Engel tragen Gummistiefel - Doris Manroth - E-Book

Engel tragen Gummistiefel E-Book

Doris Manroth

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Beschreibung

Maxie Engel liebt Überraschungen nur, wenn sie sich gut planen lassen. Ihr rasanter Umzug nach Köln ist nun schon einige Monate her, und so langsam kehrt Ruhe in ihrem Leben ein. Als ihr Chef seinen Traum von einem eigenen Hotel verwirklichen möchte, bringt das nicht nur für Maxie neue Herausforderungen mit sich, sondern auch für Rosie, deren ruhiges Landleben plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Die Einzige, die cool bleibt, ist die quirlige Ida, die mit ihren sechs Jahren ganz genau weiß, dass ihre Mutter und ihre Omi jeder Herausforderung gewachsen sind. Und auch Maxies Nachbar Jacques ist immer mit Essen, Wein und guter Laune zur Stelle. Gerade wenn es mal nicht ganz nach Plan läuft, ist seine Freundschaft einfach unverzichtbar. Jacques' überheblicher Bruder schafft es jedoch, Maxie auf mehr als eine Weise in den Wahnsinn zu treiben. Nur gut, dass er weit weg in Hamburg wohnt!

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 380

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über die Autorin:

Doris Manroth, geboren 1969, lebt mit ihrer Tochter auf dem Land in der Nähe von Köln, dem größten Dorf der Welt, wie es heißt. Sie versucht seit vielen Jahren, einen Garten anzulegen, und wenn sie nicht gerade den Standort von Bäumen, Stauden oder Gartendeko ändert, liest sie gern, schreibt Briefe oder trifft sich zum Mädelsabend. Auch wenn diese manchmal mit gebrochenen Zehen enden.

Für Isabeau

Du sagst mir immer, was du alles von mir erben

möchtest. Hier hast du etwas, was bleibt.

made with love

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kaptiel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kaptiel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Danksagung

Kapitel 1

Was soll das heißen, du hast keine Zeit?« Kraftlos ließ er die Hand mit der Weinflasche sinken.

»Hast du meine Nachricht denn nicht bekommen? Ich gehe heute Abend ins Brauhaus!« Mit einem Paar Wollsocken in der Hand winkte sie Jacques herein und schloss die Terrassentür schnell hinter ihm, damit nicht noch mehr eiskalte Luft über ihre nackten Füße strömte. »Magst du mitkommen?«

»Natürlich nicht.« Er schüttelte sparsam den Kopf. »Was ist denn mit unserer Wochenabschlussbesprechung, Maxie? Ich kann schlecht ohne dich ins Wochenende starten.« Er sah sich unentschlossen um. »Das fühlt sich einfach nicht gut an!«

»Du meinst die obligatorische Flasche Wein, die du mir jede Woche aufs Auge drückst?«

»Ich konnte bisher nicht feststellen, dass dir das unangenehm war.«

»Leider wahr, ich geb‘s ja gerne zu. Was soll das überhaupt heißen: Du kannst ohne mich nicht ins Wochenende starten?!? Was würde wohl dein Schatz dazu sagen?«

»Mein Schatz springt gerade gut gelaunt über die Bühnen der Stadt Köln und tanzt sich die Seele aus dem Leib!« Er stellte die Rieslingflasche ab und hob stattdessen einen flachen Blechkasten mit Buntstiften vom Boden auf, mit dem er sich dann in den wuchtigen Ohrensessel am Fenster fallen ließ. »Warum kann nicht dein Chef mit Tim essen gehen?«, fragte Jacques und begann gedankenverloren, die Buntstifte den Farben nach zu sortieren, während er wie ein Straßenmädchen vor sich hin schimpfte. Seine braunen Augen blickten Maxie dabei immer wieder anklagend an.

Sie seufzte, aber eher, weil ihr die Zeit davonlief als in ehrlicher Sympathie.

»Mein Chef springt gerade gut gelaunt über die Bühnen der Stadt Köln, wie du es so schön ausgedrückt hast. Er musste schon um drei von der Schreinerei weg und wir wollten Tim heute Abend nicht sich selbst überlassen. Das wäre wirklich grob unhöflich gewesen, er ist doch so ein netter Kerl. Begleite uns beide doch!«

Mit der Hand fuhr er sich durchs Haar und kurze Zeit später über den gepflegten, dunklen Bart. Er kämpfte mit sich, aber Maxie kannte seine Antwort noch bevor er den Mund öffnete:

»Lass mal, das ist mir jetzt zu plötzlich.« Gespielt gekränkt beklagte er sich über sein Schicksal. »Das ist echt unfair. Alle verlassen mich. Olli und du und sogar Ida. Wie lange ist dein kleiner Engel denn bei der ›Kinderlandverschickung‹?«

Maxie balancierte auf einem Bein, eine der dunkelblauen Socken im Anschlag. »Nicht lange. Montag ist sie schon wieder zurück.«

Die sechsjährige Ida liebte Jacques abgöttisch, und das nicht nur, weil er ihre Legos nach der Größe der Steinchen sortierte.

Wenig begeistert seufzte Jacques. »Montag sind ja auch meine anderen Kinder wieder da.«

Die zweite Socke brachte Maxie fast aus dem Gleichgewicht, doch sie fing sich gerade rechtzeitig. »Jacques, das sind nicht deine Kinder!«

»In gewisser Weise schon! Weißt du, wie viele Stunden sie in meiner Grundschule verbringen?«

»Das ist nicht deine Grundschule.«

Er schnalzte mit der Zunge. »Natürlich ist sie das: ich bin der Rektor. Wessen Schule sollte es wohl sonst sein? Und es sind sehr wohl meine Kinder, denn ich verbringe vier ganze Jahre mit ihnen. Wenn sie kommen, lesen sie Bilderbücher. Wenn sie gehen, lesen sie alles!«

Maxie grinste. »Du bist ja so süß! Sonst sagst du schon mal ›Kappensitzung‹, wenn du von der Arbeit sprichst.«

Sein dunkler Schopf wippte zustimmend vor und zurück. »Ja, manchmal ist es echt ein bisschen verrückt. Komm doch mal vorbei. Wir könnten dir endlich mal ein bisschen Kopfrechnen beibringen!«

»Ich bin aber keine zehn Jahre alt.«

»Das bist du in der Tat nicht«, genüsslich verschränkte er die Arme.

