Teure Täuschung - Eva Ehley - E-Book

Teure Täuschung E-Book

Eva Ehley

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Beschreibung

Tod in den Wellen: der zwölfte Fall für die Sylt-Kommissare Als Bastian Kreuzers Exfrau nicht auf seine Geburtstagsglückwünsche reagiert, macht sich der Kommissar Sorgen. Vor allem als bald darauf eine entstellte Frauenleiche am Westerländer Strand angespült wird. Der einzige Hinweis auf die Identität des Opfers ist der sündhaft teure, pinkfarbene Bikini, den die Frau bei ihrem Tod trug. Könnte es sich tatsächlich um Bastians Exfrau handeln? Oder führt die Spur in die Sylter High Society und zu einem Seitensprung mit Folgen? Nervenkitzel pur mit der Sylt-Krimi-Reihe: Band 1: Engel sterben   Band 2: Frauen lügen   Band 3: Männer schweigen   Band 4: Mörder weinen   Band 5: Mädchen töten Band 6: Sünder büßen Band 7: Falscher Glanz Band 8: Einsames Grab Band 9: Böser Abschied Band 10: Toter Blick Band 11: Bitteres Ende Band 12: Teure Täuschung

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Seitenzahl: 419

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva Ehley

Teure Täuschung

Ein Sylt-Krimi

 

 

Über dieses Buch

 

 

Als Bastian Kreuzers Ex-Frau nicht auf seine Geburtstagsglückwünsche reagiert, macht sich der Kommissar Sorgen. Vor allem als bald darauf eine entstellte Frauenleiche am Brandenburgerstrand in Westerland angespült wird. Der einzige Hinweis auf die Identität des Opfers ist der sündhaft teure, pinkfarbene Bikini, den die Frau bei ihrem Tod trug. Könnte es sich tatsächlich um Bastians Ex-Frau handeln? Oder führt die Spur in die Sylter High Society und zu einem Seitensprung mit Folgen?

 

Nervenkitzel pur mit der Sylt-Krimi-Reihe:

Band 1: Engel sterben  

Band 2: Frauen lügen  

Band 3: Männer schweigen  

Band 4: Mörder weinen  

Band 5: Mädchen töten

Band 6: Sünder büßen

Band 7: Falscher Glanz

Band 8: Einsames Grab

Band 9: Böser Abschied

Band 10: Toter Blick

Band 11: Bitteres Ende

Band 12: Teure Täuschung

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Eva Ehley studierte Literaturwissenschaften und Mathematik und arbeitete als Lehrerin. In ihren Texten erzählt sie allerdings von Dingen, über die man in der Schule nichts lernt. Hier werden Neurotiker leicht zu Mördern, während Egoisten unter Umständen ein Helfersyndrom entwickeln. Eva Ehleys Sylt-Krimis sind klassische Whodunnits mit Tendenz zum Psychothriller. Und sie sind nicht nur an der Nordsee Kult. Ehleys Texte wurden vielfach preisgekrönt u.a. mit dem Agatha-Christie-Krimipreis. Die Autorin lebt in Berlin. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

Inhalt

Prolog

Quirin

Isabel

Donnerstag, 16. Juni, 18.07 Uhr, Norderstraße, Westerland

Donnerstag, 16. Juni, 18.16 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Samstag, 18. Juni, 12.17 Uhr, Mathildenstraße, Flensburg

Samstag, 18. Juni, 12.43 Uhr, Hotel Flensburger Förde, Flensburg

Samstag, 18. Juni, 17.03 Uhr, Rotes Kliff, Kampen

Sonntag, 19. Juni, 11.36 Uhr, Brandenburgerstrand, Westerland

Sonntag, 19. Juni, 12.21 Uhr, Norderstraße, Westerland

Sonntag, 19. Juni, 12.49 Uhr, Brandenburgerstrand, Westerland

Sonntag, 19. Juni, 16.19 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Sonntag, 19. Juni, 18.31 Uhr, Twedter Feld, Flensburg

Montag, 20. Juni, 08.13 Uhr, Nordseeklinik, Westerland

Montag, 20. Juni, 10.27 Uhr, Golfclub Morsum

Montag, 20. Juni, 13.22 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Montag, 20. Juni, 14.55 Uhr, Marine-Golf-Club-Sylt, Tinnum

Montag, 20. Juni, 16.07 Uhr, Staatsanwaltschaft Flensburg

Montag, 20. Juni, 16.35 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Montag, 20. Juni, 17.23 Uhr, Norderstraße, Westerland

Montag, 20. Juni, 18.11 Uhr, Listlandstraße, List

Montag, 20. Juni, 19.45 Uhr, Feinkost Meyer, Wenningstedt

Montag, 20. Juni, 20.32 Uhr, Norderstraße, Westerland

Dienstag, 21. Juni, 07.53 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Dienstag, 21. Juni, 09.02 Uhr, Staatsanwaltschaft Flensburg

Dienstag, 21. Juni, 10.37 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Dienstag, 21. Juni, 14.55 Uhr, Fisch Blum, Wenningstedt

Dienstag, 21. Juni, 16.07 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Dienstag, 21. Juni, 16.12 Uhr, Golf- und Countryclub, List

Dienstag, 21. Juni, 16.37 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Dienstag, 21. Juni, 18.11 Uhr, Norderstraße, Westerland

Dienstag, 21. Juni, 21.19 Uhr, Braderuper Straße, Kampen

Mittwoch, 22. Juni, 9.44 Uhr, Staatsanwaltschaft Flensburg

Mittwoch, 22. Juni, 10.07 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Mittwoch, 22. Juni, 10.22 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Mittwoch, 22. Juni, 10.50 Uhr,Golf- und Countryclub, List

Mittwoch, 22. Juni, 12.17 Uhr, Hotel Söl’ring Hof, Rantum

Mittwoch, 22. Juni, 12.47 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Mittwoch, 22. Juni, 14.10 Uhr, Pizzeria Toni, Westerland

Mittwoch, 22. Juni, 15.17 Uhr, Alter Kirchenweg, Keitum

Mittwoch, 22. Juni, 16.02 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Mittwoch, 22. Juni, 17.45 Uhr, Staatsanwaltschaft Flensburg

Donnerstag, 23. Juni, 08.40 Uhr, Listlandstraße, List

Donnerstag, 23. Juni, 10.17 Uhr, Hafenstraße, List

Donnerstag, 23. Juni, 10.51 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Donnerstag, 23. Juni, 12.17 Uhr, Staatsanwaltschaft Flensburg

Donnerstag, 23. Juni, 13.55 Uhr, Pizzeria Toni, Westerland

Donnerstag, 23. Juni, 17.10 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Freitag, 24. Juni, 08.45 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Freitag, 24. Juni, 10.11 Uhr, Wäscherei Andermatt, Westerland

Freitag, 24. Juni, 11.20 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Freitag, 24. Juni, 12.37 Uhr, Am Loo, List

Freitag, 24. Juni, 12.40 Uhr, Golf- und Countryclub, List

Freitag, 24. Juni, 13.52 Uhr, Ellenbogen, List

Freitag, 24. Juni, 16.07 Uhr, Bus nach Niebüll

Freitag, 24. Juni, 17.51 Uhr, Feldstraße, Dörpum

Freitag, 24. Juni, 18.23 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Freitag, 24. Juni, 19.18 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Freitag, 24. Juni, 19.42 Uhr, Alter Kirchenweg, Keitum

Freitag, 24. Juni, 20.37 Uhr, Feldstraße, Dörpum

Samstag, 25. Juni, 01.22 Uhr, Norderstraße, Westerland

Samstag, 25. Juni, 08.57 Uhr, Kriminalkommissariat Westerland

Samstag, 25. Juni, 09.22 Uhr, Wäscherei Andermatt, Westerland

Samstag, 25. Juni, 09.50 Uhr, Alter Kirchenweg, Keitum

Samstag, 25. Juni, 10.27 Uhr, Friedrichstraße, Westerland

Samstag, 25. Juni, 12.03 Uhr, Pizzeria Toni, Westerland

Samstag, 25. Juni, 14.47 Uhr, Berthin-Bleeg-Straße, Wenningstedt

Samstag, 25. Juni, 15.23 Uhr, Bahnhof Westerland

Samstag, 25. Juni, 15.37 Uhr, Bahnhof Westerland

Samstag, 25. Juni, 15.43 Uhr, Bahnhof Westerland

Abspann

Die Sylt-Krimi-Reihe von Eva Ehley

Prolog

Quirin

Er schaut über die Sylter Dünen aufs Meer. Hinter ihm liegt das weiße Hotel, Bäderarchitektur, Bullaugenfenster im Dachgeschoss. Eines davon ist seines. Jedenfalls für die nächste Woche. Könnte er sich eigentlich gar nicht leisten. Früher ja, jetzt längst nicht mehr. Er hat in London investiert, gleich nach dem Brexit. Dachte, dass es so schlimm schon nicht kommen werde. Und die Preise fielen ja, da musste er zugreifen. Büro, beste Lage, Mitarbeiter eingestellt. Kommunikationsagentur. Können die jetzt gebrauchen, die Briten, dachte er. Naiv, frisch von der Uni.

