Engelchen flieg - Sibylle May - E-Book

Engelchen flieg E-Book

Sibylle May

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Beschreibung

E N G E L C H E N F L I E G - mörderische Jagd auf heilige Bilder- ist ein Krimi, der in Berlin nach der Wende spielt. Jurij Simenov, ein ehemaliger Mitarbeiter des KGB, befindet sich auf dem Weg in die Stadt. Er hat vor Jahren einen Ikonenhändler erschossen, dafür im Knast gesessen, ist nach Warschau abgeschoben worden und kommt jetzt zurück, um sich zu rächen. Sein damaliger Anwalt, einige Ikonenhändler, eine Restauratorin und ihr schräger Lover müssen um ihr Leben zittern. Der Erzengel Gabriel, aus einer russischen Kirche gestohlen, kommt anstandslos in Frankfurt/ Oder durch den Zoll und ist danach spurlos verschwunden. Als wäre er weggeflogen. Ist aus dem Engel der Verkündung ein Engel des Todes geworden?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Berlin im November. Die Weltuhr am Alex steht auf 1 Uhr Moskau, 17 Uhr New York und 23 Uhr Berlin. Der Himmel ist sternenklar. Der Ostwind hat die Wolken, den Smog, den ganzen Großstadtdreck weggefegt. Die Luft ist kalt und kribbelnd, gut zum Durchatmen.

Jurij fährt seinen schwarzen Porsche mit Warschauer Kennzeichen durch die Frankfurter Allee. Er hat das Seitenfenster einen Spalt breit heruntergekurbelt und raucht eine George Sand mit Filter, eine polnische Zigarettenmarke mit schwarzem Deckblatt, die seine Frau immer kauft. Sie wird es ihm verzeihen, dass er sich aus ihrem Vorrat bedient hat. Sie verzeiht ihm immer.

Jurij ist Mitte vierzig, mittelgroß und schmächtig. Die aschblonden Haare bilden einen schütteren Kranz um seine beginnende Glatze. Er trägt einen graumelierten Oberlippenbart, der ihn älter erscheinen lässt. Das einzig Besondere sind seine Augen: Wasserblau mit wimpernlos flackerndem Blick. Sein dunkler Anzug verrät Geschmack und Geld. Das makellos weiße Oberhemd und die dunkelblau-silbern gestreifte Krawatte würden jedem offiziellen Anlass genügen.

Radio 3 überträgt klassische Musik. Ohne Unterbrechung. Ohne Werbung. So wie er’s liebt.

Der schwarze Porsche kreuzt die Warschauerstraße und fährt weiter geradeaus in Richtung Alexanderplatz. Der Fernsehturm blinkt prahlerisch über Berlin Mitte. Nachts ahnt man nichts von der Trostlosigkeit der Gegend um den Alex, da verheißen die Lichter ein pulsierendes Großstadtleben. Der Porsche lässt den Alexanderplatz hinter sich, biegt vom Rosenthalerplatz links ab, fährt zur Auguststraße, verlangsamt sein Tempo und kurvt rechterhand in die Oranienburgerstraße ein.

Er ist am Ziel. Die Frauen, die Polinnen haben es ihm angetan. Nicht weil sie Polnisch, seine Sprache, sprechen - Jurij ist Russe, aber in Polen aufgewachsen - sondern weil sie hübsch und jung und käuflich sind. Er erinnert sich an frühere Male. Lange ist es her, dass er nicht mehr in Berlin war. Er lebt heute in Warschau, hat Jahre verstreichen lassen, hat gewartet. Jetzt hält er die Zeit für gekommen, ist in Berlin, um sein Eigentum zurückzufordern und mit einigen Leuten abzurechnen. Aber zunächst führt ihn sein Weg zu den schönen Polinnen. Jurij ist, wie immer, wenn er Größeres plant, erregt. Dann muss er sich vorher amüsieren.

Er fährt im Schritttempo am Tacheles vorbei, an einem italienischen Restaurant, an einer Bar, wird noch langsamer. Und da stehen sie. Wie sie ihm gefallen. Auf der Straße, vulgär, geschminkt, in glitzernden Bodies über grellen Strumpfhosen, in geschnürten Stiefelchen bis zum Anschlag. Die gestiefelten Kätzinnen, die Nutten der Oranienburgerstraße. Aber hier stehen nicht nur Nutten, auch Transvestiten und Transsexuelle, Frauen und Nicht- Frauen. Wie sie ihm gefallen in ihrer Direktheit. Er muss sich nicht verstellen. Muss nicht reden. Er bezahlt und bekommt, was er will. Er, der nach Warschau abgeschoben wurde und nur heimlich und unerkannt wieder in Berlin aufzutauchen wagt, fühlt sich diesen Geschöpfen der Nacht verwandt, die auch im Dunkeln, möglichst unauffällig, ihr Dasein fristen.