Maxie band ihre dichten Locken zum Dutt, schlüpfte in ihren Daunenmantel und lief aus dem Zimmer, um sich die Stiefel anzuziehen. Der Reißverschluss des rechten Schuhs ließ sich nur widerwillig hochziehen, und so kam ihr Vorschlag ziemlich atemlos aus dem kleinen Flur bei Jacques an: »Bleib doch hier! So spät wird’s nicht. Tim hat heute Morgen einen sehr frühen Flieger genommen. Er möchte eigentlich nur etwas essen und dann zurück ins Hotel.«

»Geh ruhig aus und lass mich allein.« Elegant erhob Jacques sich aus dem Ohrensessel, richtete sich zu voller Größe auf, schob die Hände tief in die Hosentaschen und schlug einen melodramatischen Ton an. »Wenn dir ein anderer Mann so wichtig ist, dann will ich deinem Glück nicht im Weg stehen. Aber vergiss nie, wer für dich gefühlte hundert Umzugskisten hier über diese Schwelle geschleppt hat. Du hast an deinem ersten Abend hier im Haus so fertig ausgesehen, dass ich meine allerbeste Weinflasche geköpft habe. Und damit du dann deinen unglaublich netten Nachbarn – also mich – besser kennenlernst, habe ich selbstlos jeden Freitagabend-«

»Wie bitte?«

»Äh, gerne jeden Freitagabend geopfert.«

»An dem dein Olli ja traditionell beim Training ist, vergiss das nicht zu erwähnen.«

Er stieß die Luft aus. »Na und? Ich weiß, dass dir unsere Freitage auch heilig sind. Nun ja, dann muss ich also heute mal allein klarkommen.«

Maxie kicherte, während sie sich die Mütze aufsetzte, kehrte zu ihm zurück und sah an ihm hoch. »Du schaffst das! Du bist doch schon groß!« Kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.

Jacques schlang seine langen Arme um das Daunenpaket. »Pass gut auf dich auf, und trink nicht zu viel. Du musst schließlich die ganze Zeit englisch sprechen!«

»Ich passe immer auf mich auf, und Tim spricht sehr gut deutsch, aber jetzt raus mit dir. Ich zerfließe!!!«

Die enge Straße mit den alten, aber hübsch renovierten Häusern lag ruhig im milchigen Winterdunst. Hier trennten sich ihre Wege. Jacques verschwand im Nachbarhaus. Maxie machte sich in entgegengesetzter Richtung auf den Weg zur Haltestelle. Sie war früh genug dran und fuhr schon wenige Minuten später mit der Straßenbahn, einer kleinen Gruppe Karnevalisten und jeder Menge Nachtschwärmer Richtung Innenstadt.

Kapitel 2

Rosie zog langsam die Füße aus den Gummistiefeln. Wie immer zu spät, denn die kleine Straße aus Lehmklumpen und Steinchen führte von der Hoftür über den gefliesten Boden bis in die Küche. Sie nahm die Gartenschere aus der Hosentasche, reinigte sie am Waschbecken und ließ noch ein bisschen länger warmes Wasser über die Hände fließen. Februar war eindeutig zu kalt für Gartenarbeit, aber der Apfelbaum hatte dringend einen Rückschnitt gebraucht.

Hinter sich hörte sie das Rascheln von Stoff und eine Kinderstimme, die leise eine Melodie summte. Verzückt drehte sie sich um. Vor ihr stand Ida in Jeanskleid und geringelter Strumpfhose, auf den Ohren einen alten Walkman und in der Hand eine Art Seesack.

»Kannst du das riechen, Omi?« Große, grüne Augen unter einem Bubikopf blickten sie an. Maxies Locken hatte sie zwar nicht geerbt, dafür aber diesen Blick, der alles und jeden dahinschmelzen lassen konnte.

»Was soll ich riechen?«

»Ich hab dein Parfum ausprobiert!«, schrie sie, denn sie war natürlich nicht bereit, auch nur eine Sekunde lang die Kopfhörer von den Ohren zu nehmen. Rosie schnupperte über den roten Schopf.

»Doch nicht da, Omi …hier!« Ein zappelndes Fellknäuel wurde aus dem Seesack gezogen, und sofort verbreitete sich ein frischer Duft nach Bergamotte in der Küche. Ein zartes, schwarzweißes Kätzchen strampelte sich frei und floh vor dem eigenen Geruch durch die Katzenklappe der Hoftür hinaus in die Wildnis des Gartens.

»Die arme, kleine Alma wird für ihr Leben traumatisiert sein!« Almas Not musste in der Tat sehr groß gewesen sein, um freiwillig in die Kälte zu entweichen, aber das Kätzchen hatte ja schließlich ein Fell und eine Reihe warmer Unterschlupfmöglichkeiten auf dem großen Grundstück.

Ida zog an Rosies Jackenärmel. »Was heißt denn das?«

»Was heißt was? Ah, du meinst ›traumatisiert‹? Na, sie wird furchterregende Albträume von kleinen Mädchen mit Ringelstrümpfen haben!«

»Von mir?«

»Genau, von dir. Deine Freundinnen sind vor fünf Minuten erst nach Hause gegangen. Wie kann dir in der kurzen Zeit allein so viel Unsinn einfallen?«

Ida sah empört drein. »Das war doch kein Unsinn! Alma ist ein Mädchen und Mädchen müssen schön riechen.«

»Merk dir das bitte, wenn ich dich das nächste Mal in die Badewanne stecken will«, antwortete Rosie trocken.

»Das ist ja wohl was ganz anderes«, gab Ida zurück und verdrehte die Augen. Rosie hatte nicht erwartet, in dieser Debatte das letzte Wort zu haben und wandte sich schmunzelnd ab. Ihre Enkelin war das wandelnde Chaos, schlagfertig und immer zu einer Schandtat bereit und doch so unerhört liebenswert, dass ihr das Herz überlief, sobald dieser Zwerg das Haus betrat. Ida hatte viel mit ihrer Mutter Maxie gemein, außer der Liebe zu unverhofften Aktionen, denn Maxima hasste Unerwartetes und Spontaneität musste sich irgendwie immer im Rahmen des Planbaren befinden. Entglitt ihr eine Situation, konnte sie geradezu unausstehlich sein. Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm. Rosies Blick schwenkte zu dem Foto ihres Mannes, der ihr zulächelte, als habe sein Herz nie aufgehört zu schlagen. »Was für eine Familie!«, seufzte sie. Dann klatschte sie ein paarmal in die Hände. »Idalein, ich denke, es ist Zeit zum Abendessen, was meinst du?«

Die Antwort kam umgehend: »Essen? Immer!«

Mit nichts anderem hatte Rosie gerechnet. Die Dämmerung brach herein. Im Hof erwachten die von Weihnachten verbliebenen Lichterketten zum Leben, und der ehemalige Stall, der seit einigen Jahren ein Blumengeschäft beherbergte, erschien jetzt am Abend mit seinen vielen Fenstern und der Nachtbeleuchtung wie eine überdimensionierte Laterne. Ida klemmte ihre kleine Zunge im Mundwinkel fest, fing an mit dem Besteck zu klappern, und schon kurze Zeit später strömte ein unwiderstehlicher Pizzaduft durch Küche, Wohnzimmer und Flur bis ins Dach hinauf, während es draußen dunkler wurde und die Lichter vor dem Fenster wie Feen im Wind hin und her tanzten.

Kapitel 3

Den Schirm fest in der Hand kämpfte Maxie am gleichen Abend gegen das aufkommende Schneegestöber an. Wie üblich ließ der beißende Wind etwas nach, wenn man es mal über die Domplatte geschafft hatte. Als sie schließlich am Heumarkt ankam, erwartete sie ihr Gast bereits vor der Tür seines Hotels. De facto war es natürlich nicht ›sein‹ Hotel. Das befand sich gute siebenhundert Kilometer weiter nördlich, gut geführt von seinen beiden Töchtern, soviel hatte Maxie bereits am Nachmittag erfahren. Er war ein Mann ohne Allüren und kam bodenständig und sympathisch daher. Dass er sich so gut mit ihrem Chef verstand, war daher überhaupt kein Wunder. Olli hatte es wirklich bedauert, seinen Freund heute nicht selbst begleiten zu können, doch Maxie war mehr als gern eingesprungen.

