wirkt die Straße wie ausgestorben. Trocken, dürr, tot. Doch plötzlich öffnet sich eine der blau-weiß gestrichenen Friesentüren.

Eine junge Frau tritt heraus. Sie trägt einen unfrohen Ausdruck im Gesicht, der sich aufhellt, als sie beginnt, eine Melodie vor sich hin zu summen. Noch bevor die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, hat sie die leichte Weste zugeknöpft und ein Paar Latexhandschuhe übergestreift. Gleich darauf sind ihre Hände in den Westentaschen verschwunden. Sie will nicht aussehen wie ein Killer auf Urlaub.

Ihr Wohnhaus ist eines der letzten vor dem Braderuper Watt. Nach einhundertundachtzehn Schritten – die junge Frau hat den Zwang, ihre Schritte zu zählen, noch nie unterdrücken können – verlässt sie die schmale Straße, die zu dem Parkplatz am Beginn des Naturschutzgebietes führt, und biegt in den Heideweg ein. Hier kann man quer durch die duftende Landschaft bis hinauf nach Kampen wandern. Nach einigen Minuten kommt ihr die alte Overbeck mit ihrem übergewichtigen Setter entgegen. Die Alte hat den Körper aus jahrzehntelanger Gewohnheit weit nach vorn gebeugt, als liefe sie gegen einen Sturm an.

»Guten Abend, Frau Overbeck, ganz schön schwül heute, was.«

»Moin, Karoline. Hundswetter.«

Schon ist sie vorbei, immer im Gleichschritt mit dem keuchenden Tier. Wenig später taucht an der Kante zum Watt Wilhelmsen mit seiner Dogge auf. Karoline weiß, dass die anderen drei Hundebesitzer ihre Runde schon gedreht haben, denn ihr Fernglas ist ausgezeichnet. Und das Dachzimmer ihres Friesenhauses bietet nach Norden einen ungehinderten Blick über Heide und Watt. Alle Bauten zwischen Braderup und Kampen, die etwas erhöht stehen, lassen sich von dort aus hervorragend beobachten – vor allem das Haus am Watt, zu dem Karoline jetzt unterwegs ist. Ihre Hüfte schmerzt bei jedem Schritt. Würde sie hinken, wie sonst immer, wäre der Schmerz zu ertragen. Aber man würde ihre Fußspuren auf dem sandigen Weg erkennen können. Das wäre zwar gut für die Hüfte, aber schlecht für ihr Vorhaben.

Wilhelmsen grüßt gar nicht. Er tut einfach so, als sähe er sie nicht. Karolines Mutter hat ihm vor Jahren einen nicht ganz echten Stich verkauft. Ganz so blöd, wie sie dachte, war der Mann aber doch nicht. Er machte Ärger, bis die Mutter schließlich vorgab, selbst betrogen worden zu sein, und den Druck zurücknahm. Seitdem guckt Wilhelmsen in die Luft, wenn er Sigrid Noeltes Tochter begegnet. Vor der Mutter hat er zusätzlich ausgespuckt. Immerhin, das bleibt Karoline erspart.

Ein ganz leichter Windhauch kommt von vorn, die Luft riecht feucht und salzig und muffig zugleich. Karoline keucht leise vor Anstrengung. Die Stufen der Holzbohlentreppe scheinen seit gestern Abend höher geworden zu sein, jeder Schritt ist ein Stich in ihre Hüfte. Karoline krallt sich am Geländer fest und hält auf jeder zweiten Stufe inne, damit der Schmerz abklingen kann. Ein unerkannter Bruch der Hüfte in der Kindheit, der schlecht verheilt ist, sagen die Ärzte. Irgendwann um ihren zehnten Geburtstag herum setzten die Schmerzen ein. Es dauerte Jahre, bis Karoline dem Großvater davon erzählte. Die Mutter war ohnehin selten zu Hause. Der Antiquitätenhandel boomte, und Sigrid Noelte profitierte davon. Ihre Tochter wusste sie bei dem eigenen Vater gut aufgehoben, er liebte die Enkelin mit Hingabe und machte sich schon lange nichts mehr aus dem Handel mit alten Bildern, Porzellan und Besteck, der seit zwei Generationen in der Familie üblich war. »Sigrid und ihr Trödel«, pflegte er zu sagen, obwohl er genau wusste, dass es sich meistens um echte und eher selten um nicht ganz so echte Wertstücke handelte. »Lass deine Mutter das mal machen, liebe Line«, pflegte er die Enkelin zu besänftigen, wenn sie nach der abwesenden Mutter fragte. »Sie braucht etwas, das sie ablenkt, nachdem ihr der Mann weggelaufen ist.«

»Weggelaufen« war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck, denn um wegzulaufen, musste man vorher da gewesen sein. Aber einen Vater hatte es für Karoline nie gegeben. Die Mutter weigert sich bis heute konsequent, zu diesem Thema Auskunft zu erteilen, selbst in Karolines Geburtsurkunde steht »Vater unbekannt«.

Vielleicht hat Karoline darum dem Großvater über Jahre nichts von den zunehmenden Hüftschmerzen erzählt. Sie schienen dem Mädchen ein passender körperlicher Makel zu dem längst vorhandenen seelischen zu sein. Mit einem Bein zu hinken, das war ein stimmiges Bild für ein Kind, dem das zweite Elternteil fehlte, fand Karoline damals.

Als kurz vor ihrem Schulabschluss die Schmerzen fast unerträglich geworden waren, das Hinken sich nicht mehr verbergen ließ und nun doch eine ganze Reihe von Ärzten konsultiert wurde, waren die Hüftknochen längst schief verheilt. Die Sechzehnjährige hätte sich die Hüfte noch einmal brechen lassen müssen, was sie energisch ablehnte.

Seitdem humpelt sie auch öffentlich, wenn man bei ihrem zurückgezogenen Leben auf der Insel überhaupt von Öffentlichkeit sprechen kann. Tagsüber ein sitzender Job in der Kurverwaltung und abends die langen Gespräche mit dem Großvater, viel mehr Abwechslung hat es in den letzten zehn Jahren in Karolines Leben nicht gegeben.

Doch vor wenigen Monaten ist der Großvater, obwohl erst in den Siebzigern und noch ziemlich rüstig, sehr plötzlich gestorben. Hat am Morgen steif und kalt in seinem Bett gelegen, Opfer eines Herzschlags, wie der Notarzt feststellte. Als der Mediziner sich anschließend unterstand, das Klischee vom schönen Tod zu bemühen, hat Karoline ihn hinausgeworfen.

Seitdem wohnt sie allein in dem alten Heidehaus. Die Mutter ist nur zur Beerdigung gekommen, sie konnte mit ihrer seltsamen Tochter noch nie viel anfangen, obwohl Karoline ihr einziges Kind geblieben ist.

Karoline vermisst die Mutter nicht, dafür den Großvater umso schmerzlicher. Ein wenig Trost hat sie nach seinem Tod in ihren abendlichen Wanderungen gefunden. Über die Straße in Richtung Watt, dann den sandigen Weg entlang bis zur Treppe, die den Heidehügel hinaufführt. Nach dem beschwerlichen und schmerzhaften Aufstieg eine Pause auf der Holzbank. Vor wenigen Wochen hat die Kurverwaltung das alte bemooste Exemplar durch ein neues ersetzen lassen. Karoline kann sich nur schlecht an das glatte Holz der neuen Bank gewöhnen. Zum Glück ist die Aussicht dieselbe geblieben, dieser unvergleichliche Blick über die Heide.