War jedenfalls die falsche Idee. Das Erbe seiner Eltern war in Windeseile futsch, sie würden sich im Grab umdrehen. Junge, was machst du denn bloß? Die Ersparnisse von dreißig Jahren. Etwas über eine Million ganz schnell in den Sand gesetzt. 

Und jetzt sitzt auch er im Sand, nur ohne die Million. Blickt hinüber zum Strand, noch ist niemand zu sehen, niemand, der ihn stört, niemand, der ihn beobachtet.

Denn jetzt ist er es, der beobachtet.

Sie wohnt eine Etage unter ihm, wenn er kräftig auftritt, hört sie ihn vielleicht sogar. Nein, wohl eher nicht. Das Hotel wirkt ziemlich solide. Und in den Nächten ist es so still im Haus, dass man von seinen eigenen Seufzern aufwachen könnte. Natürlich nur, wenn es etwas zu seufzen gibt, wie in seinem Fall.

Die Frau, für deren Beobachtung er bezahlt wird, und das gar nicht mal schlecht, ist allein hier. Jedenfalls hat sie das ihrem Gatten erzählt. Ein bisschen ausspannen, ein bisschen runterkommen, ein bisschen Wellness, man kennt das ja.

Auch der Gatte sollte es kennen. Er ist Reeder und sicher vertraut mit diesen Kreisen. Trotzdem wurde er misstrauisch. Vielleicht weil Isabel so viel jünger ist als er – und attraktiver sowieso. Haut wie Puderzucker, Haare wie dunkle Schlangen, die sich vor Vergnügen kringeln. Augen, in denen der Schalk wohnt, manchmal jedenfalls. Dann lacht sie in kleinen hüpfenden Tönen und scherzt mit dem Personal.

Er wünschte, sie würde es auch mit ihm tun. Aber sie sieht ihn gar nicht. Soll sie ja auch nicht. Denn er ist ihr Schatten, dafür bezahlt man ihn. Nicht für seine geheimen Träume.

Ihr Körper in der Sauna, ihr Körper unter der Dusche.

Wenn sie wüsste. 

Seit zwei Tagen geht das jetzt schon so. Und eigentlich glaubt er nicht, dass noch jemand auftaucht. Ein heimlicher Lover, ein verstecktes Kind aus einer vorherigen Beziehung, was auch immer. Isabel spannt aus und hat ihren Spaß dabei. Und vielleicht könnte auch er ein wenig Spaß haben. Ein zufälliger Blick, ein Abend an der Bar, ein gemeinsamer Absacker auf seinem Zimmer. Oder in Isabels Suite.

Jetzt kommt sie an ihm vorbei, ist auf dem Weg zum Strand. Strasssandalen, knappe Shorts, den Bastkorb mit den Beach-Utensilien über der Schulter. Er wartet ab, erhebt sich dann langsam und greift nach seinem eigenen Korb. Steht auf jedem Zimmer, darf man sogar mit nach Hause nehmen. Die Reichen lieben solche Geschenke. Wohlstand macht sehr bequem.

Als er am Strand ankommt, sitzt sie schon in der Sonne. Ultraknapper Bikini, über den Brüsten nicht mehr als eine Häkelblume. Er nickt ihr kurz zu und pflanzt sich in den Nachbarstrandkorb. Seine Vorsicht schmilzt wie Butter in der Sylter Sonne. Sein Anstand auch.

Er wartet zwei volle Stunden. Rührt sich nicht von der Stelle, blättert routiniert die Seiten in seinem Buch um, liest keinen einzigen Satz. Schließlich steht er auf und nimmt die Jaeger-LeCoultre ab. Schön langsam und genau in ihrer Sichtachse. Er ist groß, schlank und durchtrainiert. Kann sich durchaus sehen lassen, vor allem nach diesem faulen Sommer, den er mangels Alternativen vorwiegend im Freibad verbracht hat.

Sie guckt. Na also, geht doch, denkt er und lässt die Uhr direkt neben ihrer Hüfte in den Strandkorb fallen.

»Würden Sie wohl kurz darauf achtgeben? Ich will nur ein paar Schläge kraulen. Eigentlich ist sie wasserfest – aber bei so einem Erbstück weiß man ja nie.«

Sie lächelt, nickt und hebt die Uhr auf. Lässt sie spielerisch um den Finger kreisen. Unlackierte Nägel, perfekt manikürt. Er läuft schnell ins Wasser, bevor er Schnappatmung bekommt. Und bevor sein kleiner Freund ihn verrät. Kraulen kann er gut, und ihre Blicke, die ihn doch hoffentlich begleiten, feuern ihn zusätzlich an. Als er zurückkommt, Wasserperlen auf dem vorher eingeölten Körper, verschlingt sie ihn mit den Augen.

»Sie sind auch allein hier?«, wagt er sich vor und greift nach der Jaeger-LeCoultre, die auf ihrem Oberschenkel liegt. Ein paar Tropfen Nordseewasser fallen auf ihre Haut. »Oh, Pardon, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Quirin von Korsfeld.«

Das von ist gelogen, aber das muss sie nicht wissen. Die Korsfelds gab’s wirklich. Vater Bauingenieur, Mutter Hausfrau, alle Hoffnungen ruhten auf dem einzigen Sohn, der leider kläglich versagt hat. Alles, was ihm vom Erbe geblieben ist, ist das elterliche Reihenhaus in einem abgelegenen holsteinischen Dorf.

Sie ahnt nichts davon, sondern holt ihn mit einem verheißungsvollen Lächeln zurück in die Gegenwart.

»Sie könnten es bei einem Abendessen wiedergutmachen.«

»Gern. Um acht im Speisesaal?«

Isabel

Tage verträumen, Füße im Sand und dann ab in die Nordsee. Oder doch lieber einen Aperol im Strandbistro? Nachmittags ins Spa. Ein Paradies für Körper und Sinne. Duftend, großzügig, entspannend. Perlendes Wasser, bequeme Liegen, weiche Decken. Abends, wenn die Sonne sinkt, am Holztisch sitzen, oben in den Dünen, den Blick übers Meer. Und nachts endlose Stille, tiefer Schlaf.

Ferien auf Sylt.

So hatte sich Isabel ihre kleine Auszeit vorgestellt. Und so begann sie auch. Gleich am ersten Morgen mit frischem Backwerk, duftendem Friesentee und holsteinischen Spezialitäten vom Hotelbuffet. Es war alles da. Früchte, Säfte, Eierspeisen. Und ein Tischnachbar, der unverschämt gut aussah. Sie wechselten Blicke, manchmal. Aber er sprach sie nicht an. Zunächst.

Dann ging alles sehr schnell. Ein Flirt am Strand, ein Abendessen, eine heiße Nacht. Und noch eine.