»Was für ein Mistwetter!« Mit den Fingern kämmte sie sich die Wassertropfen aus dem Haar. Der gedämpfte Geräuschpegel im Brauhaus, das helle Klirren von Gläsern, das dunkle Holz der Vertäfelungen und die gedämpfte Beleuchtung hießen sie warm willkommen.

Tim nahm ihr den Schirm ab und schob ihr wie selbstverständlich den Stuhl zurück, wartete bis sie bequem saß, hing erst dann seine Jacke über die Lehne des gegenüberliegenden Holzsessels und nahm selbst Platz. Er sah sich zufrieden um. »Der Spaziergang vom Hotel hier herüber hat gutgetan.«

»Spaziergang? Sie sind ja ein Spaßvogel.« Maxie schüttelte sich, als ihr ein paar eiskalte Tropfen in den Kragen rannen. Ihr Begleiter grinste und reichte ihr sein Taschentuch über den Tisch. Sie nahm es dankbar und tupfte die geschmolzenen Schneeflocken aus dem Haar. »Tim, wie kommt es eigentlich, dass Sie so gut deutsch sprechen?«

»›Gut‹ wäre übertrieben. Meine Großmutter war aus Passau. Sie hat es mir beigebracht, als Kind lernt man ja schnell eine fremde Sprache. Aber ich habe vieles vergessen, weil ich natürlich nicht oft Gelegenheit habe zu üben, was ich gerade heute bedauere!«

»Da gibt es nichts zu bedauern! Jetzt erzählen Sie mal: Wie haben Sie Oliver kennengelernt? Ich bin ganz furchtbar neugierig!«

Tim lachte leise, wobei sich seine zahlreichen Augenfältchen noch vertieften. Gegen seine Gewohnheit sprach etwas lauter, denn drüben am Eingang drängte sich nun eine Gruppe Männer um den Tresen, deren erstes Bier an diesem Abend anscheinend schon einige Stunden zurücklag.

»Wie wir uns kennengelernt haben? Das ist ganz einfach: Das war vor zwei Jahren in Devon. Ein Freund wollte mich auf einer Wanderung begleiten, um mit mir eine Etappe des Coast Path laufen. Wir haben das schon öfter gemacht, aber dieses Mal musste er in letzter Minute absagen. Also bin ich allein losgezogen. Oliver ist mir auf meiner Tour immer wieder über die Füße gelaufen. Einmal im Pub hat er mit mir am gleichen Tisch gesessen und wir sind ins Gespräch gekommen. Und dann sind wir mehrere Tage zusammen gewandert. Wir hatten denselben pace … Schritt. Beim Abschied haben wir gesagt, wir bleiben im Kontakt. So haben wir es dann auch gemacht. Letztes Jahr zum Beispiel waren wir in der Eifel. Ich glaube, nach dem Karneval braucht Ihr Chef immer Urlaub.« Er lachte tief.

»Ja, das passt zu ihm. Dann kennen sie ihn schon ein Jahr länger als ich. Tatsächlich hat er mir gleich in meiner zweiten Arbeitswoche das Büro überlassen, und das war genau nach den Karnevalstagen, stimmt!«

Der Kellner kam mit den Getränken und nahm ihre Bestellung auf. Als er weg war, schob Maxie Tim ein Kölsch vor die Nase, und sie prosteten sich zu.

»Oliver ist ein sehr engagierter Mann. Was er macht, das scheint er richtig zu machen«, bestätigte der Brite, nachdem er seine Kölschstange abgesetzt hatte. »Also, er hat sich bei unserer Wanderung ständig beklagt, dass er auf Reisen nie ein Hotelbett findet, das seiner Größe entspricht. Und ich habe ihm im Spaß gesagt, wenn er Schreiner ist, dann soll er die Sache selbst in die Hand nehmen und Betten in Überlänge bauen. Daraufhin meinte er an unserem zweiten Abend, er würde auch mal gern selbst ein Hotel einrichten. Nach dem dritten Abend bestand er schon darauf. Und jetzt ist es Fakt: Er möchte ein Hotel eröffnen und ich werde ihn beraten, falls nötig. Ich habe ihn so verstanden, dass es ihm hauptsächlich um das Einrichten geht, er hat da schon ganz genaue Vorstellungen, er sucht nur noch ein passendes Objekt. Es soll nicht so weit weg von Köln sein, und auch nicht zu groß. Das Management will er allerdings jemand anderem überlassen.«

»Ihnen?«

»Nein, nein!« Tim winkte lachend ab. »Einen alten Baum verpflanzt man nicht, sagt man das so? Außerdem muss ich mich um meinen eigenen Betrieb kümmern. Oliver hatte schon so eine Ahnung, wer als Manager infrage käme. Er hatte ohnehin schon sehr konkrete Pläne heute Nachmittag!«

Das sah Olli ähnlich, dachte Maxie. Er war ein ›Macher‹, voller unternehmerischem Tatendrang. Sie hatte sofort erkannt, dass er eine Art Naturgewalt darstellte, die ihn von vielen anderen Menschen unterschied. Er war aufgeschlossen für Neues, legte bei der Arbeit höchsten Wert auf Präzision und Qualität, und wenn er ein Projekt im Kopf hatte, setzte er Himmel und Hölle in Bewegung, um es zu verwirklichen. Dabei vergaß er aber auch nicht den Spaß. Wenn es normalerweise hieß: ›wer feiern kann, der kann auch arbeiten‹, hieß es bei Olli: ›wer arbeiten kann, der kann auch feiern!‹. Sein großes Team in der Schreinerei stand geschlossen hinter ihm. Jeder war dankbar, dass die Arbeit auch einmal von der üblichen Routine abwich, und für den sympathischen Chef hätte jeder der Männer nächtelang durchgearbeitet. Und sie selbst natürlich auch. Oliver Kirschbaum dankte seinen Angestellten das Engagement, indem er auch mal Fünfe gerade sein ließ. Nun gut, ein Hotel also.

Tim erzählte im Lauf des Abends, wie er vor vielen Jahren sein eigenes Unternehmen gegründet hatte. Anders als Olli hatte er das Handwerk von der Pike auf gelernt und mit seiner Frau das erste Hotel eröffnet. Daraus waren dann über die Jahre mehrere geworden, die nun hauptsächlich von seinen Töchtern geführt wurden, die beide in den Familienbetrieb eingestiegen waren. Tim war ein guter Erzähler, aber Maxie bemerkte während des Essens, dass ihm der lange Tag in den Knochen steckte.

Eine Bitte hatte er aber noch: »Maxie, ich werde mich am Montag erst wieder mit Oliver treffen. Denken Sie, ich könnte das Wochenende außerhalb von Köln verbringen? Das Hotel ist zentral gelegen, aber ich muss gestehen, ich bin überhaupt kein Stadtmensch. Ich wollte das mit Ihnen schon heute Nachmittag besprechen, habe es aber leider vergessen.« Er entschuldigte sich mindestens dreimal dafür.

