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Es ist nicht so, als ob sie Weihnachten nicht mögen würde, ganz im Gegenteil! Maxie freut sich jedes Jahr ganz besonders auf den Dezember im familiengeführten Burghotel. Dieses Mal ist es jedoch anders! Mit tatkräftiger Unterstützung durch ihre Tochter Ida und ihre Nichte Helen, zwei jungen Konditorinnen, überbrückt Maxie einen unerwarteten Personalnotstand, ohne dass die Gäste es bemerken. Und obwohl jede der drei Frauen auch privat genug auf dem Tablett hat, schafft es das energiereiche Trio trotz aller ungeplanten Ereignisse sogar, die traditionelle Familienweihnacht in der Burg stattfinden zu lassen. Ein Weihnachtswunder wäre jetzt nur noch, wenn sich nun auch Olli, der Hotelchef, von der Festtagsstimmung anstecken ließe. Doch dafür braucht es einen ganz besonderen Plan.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ebenfalls von Doris Manroth veröffentlicht:
Engel tragen Gummistiefel
… Profil hat Maxie Engel nicht nur
unter ihren Lieblingsschuhen
ISBN 978-3-7407-6869-0
Doris Manroth, geboren 1969, lebt auf dem Land in der Nähe von Köln. Ihr erster Roman Engel tragen Gummistiefel erschien 2020. Nun geht die Geschichte um Familie Engel in die zweite Runde; diesmal mit eindeutig weihnachtlicher Note.
Für meine Mutter, Christel Wagner, die diese Weihnachtsgeschichte geliebt hätte
Prolog
1. Dezember
2. Dezember
3. Dezember
4. Dezember
5. Dezember
6. Dezember
7. Dezember
8. Dezember
9. Dezember
10. Dezember
11. Dezember
12. Dezember
13. Dezember
14. Dezember
15. Dezember
16. Dezember
17. Dezember
18. Dezember
19. Dezember
20. Dezember
21. Dezember
22. Dezember
23. Dezember
24. Dezember
25. Dezember
Weihnachtswaffeln
Maxie fuhr benommen aus dem Schlaf hoch. Die ruckartige Bewegung ließ ihre Halswirbel ganz leise knacken. Schulter und Knie fühlten sich steif und kalt an, ein bisschen wie eingegipst.
Sie stöhnte leise bei der Feststellung, dass sie um halb zwei mitten in der Nacht an ihrem Schreibtisch aufgewacht war. Jetzt war sie wohl völlig durchgedreht!
Ein gelber Zettel mit der Aufschrift erledigt an ihrer Stirn beschrieb sowohl ihren eigenen Zustand als auch den Stapel Rechnungen, den sie bis spätabends noch bearbeitet hatte und der nun halb vom Tisch geglitten war. Eine feine Haarsträhne klemmte zwischen ihren trockenen Lippen.
Unwillig entfernte sie Zettel und Strähne und wiederholte, während sie die Rechnungen vom Boden auflas, nicht nur einmal das Wort, das sie ihrem Sohn regelmäßig verbot.
Das Display ihres Handys zeigte eine Nachricht von Luis, in der ihr Sohn ihr mitteilte, dass die Deutscharbeit zur Unterschrift in der Küche lag. Ob’s diesmal wenigstens eine Vier war?
Außerdem hatte Matthias angerufen und dann vor ungefähr einer Stunde – als ihre Antwort ausblieb – noch ein Vermisse dich geschickt. So süß! Schade, dass sie seinen Anruf verpasst hatte!
Aus leicht verklebten Augen sah Maxie an sich herunter. Die weiße Bluse war total zerknittert. Von wegen bügelfrei!
Zwei unakzeptabel rüde Worte später schluffte sie quer durch die Hotellobby, zog ihre Handtasche hinter sich her, stieß die gegenüberliegende Tür des Chefbüros auf, kickte ihre Schuhe von den Füßen und sank mit einem tiefen Seufzer auf den rauen karierten Stoff des Sofas. Dort streckte sie die Hand nach einem Schaffell aus und zog es über ihre kalten Knie.