Vor ihm hält ein Audi. Jurij bremst. Der Vordermann spricht mit drei Nutten. Jurij wartet. Der Audi fährt weiter. Jurij fährt näher heran. Er kurbelt das Fenster an der Beifahrerseite herunter und mustert das Trio. Zwei sind Frauen, die dritte ist ein Transvestit. Alle drei werfen ihm aufmunternde Blicke zu, lachen, wissen, dass er sie mustert, dass er wählt. Eine der Frauen ist klein und dicklich und so fest in ihren schwarzen Plastikregenumhang gehüllt, dass der nur wenig Haut freigibt. Die andere ist extrem mager, was er gar nicht schätzt. Bleibt also nur der Transvestit, der ganz in Weiß gekleidet, einer Taube gleicht. Ein bodenlanger Regenmantel öffnet klaffend den Blick auf einen Hauch von Seidenwäsche und Strumpfhaltern und Netzstrümpfen. Der Arme wird sicher frieren. Er hat ein hübsches Gesicht und handfeste kleine Brüste, scheint auch sonst gut gebaut zu sein. Jurijs Blick bleibt an der weißen Taube hängen. Die trippelt zum Auto, beugt sich ins Fenster. Jurij lächelt. Der andere fährt sich kokett mit den Fingern durch die weißblonden schulterlangen Haare, lässt die Zunge vielversprechend über die Lippen gleiten. Jurij schweigt. Er hat genug gesehen. Der klaffende Mantel hat den Blick auf eine ganz offensichtliche Wölbung des Tangas freigegeben, die das Täubchen, sei es aus Mangel an Geld oder Mut, sich noch nicht hat entfernen lassen. Jurij mag keine halben Sachen. Er lächelt. Die Taube gurrt: „Hallo.” Ihre Stimme ist rau, weich, aber eindeutig männlich.

Jurij sagt auch: „Hallo.”

„Sechzig im Auto. Hundert zu Hause. Gehen wir?”

Jurij gibt vor nachzudenken. Er hat sich längst entschieden. „Ich überleg noch mal, vielleicht komm ich wieder vorbei.”

Der Transvestit lächelt professionell und flattert zu den beiden andern zurück. Der schwarze Porsche fährt hart am Bordstein weiter. Da hinten stehen noch andere.

Jurij hätte lieber eine Frau. Aber er weiß, dass die Nutten kühler, distanzierter, berechnender sind. Sie verstehen ihr Geschäft, erledigen es routiniert, aber ohne Spaß. Sie lachen nicht, sie scherzen nicht, sie wollen es möglichst schnell hinter sich bringen. Mancher Transvestit ist mehr Frau als eine Frau. Aufregender, verführerischer, verspielter, geschwätziger. Ein Transvestit sagt alles, was Männer gern hören wollen, heuchelt Leidenschaft, Gefühl und Sympathie. Macht Komplimente. Ein Transvestit will gefallen, das ist seine zweite Natur, das steckt in ihm drin. Er gibt nur vor eine Frau zu sein. Er produziert eine übertriebene Weiblichkeit, die er nicht hat. Ein Transvestit ist und bleibt ein Mann. Er weiß genau, was die Männer, die ihn aufsuchen, von ihm wollen.

Jurij kennt das alles und will genau das und weiß auch, wo er’s findet. Er kennt sich in Berlin aus, kannte sich aus. Vor einigen Jahren standen die Transvestiten und Transsexuellen in der Kurfürstenstraße. Vielleicht warten sie dort noch auf ihn. Er findet ohne Mühe die Straße Unter- den Linden, umkurvt das Brandenburger Tor und überquert den Potsdamerplatz, dieses Las Vegas der kleinen Leute. Und da stehen sie tatsächlich. Er fährt langsam durch die Kurfürstenstraße und hält nach etwas Besonderem Ausschau. Aber auch hier sieht er nichts, was ihn wirklich anmacht. Er fährt zur Straße des 17. Juni. Fehlanzeige. Hier stehen nur diese 1.90-m-Frauen, die man auf den Laufsteg, aber nicht auf den Strich schicken sollte.