Im Geiste scannte Maxie das Kölner Umland. Ein Golfhotel oder ein Landgasthof vielleicht; sie zückte ihr Telefon, und in dem Moment, als sie das Hintergrundbild auf ihrem Display aufflackern sah, streifte sie der Hauch einer Idee.

Das ging doch nicht, oder doch?

Sie wägte kurz ab und erhob sich dann entschlossen. »Natürlich, das verstehe ich. Eine ruhige Unterkunft für die nächsten zwei Tage …das bekomme ich hin. Lassen Sie mich nur ein kurzes Telefonat führen. Ich denke, ich habe da genau das Richtige für Sie!«

Sie schob sich durch das dichte Gedränge vor dem Tresen. Die Gäste machten nur zögerlich Platz und ein charmanter Hüne legte ihr sogar kumpelhaft den Arm um die Schultern, um sie in ein Gespräch verwickeln. Mit einer schlagfertigen Bemerkung befreite sie sich und schob sich weiter wie durch rotierende Bürsten einer Autowaschanlage, bis sie die Tür erreicht hatte.

Als sie dann endlich nach draußen trat, schlug ihr die frostige Luft wie ein Hammer vor die Brust, und erst da realisierte sie, wie warm es im Brauhaus gewesen war. Kurz und knapp und mit klappernden Zähnen führte sie ihr Telefonat und war anschließend hochzufrieden.

Unschlüssig stand sie vor der Brauhaustür. Eigentlich hatte sie keine Lust, sich auf dem Rückweg wieder durch den übervollen Thekenbereich zu quälen. Da fiel ihr Blick zufällig auf eine kleine Pforte. Der Eingang für die Hotelgäste, natürlich! Sie huschte durch die schmale Tür und kam auf einem kleinen Umweg unbehelligt zurück zum Tisch. Tim schob die Stirn in Falten. »Sie hatten die Jacke vergessen!«

Maxie plumpste auf den Stuhl. »Macht nix! Ich habe gute Nachrichten! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine kurze Strecke mit der Bahn zu fahren, hätte ich die ideale Übernachtungsmöglichkeit für Sie!«

Tim signalisierte sofort sein Einverständnis.

»Ich würde Sie natürlich gern mit dem Wagen bringen, aber ausgerechnet morgen habe ich schon einen Termin.«

Er wehrte ab. »Bahnfahren ist absolut okay für mich.«

»Es ist auch wirklich nur eine kurze Strecke in ein ganz ruhiges Dorf, das richtige Wochenend-Domizil für Sie! Meine Mutter wird Sie am Bahnhof abholen. Sie können bei ihr wohnen! Sie hat zwar kein Hotel, aber Platz ohne Ende und sie ist eine großartige Gastgeberin! Es wäre mehr wie ein, hm, ein B & B! Ja genau!« Abwartend lächelte sie ihn an.

Doch Tim legte das Besteck zur Seite und hob sofort abwehrend beide Hände. Er schüttelte den Kopf. »B & B ist super, aber das kann ich nicht annehmen, ich möchte niemandem zur Last fallen!«

»Zur Last fallen? Soll das ein Witz sein? Sie kennen meine Mutter nicht: Sie liebt es, Gäste zu haben.«

»Das ist ein überaus großzügiges Angebot.«

Maxie klatschte in die Hände. »Also abgemacht! Meine Mum freut sich sowieso schon auf Sie!«

Kapitel 4

Rosie war früh unterwegs. Ihr Atem hinterließ weiße Wölkchen in der Luft, als sie auf dem Weg von der Bäckerei zurück nach Hause war. Sie hatte nicht gefrühstückt und ihr Magen gab ein vernehmliches Brummen von sich.

Maxie hatte sich gestern Abend am Telefon extrem kurzgefasst und nicht viel von diesem Mr. Cooper erzählt, außer dass er ein Freund von Oliver war, ein ruhiges Fleckchen suchte und ein umgänglicher Mensch war. Nun, auf Maxies Wort konnte sie sich verlassen. ›Mach dir keine Sorgen!‹, hatte ihre Tochter noch gemeint, bevor sie auflegte.

Rosie lachte leise vor sich hin. Das hatte Maxie schon so oft gesagt und da war es um erheblich wichtigere Dinge gegangen. Einen jungen Mann zu bekochen und zu beherbergen, das war ein Klacks!

Hinter sich hörte Rosie ein angestrengtes Schnaufen. Sie wandte sich um. Eine knallrote Pudelmütze eilte ihr hinterher und wedelte mit den Armen.

»Warte doch, lauf nicht so schnell, du hast ja die Energie einer Dampflok!«, keuchte es unter der Mütze.

»Wenn du mich nicht gerufen hättest, hätte ich dich nicht erkannt, Lisa! Lustig, dein Bommel!« Rosie versetzte der dicken Wollkugel einen leichten Stups und sie schlug aus wie ein Pendel.

»Fast polartauglich, das Weihnachtsgeschenk der Schwiegereltern! Aber für heute genau die richtige Kopfbedeckung.« Keck wackelte Lisa nochmal mit dem Kopf. »Bei der Eiseskälte wird zwar niemand einen Fuß vor die Tür setzen, um bei mir einzukaufen, aber ich werde mal die ganzen Kisten mit der Weihnachtsdeko wegräumen. Mein Blumenladen muss dringend auf Frühling getrimmt werden!«

Rosie hakte sich unter. »Aufräumen muss ich auch noch schnell! Maxie schickt mir gleich einen Freund ihres Chefs, der übers Wochenende ein Zimmer sucht. Ich weiß nur, dass er einen britischen Namen trägt. Aber was ihn hierhertreibt, woher er kommt oder wieso Maxie denkt, dass er unbedingt ein paar Tage bei mir wohnen sollte …«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich liebe ich es ja, Gäste zu haben. Und wenn meine Tochter meint, er würde sich bei uns wohlfühlen, dann ist das auch so.«

Lisa lachte. »Wer sollte sich nicht bei dir wohlfühlen? Gibt’s denn was Neues von Köln? Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich Maxie und die kleine Ida vermisse! Ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich wegziehen.«

»Du kennst sie doch. Deine Freundin fällt Entscheidungen schnell und ohne jemanden zu fragen – nicht einmal mich – und wehe dem, der sich ihr in den Weg stellt!«

»Dampflok, ganz wie ihre Mutter!«

Rosie knuffte sie in die Seite. »Pass bloß auf, du!«

Sie schwiegen den Rest des Weges, denn die kalte Luft tat in den Lungen weh. Endlich angekommen vor dem rustikalen Gebäude, das noch über und über mit Tannengirlanden geschmückt war, schloss Lisa ihre Ladentür auf. »Dann wünsche ich dir viel Spaß mit deinem mysteriösen Gast!«

»Hoffentlich hat er nicht so hohe Ansprüche.«

»Das wird schon!«

»Ja, das wird schon. Genieß’ dein Wochenende!«

Lisa lachte ausgelassen. »Worauf du dich verlassen kannst!«

Maxie wartete derweil in der Hotellobby auf Tim. Mit Blick auf die Aufzüge lehnte sie an der Rezeption und beobachtete das Kommen und Gehen. Die Lifte waren zur Frühstückszeit im Dauerstress. Doch ihr Gast hatte einen sportlicheren Weg gewählt. Mit einer wildledernden Reisetasche in der Hand kam er die Treppe herunter auf sie zu. »Morning, Maxie!«