Himmel! In ein paar Tagen war schon Nikolaus, bald Weihnachten! Die Zeit verflog so unglaublich schnell! Kaum eine Nacht in den letzten zwei Wochen, in der sie mehr als fünf oder sechs Stunden geschlafen hatte. Ungeniert gähnte sie und hielt sich die Hand vor den Mund, obwohl sich keine Menschenseele in der Nähe befand, die ihre Manieren hätte rügen können.
In vier Stunden war schon wieder Aufstehen angesagt! Aber bevor sie zum Umziehen und Duschen nach Hause ging, nochmal kurz die Augen schließen. Nur ganz, ganz kurz …
In einem letzten klaren Gedanken beschloss sie, morgen früh Olli anzurufen, um endlich und final die weiße Flagge zu hissen.
Dann war sie praktisch schon wieder eingeschlafen.
Nur eine einzige Mistel!« Helen zog ihre Cousine zurück zu dem kleinen Stand auf dem Kirchplatz. Bibbernd vor Kälte wies sie auf einen Zweig mit den Ausmaßen einer der Reisetaschen, die sie eben erst in der gemeinsamen Wohnung abgestellt hatte.
»Keine Zeit, wir wollen doch zu Paul!«
»Och, jetzt komm schon, Ida, stell dich doch nicht so an! Nur eine ganz, ganz kleine… sieh mal hier!« Ein Windstoß ließ Helens lange blonden Haare auffliegen, woraufhin sich einige Strähnen in dem kleinen Zweig verfingen. Es kostete einige Mühe, Helen und den Zweig wieder zu trennen, wobei die milchig weißen Beeren abfielen und über den Boden kullerten.
Ida tippte sich an die Stirn. »Ich glaube wirklich, du bist ein bisschen fanatisch, was Weihachten angeht.«
»Komm du doch mal nach einem Jahr Dubai zurück und geh dann mal über einen Weihnachtsmarkt, ohne fanatisch zu werden«, nuschelte Helen und durchwühlte eine Kiste mit weiß gesprühten Tannenzapfen.
»Lass uns lieber morgen früh zurückkommen. Dann sehen wir uns in Ruhe an, was wir mitnehmen können.« Ida drehte ein Pappschildchen um, das mit einer Kordel an einem der Mistelzweige befestigt war, und schnappte nach Luft. »Die sind außerdem viel zu teuer! Mein Vater kann dir so einen kostenlos aus dem Wald mitbringen!«
»Deine Eltern wohnen achtzig Kilometer von Köln entfernt! Der Advent ist halb vorbei, bevor wir auf diese Weise an eine kostenlose Mistel kommen.«
Das sah Ida ein. Sie nickte kompromissbereit. »Okay, weil du dich so auf Weihnachten freust: wir kommen morgen früh zurück, suchen uns ein bisschen Weihnachtsdeko, und ich verspreche, wir trinken auch eine heiße Schokolade. Alles, was du willst! Aber jetzt, und ich meine JETZT«, sie zog ruckartig an Helens Hand, was ein hartes Stück Arbeit war, denn Ida war mehr als einen Kopf kleiner als ihre Cousine. »Jetzt gehen wir! Du hast gesagt, du hast Hunger. Hast du doch, oder?«
Helen zog ein Gesicht. Es stimmte natürlich. Wie zur Bestätigung knurrte ihr Magen. Der Imbiss im Flugzeug war tatsächlich schon Stunden her!
Andererseits hätte sie so gern einen dieser Zweige mitgenommen! Wieso musste dieses Küken sie bloß so rumkommandieren? Ida war schließlich satte sechs Jahre jünger!