Jetzt sind sie wieder zum Dinner verabredet. Schon beim Anziehen prickelt es auf Isabels Haut. Sie stellt sich vor, die Seide ihres Kleides wäre sein Körper, der sich an ihrem entlangschiebt. Langsam, genüsslich. Die Spannung steigt. Schnell schlüpft sie in die High Heels und dann ab nach unten.

Er schiebt ihr den Stuhl zurecht, trägt einen teuren Anzug und wieder diese Uhr, deren Wert sie längst gegoogelt hat. Und was ein Aufenthalt hier kostet, weiß sie auch genau. Wenn sie ihren Mann schon betrügt, soll es sich lohnen. Quirin bestellt den teuersten Weißwein von der Karte und Austern dazu.

Es wird sich lohnen, da ist sie jetzt ganz sicher.

Als der Kellner den Wein dekantiert, entsteht Unruhe im Raum. Jemand durchquert ihn mit viel zu schnellen Schritten und stört die behagliche Ruhe. Sie dreht sich um und erstarrt. Was macht ihr Mann denn hier? Er kommt direkt auf ihren Tisch zu, aber er wendet sich nicht an sie, sondern an ihren schönen Tischherrn mit der teuren Uhr. Er reicht ihm wortlos einen gut gefüllten Umschlag und streckt gleichzeitig die andere Hand aus. Die Jaeger-LeCoultre kehrt zu ihrem Besitzer zurück. Wie konnte sie nur so dumm sein, die Uhr nicht zu erkennen?

»Du wolltest mitten im Rennen das Pferd wechseln?«, sagt ihr Mann mit eiskalter Stimme. »Leider stand das neue Pferd in meinen Diensten. Pech gehabt.«

Quirin steckt den Umschlag ein und erhebt sich. Er wirft ihr einen letzten Blick zu. Ist er bedauernd oder triumphierend? Sie wird es nie erfahren.

Donnerstag, 16. Juni, 18.07 Uhr, Norderstraße, Westerland

Hauptkommissar Bastian Kreuzer hat kein gutes Gefühl. Er hintergeht seine Frau nicht gern und schon gar nicht wegen solch einer Lappalie. Aber trotzdem lässt ihm die Sache seit Tagen keine Ruhe. Und heute wird er sich um Klärung bemühen.

Während Bastian durch den Sylter Feierabendverkehr kurvt, versucht er, sich damit zu beschwichtigen, dass er nur seine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt. Warum sollte er Silja unnötig aufregen? Nie haben sie darüber gesprochen, dass er immer noch losen Kontakt zu seinen beiden Ex-Frauen hält. Selbstverständlich weiß Silja von den gescheiterten Ehen ihres Liebsten, sie kennt die Namen der Ex-Gattinnen und erinnert sich vielleicht auch noch an die Scheidungsgründe.

Bastians erste Frau Karin war krankhaft eifersüchtig auf jeden anderen Kontakt, den er hatte, was auf Dauer einfach nicht gut gehen konnte. Bei seiner zweiten Frau Nora kam er dann vom Regen in die Traufe. Nora hat Bastian so oft betrogen, dass er irgendwann die Reißleine ziehen musste. Bittere Enttäuschung, nächste Scheidung. Mit keiner der beiden Frauen war der Kommissar länger als zwei Jahre verheiratet.

Da sind die acht Jahre, die er Silja jetzt schon kennt, absoluter Rekord.

Vor allem, weil es nach einigen Startschwierigkeiten immer besser zwischen ihnen lief. Schließlich zogen sie zusammen, und vor anderthalb Jahren an einem zauberhaften Winterabend haben sie sich hoch oben auf dem Hörnumer Leuchtturm das feierliche Eheversprechen gegeben. Auf eine offizielle Trauung mussten Silja und Bastian allerdings verzichten, weil sie gemeinsam bei der Sylter Kriminalpolizei arbeiten und der Dienstherr solche Verbindungen gar nicht gern sieht.

Der dritte bei der Sylter Kripo arbeitende Kommissar, Sven Winterberg, ist ein guter Freund der beiden und würde sie nie verpetzen. Und selbst die zuständige Staatsanwältin scheint dichtzuhalten, obwohl sie längst ahnen müsste, dass Bastian und Silja liiert sind, und vermutlich auch von ihrer inoffiziellen Trauung weiß.

Aber die Art des Versprechens macht für beide keinen Unterschied, sie lieben sich nach wie vor und kommen bestens miteinander aus. Beruflich und natürlich auch privat.

Trotzdem ist Bastian jetzt unterwegs, um den Aufenthaltsort einer seiner Ex-Frauen herauszufinden. Polizeilich ist Nora in Flensburg gemeldet, und an diese Adresse schickt Bastian jedes Jahr zu ihrem Geburtstag eine Glückwunschkarte ganz altmodisch per Post. Wenige Tage später bedankt sich Nora bei ihm mit einer launigen SMS. Kein Grund zur Eifersucht für Silja also und natürlich auch keiner für Bastian, groß darüber zu reden. Nur eine kleine Geste einer gemeinsamen Vergangenheit gegenüber, die sich seit über zehn Jahren regelmäßig wiederholt. Es ist der einzige Kontakt, den die Ex-Gatten seit ihrer Scheidung haben. Es gab keine Kinder, da Bastian sich schon während seiner ersten Ehe mit Karin hatte sterilisieren lassen, und es gab auch keine Unterhaltsverpflichtungen, denn Nora, die eine Hotelausbildung abgeschlossen hatte, verdiente als Rezeptionistin gutes Geld.

Aber in diesem Jahr ist Noras Dankes-SMS ausgeblieben, eine Tatsache, die Bastian zunächst gar nicht aufgefallen ist, dann immer mal wieder am Rand seiner Aufmerksamkeit auftauchte und schließlich begann, ihn zu beunruhigen. An Noras Wohnsitz hat sich nichts geändert, das konnte er leicht überprüfen, und selbstverständlich hätte Bastian sie anrufen und nachfragen können, ob alles in Ordnung ist. Aber so viel Nähe wollte und will er nicht. Er will lediglich die irritierenden Gedanken an seine Ex aus dem Kopf kriegen, er will sicher sein, dass bei ihr alles in Ordnung ist.

Und darum ist er jetzt unterwegs zu jemandem, der regelmäßig in Flensburg ist und ihm vielleicht den Gefallen tun kann, ganz diskret mal bei Nora vorbeizuschauen. Fred Hübner ist Journalist und schon von Berufs wegen neugierig. Die drei Kommissare und er sind alte Bekannte, immer wieder war Fred in die spektakulärsten Fälle verwickelt, zuletzt im vergangenen Herbst, als ein prominenter Literaturkritiker ermordet wurde, der vor seinem Tod eine ganze Woche lang mit Fred Hübner und einigen anderen Schriftstellern an einem literarischen Colloquium teilgenommen hatte.

Hübner wohnt direkt am Wenningstedter Dorfteich in einer schnieken Maisonettewohnung, die sich Bastian und Silja von ihrem Beamtensalär nie leisten könnten. Kurz durchzuckt Neid den Kommissar, als er seinen Wagen in einer der Parkbuchten gegenüber der Dorfkirche abstellt. Es ist ein warmer, fast schon schwüler Frühsommerabend, die hohe Fontäne in der Mitte des Dorfteichs wirft sich ins diesige Licht, und die zahlreichen Enten, die den Teich bevölkern, vergnügen sich am Ufer oder planschen im Wasser.

Als Bastian den Klingelknopf an Fred Hübners Wohnung drückt, stellt er fest, dass er schweißnasse Finger hat. Vergeblich versucht er, sich einzureden, dass nur die abendliche Wärme daran schuld sei.

Donnerstag, 16. Juni, 18.16 Uhr, Haus am Dorfteich, Wenningstedt

Fred Hübner lässt genüsslich den eiskalten Wasserstrahl der Dusche über seinen Nacken laufen. Nach einem ordentlichen Spurt mit dem Rennrad hoch nach List und wieder zurück sowie einem anschließenden Bad in den Nordseewellen freut er sich jetzt auf einen gemütlichen Feierabend auf seiner Terrasse. Der Journalist spült den letzten Rest Shampoo aus seinen kurz geschorenen, aber immer noch vollen Haaren, stellt die Dusche ab und greift nach dem Handtuch. Während er sich abrubbelt, geht die Türklingel.