»Morning, Tim! Sind Sie reisefertig?«

»Yes! Ich verspreche, die Gastfreundschaft Ihrer Mutter nicht zu strapazieren! Sie wird mich kaum bemerken. Ich habe mir hier einen ganzen Haufen Arbeit eingepackt.« Er klopfte mit der Hand auf die Tasche. »Hauptsache, ich habe einen Schreibtisch. Lassen Sie mich auf dem Weg noch einen Blumenstrauß kaufen, Sie haben doch gesagt, sie mag Blumen?!«

»Sie liebt Blumen! Das ist eine nette Idee!«

Er grinste. Mit geschulterter Tasche lief er neben ihr durch die engen Gassen der Altstadt und rutschte ein paarmal auf dem vom Schneematsch schlüpfrigen Kopfsteinpflaster aus. Die Sohlen seiner Schuhe waren für die Witterung nicht gut geeignet, denn statt rustikalem Schuhwerk und Jeans wie gestern Abend, trug er Anzug und Wollmantel. Anerkennend musterte Maxie ihn aus dem Augenwinkel. Er schien entschlossen, einen guten Eindruck bei ihrer Mutter zu hinterlassen, und sie freute sich, dass Tim so bedacht war.

Im Gehen knöpfte Maxie sich den Mantel bis unters Kinn zu und suchte in ihren Taschen nach ihren Handschuhen. Für einen Moment unaufmerksam, übersah sie fast einen Radfahrer. Tim zog sie gerade noch rechtzeitig zur Seite, wobei er selbst ausrutschte, und nun wiederum Maxie ihn auffangen musste. Beide strauchelten kurz, bevor sie wieder sicher auf den Beinen standen. Atemlos lachten sie über ihre beiden Missgeschicke.

»Das war knapp!«, meinte Maxie. »Da hätten wir beinahe beide im Matsch gelegen.«

Tim wehrte ab. »Sie tragen nicht umsonst den Namen Engel, wie es scheint!«

»Haha! Das lasse ich lieber unkommentiert! Hier, ein Blumenladen!« Sie wies auf ein Geschäft an einer Straßenecke, wo große Mengen knallfarbener Frühlingsblüher in Zinkeimern steckten. Die Explosion frischer Farben haute Maxie fast um. Man vergaß schnell, wie trist und lang so ein Winter sein konnte, besonders hier in der Stadt, bis man solch ein Bild vor sich sah. Ein pinker, dreirädriger Lieferwagen vor der Tür des Ladens rundete das bunte Bild ab. Sogar die Markise über den Schaufenstern war ausgefahren, obwohl sich darauf noch Schneereste sammelten.

Schon nach kürzester Zeit tauchte Tim mit zwei intensivroten, üppigen Sträußen wieder bei ihr auf.

»Sieh mal einer an! Das sind sogar die absoluten Favoriten meiner Mutter!«, klärte sie Tim auf. »Diese Tulpen sind wunderschön!«

Und bevor sie sich’s versah, landete einer dieser hübschen Blumensträuße in ihrem eigenen Arm.

»Gut, dass Sie das auch finden. Dieser hier ist nämlich für Sie!«, meinte der Brite nachdrücklich. »Danke für die gute Organisation und sorry für die sehr kurzfristige Planänderung!«

Später am Bahnhof zog Maxie ein Foto aus der Handtasche. Eine Notlösung, denn gestern war zu allem Überfluss der letzte Tropfen Saft aus Tims Mobiltelefon entwichen. Nachdem er festgestellt hatte, dass sein Aufladegerät sich weit weg auf der anderen Seite des Ärmelkanals befand, wurde jede Schublade der Schreinerei auf links gedreht, um ein passendes Kabel zu finden. Leider ohne Erfolg. ›Nicht weiter schlimm‹, hatte er gemeint, aber Maxie musste sich etwas einfallen lassen, wie er in einer guten halben Stunde seine Gastgeberin erkennen sollte. Die Idee mit dem Foto war zwar altmodisch, aber in diesem Fall zweckdienlich. Außerdem war Rosie nicht zuverlässig mit dem Handy erreichbar, denn sogar das weltumspannende Telefonnetz hatte in Meerberg seinen Meister gefunden hatte. Oder besser: mehrere Funklöcher.

Tim studierte das Foto eingehend und steckte es dann in die Brusttasche seines Mantels. »Maxie, ich danke Ihnen, dass Sie mein holpriges Deutsch so gut ertragen, ich weiß, meine Aussprache ist schwer zu verstehen!« Das entsprach durchaus der Wahrheit, denn seine Großmutter hatte ihm eher bayrisch beigebracht. Gestern Abend im Brauhaus hatte Maxie irgendwann während des Essens ganz sanft ins Englische gewechselt, als sie bemerkte, dass Tim müde wurde.

»Nochmal herzlichen Dank für Ihre Zeit, Maxie. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass eine so hübsche, junge Frau einen Freitagabend mit einem alten Knochen wie mir verbringt! Es war ganz pfundig.«

Maxies Herz zog sich vor Rührung zusammen und sie drückte seine Hand fester, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. »Das fand ich auch«, bestätigte sie. »Totally pfundig!«

Kapitel 5

Ist doch nicht so schwer!« Die zwei Männer trabten locker von der Severinsbrücke und weiter Richtung Schokolandenmuseum. Den Weg entlang des Rheinufers teilten sie nur mit wenigen anderen Sportlern und einigen Hundebesitzern. Der Wind war einfach zu frostig.

»Ich wüsste echt nicht, was dich das angeht.« Nick musste einen kurzen Stopp einlegen, um die Schnürsenkel seiner Laufschuhe festzuziehen.

»Wir treffen uns um acht, gehen was trinken und dann in den Club. Du musst halt mal eine ansprechen, Alter.« Schwer landete die Hand seines Freundes auf Nicks Schulter. Dieser verlor für eine Sekunde das Gleichgewicht und musste sich mit beiden Händen auf dem kalten Boden abstützen.

»Kein Grund mich zu erschlagen, Leon.« Nick richtete sich auf und blinzelte gegen die Wintersonne.

»Du bist einfach viel zu zurückhaltend«, kam die Stimme seines Freundes aus dem gleißenden Licht.

Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, verzichtete Nick auf eine lang ausholende Erklärung. »Kümmer‹ dich um deinen eigenen Kram.« Dann trabte er los und ließ Leon zurück. »Du kühlst aus, das ist schlecht für deine Muskulatur«, rief er über die Schulter zurück.