Helen schob den Rollkragen ihres Pullis bis weit unters Kinn, zog den Reißverschluss ihrer dünnen Daunenjacke noch ein paar Zentimeter höher und ergab sich in ihr Schicksal. Sie hatte ohnehin keine Wahl: Gegen Idas Willen kam einfach niemand an!
Frierend und bei der Aussicht auf einen angenehm warmen Raum nicht mehr ganz so widerwillig, ließ sie sich um die nächste Häuserecke ziehen, wo ihr Lieblingsbrauhaus ein bisschen windschief und renovierungsbedürftig auf sie wartete. Ein ganzes Jahr war sie nicht mehr in ihrer Heimatstadt Köln gewesen! Zwölf Monate!
»Ich kann dich einfach viel zu gut leiden, um dir böse zu sein«, stellte Helen fest.
»Ich kann dich auch gut leiden«, untertrieb Ida, denn Helen war schon immer ihre Lieblingscousine gewesen – und ihr großes Vorbild. »Deswegen teilen wir ja auch ein Apartment!«
»Na, so war es ja wohl auch abgesprochen! Hey, Moment mal …« Helen blieb stehen und pustete sich ihre mehr oder weniger warme Atemluft in die Hände. Das war doch…
Der teure schwarze Rahmen und die Tatsache, dass das penibel gepflegte Fahrrad an der Hauswand des Brauhauses schlicht und ergreifend viel zu sauber für ein Stadtrad war, verrieten ihr, dass ihr Onkel Jacques überhaupt nicht weit sein konnte!
Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie nun außerdem einen bekannten Fiat 500 und den Volvo ihrer Eltern.
Mit einem Mal schlug ihr Herz doppelt so schnell vor Aufregung und Erwartung, und ihr wurde warm vor Freude und letztendlich auch wegen der Heizungsluft, die herausdampfte, als Ida die Brauhaustür öffnete und sie in den Gastraum hineinschob.
»ÜBERRASCHUNG!!!«, schwappte es Helen so laut entgegen, dass sie sich vor Schreck die Ohren für einen Moment zuhielt. Dann brach sie in Lachen und fast in Freudentränen aus: Lokal, Empore und Thekenbereich waren voller vertrauter Gesichter. Ihre Familie! Ihre Freunde! Ihr ehemaliges Handballteam! Paul, der wohl jüngste Brauhauswirt der Stadt, grinste ihr von der Theke entgegen. Er liebte es, wenn sein Laden so voll war, dass man sich kaum bewegen konnte; genau dafür hatte er seinen Job an der Börse an den Nagel gehängt!
Vollkommen überwältigt ließ sich Helen in die Arme nehmen, auf die Schulter klopfen und küssen. Hinter ihr lachte Ida zufrieden; somit war wohl auch klar, wer Drahtzieher dieser Willkommensparty war … Oh! Sie hätte es sich denken können!
»Herzlich willkommen zurück in Köln! Applaus für die einmalige, unübertroffene, fabelhafte und liebenswerte Helen de Vriiiiiies! YAYYYY!« Idas Stimme überschlug sich fast. Wie immer wusste sie ihre Energie kaum zu bändigen und hüpfte wie ein Flummi zwischen den anderen Gästen herum.
Da zog jemand fest an Helens Pferdeschwanz; sie wirbelte herum.
»Mein Gott, was bist du fett geworden!«
Es war klar, dass Pelle, den sie seit Ewigkeiten kannte, es ironisch gemeint hatte. Sie hatte ganz bestimmt kein einziges Gramm zu viel!
»Willkommen zurück, du Heldin!«
Noch bevor sie sich aus seiner Umarmung befreien konnte, stürmten drei strohblonde sportliche Mädchen auf sie zu und überfielen ihre älteste Schwester, als seien sie nicht zwölf Monate, sondern zwölf Jahre getrennt gewesen.
Helen wurde weitergereicht wie ein Baguette, bis Stijn de Vries schon bald darauf die jüngeren Exemplare seiner Brut zur Seite schob.