Die sich kreuzenden Wege liegen im schattenlosen Licht der Dämmerung vor ihr wie eine Landschaft gewordene Straßenkarte. Sauber gezeichnet und vollkommen menschenleer. Karolines Blick geht über die Hügel, bis zu dem Haus mit dem halbrunden Erker. Es wurde vor etwa vierzig Jahren von einer Industriellenfamilie aus Düsseldorf erbaut. Karoline kennt den Namen der Besitzer nicht, aber alle hier am Watt wissen, dass das Haus seit vielen Jahren leer steht. Und vermietet wird es auch nicht. Dabei ist beim Bau an nichts gespart worden, Geld scheint in der Familie ausreichend vorhanden gewesen zu sein. Trotzdem muss es irgendwelche Zerwürfnisse oder Scheidungen gegeben haben. Das alles ist schon lange her, nur die Alten erinnern sich und würden vielleicht davon erzählen. Aber was interessieren Karoline die Probleme anderer Leute? Ihr reicht es vollständig, zu wissen, dass das Watthaus unbewohnt ist und niemand sie heute Nacht stören wird.

Der Schlüssel für die Eingangstür liegt unter einem Findling neben der Garage. Das hat Karoline als Kind entdeckt, auf einer übermütigen Streiftour durchs Watt, bei der sie eine Schulfreundin begleitet hat. Die beiden Mädchen wollten ein improvisiertes Picknick auf der Terrasse des damals schon unbewohnten Hauses abhalten. Auf der Suche nach einem geeigneten Tischersatz hatte Karoline versucht, den Findling anzuheben. Aber der Stein war viel zu schwer, so dass das Mädchen ihn lediglich zur Seite kippen konnte. Dabei hat es den Schlüssel gefunden und sein Geheimnis seitdem für sich behalten, ohne jemals von diesem Wissen Gebrauch zu machen.

Doch als Karoline wenige Tage nach dem Tod des Großvaters auf einem langen Spaziergang wie von selbst den Weg zu dem Watthaus fand, lag der Schlüssel immer noch unter dem Findling. Es war am Abend nach der Beerdigung, und Karoline war außer sich vor Trauer über den Verlust und ebenso außer sich vor Wut über die Kälte, mit der ihre Mutter die Veranstaltung hinter sich gebracht hatte. Längst saß diese wieder im Zug nach Hamburg, wie von Furien gehetzt war sie aus dem Haus ihres verstorbenen Vaters geflohen. Karoline war allein zurückgeblieben, allein mit ihrer Trauer und ihrer Wut, die sie durch einen langen Fußmarsch besänftigen wollte. Doch als die Hüfte zu schmerzen begann und gleichzeitig der Schlüssel des Spökenhauses, wie es längst von den Syltern genannt wurde, so verlockend präsent war, hatte sie zugegriffen. Aus dem einen Besuch waren viele und die Villa am Watt war für Karoline zum tröstlichen Ziel ihrer Spaziergänge geworden.

Gern würde Karoline jetzt die Handschuhe ausziehen, um das kühle Metall auf der Haut zu spüren, aber sie ignoriert den Impuls. Eine blödsinnige Vorsicht hält sie ab. Sie dreht den Schlüssel im Schloss, wobei sie die Tür leicht anheben muss. Gleich darauf schließt sie die Außentür sorgfältig hinter sich. Auf ihrem Weg in den Erker befällt Karoline ein irritierendes Schwindelgefühl, und sie gönnt sich die ersten hinkenden Schritte. Welche Erleichterung.

Wie immer knirscht der Sand unter ihren Schuhen, Nordseesand, der im Lauf vieler Jahre durch die wenig dichten Fenster geweht worden ist. Nordseesand, der eine Verbindung zwischen Haus und Insel bildet und sich in leichten Dünen auf den Bodendielen ablagert. Nordseesand, ein feiner Belag, in den Karoline in den vergangenen Wochen und Monaten ihre Fußspuren eingegraben hat. Es sind viele Fußspuren, denn Karoline verbringt häufig ihre Abende hier. Längst ist sie der Einsamkeit und dem morbiden Charme des Hauses verfallen, und außerdem ist der Blick durch den Runderker hinüber zum Watt selbst durch ungeputzte Fensterscheiben unvergleichlich schön.

Doch eines fehlte ihr in den ersten Wochen zum Glück. Musik. Die Schallplattensammlung im Wohnraum ist wie alles andere in diesem Haus in den siebziger Jahren steckengeblieben. Märchenplatten und James-Last-Potpourris. Karoline achtet sorgsam darauf, dass immer die gleiche Märchenplatte auf dem Teller liegt, wenn sie das Haus verlässt. Es scheint ihr, als sei sie diesen Liebesdienst den drei Mädchen vom Foto auf dem Kamin schuldig, die für Karoline die einzigen Bewohnerinnen des Hauses sind. Gern stellt sie sich vor, dass die drei ihre kleinen Schwestern sind und in der oberen Etage in ihren Betten liegen und schon schlafen, so tief und fest, dass auch die laute Musik, die Karoline gleich aufdrehen wird, sie nicht stören kann. In den letzten Wochen hat Karoline einige Schallplatten mitgebracht, die ihre Mutter vor vielen Jahren im Haus des Großvaters zurückgelassen hat, vor allem Popklassiker aus den achtziger Jahren.

Zwitschernd, als handle es sich um ein Kinderlied, beginnt Annie Lennox ihren Song. Dada-duda-dadada. Karoline weiß genau, dass sie den Lautstärkeknopf der Musiktruhe bis zum Anschlag aufdrehen kann, denn das Haus ist ausgezeichnet isoliert und das Grundstück groß.

Dada-duda-dadada.

Die sinnlosen Silben hüpfen durch den Raum, springen auf den Polstern herum wie ausgelassene Kinder und wirbeln den Staub von Jahrzehnten auf.

»It’s an orchestra of angels, playing with my heart …«

Würde die Hüfte nicht so schmerzen, würde auch Karoline im Takt von Annie Lennox’ Worten tanzen und hüpfen. Und vielleicht, wer weiß, kämen sogar ihre drei Schwestern von oben herunter, um sich in den wilden Tanz einzureihen.

Dienstag, 21. Juli, 16.05 Uhr, Wattvilla, Kampen

Über der Sylter Heide liegt der Glanz eines Sommernachmittags. Die Luft ist erfüllt vom Duft der Kräuter, vom Salz des Meeres und vom Modergeruch des Schlicks am Wattrand. Die Stille wird nur vom Triumphgeschrei der Möwen unterbrochen. Und von dem stockenden Wortwechsel zwischen einer Maklerin und einem Villenbesitzer.

Vor wenigen Minuten haben sich Mona Hofacker und Markus Rother auf der Einfahrt eines verwilderten Grundstücks an Kampens Wattseite getroffen. Sie sind gemeinsam die Stufen zum Haus hinaufgestiegen und haben auf dem Hügelkamm schweigend die Aussicht genossen. Mona Hofacker hat sofort den besonderen Wert dieser Immobilie erkannt. »Unverbaubarer Rundblick« wird sie später im Exposé schreiben. Auf der einen Seite kann man weit über die Felder und den Golfplatz bis hinüber zum alten Leuchtturm sehen. Auf der anderen Seite liegt das Naturschutzgebiet.

»Der Blick ist traumhaft. Es ist durchaus möglich, dass wir ziemlich schnell einen Käufer finden werden.«

Mona Hofacker sagt es leise, lässt die Worte in die Hitze des Sommertags tropfen, wo sie ungehört zu verglühen scheinen. Monas Gesprächspartner jedenfalls ist mit seinen Gedanken weit weg.