Fred hat keine Ahnung, wer das sein könnte, vermutlich der Paketbote, der wieder mal ein Päckchen für die Nachbarn bei ihm deponieren möchte. Also bindet sich Fred kurz entschlossen das Handtuch um die immer noch schmalen Hüften und geht zur Tür. Als er öffnet und den bulligen Kommissar vor sich sieht, staunt er nicht schlecht.

»Kreuzer, Sie hier? Das ist kein gutes Zeichen.«

Nicht ohne Stolz registriert Fred, dass der Kommissar, der in den letzten Jahren gewichtsmäßig erheblich zugelegt hat, seinen Blick neidvoll über Freds unbekleideten Körper schweifen lässt. »Mensch Hübner, für einen Mann Anfang sechzig sind Sie aber gut in Form.«

»Und um mir das mitzuteilen, haben Sie sich extra herbemüht?«

»Äh nein, natürlich nicht. Kann ich vielleicht reinkommen?«

So unsicher hat Fred den ansonsten recht forsch auftretenden Kommissar noch nie erlebt.

»Wenn es unbedingt sein muss. Auch wenn ich wirklich nicht weiß …«, beginnt er, wird aber sofort unterbrochen.

»Keine Panik. Es geht ausnahmsweise einmal nicht um Ihre Verwicklung in ein Verbrechen. Überhaupt ist es in letzter Zeit nahezu paradiesisch friedlich auf der Insel. Vielmehr bin ich hier, weil ich Sie um etwas bitten möchte.«

Fred traut seinen Ohren nicht. Kommissar Kreuzer scheint aus unerfindlichen Gründen Kreide gefressen zu haben, und das nicht zu knapp.

»Also kommen Sie schon rein, ich zieh mir kurz was über.«

Fred spurtet die Treppe seiner Maisonettewohnung hinauf und greift sich im Schlafzimmer eine Jeans und ein Shirt. Barfuß kehrt er zurück ins Untergeschoss, wo der Kommissar immer noch mitten im Raum steht.

»Setzen Sie sich doch. Kaffee? Espresso?«

»Kaffee. Gern.«

»Milch? Zucker?«

»Schwarz bitte.«

Kreuzer lässt sich auf Freds Ledercouch fallen und legt beide Hände auf die Oberschenkel. Wie ein Schüler vor dem Direktor, schießt es Fred durch den Kopf, und langsam beginnt die Situation, ihm zu gefallen. Er wendet sich ab, um in aller Ruhe an seiner Kapselmaschine zu hantieren, während er förmlich zu spüren meint, wie Kreuzer in seinem Rücken vor sich hinschmort.

Üblicherweise läuft es anders zwischen ihnen. Immer wieder ist Fred Teil der polizeilichen Ermittlungen gewesen, meist ohne eigenes Verschulden. Trotzdem war das Vorgehen der Beamten zuweilen recht drastisch. Selbst mit einer der drei Zellen im Kriminalkommissariat hat Fred in der Vergangenheit schon Bekanntschaft gemacht.

Als er mit dem duftenden Kaffee zu dem Kommissar zurückkehrt, hat dieser sich etwas entspannt. Ein Arm liegt auf der Sofalehne, die Beine sind leicht auseinandergestellt.

Fred lässt sich in einen Sessel fallen, der dem Sofa gegenübersteht. »Worum geht’s?«

»Ich nehme an, Sie sind immer noch mit unserer Staatsanwältin Frau von Bispingen liiert?«

Fred nickt. Mit allem Möglichen hat er gerechnet, aber ganz bestimmt nicht mit einer Frage nach seinem Liebesverhältnis. Obwohl er natürlich weiß, dass diese Verbindung für die Kommissare alles andere als einfach ist.

»Und vermutlich sind Sie ab und an in Flensburg«, fährt Kreuzer tastend fort.

»In letzter Zeit schon«, gibt Fred zu. »Wie Sie selbst sagten, scheint in krimineller Hinsicht eine gewisse Flaute auf der Insel zu herrschen, so dass Frau von Bispingen hier schon länger nicht mehr beruflich aufgeschlagen ist. Aber das wissen Sie besser als ich.«

»Nun, ich hätte da vielleicht einen kleinen Auftrag für Sie, den Sie bei Ihrem nächsten Besuch erledigen könnten.«

Fred kann ein spöttisches Lachen nicht unterdrücken. »Ich bin Journalist und kein Privatdetektiv, das sollte Ihnen nicht entgangen sein.«

»Aber Sie sind ein neugieriger Mensch.«

»Das ist gewissermaßen eine Berufskrankheit«, erklärt Fred achselzuckend.

»Ich hätte gern einige Auskünfte zu einer Dame, die rätselhafterweise verschwunden zu sein scheint. Oder eben auch nicht.« Die Miene des Kommissars drückt Verlegenheit aus.

»Und da fragen Sie mich? Die Kripo hat doch alle Möglichkeiten, so etwas zu klären.«

»Es handelt sich eher um ein privates Interesse.«

Der Kommissar senkt den Blick.

»Sie betrügen Ihre Frau?«

Die Frage ist Fred entschlüpft, bevor er nachdenken konnte. Und sie klingt authentisch empört. Sosehr er auch immer wieder mit Bastian Kreuzer im Clinch liegt, so große Stücke hält er doch auf dessen Partnerin und Kollegin Silja Blanck. Die äußerst attraktive zierliche Kommissarin hat ihn immer anständig behandelt, und er mag sie einfach. Wenn Kreuzer sich einbildet, dass er ihn bei irgendwelchen halbseidenen Eskapaden unterstützen wird, hat der Kommissar sich gehörig getäuscht.

Doch der Widerspruch kommt prompt. »Wo denken Sie hin? Auf gar keinen Fall!«

In den folgenden Minuten erfährt Fred von Kreuzers zwei gescheiterten Ehen und dem merkwürdigen Geburtstagsritual. Und von der Sorge des Kommissars, eine offizielle Nachforschung würde seine Frau unnötig und völlig unberechtigt verstören. »Außerdem ist es uns allen natürlich verboten, dienstliche Kanäle für private Recherchen zu benutzen«, fügt Kreuzer mit aufreizend ernster Miene an.

»Schon klar. Sie halten sich bestimmt auch immer daran.«

»Sie brauchen gar nicht sarkastisch zu werden. Ich weiß auch allein, dass ich mich hier in einer Grauzone bewege. Aber soweit ich mich erinnere, sind Sie ein ausgewiesener Spezialist für Grauzonen.«

Die beiden Männer wechseln einen Blick, in dem neben Resten von Misstrauen auch eine stillschweigende Übereinkunft liegt.

»Okay.« Plötzlich reizt Fred der pikante Fall. »Was hätte ich zu tun?«

»Ein bisschen rumfragen. Bei den Nachbarn, auf der Arbeit. Sie heißt Nora Graff und arbeitet, soweit ich informiert bin, als Rezeptionistin im Hotel Flensburger Förde. Ich kann Ihnen auch ein Foto geben, es ist nicht ganz frisch, aber so sehr wird sich meine Ex schon nicht verändert haben. Sie hat immer auf ihr Aussehen geachtet.«

Kreuzer fingert in seiner Tasche herum und fördert ein abgegriffenes Porträtfoto zutage. Die Dame hat eine Rennpferdnase mit extrem sinnlichen Nüstern, große, wasserblaue Augen und lange, dunkle Haare. Sie schaut direkt in die Kamera, wobei ihr Blick selbstbewusst wirkt, ohne aufreizend zu sein.

»Attraktive Frau«, murmelt Fred und dreht das Foto um.

Für Basti in Liebe steht in künstlich verschnörkelter Schrift auf der Rückseite.

»Basti, soso.« Fred kann sich das Grinsen nicht ganz verkneifen.