»Godverdomme!«, brach es aus ihm heraus; Helen versank in seinen Armen. Den Rest seiner Worte konnte nur seine Tochter verstehen, und am Ende mussten beide die Tränen wegwischen.
»Nie wieder geht eine meiner Töchter so weit weg, hat er gesagt«, hörte Helen ihre Mutter sagen, die lächelnd hinter ihrem Mann stand und es nicht erwarten konnte, bis sie an der Reihe war. »Unsere Familie besteht wirklich aus Waschlappen.« Ihre eigenen Freudentränen zwinkerte sie tapfer weg.
»Ich dachte, ihr seid in Urlaub!«, rief Helen.
»Waren wir auch, wir kommen praktisch direkt vom Stau auf der Autobahn«, erklärte ihre Mutter. »Wir hätten dich so gern schon am Flughafen überrascht, Schatz!«
Helen de Vries war so etwas wie ein aufgehender Stern am internationalen Konditorenhimmel, wie es die Fachpresse bezeichnete. Mit ihrem außergewöhnlichen Talent und ihrem sagenhaften Croquembouche hatte sie nun sogar das niederländische Königshaus auf ihrer Referenzliste und fand das »total normal«!
Nach kurzen Boxenstopps in Amsterdam, dann Straßburg und anschließend dem schönen Verona war das Luxushotel in den Emiraten der anspruchsvollste Einsatz gewesen.
Nun war sie seit gut drei Stunden zurück in Köln und regelrecht überwältigt davon, wie viele ihrer Freunde gekommen waren, nur um sie zu begrüßen.
Erst nach einer geschlagenen Stunde landete die heldenhafte Rückkehrerin am Tisch in einer etwas ruhigeren Nische, in der sich ihre Familie niedergelassen hatte. Sie räumte im Vorbeigehen einen rustikalen Tannenkranz von der Wand, ohne es zu bemerken, plumpste auf einen Stuhl und schob ihr Sektglas so schwungvoll auf den Tisch, dass es überschwappte.
»Ich hatte doch tatsächlich vergessen, wie hungrig ich bin!« Hingebungsvoll widmete sie sich dem Rest eines Spießbratenbrötchens.
Ihr Onkel Jacques bückte sich, las den Kranz auf und hängte ihn zurück an den Nagel an der rauen Steinwand. »Was ist denn nun dein Plan, wo du wieder in Köln gelandet bist?« Er nahm Platz und drehte den Stiel seines Weinglases zwischen zwei Fingern. »Große Auszeit mit fünfundzwanzig?«
Helen kaute fertig und schluckte. »Wie kommst du denn auf so was?«
»Na ja, bei all den Auszeichnungen wirst du ja sicher nicht von der Sozialhilfe leben müssen.«
»Ich muss genauso arbeiten wie ihr alle, für einen Geldspeicher reicht es noch nicht ganz.«
»Ach, schade!«, warf ihre Mutter lächelnd ein.
»Aber da Ida im Herbst ihre Konditorenausbildung abgeschlossen hat …«, führte Helen weiter aus.
»Und das nicht schlecht –«, fiel ihr Ida ins Wort.
»… haben wir uns gemeinsam im Frederik’s beworben.«
»Drei Sterne! Hörst du? Draaaaiiiihhh«, hauchte Ida.
»Die suchen eine Chefpatissière und eine Jungkonditorin. Mit anderen Worten: uns!«
Die beiden grinsten ihren Onkel an wie Honigkuchenpferde.
»Und ihr meint, ihr seid jetzt die Einzigen, die sich dort beworben haben?« Jacques reichte ihr sein schneeweißes Stofftaschentuch. Sie nahm es dankbar an, wischte sich damit die Mundwinkel ab, fand ihn jedoch wegen seiner Zweifel ein bisschen zu realistisch für diesen wundervollen Abend.
»Nö, natürlich sind wir nicht die Einzigen!«, gab sie unumwunden zu. Sie schob ihr klebriges Sektglas so dicht an das Weinglas ihres Onkels, dass ein leises Pling zu vernehmen war.