Eine erste Besichtigung bleibt immer ein sensibles Geschäft, das weiß die Maklerin sehr gut. Sie ist keine Anfängerin, sondern seit mehr als sechs Jahren in der Branche. Und obwohl sie seit vier Jahren die Niederlassung der Firma hier auf der Insel betreut, hat sie noch nie ein Angebot wie dieses gehabt.

Das Haus auf dem Hügel ist im Friesenstil erbaut, natürlich reetgedeckt, wie es die Bauvorschriften erfordern. Es wirkt trotz seiner Größe nicht protzig, aber sehr solide. Genau das, was die bestsituierten unter Mona Hofackers Kunden suchen, denn hier handelt es sich eindeutig um ein Objekt, das mehrere Millionen wert ist. Niemand verkauft ein solches Kleinod ohne Not oder sonst einen zwingenden Grund. Und natürlich fragt sich die Maklerin: Warum will Markus Rother diese Villa verkaufen?

Ein knapper Seitenblick bestätigt Mona in ihrer ersten Einschätzung des Eigentümers. Rother wirkt glaubhaft vermögend, guter Haarschnitt, teure Uhr, teure Schuhe, bewusst saloppe Kleidung, auf dem Kopf eine Schiebermütze aus leichtem Stoff, wie sie bei Cabrio-Fahrern modern ist. Auch Rothers Wagen mit dem Düsseldorfer Kennzeichen gehört in die sehr gehobene Kategorie. Wenn Mona sich nicht ganz täuscht, handelt es sich um das größte Cabriolet, das Mercedes-Benz derzeit im Angebot hat. Der Wagen ist nagelneu. Kein Notverkauf also. Ein Erbfall, hat Rother in ihrem kurzen Telefonat vor wenigen Tagen erklärt. Doch es war etwas in seinem Tonfall, das sie zweifeln ließ.

Dies ist Monas erstes Treffen mit dem neuen Kunden, und sie hat sich auf ein längeres Gespräch eingestellt. In der Regel sind die Verkäufer äußerst redewillig, fast schon geschwätzig in ihrem Bemühen, ihre Immobilie im besten Licht erscheinen zu lassen. Doch Markus Rother schweigt. Und es ist nicht nur seine Wortkargheit, die irritierend auf Mona wirkt, es ist vielmehr seine gedankliche Abwesenheit, die angesichts des Werts dieser Villa sehr sonderbar ist.

Jetzt zum Beispiel steht er seit mindestens dreißig Sekunden neben ihr vor der Tür des Friesenhauses und starrt auf den Schlüssel in seiner Hand.

»Sie klemmte immer«, murmelt Rother. »Susanne konnte es nicht lassen, sich mit ihrem ganzen Gewicht an die Klinke zu hängen und, die Tür zwischen den Beinen, hin und her zu schaukeln.«

»Susanne?«

»Meine Schwester. Sie lebt nicht mehr.«

Mit einer hastigen Bewegung schiebt Rother den Schlüssel ins Schloss und will ihn drehen. Nichts.

»Vielleicht hat das Salz in der Luft das Schloss angegriffen«, hilft Mona. »Sie sagten ja, das Objekt habe lange leer gestanden.«

»Dreißig Jahre.«

»Oh.«

Während die Maklerin versucht, sich einen Reim auf diese Information zu machen, rüttelt Markus Rother an dem Knauf oberhalb des Schlosses. Nichts. Dann hebt er ihn und damit die ganze Tür ein winziges Stück an. Jetzt dreht sich der Schlüssel im Schloss, die Tür schwingt auf. Mona erwartet, dass der Eigentümer als Erster das Haus betreten wird, doch Markus Rother macht keinen Schritt. Vielmehr starrt er wortlos in die geräumige Diele, als komme von dort etwas auf ihn zu. Nur was? Die Diele ist leer.

»Darf ich?«

Zögernd betritt Mona das Haus. Die Luft ist stickig und schwer vom Staub vieler Jahre. Eine feine helle Schicht ruht auf Möbeln und Boden. Es wirkt wie Schimmel. Oder wie der erste Schnee zu Beginn des Winters. Im Näherkommen sieht Mona, dass es sich um Sand handelt, den der Wind Jahr für Jahr durch die Ritzen der Fenster gedrückt haben muss. Mehrere Reihen von Fußspuren führen durch den hellen Sand. Vermutlich ist Markus Rother schon einige Male im Haus gewesen, ohne sich um die Beseitigung der feinen Dünenlandschaft auf dem Fußboden zu kümmern.

»Haben Sie jemanden an der Hand, der hier einmal durchputzen kann? Sonst könnte ich eine zuverlässige Hilfe vermitteln. – Herr Rother?«

Fragend sieht Mona sich um.

Markus Rother steht immer noch in der Tür. Sein Blick scheint die Treppe zu erklimmen, die sich links von der Eingangstür befindet. Es ist ein Blick, der sich Stufe für Stufe hinauftastet – auf den Spuren einer Erinnerung, die Mona nicht teilt und an der Rother die Maklerin deutlich sichtbar auch nicht teilhaben lassen wird.

Auf einer der oberen Treppenstufen liegt eine reinweiße Feder. Sie ist etwa zehn Zentimeter lang und hat einen kräftigen Stiel. Bei ihrem Anblick weiten sich die Augen des Hausbesitzers für Sekunden. Dann stürmt Rother in die Diele, eilt die Treppe hinauf und greift nach der Feder.

»Sie müssen nicht aufräumen«, erklärt Mona leichthin. »Oft mögen es die Interessenten, wenn die Objekte bewohnt aussehen.«

»Bewohnt«, echot Rother und fährt mit den Fingerspitzen den Federkiel entlang. »Dieses Haus ist schon lange nicht mehr bewohnt, das habe ich Ihnen doch gerade gesagt.« Seine Stimme klingt aggressiv.

»Ja, natürlich. Ich hab’s nicht vergessen.«

Mona atmet tief durch und denkt, schwieriger Kunde, schwierige Situation, hoffentlich ist nicht auch noch ein Haken an dem Haus.

Aber sie redet entschlossen gegen ihre Irritation an.

»Wo beginnen wir mit unserer Besichtigung? Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir ein paar Notizen mache? Und wenn Sie noch einen Grundriss hätten, würde ich gern eine Kopie davon ziehen. Fürs Exposé.«

Nur die Ruhe bewahren und immer professionell bleiben. Makler ist ein Dienstleistungsberuf, da muss man auch mit eigenwilligen Auftraggebern klarkommen. Die Provisionen sind stattlich und entschädigen für manches. Allein die Vermittlung dieses Verkaufes könnte Mona mehr als hunderttausend Euro einbringen. Das ist ein guter Grund, so manche Schrulligkeit zu tolerieren. Außerdem scheint Markus Rother sich jetzt auf den Grund ihrer beider Anwesenheit zu besinnen. Seine Gestalt strafft sich, als er die Stufen hinuntersteigt, doch dann bleibt er plötzlich stehen und mustert die Fußspuren im Sand.

»Sieht aus, als sei ab und an doch jemand hier gewesen.«

»Sie waren es nicht?«, erkundigt sich Mona irritiert.

»Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich dieses Haus seit Jahrzehnten nicht betreten habe. Vielleicht war meine Mutter vor ihrem Tod noch einmal hier. Erzählt hat sie davon nichts, aber denkbar ist es durchaus. – Wie auch immer. Das ist jetzt nicht mehr wichtig.«

Langsam geht Rother an Mona vorbei und stößt die breite Tür am Ende der Diele auf. Ein lichtdurchfluteter Raum öffnet sich, in dem vor einem breiten Fenster unordentlich sechs Stühle um einen ovalen Esstisch verteilt sind. Niemand hat sie geradegerückt, so dass die Szene wirkt, als sei die Familie des Hausbesitzers eben erst aufgestanden. Markus Rother geht zum Tisch und streicht behutsam den Sand von einer der Stuhllehnen. Als Mona ihm folgt, entdeckt sie auf dem Tisch eine stark vergilbte Zeitung. Das Kreuzworträtsel unter dem Sand ist halb gelöst, der Kugelschreiber liegt noch auf der Zeitungsseite. Mona wirft einen schnellen Blick auf das Datum. 29. Juli 1979.

Die Maklerin wendet sich ab. Was immer hier geschehen ist, es geht sie nichts an. Da der Raum zu beiden Seiten offen ist, also Diele und Treppenaufgang hufeisenförmig umgibt, kann sie sich unauffällig entfernen, indem sie die seitlichen Flügel erkundet. Links befindet sich eine Küche, deren Einbauschränke im Landhausstil sogar der heutigen Nostalgiemode entsprechen. Eine niedrige Tür scheint zu einer Kammer unter der Treppe zu führen. Oder in den Abgang zum Keller. Neben der Tür hängt ein Abreißkalender aus dem Jahr 1979. Das obere Blatt zeigt das gleiche Datum wie die Zeitung. Darunter steht ein Stefan-George-Vers.

Sieh diese blaue stunde

Entschweben hinterm gartenzelt!

Sie brachte frohe funde

Für bleiche schwestern ein entgelt.

Mona findet den Vers in seiner kühlen Emotionalität merkwürdig passend. Sie wendet sich ab und geht an dem immer noch schweigsamen Eigentümer vorbei quer durch den Essbereich in den Wohnraum. Er mündet in einen halbrunden Erker mit traumhaftem Blick über das Watt. Zwei tiefe Sofas rahmen einen Kamin aus Backsteinen. Gegenüber steht eine Musiktruhe. Die Seite mit dem Plattenspieler ist aufgeklappt, eine Platte liegt auf dem Teller, die Hülle auf der geschlossenen Truhenhälfte. Es ist eine Europa-Märchenplatte. Schneeweißchen und Rosenrot von den Brüdern Grimm, gelesen von Hans Paetsch. Mona dreht sich um und sieht plötzlich sehr deutlich drei Mädchen nebeneinander auf einem der Sofas sitzen, sie tragen bunte Kleider und lauschen konzentriert der Stimme des Erzählers. Das Foto auf dem Kaminsims ist nur eines in einer ganzen Reihe silbergerahmter Familienbilder. Neugierig tritt Mona näher. Doch die scharfe Stimme Markus Rothers hält sie auf.

»Lassen Sie die Fotos. Ich zeige Ihnen die obere Etage.«

Die Treppenstufen knarren, ebenso die Dielen in dem schmalen Flur. Die Fußspuren des Eigentümers und der Maklerin zeichnen sich mit überscharfer Deutlichkeit in dem feinen Sand ab, der hier oben gänzlich unversehrt ist und wirkt, als sei er für eine kriminalpolizeiliche Ermittlung bestimmt. Mona ertappt sich dabei, wie sie mit schiebenden Bewegungen ihrer Füße bei jedem Schritt die Spuren verwischt. Eine idiotische und vollkommen sinnlose Aktion. Zum Glück geht Markus Rother voraus, ohne etwas zu bemerken.

Mit energischer Stimme stellt Mona fest: »Hier sind auf beiden Seiten jeweils vier Türen. Ein symmetrischer Aufbau, sehr schön. Sind das alles Schlafzimmer und Bäder?«

»Ganz recht. Vier Kinderzimmer, ein Elternzimmer und dazu noch drei Bäder.«

»Drei? Das war viel für damalige Bedürfnisse.«

»Wir waren zu sechst, da war das nötig. Aber vermutlich müssen alle Installationen ausgetauscht werden. Ein dreißig Jahre altes Waschbecken will sicher niemand haben.«

»Das stimmt wahrscheinlich. Dann sollten wir mit den Zimmern beginnen.«

»Bitte?«

»Die vier Schlafzimmer. Würden Sie sie mir zeigen?«

»Alle?«

Mona stutzt. Was will er mit dieser Frage bezwecken? Dieser Markus Rother wird doch nicht so naiv sein, zu glauben, er könne irgendwelche Mängel vor ihr verbergen, indem er die Türen abschließt.

»Ja, alle. Jedenfalls wäre das am besten. Spricht etwas dagegen?«

»Nein, nein. Es ist nur … ich war lange nicht mehr hier.«

»Ich verstehe«, erklärt Mona zögernd.

»Hätten Sie etwas dagegen, Frau Hofacker, wenn ich zunächst allein in die hinteren Zimmer gehe?«

»Natürlich nicht. Darf ich mich in der Zwischenzeit in den Bädern umsehen?«

»Selbstverständlich. Warten Sie, ich zeige Ihnen, wo sie sind.«

Rother ignoriert die erste Tür auf der linken Seite, öffnet aber nacheinander die folgenden drei Türen. Seine Hand zittert bei der Berührung jeder Klinke. Dann steht er stumm vor dem mittleren Bad und vermeidet es hineinzusehen. Stattdessen blickt er Mona auffordernd an. Für einen winzigen Moment ist sie versucht, diesem Rother die Hand auf die Schulter zu legen, um ihn ein wenig zu beruhigen. Wir haben alle unerledigte Kindheitsreste, könnte sie sagen. Oder auch: Vielleicht wäre es besser, Sie nehmen in Ruhe Abschied und wir treffen uns in der nächsten Woche noch einmal wieder.

Aber Mona sagt nichts dergleichen. Sie wendet sich nach links und betritt den ersten Raum in der Reihe der Bäder.

Er ist ungewöhnlich groß und gut belichtet. Wie erwartet, sind die sanitären Anlagen hoffnungslos veraltet. Doch die feine Sandschicht, die auch hier über allem liegt, verleiht der roséfarbenen Wanne und den beiden Waschbecken eine fast antike Patina. Zwischen den Becken gibt es eine schmale Tür. Vermutlich handelt es sich dabei um den Zugang zum Elternschlafzimmer, denn auf dem Bord über dem einen Waschbecken reihen sich Cremetöpfe und Schminkutensilien aneinander, während über dem anderen ein versilbertes Rasierbesteck vor beschlagenen Glasflaschen steht. Die Griffe von Pinsel und Klinge sind fleckig und schwarzblau angelaufen, das Rasierwasser in den Flakons ist bis auf dunkelgelbe Reste, die sich in den unteren Ecken abgesetzt haben, ausgetrocknet. Mona nimmt einen der Flakons zur Hand. Tabak Original. Der Stöpsel steckt fest und lässt sich kaum öffnen. Schließlich gelingt es, und Mona schlägt ein schwerer Duft mit einem deutlich wahrnehmbaren Unterton von Verwesung entgegen.

Mona beeilt sich, zurück in den schmalen Flur zu kommen. Doch Markus Rother ist nirgends zu sehen. Auch sind die Türen auf der anderen Seite des Ganges alle geschlossen. Also nimmt Mona sich das nächste Bad vor.

Es ist etwas schmaler als das Elternbad und türkisblau gefliest. Statt einer Wanne gibt es eine Dusche mit einem stockfleckigen Vorhang, der einmal hellgelb gewesen sein muss. Neben dem Vorhang liegt ein Fußball vergessen am Boden. Längst hat er seine Luft verloren, ist nur noch eiförmig und zusätzlich oben eingedellt, aber das Leder unter der Sandschicht wirkt stabil und gar nicht brüchig. Doch als Mona den Ball mit der Fußspitze berührt, gibt er nach, ohne sich vom Fleck zu bewegen, ein unbrauchbarer Spielkamerad, schlapp und altersmüde, Zeuge einer längst vergangenen Kindheit.