Leon gab nicht auf. »Wir treffen uns um acht im Pub. Meine Freundin bringt ihren ganzen Hühnerstall mit.« Leon hatte aufgeholt und joggte locker weiter, trotzdem konnte er nicht aufhören, das gleiche Thema weiter zu diskutieren. »Du bist ein richtiger Eremit geworden, mein Freund. Du wirst noch mit dem weißen Kittel in der Hand begraben werden. Einsam, überarbeitet und untervö-«

Heftig rempelte Nick ihn mitten im Satz an, das Gesicht grimmig verzogen. »Halt’s Maul!« Das war seine wunde Stelle. Er konnte mit Leon alles besprechen, außer dieser einen Sache. Leon meinte es gut. Aber es ging ihn nichts an. Tatsächlich hatte Nick sich in den letzten Jahren nur für ein einziges Mädchen interessiert. Sie war so besonders gewesen, dass sie ihm wochenlang nicht aus dem Kopf gegangen war. Doch als er sie das erste Mal sah, hatte sie wirklich anderes zu tun gehabt, als sich ein Date anzulachen. Traurig, verloren – und um ein Kind weniger – hatte sie vor ihm gesessen, fest entschlossen, nicht zu weinen.

Nick hatte damals gehofft, sie im Krankenhaus noch einmal anzutreffen. Zur Nachuntersuchung. Er hatte sämtliche Schichten getauscht, um tagsüber bei der Arbeit zu sein, statt in der Nacht, in der Hoffnung, im entscheidenden Moment über den Flur zu laufen. Und in Gedanken hatte er tausendmal den Dialog zwischen beiden durchgespielt. Er hätte sie dann – nach ein paar einleitenden Sätzen – gefragt, ob er sie zu einem Kaffee einladen könne. Doch er hatte sie nicht wiedergesehen. Und dann war ihm vor kurzem die bessere Stelle angeboten worden. Er wechselte das Krankenhaus, aber an diese Frau dachte er immer noch oft.

Er beschleunigte das Tempo und lief absichtlich nah am Geländer, sodass Leon nun hinter ihm joggen musste.

»Nick! Jetzt sei doch nicht sauer, du Blödmann! Du weißt doch, wie ich es meine. Das wird bestimmt ein cooler Abend mit den ganzen Mädels.«

»Ich finde aber keine deiner Bekannten so umwerfend, dass es sich für mich lohnen würde. Es ist einfach keine dabei, mit der ich gern mehr als ein Glas Bier trinken würde.«

Leon quetschte sich neben ihn. »Wie muss deine Angebetete denn aussehen, damit du für sie über deinen Schatten springst?«

Nick schnaubte. »Sie muss nicht aussehen. Sie muss einfach nur normal sein. Und verdammt nochmal nicht immer so rumquietschen. Die Frequenz, auf der sich diese Frauen unterhalten, schmerzt mir in den Ohren.«

»Würstchenbude?«

»Von wegen, wir laufen noch fünf Kilometer.«

Leon stöhnte. »Was ist mit den Schwestern im Krankenhaus? Quietschen die auch?«

»Sechs Kilometer.«

»Nee komm, jetzt sag doch mal. Der Jobwechsel muss sich doch gelohnt haben. Assistenzärztinnen? Internistinnen? Personalreferentinnen?«

»Sieben Kilometer.«

Leon verstummte resigniert. Er kannte Nick schon vom Studium und hatte ihn durch die lange, schmerzvolle Trauerphase begleitet, als dessen langjährige Freundin bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen war.

Das war Jahre her.

Sein Singledasein war oft Gegenstand ihrer Unterhaltungen, beziehungsweise der eher einseitigen Monologe, die Leon führte. Für heute gab er auf, jedoch nicht ohne sich vorzunehmen, Nick am späten Nachmittag noch zu überreden, mit ihnen auf die Ringe zu gehen.

Im Gleichschritt trabten sie nebeneinander her, wie jede Woche, und beide hingen für den Rest der Strecke ihren eigenen Gedanken nach.

Kapitel 6

Rosie erkannte ihren Gast auf den ersten Blick, obwohl er gut dreißig Jahre älter war, als sie eigentlich erwartet hatte. Außerdem waren nur drei Personen aus dem Zug ausgestiegen, und er war der Einzige, der nicht aus Meerberg stammte. Sie grüßte die beiden anderen im Vorbeieilen und hielt – mit Ida an der Hand – auf den Mann im gut geschnitten Wollmantel zu. Er trug einen karierten Schal, eine braune, wildlederne Reisetasche und teure Lederschuhe.

»Sie müssen Timothy Cooper sein! Ich bin Rosemarie Engel. Sorry, wir haben uns ein paar Minuten verspätet!«, sagte sie, und ihr Englisch hörte sich hier am Bahnhof ihres Heimatortes fremd und deplatziert an.

»Es ist keine Eile geboten«, antwortete er ihr in fließendem Deutsch. Überrascht ergriff sie seine ausgestreckte Hand und ein feiner elektrischer Schlag traf sie in dem Moment, in dem sie sich berührten. Sie entschuldigten sich gleichzeitig. Ein verschmitzter Zug um den Mund ließ ihn jünger wirken, sehr viel jünger und vielleicht ein wenig lümmelhaft und nahm sie sofort für ihn ein.

Er stellte seine Tasche ab und wickelte einen dicken Tulpenstrauß aus einer Zeitung. »Ihre Tochter hat Ihre Liebe zu Blumen erwähnt, ich dachte, im Winter freuen Sie sich über die frischen Farben.«

»Du lieber Himmel, vielen Dank!« Rosie errötete bis zu den Haarwurzeln. «Nennen Sie mich bitte Rosie, dies hier ist meine Enkelin Ida.«

Tim ging in die Hocke. »Hallo du!«

Die sonst so forsche Ida wagte sich ein Stück vor, quiekte ein schnelles »Hi!« und schob sich wieder hinter Rosies Beine.

Tim richtete sich grinsend auf. »Sie muss etwa so alt sein wie meine eigene Enkelin.« Seine Hand ruhte kurz auf der Brusttasche seines Mantels, wo Rosie die Ecke eines Fotos herausblitzen sah. Doch er zog das Bild nicht heraus. Stattdessen fasste er seine Tasche mit beiden Händen.

»Es ist sehr nett, dass Sie mir Asyl übers Wochenende anbieten. Ich bin leider kein Stadtmensch.«

»Ich auch nicht!«, pflichtete Rosie ihm bei. »Da haben wir ja schon etwas gemeinsam, Mr. Cooper!«

»Tim, bitte!«, warf er schnell ein und begleitete sie mit federndem Schritt aus dem Bahnhofsgebäude.

Wenig später stand ›Tim‹ im Wohnzimmer des alten Bauernhauses und schien es nicht besonders eilig zu haben, das Gästezimmer zu beziehen. Er schlenderte langsam zur Hoftür und blickte auf den Garten, der sich weiß vom Raureif hinter einem gepflasterten Innenhof erstreckte. Rosie zupfte die hübschen Tulpen in einer Glasvase zurecht. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihren Gast.

Er war vielleicht doppelt so alt wie der Chef ihrer Tochter. Rosie war automatisch davon ausgegangen, dass ein Freund von Oliver ebenfalls ein junger Kerl sein musste. Verrückt! Aber durchaus angenehm. Durchaus.

Tims Hände ruhten in den Hosentaschen, er trug eine Weste über einem makellos weißen Hemd, das allerdings hinten aus dem Hosenbund gerutscht war. Das Haar war kurz und grau und stand wegen mehrerer Wirbel am Hinterkopf ab, so als sei er gerade aus dem Bett gefallen, was die Jungenhaftigkeit betonte, die sie vorhin schon in seiner Mimik festgestellt hatte.