»Aber erinnerst du dich, Onkel Jacques? Als ich nach Dubai gegangen bin, hast du mich am Flughafen mit den Worten verabschiedet ›Greif nach den Sternen, Helen!‹. Jetzt will ich drei Michelin-Sterne, und da soll mich doch verdammt noch eins der Teufel holen, wenn ich das nicht hinbekomme! Außerdem haben wir schon einen Termin für ein Probearbeiten.«
»Und sonst dreht sie noch eine Runde um die Welt«, klärte Ida ihren Onkel auf. »Sie hat nämlich so viele Angebote, da träumst du von!«
Jacques fuhr sich mit der Hand durch den sorgfältig gestutzten dunklen Bart.
»Ich träum nur von Olli«, grinste er, was ihm sofort ein Oooohhh-ist-das-süüüüß von allen Frauen am Tisch einbrachte.
Es war erst kurz nach elf, als Helen entschied, dass es ihr reichte. Die Zeitverschiebung, auch wenn es nur ein paar Stunden waren, steckte ihr in den Knochen; ihre innere Uhr war nun mal nicht auf lange Nächte eingestellt.
Also küsste sie Lieblingswirt Paul im Überschwang mitten auf den Mund, versprach ihm seinen Lieblingskuchen und nahm die restlichen zehn Gäste mit hinaus, damit er endlich abschließen konnte.
»Gute Willkommensparty?«, frage Ida und gähnte ganz undamenhaft, als sie in ihrer Wohnung im Belgischen Viertel angekommen waren.
»Super. Superer ging gar nicht.«
Helen streckte die Arme weit aus, fing Ida ein und drückte sie wie eine Zitrone, wobei Idas Gähnattacke auf sie übersprang und sie sich fast den Kiefer ausrenkte.
»Was hab ich mich auf zu Hause gefreut! Versteh mich nicht falsch, es war schon toll, die Zeit in den besten Hotels zu arbeiten. Aber immer nur unterwegs … jetzt reicht’s auch mal.« Sie ließ sich aufs Bett fallen und seufzte so tief, dass ihre Unterlippe zitterte. »Das Frederik’s muss uns einfach nehmen!«
»Und es ist gleich um die Ecke!«, nickte Ida.
»Und ich brauche nie, nie wieder Heimweh zu haben!«
»Deine Mama hatte doch recht …«
»Womit?«
Ida kicherte. »Ihr seid ein Haufen Waschlappen!«
Schlaftrunken kam Helen früh am Morgen aus ihrem Zimmer, die Schlafmaske aus dem Flugzeug hoch ins Haar geschoben, während ihre Cousine bereits Richtung Wohnungstür stolperte. Was hatte sie denn da für einen Pyjama an?! Helen blinzelte. Waren das etwa Häschen?
»Ich will noch keinen Besuch!«, beklagte Helen sich gähnend.
Ida gab ebenfalls einen missmutigen Laut von sich, zog die Türklinke nach unten und die Tür auf. »Ich auch nicht, es ist noch nicht mal hell.«
»Da kann ich aber jetzt auch nix für«, meinte der strubbelige rothaarige Jugendliche, der auf der anderen Seite der Türschwelle stand. An seinem Grinsen konnte man jetzt schon ablesen, was für ein Frauenverführer er in wenigen Jahren sein würde.
Schwungvoll schmiss er Ida seinen Rucksack entgegen. »Wilde Nacht gehabt, Schwester?«
Er trat über die Schwelle und fror augenblicklich in der Bewegung ein, als er Idas neue Mitbewohnerin sah, deren lange makellosen Beine in einer sehr kurzen Pyjamahose endeten und deren weißblondes Haar in langen Wellen bis zur Hüfte fiel.