Mona atmet tief durch und blickt dabei in den Spiegel, der sich über dem Waschbecken befindet. Diese weit aufgerissenen Augen unter der strengen Hochsteckfrisur sollen ihre eigenen sein? Mit einer nervösen Geste streicht sie sich einige lose Haare hinter die Ohren und tritt näher an den Spiegel heran, dessen Beschichtung an einigen Stellen schadhaft ist, so dass er blinde Flecken aufweist.

Ihr Gesicht ist blasser als sonst, trotz der leichten Sommerbräune, die einen schönen Kontrast zu ihren intensiv blauen Augen abgibt. Dass sie die Farbe durch das Tragen getönter Kontaktlinsen unterstreicht, ist ihr Geheimnis. Ebenso wie ihre gelegentliche Orientierung an Stil-Ikonen der fünfziger Jahre. Die strenge Schönheit von Kim Novak und Grace Kelly hat Mona schon als Kind beeindruckt. Und als Erwachsene hat sie lange geübt, um die »Banane« genannte schlichte Hochsteckfrisur am Hinterkopf auch ohne Hilfe einer Friseurin hinzubekommen.

Jetzt steht sie hier vor diesem alten halbblinden Wandspiegel und lässt den Blick über ihre gerade Nase, den fein gezeichneten Mund und den langen Hals gleiten. Sie ist hübsch und sie ist erfolgreich. Da wird sie sich doch nicht von ein paar läppischen Kinderspielzeugen einschüchtern lassen. Sie wird diese Immobilie taxieren, sie wird ein Exposé erstellen, und sie wird einen Käufer finden. Und vorher wird sie den Schrecken aus diesem Haus vertreiben.

Mit energischen Schritten verlässt Mona das türkisblaue Bad.

Draußen auf dem Flur ist es immer noch ruhig. Keine geöffnete Tür, kein Geräusch zeugt von der Anwesenheit Rothers. Mona beschließt, dem Eigentümer noch ein wenig Zeit zu lassen.

Das dritte Badezimmer ist wieder rosafarben. Es hat ebenso wie das mittlere eine Dusche, doch daneben hängen gleich drei Waschbecken sehr niedrig an der Wand. In diesem Raum herrscht eine ausgeprägte Unordnung. Zwei Mädchenschlafanzüge füllen zerknüllt eine Ecke. Fünf einzelne lackrote Hausschuhe liegen in einer zweiten Ecke. Automatisch sucht Mona nach dem fehlenden sechsten. Doch sie kann ihn nirgends entdecken. Stattdessen sieht sie neben der Toilette eine Barbiepuppe mit zotteligem Haar und hochmütigem Gesichtsausdruck auf einem zerfledderten Cinderella-Heft thronen. Verschwinde, scheint die Puppe ihr zuzuraunen. Mach, dass du wegkommst, du hast hier nichts verloren.

Mona wendet sich ab, doch beim Hinausgehen bleibt ihr Blick an den drei Borden über den Waschbecken hängen. Dort liegen verrostete Haarnadeln und Klemmen neben stockfleckigen Seidenschleifen und Zahnbürsten, auf denen jahrzehntealte Zahncremereste zu hellgrünem Staub getrocknet sind. Der ganze Raum scheint wie das Haus in schreckhafter Bewegung erstarrt zu sein und seine Geheimnisse sorgfältig unter der feinen weißen Sandschicht zu verbergen.

Jetzt wird es Mona zu viel. Sie liebt ihren Beruf, sie mag Häuser, egal ob riesig und pompös oder winzig und gemütlich. Sie ist darüber hinaus ein sehr kommunikativer Mensch, und es bereitet ihr selten Mühe, sich auf ihre Gesprächspartner einzustellen. Doch hier stößt sie an Grenzen. Diese Immobilie ist äußerst speziell, und Mona kann das Bedürfnis, das Haus zu verlassen und die frische Nordseeluft draußen tief zu inhalieren, kaum noch unterdrücken.

Aber die Diele ist weiterhin leer, alle Zimmertüren sind geschlossen. Wo, zum Teufel, ist Markus Rother?

Nach kurzem Klopfen öffnet Mona das erste der vier Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite und findet sich in einem Mädchenparadies der siebziger Jahre wieder. Poppige Tapeten und bunte Möbel, Puppen und Teddybären, die aufgereiht nebeneinander auf Wandregalen sitzen. Ein ordentlich gemachtes Bett mit einer orangefarbenen Tagesdecke und blauen Kissen. Ein niedriger Schreibtisch mit Buntstiften und Malbüchern. Pferdeposter an den Wänden.

Mona prägt sich den Schnitt des Zimmers ein und klopft an die nächste Tür. Als hier ebenfalls niemand reagiert, schaut sie auch in diesen Raum.

Die Wände sind weiß gekalkt, doch ist die Farbe kaum zu erkennen, denn Fußballposter und Bravo-Starschnitte bedecken die meisten Flächen. Ein Schreibtisch steht unter dem Fenster. Darauf liegen stapelweise Superman-Hefte und Abziehbilder. Neben dem Bett ist ein Autoquartett ausgebreitet. Die abgebildeten Modelle würden heute auf dem Oldtimer-Markt Spitzenpreise erzielen.

Mona verlässt auch diesen Raum und öffnet die nächste und vorletzte Tür. Sie vergisst zu klopfen, und als sie das Zimmer betritt, ist ihre Überraschung groß. Der Raum hat die zweifache Breite der anderen Kinderzimmer und auch zwei Türen zur Diele. Sogar die Einrichtung gibt es doppelt. Je ein rosafarbenes Himmelbett im Kleinformat, ein niedriges Regal und ein Kleiderschrank im Design eines Schlossportals stehen in den beiden Zimmerhälften. Dazwischen befindet sich eine Trennwand, die durch einen breiten Rundbogen unterbrochen ist. Genau in der Mitte dieses Bogens ist eine elektrisch zu betreibende Puppenküche installiert. Mintgrün emaillierte Minitöpfe und -pfannen, kleine Holzlöffel und Siebe, sogar zwei gelbkarierte Schürzen liegen bereit, als wollten die beiden kindlichen Hausfrauen hier demnächst tätig werden.

Eine merkwürdige Folge von Tönen reißt Mona aus ihrem Staunen.

Ein Kinderlied.

»Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh.

Das sind die lieben Gänschen, die hab’n keine Schuh.

Der Schuster hat Leder, kein’ Leisten dazu,

drum gehn die lieben Gänschen und hab’n keine Schuh.«

Hinter dem Rundbogen in der anderen Hälfte des Raumes steht Markus Rother mit dem Rücken zu der Maklerin, deren Eintreten er nicht bemerkt zu haben scheint. In jeder Hand hält Rother eine blondgelockte Käthe-Kruse-Puppe, eine im himmelblauen, die zweite im rosenroten Kittelkleid. Zwischen den beiden direkt vor Rother sitzt eine dritte Puppe nackt mit weit gespreizten Beinen auf dem Himmelbett. Sie ist etwas größer als die anderen, und ihre Haare sind von einem dunkleren Blond. Die drei Puppen haben ihm ihre Gesichter zugewandt, als wollten sie in seinen Gesang einstimmen. Oder ihn unterbrechen.