»Haben Sie schon einmal versucht, etwas gegen irgendwelche Spitznamen zu unternehmen, die sich eine Frau ausdenkt?«

»Die Frauen, mit denen ich zu tun habe, kommen nicht auf solche Ideen«, erklärt Fred cool.

»Bei unserer Staatsanwältin wundert mich das gar nicht. Sie würde sich vermutlich eher auf die Zunge beißen, als sich bei einer überschwänglichen Gefühlsäußerung ertappen zu lassen.«

»Sind Sie hier, um über meine Beziehung zu lästern oder um mich zu einem Freundschaftsdienst zu überreden?«

»Schon gut, war nicht so gemeint«, entschuldigt sich der Kommissar sofort und schiebt ein hoffnungsvolles »Machen Sie’s?« nach.

»Wie alt ist Ihre Ex-Frau jetzt?«

»Gerade neununddreißig geworden. Warum ist das wichtig?«

»Ich muss mir doch ein Bild von der Person machen, der ich hinterherspionieren soll.«

»Nicht hinterherspionieren. Ich will nur wissen, ob bei ihr alles in Ordnung ist.«

»Schon klar.«

Der Kommissar zögert kurz, dann stemmt er sich aus dem Sofa hoch und streckt die Hand aus. »Könnte ich bitte das Foto wiederhaben? Tut mir leid, dass ich Sie behelligt habe.«

»Jetzt seien Sie mal nicht gleich beleidigt. Wenn ich daran denke, was ich mir von Ihnen schon alles habe anhören müssen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ich auch mal meinen Spaß haben will.«

»Das Foto, bitte.«

»Mensch Kreuzer, jetzt setzen Sie sich wieder hin. Ja, ich mach’s. Zufrieden?«

Samstag, 18. Juni, 12.17 Uhr, Mathildenstraße, Flensburg

Fred Hübner steht in der Mittagshitze vor einem stuckverzierten dreistöckigen Bürgerhaus und ärgert sich plötzlich darüber, Bastian Kreuzers Auftrag überhaupt angenommen zu haben. Seit gestern Abend ist er bei seiner Liebsten zu Besuch, und sie staunte nicht schlecht, als Fred auf ihre Fragen nach den gemeinsamen Wochenendaktivitäten erwiderte: Samstagmittag muss ich kurz mal weg, dauert aber nicht lange, spätestens um drei bin ich wieder da. Elsbeths neugierige Nachfrage hat er nur mit einem mysteriösen Lächeln quittiert und Berufsgeheimnis gemurmelt. Auch ihre Entgegnung, du Schuft willst dich nur an mir rächen, weil ich mich standhaft weigere, interne Ermittlungsergebnisse mit dir zu teilen, konnte ihn nicht umstimmen.

Trotzdem wäre er bei diesem Traumwetter lieber mit Elsbeth gemeinsam unterwegs. Sie hatte eine Wochenendtour mit dem Cabrio auf eine dänische Insel vorgeschlagen, was sich natürlich kaum noch lohnt, wenn man erst am Samstagnachmittag aufbricht.

Aber was soll’s, jetzt steht er hier und wird seinen Rechercheauftrag so schnell wie möglich erledigen.

Allerdings hat er schon zweimal bei Nora Graff geklingelt, ohne dass ihm aufgemacht worden wäre. Zu Hause scheint sie schon mal nicht zu sein. Stirnrunzelnd blickt der Journalist zu den hohen Altbaufenstern auf. Das Haus wirkt – wie der ganze Straßenzug – äußerst gediegen. Wohlbeschnittene Bäume spenden Schatten, die Vorgärten sind mit Rhododendren und Buchs bepflanzt, und das Klingelbrett ist aus glänzendem Messing. Es verrät, dass Nora Graffs Haus in sechs Wohnungen aufgeteilt ist. Kreuzers Ex wohnt ganz oben unterm Dach, und Fred klingelt kurzerhand in der Wohnung daneben. Hoffentlich sind die Nachbarn halbwegs gesprächig und nicht so zugeknöpft, wie es im Norden schon mal vorkommen kann.

Er wartet kurz, dann hört er eine heisere Frauenstimme durch die Gegensprechanlage fragen: »Wer ist da?«

»Ich bin ein alter Bekannter von Frau Graff und wollte sie überraschen. Aber sie scheint nicht da zu sein.«

»Nora wohnt seit dem Frühjahr nicht mehr hier«, ist die knappe Antwort. Dann verhindert ein heftiger Hustenanfall zunächst jede weitere Kommunikation. Als es am anderen Ende wieder ruhig ist, setzt Fred nach.

»Aber Noras Name steht doch immer noch an der Klingel.«

»Das ist nur vorsichtshalber. Sie hat untervermietet und kommt irgendwann sicher zurück.«

»Irgendwann sicher? Das hört sich für mich eher unsicher an.«

»Hören Sie, ich will mich ja nicht einmischen, aber was geht Sie das Ganze eigentlich an?«

»Ich bin, wie gesagt, ein alter Freund.«

Die Antwort lässt auf sich warten, aber schließlich scheint die Nachbarin sich einen Ruck zu geben. »Noras Schwester ist ernsthaft erkrankt, und sie ist rübergefahren, um sie zu pflegen.«

»Rübergefahren? Arbeitet sie denn nicht mehr im Hotel Flensburger Förde?«

»Schon mal was von unbezahltem Urlaub gehört?«

»Monatelang?«

»Im Gastgewerbe herrscht Personalmangel, da können Sie zurzeit alles rausverhandeln.«

»Ja klar, das leuchtet ein«, entgegnet Fred lahm, während er gleichzeitig fieberhaft überlegt, wie er noch mehr Informationen aus der spröden Nachbarin herausholen kann. Mit zuckersüßer Stimme flötet er schließlich: »Mensch klar, die Schwester, ich erinnere mich. Sie war schon immer etwas kränklich. Lebt sie eigentlich immer noch in …«

»Glücksburg, ganz genau«, hilft ihm die Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Ach super, ich glaube irgendwo habe ich sogar ihre Nummer. Dann melde ich mich einfach dort. Vielen Dank Ihnen schon mal. Das war wirklich hilfreich.«

»Nicht dafür«, krächzt es aus der Anlage, dann wird scheppernd die Verbindung unterbrochen.

Fred tritt vom Hauseingang zurück und geht ein paar Hundert Meter die Straße hinauf. Erst als er aus den oberen Fenstern ganz sicher nicht mehr auszumachen ist, holt er das Handy aus der Tasche und simst Kommissar Kreuzer an.

Können Sie die Adresse von Frau Graffs Schwester in Glücksburg besorgen?

Noch während Fred darüber nachdenkt, unter welchem Vorwand er seine Liebste nach Glücksburg locken könnte, kommt Kreuzers überraschende Antwort.

Nora hat überhaupt keine Schwester.

Samstag, 18. Juni, 12.43 Uhr, Hotel Flensburger Förde, Flensburg

Susanne Wagner schiebt die Meldeformulare zur Seite, fährt den Rechner hoch und checkt stirnrunzelnd die Buchungen fürs Wochenende. Alle siebzehn Zimmer werden belegt sein, das gibt ein fettes Arbeitsprogramm für Ingeborg, ihre Putzkraft. Susanne kann nur hoffen, dass Ingeborg auch in den nächsten Tagen von der Sommergrippe verschont bleibt, die im Norden zu kursieren scheint. Sie selbst hat seit gestern einen rauen Hals und trägt Rollis, unter denen sie in dem unklimatisierten und stickigen Hotelfoyer viel zu sehr schwitzt. Aber nachdem Nora vor zwei Monaten als Rezeptionistin ausgefallen ist, muss sie den Laden hier allein schmeißen, was zu regelmäßigen Zwölf-Stunden-Schichten geführt hat. Und obwohl Susanne mit ihren dreißig Jahren noch ziemlich belastungsfähig ist, zerren die ständigen Überstunden langsam an ihren Nerven.