»Mach den Mund am besten wieder zu«, meinte Helen, »und die Tür auch; es ist saukalt da draußen im Flur!«
Sie fror, seitdem sie in Köln aus dem Flugzeug gestiegen war, wie ein Erdmännchen in Grönland. Natürlich hatte sie keine Winterkleidung mit in die Emirate genommen und sollte heute wohl dringend mal ihre wärmeren Jacken bei ihren Eltern abholen, sowie einige Kisten mit Büchern, Bilderrahmen und anderen Sachen, die man so brauchte, wenn man in eine WG zog. Doch dafür war noch genügend Zeit. Vielleicht nach dem Frühstück …
Sie hatten sich keinen Wecker gestellt, dieser Job war ja nun durch Luis erledigt worden, der die Wohnungstür nicht gerade geräuschlos schloss und Helen von oben bis unten musterte. Diese rückte ihre Schlafmaske zurecht wie ein Krönchen und wusste, dass ihm schon eine Bemerkung auf der Zunge lag.
Lang konnte es nicht mehr dauern; um Worte verlegen würde man ihn nämlich niemals erwischen.
»Die Natur geht sehr gnädig mit deinem alten Körper um, Cousinchen, das muss man ja sagen.«
Na bitte!
Helen verneigte sich zum Dank für dieses freche Kompliment. »Charmant, Luis, wirklich!«
Und auch Idas Freude über den unerwarteten Besuch schien sich in Grenzen zu halten, da ihr sicher gleich eine ganze Lawine von Gründen einfiel, warum ihr Bruder hier – mitten in der Woche und zu dieser Uhrzeit – aufgetaucht sein konnte.
Sie scheuchten ihn zuerst einmal in die winzige Küche und stellten ihm einen Muffin und eine Tasse Kakao vor die Nase.
Erst dann versuchten sie, verwertbare Informationen aus ihm herauszubekommen.
»Und Mami weiß nicht, dass du hier bist?«, vergewisserte sich Ida noch einmal.
Luis verdrehte die Augen. »Ich hab doch gesagt, sie kommt jetzt schon seit mehreren Wochen aus dem Hotel nicht mehr raus«, mampfte er.
»Was ist mit den Zimmermädchen?«
»Beide krank. Macht Mama.«
»Die Rezeption?«
»Schwanger, macht Mama, bis die Neue kommt.«
»Hausmeister?«
»Bein gebrochen.«
»Mein Gott! Das ist katastrophal! Warum hast du mich nicht angerufen?«
»Wie denn, wenn mein Handy konfisziert ist?«
Also hatte er sich mal wieder etwas geleistet. »Festnetz? Old School?«
»Hör mir auf mit Schule!«
Ida gab auf. »Und Carlos, Mamis Chef?«
»Musste plötzlich Urlaub nehmen. Die Küche ist jedenfalls komplett besetzt, und das ist auch gut so, denn ich darf im Moment immer im Hotel essen. Ganz schön lecker!«
Helen hatte schweigend zugehört und legte Ida nun ihre Hand beruhigend auf die Schulter. »Maxie hat ganz sicher schon eine Lösung an der Hand! Du kennst eure Mutter doch! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es so dramatisch ist.«
Und auch Ida ließ sich nicht so leicht überzeugen. »Mann, Luis, du hast doch nur einen Grund gesucht, um die Schule zu schwänzen!«
Ihr Bruder war ernsthaft empört über diese infame Unterstellung. »Alter! Ich bin bei minus vier Grad mit dem Rad zum Bahnhof gefahren!«
»Nenn mich nicht Alter!«
»Dann mach mich nicht so blöd von der Seite an. Mama hat jedenfalls letzte Nacht durchgemacht und ist erst um halb sechs nach Hause gekommen!«
»Wo ist eigentlich Papa?« Doch sofort schlug sich Ida mit der flachen Hand vor die Stirn, als es ihr einfiel. »Ach Mensch, der ist ja noch auf der Tournee mit –«
Luis unterbrach sie. »Ich musste meine Prioritäten festlegen. Mama braucht Hilfe. Papa ist unterwegs, wie du gerade selbst festgestellt hast. Und ihr beiden seid die Einzigen, die mir einfallen, die gerade Zeit haben.« Er wischte einen Krümel aus dem Mundwinkel. »Ihr habt doch Zeit, oder?«
Man konnte ihm plötzlich seine Müdigkeit im Gesicht ablesen. »Helen?«
Diese hatte das Gefühl, Luis musste sich sehr konzentrieren, um nicht auf ihre Beine zu starren. Sie legte sich ein Kissen auf die Knie und nickte. »Klar haben wir Zeit.«
Luis entspannte sich und reagierte fast ein bisschen zu langsam, als seine Schwester nach dem Telefon griff. Mit schokoladenverschmierten Fingern nahm er es ihr im letzten Moment aus der Hand und schob es hinter seinen Rücken.