Denn Markus Rother verstummt plötzlich, blickt aufmerksam von einer Puppe zur nächsten und beginnt leise, als sei es eine Geheimbotschaft, einen Abzählreim zu skandieren.

»Ene mene muh und weg bist du

weg bist du noch lange nicht, sag mir erst, wie alt du bist.«

»Herr Rother?«

»Ja? – Oh, ich habe Sie gar nicht bemerkt.«

Liebevoll setzt Rother die beiden blonden Puppen auf dem Bett ab, dann wendet er sich der Maklerin zu. Er braucht nur Sekunden, um sich zu fassen.

»Haben Sie … haben Sie alles gesehen?«

»Ich denke schon. Ein Grundriss wäre aber trotzdem hilfreich.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich einen auftreiben kann. Das Haus gehörte meiner Mutter, das wissen Sie ja schon. Nach ihrem Tod habe ich zunächst die wichtigsten Unterlagen durchgesehen. Sie werden bestimmt verstehen, dass es da andere Prioritäten gab.«

»Selbstverständlich. Es bleibt aber dabei, dass Sie so schnell wie möglich verkaufen wollen?«

Markus Rother zögert kurz. Ein normales Zurückschrecken des Pferdes vor dem Sprung. Dann legt er sich in einer ungewöhnlichen Geste beide Hände an die Schläfen und drückt die Mütze tiefer in die Stirn.

»Es bleibt dabei. Unbedingt. Ich bemühe mich, die Regelung der Erbangelegenheiten zu beschleunigen. Das Testament ist eindeutig, ich habe keine Geschwister mehr, auch mein Vater ist vor Jahren gestorben. Es dürfte also keine Probleme geben.«

»Schön. Der Sommer ist die beste Zeit für Besichtigungen. Darum sollten wir das Haus möglichst bald in einen präsentablen Zustand bringen.«

»Was genau meinen Sie damit?«

Der Blick, den Rother durch das gedoppelte Mädchenzimmer schickt, wirkt zweifelnd. Mona begreift, dass sie die Unterhaltung besser an einem neutralen Ort fortsetzen sollten.

»Das müsste ich ein bisschen ausführlicher erklären. Falls Sie noch etwas Zeit haben, wäre es gut, wenn wir uns kurz in meinem Büro zusammensetzen könnten. Ich würde dann den Grundriss skizzieren, und wir könnten auch eine schriftliche Vereinbarung treffen.«

»Okay?«

Das Zögern in Rothers Stimme entgeht Mona nicht.

»Oder sind Sie noch länger auf der Insel? Dann können wir natürlich auch gern einen neuen Termin machen.«

»Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde.«

»Wollen Sie hier im Haus wohnen?«

Monas Stimme klingt fast bittend. Sag nein, um Gottes willen.

Markus Rother scheint ihre stumme Bitte vernommen zu haben, denn er schüttelt den Kopf. Doch dann runzelt er die Stirn und schließt kurz die Augen, als habe Mona ihn möglicherweise auf eine Idee gebracht. Aber zum Glück wiederholt er seine Antwort noch einmal sehr entschieden.

»Nein, hier wohnen, das werde ich ganz bestimmt nicht.«

»Wäre es dann möglich, dass ich einen Schlüssel bekomme? Dann könnte ich die Besichtigungen durchführen, ohne dass ich Sie jedes Mal belästigen muss.«

»Den Schlüssel. Ja, natürlich. Allerdings gibt es da ein kleines Problem. Ich habe nämlich in der Wohnung meiner Mutter bisher nur einen einzigen gefunden. Es müssten aber mehrere existieren. Mindestens zwei jedenfalls. Nur weiß ich nicht genau, wo ich noch suchen soll. Ich könnte Ihnen aber einen nachmachen lassen und in den nächsten Tagen vorbeischicken. Ach, da ist noch etwas. Die Garage. Dort steht noch ein alter Daimler, den ich gern aufarbeiten lassen würde. Ich bringe also den Garagenschlüssel zu einer Werkstatt hier auf der Insel. Die holen dann das Auto und kümmern sich um alles. Das geht doch, oder?«

»Selbstverständlich. Wichtig ist erst einmal nur der Hausschlüssel. Und das Schriftliche. Können wir das vielleicht heute Abend erledigen. Gegen acht. Oder ist Ihnen das zu spät?«

»Morgen wäre mir lieber. Gegen Mittag vielleicht? Ich könnte bei Ihnen vorbeikommen.«

»Natürlich. Das geht in Ordnung.«

»Gut, dann haben wir ja alles.«

Markus Rother nickt der Maklerin kurz zu und geht dann mit schnellen Schritten durch den Korridor zurück zur Treppe. Seine Hände sind halb erhoben, als wollten sie etwas in der Luft Liegendes greifen, etwas nicht Sichtbares ertasten. Auf der Treppe strauchelt er, kann sich aber am Geländer festhalten.

»Es ist schwierig für mich, wissen Sie, dieses Haus nach so vielen Jahren wiederzusehen.«

Markus Rother wirft seine Worte über die Schulter, ohne sich darum zu kümmern, wo sie landen werden. Aber die Maklerin fängt sie geschickt auf.

»Ich verstehe. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich dann für die Reinigung sorgen.«

»Reinigung?«

»Der Sand. Wir müssen doch den Sand entfernen.«

»Ach ja. Der Sand. Das habe ich ganz vergessen. Aber Sie haben recht, der Sand muss natürlich weg.«

Mittwoch, 22. Juli, 19.07 Uhr, Weststrand, List

Fred Hübner steht ganz oben auf einem Dünenkamm und blinzelt gegen die untergehende Sonne. Sein Blick gleitet über den Lister Strand, der kilometerlang ist, menschenleer und gesäumt von wildem Hafer. Und von Strandkörben, leider. Doch jetzt am Abend sind sie verwaist, eine Armee verlassener Muscheln aus Korbgeflecht, die sich von der Invasion erholt, die ein langer heißer Sommertag auf Sylt mit sich gebracht hat.

Fred bückt sich und zieht die Schuhe aus. Sein Körper gerät ins Schwanken, fast wäre er gefallen, dabei hat er erst einen einzigen Apéro gehabt. Oder waren es doch zwei? Fred erinnert sich nicht genau, vielleicht will er es auch gar nicht. Schließlich geht es niemanden etwas an, wie viel er trinkt. Nur seine Wirtin schüttelt manchmal bedenklich den Kopf, aber solange er die Miete für das notdürftig beheizbare Gartenhaus hinten auf ihrem Grundstück zahlt, wird sie nichts sagen. Als Fred vor fast zehn Jahren dort eingezogen ist, hat er das für eine Übergangslösung gehalten. Es war ein Unterschlupf, billig und peinlich, aber leider nötig bis zum nächsten großen Auftrag. Doch der Auftrag hat bis heute auf sich warten lassen, und das Gartenhaus ist darüber zu einer jämmerlichen Bruchbude verfallen.

Fred stolpert, die Schuhe in der Hand, die Dünenkante entlang. Wahllos tritt er auf Gräser und kriechende Gewächse. Der kürzeste Weg von seiner Hütte zum Strand führt nun mal quer durch das Naturschutzgebiet. Betreten strengstens verboten. Nur Schafe, Kaninchen und Vögel dürfen ungestraft die Gräser platttrampeln. Doch würde Fred tatsächlich die Straße zum Weststrand nehmen, müsste er erst nach Süden wandern bis ans Lister Ortsende, wo sie abzweigt. Ein Umweg von einer guten halben Stunde mindestens. Und überhaupt: Was kümmert ihn der ganze Naturschutz? Vor dreißig Jahren, am Anfang seiner ganz großen Zeit, da haben die Promis noch Orgien in den Dünen gefeiert, ohne dass irgendjemand sich um den blöden Hafer gesorgt hätte. Und Fred schon gar nicht. Denn er war immer dabei. Mittendrin. Und selten allein. Die Mädels haben sich ihm nur so an den Hals geworfen. Jede Schnecke konnte er haben. Er war erst fünfundzwanzig und ein echter Hengst. Im Bett ebenso wie an seiner Reiseschreibmaschine. Die großen Gazetten rissen sich um seine Berichte über das Leben der Schönen und Reichen hier auf der Insel.