Als jetzt ein schlanker älterer Herr in Jeans und Shirt aber ohne jedes Gepäck das in die Jahre gekommene Foyer betritt und zielstrebig auf ihren Tresen zusteuert, schafft Susanne es kaum, die professionelle Freundlichkeit aufzubringen, die von ihr erwartet wird.

»Ja bitte?«

Der Mann antwortet nicht, sondern blickt sich um, als suche er etwas. Oder jemanden. Die abgewetzte Sitzgruppe scheint ihn ebenso wenig zu interessieren wie der Kühlschrank mit der Glastür, hinter der billige Getränke für die Selbstbedienung der Gäste stehen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, setzt Susanne ungeduldig nach.

Der Fremde wendet sich ihr zu, tritt nah an den Tresen, stützt beide Arme darauf und schaut ihr direkt in die Augen. »Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber arbeitet Nora Graff noch hier?«

»Wer will das wissen?«

»Fred Schulze ist mein Name. Ich bin ein Bekannter von Noras Ex-Mann.«

»Dem Polizisten?«

»Gab es noch mehr Ex-Männer?«

»Hören Sie, ich habe hier echt genug zu tun und muss mich nicht über meine Kollegin aushorchen lassen.«

»Verzeihung. Das war nicht meine Absicht.«

Der Typ jenseits des Tresens wirkt alles andere als schuldbewusst. Irgendwie ist er Susanne unheimlich, und sie will ihn so schnell wie möglich loswerden.

»Nora ist schon im März von hier weg. Seitdem schmeiße ich den Laden allein. Wann und ob sie überhaupt wiederkommen wird, wissen die Götter. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.«

»Sie haben nicht zufällig eine Adresse, unter der ich Ihre Kollegin erreichen könnte? Ich hätte eine nicht ganz unwichtige Botschaft für sie.«

»Geht es um die Erbschaft?« Jetzt wird Susanne doch neugierig. Nora hat zwar etwas von einer entfernten Tante gemurmelt, die im Sterben liege und ihr möglicherweise eine stattliche Summe hinterlassen könnte, aber vielleicht ist die Tante gar keine Blutsverwandte, sondern über den Polizisten-Ex-Mann angeheiratet. Vielleicht hat sie während der kurzen Ehezeit einen Narren an Nora gefressen und will ihr Geld lieber ihr als dem eigentlichen Neffen vererben.

»Im weitesten Sinne geht es auch um die Erbschaft«, erklärt der Fremde jetzt. »Allerdings bräuchte ich wirklich Frau Graffs neue Adresse.«

»Na, sie wollte zu ihrer kranken Tante, das ist doch wohl klar. Die wohnt irgendwo auf Sylt, hat sich ein schönes Leben mit ihrer ganzen Kohle gemacht, aber jetzt ist sie alt und einsam und sucht jemanden, der ihr auf den letzten Metern Beistand leistet. Für Nora ist das wie ein Sechser im Lotto. Kein Wunder, dass sie hier alles hat stehen und liegen lassen. Hätte ich auch so gemacht.«

Erschrocken hält Susanne inne. So viel wollte sie gar nicht verraten, aber irgendwie sind ihr die Infos doch herausgerutscht. Vielleicht weil sie ein klein wenig eifersüchtig auf die Chance ist, die sich ihrer Kollegin so plötzlich geboten hat.

»Auf Sylt, sind Sie da ganz sicher? Ich dachte bisher, Frau Graff sei nach Glücksburg gegangen.«

»Dann wissen Sie mehr als ich. Aber eines kann ich Ihnen sagen, nach Glücksburg ist Nora bestimmt nicht. Da lebt ihr Ex-Freund, und der hat ihr im vergangenen Winter ziemlich unfein die Beziehung aufgekündigt.«

Kaum sind die Worte ausgesprochen, ärgert sich Susanne auch schon darüber. Sie besinnt sich auf ihre Pflicht zur Diskretion, wendet sich ab und widmet sich wieder ihrem Computerbildschirm. Wenn der Kerl sie weiter aushorchen will, muss er sich etwas Besseres einfallen lassen.

»Hören Sie, es ist wirklich wichtig. Ich komme selbst von der Insel, und wenn ich Frau Graff dort erreichen könnte, wäre das ausgesprochen hilfreich für mich.«

»Leben Sie dort? Was machen Sie denn beruflich?« Sollte er etwa einer dieser glücklichen Menschen sein, die ein sorgenfreies Leben auf Deutschlands teuerstem Pflaster verbringen können? Susanne kann nicht verhindern, dass ihre Blicke den Mann noch einmal scannen. Er sieht für sein Alter ziemlich gut aus und wirkt eigentlich recht sympathisch.

»Ich, äh, um ehrlich zu sein, mache ich nichts Besonderes«, antwortet er und wirkt dabei fast ein wenig beschämt.

Das ist also einer aus dieser Erbengeneration, von der man immer so viel liest, schießt es Susanne durch den Kopf. Unwillkürlich stellt sie sich vor, wie es wäre, an der Seite eines solchen Mannes das Leben zu genießen.

»Ich weiß leider wirklich nicht mehr über Noras Aufenthaltsort auf der Insel.« Susanne denkt angestrengt nach. Womit könnte sie den attraktiven Fremden noch füttern? »Höchstens, dass Nora mir zwischendurch mal etwas von einem Golfplatz vorgeschwärmt hat. Ist aber schon einen Monat her. Ich hatte Geburtstag, und sie hat mich kurz angerufen.«

»Ein Golfplatz, sagen Sie. Auf Sylt?«

Susanne nickt.

»Da gibt’s mehrere. Wissen Sie vielleicht, welchen genau Ihre Kollegin gemeint hat?«

»Leider nein.«

»Aber Frau Graff spielt Golf?«

»Was? Nein. Gar nicht. Das kann sich unsereins kaum leisten. Aber wenn Sie sich auf der Insel auskennen, Herr …, Herr …« Plötzlich fällt Susanne auf, dass sie sich den Namen des Fremden nicht gemerkt hat. Oder hat er sich gar nicht vorgestellt?

»Pardon, Schulze, mein Name. Fred Schulze. Sagte ich das nicht bereits?«

»Ach so. Ja natürlich.«

Susanne kann nicht verhindern, dass man ihre Enttäuschung hört. Sie hatte auf etwas Klangvolleres gehofft. Und vor allem darauf, dass sie durch ein wenig Googeln mehr über den attraktiven Besucher erfahren könnte.

Immerhin scheint er sich weiter mit ihr unterhalten zu wollen, denn jetzt setzt er noch einmal nach.

»Was wollte Frau Graff denn auf dem Golfplatz, wenn sie nicht selbst spielt?«

»Keine Ahnung. Leider.« Verlegen streicht sich Susanne durchs lange blonde Haar. Sie weiß genau, dass das eine Geste ist, auf die viele Kerle abfahren. »Kann sein, dass Nora Mitglied werden wollte, wenn sie erst einmal geerbt hat. Mit Geld ist ja so einiges möglich. Spielen Sie denn Golf?«, versucht sie, die Unterhaltung auf etwas Persönlicheres zu lenken.

»Ich?« Er lacht, als handle es sich bei ihrer Frage um eine komplett verrückte Idee. »Ganz bestimmt nicht.«

»Ach so«, sagt sie noch einmal, ohne ihre Enttäuschung verbergen zu können. Eine etwas unbehagliche Pause entsteht. Schließlich stößt sich der Besucher vom Tresen ab und macht einige Schritte rückwärts. Es wirkt, als wolle er ein Boot aus dem Hafen manövrieren, ohne den Motor anzulassen.

»Letzte Frage«, er schenkt Susanne ein charmantes Lächeln. »Den Namen der Tante von Frau Graff wissen Sie nicht zufällig?«

»Zufällig nicht«, entgegnet sie kurz angebunden. Wie konnte sie sich auch nur eine Sekunde lang einbilden, er würde sich für sie interessieren? Alles, was der will, sind Informationen über Nora.