»Ida, frag sie nicht! Sie wird dir doch nur sagen, sie kommt klar, so wie immer. Nur dieses Mal stimmt es eben nicht!«
Als sich weder seine Schwester noch seine Cousine rührten, warf er verzweifelt die Arme in die Luft und ließ die Handflächen auf die Tischplatte knallen. »Packt einfach eure Sachen und kommt ein paar Tage mit. Mann, ich bin doch nicht in aller Herrgottsfrühe in den Zug gesprungen, um hier rumzuquatschen! Schwingt eure Ärsche und fahrt mit nach Hause.«
Er duckte sich geschickt unter Idas Hand hinweg.
»Nicht diese Ausdrücke!«, fuhr sie ihn an. »Und gib mir mein Handy zurück!«
»Schon gut, chill mal! Olli hab ich übrigens schon angerufen. Er weiß schon, dass in seinem geliebten Hotel das Chaos ausgebrochen ist. Ich mein ja nur, ist ja sein Hotel! Er muss so was doch auch wissen!«
Dann händigte er seiner Schwester das Telefon aus und stopfte er sich den Rest des Muffins auf einmal in den Mund.
»Wieso muss man auch gleichzeitig eine Schreinerei und ein Hotel besitzen, bloß weil man Bock drauf hat?! Das setzt mich total unter Leistungsdruck, so eine fleißige Verwandtschaft zu haben«, log er.
»Die Vorteile deiner erfolgreichen Verwandtschaft haben dich bisher nicht gestört!«, gab Ida trocken zurück.
»Jedenfalls hast du das super gemacht, uns allen Bescheid zu geben. Auf dich kann man sich echt verlassen«, lobte Helen den Dreizehnjährigen und brachte den angehenden Frauenverführer dazu, bis hinter beide Ohren zu erröten.
Wie vermutet, war Olli Kirschbaum sofort aktiv geworden und hatte Pelle, seinen jüngsten Gesellen aus der Schreinerei, gleich abkommandiert. Er selbst würde später folgen, sobald er die wichtigsten Dinge in seinem Betrieb in Köln geregelt hatte. Der Pick-up der Schreinerei wartete bereits unten an der Straße, als Luis mit seiner Schwester und mit seiner Cousine aus der Haustür trat.
»Da bist du ja schon wieder!«, witzelte Helen. »Gestern noch im Brauhaus, heute schon Taxifahrer!«
Pelle warf die Taschen der drei ins Auto. »Köln ist halt ’n Dorf.«
Nur wenn man ihn sehr gut kannte, konnte man in seinem Mundwinkel ein minimales Grinsen erkennen.
Helen setzte sich auf den Beifahrersitz neben Pelle und sah im Spiegel schon auf halbem Weg über die Severinsbrücke Luis’ Kopf langsam auf Idas Schulter sinken.
»Eine starke Leistung für so ein Kerlchen«, meinte sie leise.
»Find ich auch«, meinte Pelle und ließ den Fuß aufs Gas sinken, als sie das Stadtgebiet hinter sich ließen.