Die Blondinen liefen ihm scharenweise nach, echte und gefärbte, sie alle hofften, in einer seiner Reportagen erwähnt zu werden, einmal nur, damit es schien, als gehörten sie auch dazu. Damit die Playboys, die wirklich reichen jungen Männer, endlich auf sie aufmerksam würden. Denn einen von ihnen wollte jedes dieser Mädchen an Land ziehen, er sollte es heiraten und ihm ein Leben voller Nichtstun und Wohlstand ermöglichen. Der Weg zu diesem Traummann führte durch Freds Bett, so dachten die Mädels jedenfalls, und Fred hütete sich davor, sie eines Besseren zu belehren.

Natürlich schaffte es keine von ihnen jemals in Freds Reportagen. Zu genau wusste er, was von ihm erwartet wurde. Niemand konnte so sicher wie Fred It-People von Would-Like-People und Has-Beens unterscheiden. Nur die wirklich bedeutenden Menschen wurden erwähnt. Und schon das war eine Ehre. Fred tupfte ausgewählte Anekdoten über diese Personen sorgsam in seine ausufernden Schilderungen der kargen Sylter Landschaft, er brachte die Helden seiner Anekdoten zum Strahlen, machte sie zu Persönlichkeiten, ließ sie wirken wie knallrote Mohnblumen auf einem Teppich aus beigegelbem Korn. Oder Sand. Teurem Sand. Sylter Sand.

Fred war der Meister der Stimmungsschilderung. Seine Sommer-Reportagen waren echte Auflagenhämmer. Durch ihn erschloss sich der herbe Charme der Insel Millionen von Daheimgebliebenen. Fred war es, der ihnen das Möwenballett vor endlosem Horizont zeigte. Die raue Stimme der Nordsee im Sturm vorflüsterte. Und wenn sie das alles verinnerlicht hatten, bebilderte er für seine Leser die fliegenden Tage der Happy Few, indem er den Rhythmus ihrer Partys und Strandausflüge erfahrbar machte. Freds Artikel lasen sich wie Schrift gewordene Jazz-Songs zum Mitschnippen.

Na bitte, denkt Fred jetzt, ich kann es noch. Was wollt ihr Arschlöcher eigentlich? Ich bin immer noch »Die Feder«, der beste unter allen guten Schreibern. Warum wisst ihr das nur nicht mehr, ihr verdammten Säcke da drüben in Hamburg? Und während Fred den Dünenkamm hinunterstolpert, der Wasserkante entgegen, denkt er das, was er an dieser Stelle immer denkt, bei jedem Abendspaziergang, seit Jahren schon.

Es gibt einen Ausweg. Es muss nur die eine Story her. Die ganz große Geschichte, die nur von ihm erzählt werden kann. Von dem berühmten Genie mit der Feder, von Fred Hübner, dessen Namen vor dreißig Jahren jedes Kind kannte.

Lautes Geschrei schreckt ihn aus seinen Gedanken. Vom Strand her bewegt sich etwas auf ihn zu. Fred blinzelt ins Licht und erkennt einzelne Punkte, die sich im Näherkommen zu Gestalten formen. Männer mit Kurzarmhemden, die Sandalen in der Hand tragen. Frauen mit Kleidern aus wehender Baumwolle, die nur unzureichend ihre altersweichen Bäuche verbergen. Frauen, die geboren haben, denkt Fred schaudernd, als er die Horde der Kinder in neongrell bedruckten T-Shirts entdeckt, die den Erwachsenen folgt.

In Kampen würde niemand so herumlaufen. Aber hier in List, am nördlichen Inselzipfel, spielt eine andere Musik. Hier gibt es keine Promis, keine aufgebrezelten blondgelockten Sahneschnittchen, die sich verlockend präsentieren, allzeit zum Vernaschtwerden bereit. Hier dominieren die biederen Familienväter mit ihren schwerbrüstigen Ehefrauen. Zum hundertsten Mal verflucht Fred den Umstand, dass er sich keine Bleibe in Kampen leisten kann. Noch nicht einmal für ein winziges Kämmerchen würde seine klamme Barschaft reichen. Der Ort seiner großen Triumphe hat ihn schon vor Jahren verstoßen. Er muss froh sein, dass es ihm überhaupt noch möglich ist, auf der Insel zu leben.

Die winkenden und schreienden Menschen kommen immer näher. Jetzt kann Fred auch ihre Worte verstehen. Besser gesagt das eine Doppelwort, denn es ist stets das gleiche, das sie rufen: »Ann-Kathrin.« »Ann-Kathrin.« »Ann-Kathrin.« In allen Tonlagen, von tief und brummig bis hinauf zum hysterieverdächtigen Kreischen.

Als eine Vorhut aus keuchenden Männern ihn erreicht hat, erfährt Fred den Grund für die Aufregung. Ann-Kathrin ist die Tochter eines der Männer, sie ist sechs Jahre alt und hat hellblondes Haar, das zu Zöpfen geflochten ist. Oder sollte man sagen, zu Zöpfen geflochten war? Denn wie das Haar von Ann-Kathrin im Moment aussieht, kann niemand sagen. Seit zwei Stunden ist das Mädchen spurlos verschwunden. Die Eltern haben in ihrer Verzweiflung alle Urlaubsbekannten zusammengetrommelt, um ein letztes Mal den Strand abzusuchen, bevor sie die Polizei alarmieren werden.

Natürlich fragen die Männer Fred, ob er etwas beobachtet habe und wie lange er schon am Strand sei. Denn vor zwei Stunden sei es gewesen, dass die Familie den für den Urlaub gemieteten Strandkorb verlassen habe, müde und erschöpft von einem heißen Tag mit zu viel Sonne. Ann-Kathrin sei die Jüngste von drei Geschwistern, sie habe getrödelt und sei trotz wiederholter Ermahnungen der Eltern immer weiter zurückgeblieben auf dem Weg vom Strandkorb zum Parkplatz. Man habe neben dem Auto auf sie gewartet, niemand sei begierig darauf gewesen, in der immer noch brennenden Nachmittagssonne die Dünen wieder hinaufzusteigen, um das Mädchen zur Eile anzutreiben. Als schließlich der Vater ziemlich aufgebracht doch noch zurückgestürmt sei, habe er erkennen müssen, dass seine Wut ins Leere laufen würde, denn Ann-Kathrin sei nicht zu finden gewesen. Seitdem sei sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. So der Vater, dem mittlerweile die Tränen in den Augen stehen.

Und während Fred mit leicht verlangsamter Diktion erklärt, dass ihm ganz bestimmt kein blondes Mädchen begegnet sei, dass er überhaupt niemanden gesehen habe und im Übrigen selbst auch erst seit zwei oder drei Minuten am Meer sei, denkt er, dass »wie vom Erdboden verschluckt« doch eine unglaublich abgegriffene Metapher ist. Unkonzentriert beobachtet Fred, wie der besorgte Vater von einer schlecht gefärbten Brünetten mit grauem Haaransatz weggezogen wird, deren Ehering sie als seine Gattin ausweist. Lautstark drängt sie ihn, endlich die Polizei einzuschalten. Auch in ihren Augen stehen Tränen.