»Dann vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag noch«, erklärt der ominöse Herr Schulze, nickt Susanne kurz zu und verschwindet aus der Hotellobby und aus ihrem Leben.

Susanne lässt sich auf den Klapphocker fallen, der in der Ecke hinter dem Tresen steht, und greift sich an den Hals. Die Schmerzen werden immer stärker, und wenn das so weitergeht, wird sie sich morgen krankmelden müssen. Dann muss der Hotelbetreiber eben sehen, wie er ganz ohne Tresenkraft klarkommt. Ich ruiniere meine Gesundheit jedenfalls nicht weiter für die paar Piepen, die ich hier verdiene, denkt sie wütend.

Samstag, 18. Juni, 17.03 Uhr, Rotes Kliff, Kampen

Genüsslich rekelt sich Bastian Kreuzer auf seinem Handtuch und blinzelt in die Sonne. Der Kommissar liegt neben seiner Liebsten im weichen Sand unterhalb der pompösen Kulisse des roten Kliffs zwischen Wenningstedt und Kampen. Er freut sich über das freie Wochenende ebenso wie über das prachtvolle Sommerwetter. Längst hat sich der feine Sand seinem Körper angepasst und bequeme Liegemulden geschaffen. Trotz der späten Nachmittagsstunde brennt die immer noch hochstehende Sonne dem Kommissar ganz schön auf den Pelz, dabei war er gerade vor einer Stunde im Wasser. Er dreht sich zu Silja um und betrachtet sie eingehend. Silja hat die Augen geschlossen, ihre dunklen langen Haare haben sich teilweise über ihr Gesicht gelegt und verdecken die Stirn ebenso wie ihren schönen Mund. Silja ist ein ganzes Stück kleiner als Bastian – und schmaler sowieso. Wie so oft bewundert Bastian ihren perfekt proportionierten Körper, der in einem knappen weißen Bikini steckt.

»Pass auf, dass du nicht verbrennst«, flüstert er. Bastian ist sich nicht sicher, ob Silja eingenickt ist, und möchte sie keinesfalls aufwecken.

Aber Silja schläft nicht. Ohne die Augen zu öffnen, murmelt sie: »Ist das nicht paradiesisch hier? Ich verstehe überhaupt nicht, warum sich alle Leute da hinten am Hauptstrand drängeln, wenn ein paar hundert Meter weiter so viel Platz ist.«

»Ganz einfach. Da hinten haben sie direkten Zugriff auf Strandkörbe, Pommes und Weißwein. Und zu den Toiletten ist es auch nicht weit.«

»Mir egal. Ich find’s immer wieder toll hier zu liegen, niemand schreit rum, niemand spielt Ball. Wir haben das Kliff im Rücken und nur Sand und Meer vor uns.« Sie richtet sich etwas auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und lässt den Blick erst über den fast menschenleeren Strand und dann das rote Kliff hinauf wandern. »Dafür verzichte ich auch gern auf den Luxus eines Strandkorbs.«

»Obwohl es so ungeschützt in der knalligen Sonne ganz schön heiß ist«, wendet Bastian ein.

»Dann lass uns noch mal ins Meer gehen. Guck mal, wie toll die Wellen sind. Ich glaube, die Flut kommt gerade.«

»Ein Bier im Schatten wäre jetzt auch nicht schlecht.«

»Spielverderber.« Sie stupst ihn in die Seite. »Nachher können wir gern hoch zur Buhne 16 oder gleich zurück Richtung Wenningstedt laufen, dann kriegst du dein Bier. Aber jetzt gehe ich erst mal schwimmen.«

»Pass auf dich auf, die Wellen können tückisch sein.«

»Ich bin auf der Insel aufgewachsen, schon vergessen?« Lachend steht sie auf und läuft hinunter zur Wasserkante.

Bastian wartet, bis Silja unten angekommen ist, dann klaubt er sein Handy aus der Strandtasche und scrollt in seinen Kontakten, bis er auf Fred Hübners Nummer stößt. Es klingelt ziemlich lange, und Bastian will schon auflegen, da wird der Anruf doch noch angenommen.

»Da schau an, der Herr Hauptkommissar. Neugierig, was?«

»Reden Sie nicht lange drumrum, Hübner. Waren Sie beim Hotel Flensburger Förde?«

»Allerdings. Und ich muss sagen, Ihre Ex scheint recht phantasiebegabt zu sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Jetzt hat sie angeblich keine kranke Schwester mehr, sondern eine todkranke Erbtante, die sie pflegen muss.«

»Wieso das denn? Und was soll der Blödsinn mit der Tante?« Bastian überlegt noch einmal gründlich, doch er ist sich ganz sicher. »Nora ist Einzelkind, und ihre Eltern hatten beide auch keine Geschwister.«

»Also keine Erbtante auf Sylt«, stellt Hübner trocken fest. »Irgendwie wundert mich das noch nicht mal.«

»Keine Erbtante überhaupt – und schon gar nicht auf Sylt. Wie kommen Sie denn jetzt auf die Insel? Hat Nora Ihnen das erzählt?«

»Sie selbst hat mir gar nichts erzählt, sie ist ja nicht aufzutreiben, aber ich habe länger mit ihrer Kollegin vom Hotel gesprochen.«

Mit wachsender Verwunderung erfährt Bastian von den Äußerungen und Mutmaßungen der Rezeptionistin.

»Also ist Nora angeblich nach Sylt aufgebrochen, um eine Tante zu pflegen, die nicht existiert, und um sich Golfplätze anzugucken, deren Mitgliedschaft sie sich nicht leisten kann?«, fasst der Kommissar schließlich Fred Hübners Ausführungen zusammen.

»So sieht es aus.« Dann herrscht in der Leitung ratloses Schweigen, bis Hübner noch einmal das Wort ergreift. »Wenn ich die Aussagen der Wohnungsnachbarin und die der Kollegin vergleiche, dann fallen mir zwei Dinge auf. Erstens: Krankheit als Thema. Und zweitens: Geld. Überlegen Sie mal: die reiche Erbtante, der teure Golfclub. Selbst wenn beides nur vorgeschoben oder vielleicht sogar als falsche Spur gelegt worden ist, scheinen diese Dinge doch auf etwas zu verweisen, das Ihre Ex beschäftigt.«

»Ihr detektivischer Spürsinn in allen Ehren, Hübner, aber was mich vor allem beschäftigt, ist die Erwähnung der Insel. Hat Nora wirklich gesagt, sie würde nach Sylt gehen?«

»Der Nachbarin hat sie Glücksburg als Ziel genannt. Ich würde also nicht allzu viel darauf geben.«

»Nur dass ich nicht in Glücksburg lebe, sondern hier.«

»Sagten Sie nicht, die Sache zwischen Frau Graff und Ihnen sei geklärt?«

»Davon bin ich ausgegangen.«

»Kreuzer, machen Sie bloß keinen Blödsinn«, warnt Hübner mit strenger Stimme.

»Keine Sorge, das ist es nicht. Ich möchte vielmehr verhindern, dass Nora Blödsinn macht.«

Auf Fred Hübners irritierte Nachfrage bleibt der Kommissar die Antwort schuldig. Und als er sieht, wie sich Silja aus den Wellen zurück zum Strand kämpft, sagt er schnell: »Ich muss jetzt Schluss machen, wir reden ein andermal weiter. Und vielen Dank schon mal, Sie haben echt was bei mir gut.«

Sonntag, 19. Juni, 11.36 Uhr, Brandenburgerstrand, Westerland

Oberkommissar Sven Winterberg trägt schwer an seinem Gepäck. Eine prall gefüllte Strandtasche über der rechten Schulter und eine bereits aufgeblasene Luftmatratze unter den rechten Arm geklemmt, versucht er krampfhaft, auch den zusammengeklappten Buggy seines dreieinhalbjährigen Sohnes Max in der linken Hand zu stemmen. Die Familie hat nur noch einen weit entfernten Parkplatz ergattern können, und Max kann nach einem langen Strandtag ziemlich anstrengend sein. Da ist es für den Rückweg besser, ihn einfach in seinen Buggy zu setzen, anstatt auch noch ihn zu tragen. Svens Frau Anja, die sich mit einer Kühltasche abschleppt und an der freien Hand den Kleinen bändigt, ruft ihrem Mann von hinten zu: »Ist es noch weit bis zu unserem Strandkorb?«

»Keine Ahnung, ich war froh, dass wir überhaupt noch einen bekommen haben, jetzt müssen wir eben nach der Nummer suchen.«

Zwischen kreischenden Kindern, Strandtennis spielenden Pärchen und in ihren Körben dösenden Badegästen stapft die Familie durch den feinen Sand. Zum Glück ist der gesuchte Korb bald gefunden und steht sogar in der ersten Reihe. Erleichtert lässt Sven alles fallen, was er geschleppt hat, und dreht als Erstes den Strandkorb mit der Öffnung zum Wasser. Anja platziert die Kühltasche im Schatten und breitet zwei Handtücher im Inneren des Korbes aus.