Helen wandte sich zu Ida um. »Du kannst wirklich stolz auf deinen Bruder sein.«
Sie hatten Luis trotz seines nicht gerade milden Protests an der Schule abgesetzt, sein Fahrrad am Bahnhof auf die Laderampe des Pick-ups gelegt und waren dann zum Burghotel gefahren, das still – fast märchenhaft – im Morgendunst lag.
Hier auf dem Land war es immer ein paar Grad kälter als in Köln. Das Kopfsteinpflaster im Burghof war noch weiß gereift, doch über dem Dach des zweigeschossigen Ostflügels erhob sich bereits die milchige Wintersonne.
Amseln zwitscherten tapfer der Kälte entgegen. Helens Zähneklappern konnten sie jedoch nicht übertönen.
Pelle sah sich kurz zu ihr um. »Sag mal, hast du keine wärmere Jacke?«
Helen sah ihn genervt an, klapperte aber weiter mit den Zähnen.
Er schüttelte verständnislos den Kopf und wies zum Haupteingang. »Geht doch schon mal rein. Ich sehe, ob ich hier etwas Streusalz finde, bevor sich jemand die Knochen bricht.«
Er wandte sich zielsicher einer niedrigen Tür zu, die zum Refugium des Hausmeisters führte, und schepperte dort mit irgendwelchen Eimern herum.
Helen wollte eigentlich gleich die Küche aufsuchen, doch Ida nahm sie lieber als moralische Unterstützung mit zur Rezeption. Sie zogen sich die Mützen vom Kopf und umrundeten den aus Bruchstein gemauerten breiten Tresen. Hier wechselten sie einen Blick; Ida holte tief Luft. Dann öffnete sie die Bürotür.
Maxie hörte nicht gleich, dass jemand das Zimmer betreten hatte. Wo hatte sie denn noch gleich das Programm der kommenden Hochzeit hingelegt? Darauf hatte sie doch die Telefonnummer des Pianisten notiert! Sie schob sich zum hundertsten Mal eine Locke hinters Ohr und durchsuchte den Stapel Papier auf ihrem viel zu vollen Schreibtisch. Insgeheim schwor sie sich, ihre Unterlagen in Zukunft einzuscannen.
Als sie ein leises Knarzen an der alten Eichentür vernahm, schaute sie über die Schulter.
»Mami, die Kavallerie ist da …«
Maxie legte die Unterlagen zur Seite und kam erfreut herüber.
»Ida, Engelchen, was machst du hier?!« Sie nahm ihre Tochter in die Arme, wobei sich ihre dichten Locken mit dem wunderschön roten Bob ihrer Tochter vermischten und man für eine Sekunde nicht auseinanderhalten konnte, welcher Schopf zu wem gehörte. Schließlich erblickte sie auch Helen, die lächelnd an der Tür wartete. Warum war sie nicht in Saudi-Arabien? Oder war es Oman gewesen?
»Was macht ihr beiden hier? Ich bin total überrascht!« Eine kleine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn. »Ist bei euch alles in Ordnung?!?«
»Na, bei uns schon, Mami, aber wir haben gehört, dass du hier mit fünf Bällen zu viel jonglierst!«
Maxie stutzte. Das konnte doch unmöglich schon nach Köln durchgedrungen sein! Sie winkte beruhigend ab. »Es sind nur drei, keine Sorge!«
Vielleicht waren es in Wirklichkeit vier. Vier kleine Bälle. Oder viereinhalb. Aber das mussten die Mädchen nicht wissen! Sie würde mit Mitte vierzig ja wohl nicht vor einem kleinen Personalnotstand kapitulieren; müde hin oder her!
Maxies Augen verengten sich in plötzlicher Erkenntnis. »Warte mal, wer hat gepetzt?«
»Sag ich nicht.«
»Hat Luis dich etwa angerufen?«
Ida schüttelte verneinend den Kopf, und es war noch nicht mal gelogen.