Nachdenklich blickt Fred der aufgeregten Gruppe hinterher, bis alle in der Senke zwischen den Dünen verschwunden sind, in der sich der Parkplatz befindet. Ann-Kathrin, denkt Fred, ist ein blöder Name. Schlecht geeignet für jede Titelei. Überhaupt sind dreisilbige Namen furchtbar, sie hinken immer irgendwie. So ein richtig krachender Zweisilber, Nora oder Laura, Paula oder Clara, möglichst viele dunkle und klangvolle Vokale kombiniert mit wenigen prägnanten Konsonanten, das sind die Namen, aus denen wahre Schlagzeilen gemacht werden.

Mittwoch, 22. Juli, 19.50 Uhr, Kriminalpolizei Westerland

Sven Winterberg fährt sich mit beiden Händen durchs Haar, das verschwitzt zwischen den Fingern klebt. Seufzend geht der Kriminaloberkommissar zum Waschbecken in der Ecke seines Dienstzimmers und hält die Hände unter den kalten Wasserstrahl. Kalt? Das Wasser ist lauwarm und nur mäßig erfrischend. Auch die Luft im Büro ist stickig und schwül, dabei steht schon seit Stunden das Fenster weit offen. Aber was soll an einem heißen windstillen Abend mitten in Westerland schon für Frischluft durchs Fenster kommen? Zwischen der Nordsee und dem Kripoquartier liegen etliche dichtbefahrene Straßen der Inselhauptstadt.

Enerviert sieht Winterberg auf seine Uhr. Kurz vor acht. Er wird es wieder nicht schaffen, rechtzeitig zu Hause zu sein, um Mette ins Bett zu bringen. Dabei ist die abendliche Gute-Nacht-Zeremonie mit seiner Tochter für Sven der Höhepunkt des Tages. Das kleine zerbrechliche Mädchen mit den großen zutraulichen Augen dabei zu beobachten, wie es langsam vom Wachsein in den Zustand des Traumes hinübergleitet, ist ein unvergleichliches Glück für den stolzen Vater.

Winterberg klatscht sich eine Handvoll lauwarmes Leitungswasser ins Gesicht. Wenn es schon nicht kalt ist, so ist es doch wenigstens feucht und suggeriert dadurch eine gewisse Erfrischung. Er wirft das Handtuch auf den Beckenrand und fährt sich noch einmal durchs Haar. Er ist nicht uneitel und sorgt penibel dafür, dass seine dunklen Locken stets akkurat geschnitten und perfekt gestylt sind.

Als der Oberkommissar Schritte auf dem Flur hört, geht er schnell zurück zum Schreibtisch. Wenige Sekunden später wird die Tür energisch geöffnet, und Winterbergs jüngere Kollegin Silja Blanck betritt den Raum. Sie wirkt stets auf ihn, als habe sie eben eine dreistündige Wellnesskur in einer Eisgrotte beendet. Schmale Figur, erstklassige Kleidung. Schwarzer Rock, weiße Bluse, alles ohne jeden Schweißfleck und vollkommen faltenlos. Dazu dunkelbraune glatte Haare, die wie immer zu einem dekorativen Pferdeschwanz am Hinterkopf zusammengenommen sind. Der Duft von Silja Blancks Parfüm vertreibt augenblicklich den Benzingestank. Es ist herb mit einem Hauch von Orient.

Die Jungkommissarin spart sich jede Einleitung und kommt gleich zur Sache.

»Ich denke, die Kollegen unten brauchen deine Hilfe.«

Selbst Siljas Stimme ist erfrischend kühl.

»Was gibt’s denn da Besonderes?«

»Seit zehn Minuten versuchen sie am Empfang ein Elternpaar zu beruhigen, das seine Tochter sucht.«

»Schon wieder ein ausgebüchster Teenager. Können die nicht woanders weglaufen? Immer kriegen die ihre pubertären Hormonschübe ausgerechnet in den Sommerferien bei uns auf Sylt.«

»Es ist kein Teenager. Und ich glaube auch nicht, dass das Mädchen weggelaufen ist. Die Kleine ist gerade mal sechs, und die Eltern haben in den vergangenen Stunden schon den ganzen Strand und die Dünen abgesucht.«

»Wo ist sie denn verschwunden?«

»In List, am Weststrand. Die Eltern sind Sommergäste, sie haben dort oben eine Ferienwohnung gemietet und waren tagsüber am Strand. Auf dem Rückweg zum Auto war dann das Kind plötzlich weg.«

»Wie lange ist das jetzt her?«

»Knapp drei Stunden. Jedenfalls haben am Strand schon alle mitgesucht, auch die Rettungsschwimmer. Den Kurkartenkontrolleur haben die Eltern auch schon befragt, er hat aber nichts gesehen.«

»Wie alt war das Mädchen noch mal?«

»Sechs Jahre.«

»So alt wie Mette.«

Sven sieht die eigene Tochter vor sich, fröhlich und mutig. War sie schon einmal mehrere Stunden lang von den Eltern entfernt, ohne dass Anja oder er gewusst hätten, wo sie sich aufhält? Natürlich nicht. Noch einmal fahren Svens feingliedrige Hände durch seine Locken, doch diesmal bringen sie die ganze Frisur durcheinander.

Silja beobachtet ihren Kollegen einige Sekunden lang. Sie kann zusehen, wie sich Winterbergs schmaler Körper strafft. Leise sagt sie: »Die Mutter ist vollkommen panisch, das kannst du sicher nachvollziehen. Also komm schon.«

»Okay. Los geht’s.«

An der Tür lässt Sven ihr höflich den Vortritt. Dann laufen beide mit schnellen Schritten den Gang entlang.

»Sind die Eltern wenigstens gleich zu uns gekommen? Nach ihrer eigenen vergeblichen Suchaktion, meine ich«, erkundigt sich der Oberkommissar.

»Leider nein. Sie sind zuerst zur Lister Polizeistation gefahren. Die Kollegen haben sie aber direkt hierhergeschickt.«

»Wie’s aussieht, sollten wir besser sofort einen Hubschrauber anfordern. Er kann die Dünen absuchen. Das ist ja ein riesiges Areal da oben. Und wenn es erst mal dunkel ist, nutzt das nichts mehr.«

»Außerdem muss einer die Mutter beruhigen. Sie ist völlig außer sich.«

Wie zur Bestätigung dieser Bemerkung dringt jetzt lautes Schluchzen zu ihnen. Silja wirft Sven einen knappen Blick zu. Sven bleibt stehen.

»Warte. Wir machen es anders. Geh du erst mal allein nach unten und gib der Frau ein Beruhigungsmittel. Der Ehemann ist auch dabei?«

Silja nickt.

»Dann soll er dafür sorgen, dass sie es auch schluckt. Danach bringst du beide zu mir hoch. Ich sehe in der Zwischenzeit zu, dass ich ein paar Leute zusammentrommele, die sich noch mal gründlich am Weststrand umsehen. Und zwar sofort. Vielleicht helfen die Kollegen von der Feuerwehr. Außerdem muss ich meiner Frau Bescheid sagen, dass sie die Kleine allein ins Bett bringen soll.«

Winterbergs letzte Worte kann Silja schon nicht mehr hören, so schnell ist sie die Treppe hinuntergeeilt. Das Schluchzen der Mutter geht ihr durch Mark und Bein, und es ruft Erinnerungen wach, die sie für immer verdrängt zu haben glaubte.