Der kleine Max wirft sich mit voller Wucht auf die quietschgelbe Luftmatratze und verkündet: »Mami, ich habe solchen Durst!« Anschließend blickt er sich suchend um. »Wo ist Mette?«

»Mette hat doch letzte Nacht bei Amelie in Westerland geschlafen. Sie war schon beim Frühstück nicht dabei. Hast du das etwa vergessen?«

»Ach so«, murmelt Max enttäuscht.

»Die beiden kommen aber später nach«, tröstet ihn Anja, während sie in der Kühltasche nach einem Trinkpäckchen für ihren Kleinsten sucht.

Anja war schon Ende dreißig, als der Nachzügler sich ankündigte, die ältere Schwester Mette hatte damals gerade ihren zehnten Geburtstag gefeiert und ist mit ihren vierzehn Jahren inzwischen mitten in der Pubertät. Sie besucht seit vier Jahren das Westerländer Gymnasium, was zur Folge hat, dass ihre Eltern oft quer über die Insel fahren müssen, um sie zu ihren Freundinnen zu chauffieren. Winterbergs wohnen in einem schönen Haus am südlichen Rand von Kampen, dem teuersten Dorf der Insel. Anjas Eltern, die schon länger verstorben sind, haben ihrer Tochter die Immobilie rechtzeitig überschrieben, so dass es keine Erbschaftssteuern zu entrichten gab. Aber das ist ein großer Glücksfall und ein absoluter Sonderfall auf der Insel. Keine von Mettes Mitschülerinnen kommt aus Kampen, sie sind stattdessen über die ganze Insel verstreut. Ihre Eltern wohnen vor allem in Tinnum, Archsum und Morsum, den Orten mit bezahlbarerem Wohnraum, oder eben wie Mettes beste Freundin Amelie im Norden von Westerland, fußläufig zum Brandenburgerstrand. Und das ist auch der Grund, warum die Winterbergs sich hierherbemüht haben, obwohl sie es viel näher und bequemer zum Kampener Strand gehabt hätten.

Anja reicht Mäxchen das Trinkpäckchen, streift das Strandkleid ab und lässt sich aufseufzend in den Korb fallen.

»Für die nächsten Stunden rühre ich mich nicht mehr von der Stelle«, erklärt sie zufrieden, während sie Sven zulächelt und einladend auf den Platz neben sich klopft. »Setz dich zu mir. Wer weiß, wann Mäxchen anfängt sich zu langweilen. Dann musst du ran und eine riesengroße Burg bauen. Das hast du ihm versprochen.«

»Au ja, Burg bauen, Burg bauen«, kräht Max begeistert.

»Da haben wir den Salat«, mosert Sven mit einem Augenzwinkern. »Hätten wir nicht einfach über etwas anderes reden können?«

»Papi kommt gleich«, vertröstet Anja ihren Jüngsten. »Er muss sich erst ausruhen, schließlich hat er unsere ganzen Sachen den langen Weg hierhergeschleppt.«

»Okay, dann schlafe ich jetzt«, erklärt Max zur nicht geringen Überraschung seiner Eltern und zieht sich das T-Shirt über Gesicht und Trinkpäckchen, an dem er immer noch nuckelt.

Anja und Sven wechseln einen gerührten Blick, dann lehnen sich beide zurück, um den Augenblick der Ruhe zu genießen, von dem sie genau wissen, dass er nicht lange währen wird.

Doch es ist nicht der kleine Max, der sie aus ihrer besinnlichen Pause reißt, sondern eine allgemeine Aufregung, die sich wellenartig in den Strandkörben um sie herum ausbreitet.

Zunächst sind es nur geflüsterte Mutmaßungen, doch bald schon bestätigende Rufe und schließlich entsetzte Aufschreie. Nur wenige Hundert Meter von den Winterbergs entfernt hat sich aus einem kleinen Pulk Neugieriger in Minutenschnelle eine beachtliche Menschenmenge entwickelt, die um irgendetwas herumsteht, das ganz offensichtlich gerade angeschwemmt worden ist. Immer mehr Möwen kreisen über der Stelle und versuchen aufgeregt, herabzustoßen, was von den Badegästen mit Armwedeln und lautem Rufen mehr schlecht als recht verhindert wird.

»Ich gehe mal nachsehen, was da los ist«, murmelt Sven und stemmt sich aus dem Strandkorb.

»Bleib doch hier, es ist schließlich dein freies Wochenende. Soll sich jemand anderes darum kümmern.«

»Vielleicht ist es ein verletzter Tümmler, und ich kann helfen.« Sven greift nach seinem Handy und joggt zu der Menge am Wassersaum.

»Wo will Papi denn hin?«, meldet sich prompt Mäxchen, während er sich das Shirt vom Gesicht zieht und das leere Trinkpäckchen in den Sand wirft.

»Nicht doch. Wir sammeln unseren Müll brav wieder ein. Gib das Päckchen her, ich habe einen Müllbeutel dabei«, ermahnt ihn Anja. Dabei lässt sie ihren Mann nicht aus den Augen.

Inzwischen hat Sven die Menschenmenge erreicht und drängelt sich hindurch, so dass Anja ihn aus den Augen verliert. Doch schon Sekunden später taucht er wieder auf. Mit energischen Bewegungen scheint er die Menschen zur Seite zu schieben, so dass sie bald in einem großen Kreis um eine formlos wirkende Gestalt herumstehen, die am Boden liegt. Ein Tümmler ist das schon mal nicht, schießt es Anja durch den Kopf, obwohl sie keine Einzelheiten ausmachen kann. Aber um zu erkennen, dass ein Tümmler niemals einen leuchtend pinkfarbenen Bikinislip tragen würde, muss sie gar nicht näher herangehen. Und bei der Vorstellung, dass dort hinten am Meeressaum möglicherweise eine Frauenleiche angeschwemmt worden sein könnte, verdüstert sich plötzlich die gesamte Szenerie für Anja. Wo bisher Heiterkeit und ausgelassene Wochenendstimmung herrschten, weht nun der kalte Atem des Todes über den Strand.

Sonntag, 19. Juni, 12.21 Uhr, Norderstraße, Westerland

Silja Blanck räumt die Frühstückszutaten aus dem Kühlschrank, während Bastian Kreuzer die Brötchentüte in den bereitstehenden Korb entleert. Köstlicher Schinken, fangfrische Nordseekrabben, leckerer Eiersalat, diverse Heringshappen, selbst gemachte Marmelade, frisch gepresster Orangensaft und natürlich die besten Brötchen der Insel stehen kurz darauf für den Sonntagsbrunch bereit.

Zufrieden lässt die Kommissarin ihren Blick über den gut gefüllten Esstisch schweifen und nimmt dann Platz, während sich Bastian um den Kaffee kümmert. Als er sich mit den beiden gefüllten Tassen zu ihr setzt, lobt er seine Liebste überschwänglich.

»Toll hast du das gezaubert. Und deine Idee, den leeren Strand am Morgen zu genießen und danach erst zu frühstücken, war wirklich genial.«



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