Schmal war er, sein Rücken gerade, wie der eines Reiters. Die Anzughose endete modern auf der Hüfte. Rosie befand sich noch inmitten ihrer Betrachtungen, als er dynamisch herumwirbelte und ihren Blick auffing.

»Winter!«, sagte sie lahm und deutete mit dem Stängel der Tulpe, die sie gerade in der Hand hielt, auf den Garten. »Der Garten sieht im Winter sehr langweilig aus. Aber es wird Ihnen hier hoffentlich trotzdem gefallen.«

Warum hatte er sich gerade jetzt herumdrehen müssen? Das fing ja schon gut an. Maxie hatte heute ganz früh noch eine kurze Nachricht geschickt und ihr damit einen gelinden Schock versetzt. Der Mann war Hotelbesitzer! Ein Umstand, der Rosie nicht gerade beruhigte, ganz im Gegenteil!

Die ausgedienten Weinkisten an den Hofwänden, der Schuppen, der dringend einen Anstrich vertragen konnte, das Unkraut zwischen den Pflastersteinen, die Sammlung an alten Blumentöpfen und das fette, ausgediente Weinfass mitten im Hof …was Rosie als eine Art ›Vintage-Charme‹ betrachtete, nun gut, bis auf den renovierungsbedürftigen Schuppen vielleicht, beurteilte er möglicherweise als Ramsch.

Rosie war stolz auf das, was sie in all den Jahren aus dem Bauernhaus gemacht hatte, vieles in Eigenregie, aber immer zu ihrer eigenen Zufriedenheit. Sie war schließlich handwerklich nicht unbegabt. Aber dass jemand anderes zu einem schlechten Urteil gelangen könnte, machte sie verletzlich. Also, was hatte sie nun zu erwarten? Würde jetzt irgendeine höfliche Floskel kommen, so wie es die britische Art war?

Doch er rieb die Handflächen aneinander. »Wunderbar!«, sagte er schlicht. »Einfach wunderbar. Es ist gemütlich bei Ihnen, ein sehr schönes Haus!« Als er dabei schmunzelte, vertieften sich seine zahlreichen Lachfalten um die strahlend blauen Augen, die sie ohne jeden Vorbehalt ansahen.

Eine Welle der Sympathie überkam Rosie, und sie konnte nicht umhin, sich selbst zu beglückwünschen. Als Gästehaus war sie nun also akkreditiert, und an ihren Kochkünsten konnte die ganze Sache keinesfalls scheitern. Super!

»Darf ich Ihnen Tee anbieten, Tim?«

In diesem Moment schlich Alma um die Ecke, gefolgt von Ida.

»Kleine Lady, ist das deine Katze?«

Ida seufzte, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

»Nee, nee. Das ist Omis Katze … die hat voll die Almträume von mir!«

Rosie zeigte ihrem Gast das ganze Haus. Der Dielenboden knarzte bei fast jedem Schritt, und hin und wieder musste Tim den Kopf einziehen, obwohl die Balken in einer Höhe hingen, die ihm eigentlich nichts anhaben konnte. Lediglich der Türsturz zum Gästezimmer war so niedrig, dass er tatsächlich aufpassen musste. Die Tür schwang auf, und Rosie warf einen letzten prüfenden Blick durch den Raum. Ein Wunder, was sie seit gestern Abend noch erledigt hatte! Sie zupfte an der flauschigen Wolldecke, die über eine Holzleiter drapiert war und rückte den großen Ohrensessel – dessen Gegenstück in Maxies Wohnzimmer in Köln stand – unauffällig gerade.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause!« Sie machte eine einladende Geste und Tim streifte dabei zufällig ihren Arm. Wieder zuckten sie beide zusammen und lachten. Er sah sich um und gab ein zufriedenes Brummen von sich. »Hier werde ich so schnell nicht wieder weggehen!«

Rosie ging geschäftig zum Schreibtisch. »Schauen Sie, hier ist ein Internetanschluss, falls Sie arbeiten möchten. Ich hoffe aber, Sie werden nicht das ganze Wochenende am Schreibtisch verbringen!? Wie auch immer, richten Sie sich ein, und wenn Sie mögen, könnten wir später einen kleinen Spaziergang unternehmen, was denken Sie?«

Sie hoffte, er würde zusagen.

Tim schwang seine Tasche aufs Bett und drehte sich zu ihr um. »Hervorragend! Das würde ich sehr gerne, aber zuerst haben Sie mir einen Tee versprochen!«

Rosie zog leise die Tür zu und ließ ihn allein. Nun gut. Ihr Gast war da. Älter, als sie gedacht hatte. Sympathischer, als sie gehofft hatte. Sie hielt sich kurz am Fensterbrett fest, atmete tief durch, schüttele den Kopf über sich selbst und gab sich dann einen Ruck, um Tee aufzusetzen. Ein Spaziergang war eine gute Idee. Ein angenehmes Wochenende stand ihr bevor. Wunderbar!

Ida war grundsätzlich immer in Stimmung für eine kleine Wanderung, natürlich nur, solange sie an der Pferdeweide vorbeiführte. In ihrer Mission, Möhren aus der Vorratskammer zu organisieren, rannte Ida fast den verdutzten Gast um, der sich bereits umgezogen hatte und nun rustikale Wanderschuhe trug, einen Wollpullover und eine Kappe in der Hand. Rosie sah ihn und klapperte etwas mehr mit dem Teegeschirr als nötig gewesen wäre. »Da sind Sie ja schon! Der Tee ist gleich fertig.«

Als sie etwas später gemeinsam am Küchentisch saßen, unterhielten sie sich angeregt und Rosie erfuhr endlich etwas mehr über Timothy Cooper.

Kapitel 7

Die kleinen Schneekristalle setzten sich auf die Fensterscheibe, schmolzen langsam und rutschten gemächlich hinunter. Der Porzellanlöffel klapperte gegen die Tassenränder, als Maxie gedankenverloren den Honig in den Tee rührte.

Sie sollte wirklich einkaufen gehen, aber ihre warme Wohnung zu verlassen war ähnlich widerwärtig wie die Angewohnheit Idas, ihr morgens die Bettdecke wegzuziehen. Sie würde erfrieren!

Generell war Schnee eine wunderschöne Sache. Keine Frage! Aber um sich physisch hinaus zu bewegen, brauchte sie eine warme Mütze, einen flauschigen Schal, Wollhandschuhe, Thermounterwäsche, Daunenmantel und Stiefel.

Maxie wandte sich seufzend um und zog vorsichtig das heiße Backblech aus dem Ofen. Ein Geruch von Zimt und Äpfeln breitete sich in Sekundenschnelle in der gesamten Küche aus. Wenn sie sich beeilte, war das Blech nach dem Einkaufen noch warm, und wenn sie dann auch noch daran dachte, Vanilleeis mitzubringen, würde es ebenso auf dem Kuchen schmelzen, wie der Schnee auf ihrer Fensterscheibe. Verlockende Aussichten!

So trat sie dick eingepackt schon kurze Zeit später vor die Haustür und erspähte nebenan Oliver in seiner sündhaft teuren Karnevalsuniform: Enge, maßgeschneiderte Hosen in Lederstiefeln, eine gut sitzende Uniformjacke, der ›Rock‹ mit Tressen und glänzenden Messingknöpfen besetzt, Spitze am Kragen und auf dem Kopf den dick mit weißem Pelz besetzten Dreispitz.

Sie steckte zwei Finger in den Mund und pfiff laut. Sein Kopf flog fragend herum.

»Schick siehst du aus, Olli!«

»Du auch! Gibt es noch mehr, was du anziehen kannst?«

»Das ist der komplette Inhalt meines Kleiderschranks! Was glaubst du, warum ich so pummelig aussehe!?!« Sie hüpfte gut gelaunt zu ihm herüber.

»Zwing mich nicht, dir zu antworten!«

»Feigling!« Sie stieß ihn in die Seite. »Na? Hast du keine Auftritte mehr? Bisschen früh für einen Samstag in der Karnevalszeit.«

Er griff in eine fast unsichtbare Tasche seiner Uniformjacke und zog den Hausschlüssel heraus. »Hab nur was vergessen! Muss gleich schon wieder los!«

»Fragst du bitte Jacques, ob er mit mir heute Abend was trinken gehen möchte? Ich hätte jedenfalls Zeit!«

Er nickte, wobei die langen, strahlend weißen Federn seines Dreispitzes vor- und zurückwippten. »Ich schätze, da kann ich schon für ihn zusagen, da du ihn ja gestern rausgeschmissen hast, wie er mir erzählte. Ich werde sowieso erst spät heute Nacht heimkommen, wenn nicht morgen früh!« Laut pfeifend verschwand er im Haus.

Als Maxie nach dem Einkaufen nach Hause zurückkehrte, waren ihre Finger klamm, und sie musste sich erst mal – noch im Stehen – mit Kuchen belohnen. Den Teller balancierend, trat sie vorsichtig auf die Kappe ihres rechten Stiefels und zog langsam den Fuß heraus. Das gleiche Kunststück versuchte sie anschließend mit dem zweiten Fuß, stolperte aber über ihre eigenen Füße. Die Kuchenkrümel fegten vom Teller und verstreuten sich großzügig über den Boden.

Oh Mist! Links war echt nicht ihre Seite!

»Kacke!«, murmelte sie Idas derzeitiges Lieblingsschimpfwort und tat einen großen Schritt über die Krümel. Dann platzierte sie sich mit Notizbuch und Stift bewaffnet tief in die Kissen des Ohrensessels, um den Schlachtplan fürs Wochenende zu entwerfen: Die obligatorische TO-DO Liste.

Die Liste wurde ganz schön lang, doch Maxie atmete tief durch, kratzte die letzten Stückchen Kuchen vom Teller, schlug das Notizbuch zu und stand auf, um der Arbeit die Stirn zu bieten.

Kapitel 8

Tim streckte während er sprach seine Hand aus und fuhr dem Pferd wie selbstverständlich über das dicke Winterfell. Sie standen schon eine Weile an der Koppel. Ida hielt ihm den Korb mit Möhren hin. Tim nahm eine und biss hinein.

»Die sind doch nicht für dich!« Ruckartig zog sie den Korb zurück, und das Tier wich nervös zur Seite und schnaubte.

Tim lachte über seinen kleinen Spaß und hielt der braun gescheckten Stute den Rest der Möhre hin. Sie war besänftigt und angelte mit ihrem weichen Maul danach. Grinsend zwinkerte Tim Ida zu. Sie versuchte zurück zu zwinkern, wodurch sich ihr Gesicht lustig verzog und sie feste beide Augen zudrückte.

Idas Schüchternheit legte sich schnell, und auch Rosies anfängliche Aufregung ließ nach.

»Und wenn Sie das nächste Mal nach England reisen, planen Sie etwas Zeit ein, Rosie, dann kommen Sie mich bitte besuchen.«

»Das ist ein nettes Angebot! Aber ich würde Ihnen bei Ihrer Arbeit nur im Weg sein!«

Er lachte vor sich hin. »Im Gegenteil! Meine Töchter versuchen ständig, mich aus dem Büro zu jagen. Ihrer Ansicht nach sollte ich mich nicht mehr um das Tagesgeschäft kümmern. Rosie, es ist wirklich ernst gemeint! Ich kann Ihnen ein Zimmer in einem unserer Cottages anbieten. Seien Sie mein Gast! Unsere Häuser sind klein, es ist fast wie in Ihrem eigenen Haus: man tritt ein und fühlt sich wie ein Familienmitglied!«

»Das hört sich wirklich verlockend an!«, musste sie zugeben. Sie glaubte ihm aufs Wort.

Er ließ nicht locker. »Ich zeige Ihnen die Gegend, das ruhige, gemütliche alte England, nicht die Städte. Ich mag die Ruhe und die Natur.« Er half Ida, auf eine Mauer zu klettern, von der sie ohne zu zögern heruntersprang und fuhr fort: »Wissen Sie, als die Kinder klein waren, haben wir im Frühling selbst in unseren Häusern eingecheckt. Meine Frau ist dann zum Golfspielen gegangen, und ich habe mit den Kindern Ausritte und Stallarbeit gemacht. Das waren die erholsamsten Sommer.«

Und wieder einmal bildeten sich an seinen Augen diese tiefen Lachfalten. »Ich glaube sogar, die anderen Hotelgäste dachten, ich sei der Stallbursche!«

Rosie schüttelte sich vor Lachen. »Herrlich! Sie werden entsprechend schmutzig gewesen sein. Ich könnte auch tagelang im Garten arbeiten und wäre der glücklichste Mensch aller Zeiten!«

Tim blieb stehen. »Würden Sie in England wohnen, hätte Tilda Sie schon längst entdeckt und rekrutiert! Sie wären eine fabelhafte Ergänzung unseres Teams!«

Sie blieb ebenfalls stehen und sah zurück zu ihm. Die Sonne stand so tief, dass sie blinzeln musste. Er bemerkte es und kam näher.

»Danke für das schöne Kompliment, Tim! Richten Sie ihrer Frau schöne Grüße aus, ich würde mich sicher gut mit ihr verstehen.«

»Sie ist vor drei Jahren gestorben.«

Rosies Gesicht wurde langsam, aber unaufhaltsam flammend heiß. Sie stammelte unbeholfen eine Entschuldigung. Was für ein Fauxpas!

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich hatte mit keinem Wort erwähnt, dass ich Witwer bin. Tja, Tilda hätte sie in der Tat sehr gemocht! Und jetzt hören Sie bitte auf, sich zu entschuldigen … lassen Sie uns über das Abendessen reden. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich bin ein begnadeter Koch!«

Und so standen sie eine Stunde später gemeinsam in der großen Küche bei einem Glas Wein und bereiteten das Abendessen zu. Als Rosie schließlich darauf bestand, ihren fleißigen Souschef für die restlichen Arbeiten zu entlassen, setzte sich dieser eine Brille auf und studierte die Buchrücken in den Wohnzimmerregalen. Er ließ sich Zeit, zog hin und wieder ein Buch heraus und blätterte darin. Irgendwann kam er mit dem Weinglas in der Hand zurück in die Küche geschlendert. »Haben Sie alle diese Bücher gelesen?«, wollte er wissen.