Aber dann in der Tiergartenstraße: gleich neben der Philharmonie bemerkt er eine Autoschlange. Er drosselt das Tempo, überholt die vier oder fünf Wagen und sucht nach dem Grund für diesen Korso. Am Straßenrand steht eine Person, Mann oder Frau. Jurij bremst abrupt, verdreht den Hals, legt den Rückwärtsgang ein und fährt zurück bis ans Ende der Schlange. Er reiht sich ein. Die Person beugt sich ins Fenster des vordersten Wagens, richtet sich wieder auf. Der Wagen fährt weiter. Jurij erkennt im Licht der Straßenbeleuchtung eine Mulattin in schwarzer Felljacke. Sie trägt hohe Pumps und unter der Felljacke einen Minirock. Die vollen weiblichen Brüste sind nackt. Und sie ist sehr schön. Deshalb die Autoschlange. Jurij rückt ein Stück vor und wartet, hofft, dass keiner sie ihm wegschnappt. Ein Auto nach dem andern hält mit heruntergekurbelter Scheibe. Sie steht da und nennt ihren Preis. Keiner lässt sie einsteigen. Noch ein Auto. Wieder nichts. Der Fahrer gibt Gas. Jetzt ist Jurij an der Reihe. Das Fenster des Beifahrersitzes ist noch heruntergedreht. Die Schöne steckt ihren Kopf in den Porsche. Jurij mustert sie. Auch aus der Nähe ist sie verdammt hübsch. Sie oder er?

„Hallo.”

„Hallo.”

„200 zu Hause. 100 im Auto. Gehen wir? ” Sie spricht Deutsch. Jurij starrt sie an, starrt ihn an. Die Schöne ist ein Mann. Jedenfalls war sie ein Mann. Aber heute ist sie eine provozierend schöne Frau mit einer weichen, milchkaffeebraunen Haut. Sie hat die Formen einer Frau, die Hände einer Frau, die Augen einer Frau. Nur die Stimme verrät sie ein wenig. Eine Stimme mit tiefem Timbre, die einen undefinierbaren, wahrscheinlich südamerikanischen Akzent spricht. Die Brasilianer sind berühmt für ihre plastische Chirurgie.

„Also?”

„Steig ein.”

Sie schlüpft in den Porsche. Der Motor heult auf.

„Was willst du?”

„Im Auto bleiben.”

„Gut. Fahr zum Bahnhof Zoo. Und dahinter gleich rechts und wieder links in Richtung Tiergarten.”

Jurij fährt nach ihrer Anweisung. Er achtet nur wenig auf die Straße, mehr auf die kleine Milchkaffeebraune neben ihm, lässt den Blick erwartungsvoll über ihre Beine zu den nackten Brüsten hoch wandern. Sie ist jung, verflucht jung.

„Du bist schön!”

„Danke. Hier gleich rechts.”

Jurij biegt in einen unbeleuchteten Weg. Am Ende steht eine geschlossene Tankstelle.

„Da rein!”

Er schaltet die Scheinwerfer aus.

„Kannst du mich im Voraus bezahlen?”

Jurij nickt, - er mag Profis, zieht sein Portemonnaie aus der Hosentasche und zahlt mit einem 100 Mark-Schein. „Wie heißt du?”

„Tina.”

„Und woher kommst du?”

„Aus Brasilien.”

„Du bist jung.”

„Achtzehn”

„So, so, achtzehn.” Sie sieht jünger aus, ist es sicher auch. Jurij berührt ihren Hals. „Lass dich mal anschauen.”

Tina streift die offene Pelzjacke über ihre Schultern und lässt das Fell langsam über die Arme auf den Boden gleiten. Außer ihrem Mini ist sie jetzt nackt, dreht sich zu Jurij hin und will ihn berühren.

„Fass dich erst mal selber an.”

Tina lächelt und streichelt ihre Brüste, wiegt den Oberkörper, reibt ihre Brustwarzen zwischen Zeigefinger und Daumen, schließt die Augen und bewegt rhythmisch ihren Kopf. Jurij zieht ihr die Hände weg und streichelt ihre Brüste, die prall und zugleich weich und nur eine Spur künstlich sind. Sie fassen sich fast besser an als die einer Frau. Tina stöhnt unter Jurijs Fingern. Dann streckt sie ihre Hände nach ihm aus. Sie weiß, was sie zu tun hat. Sie weiß, was er will. Sie beugt sich über ihn.

Jurij lehnt den Kopf auf die Nackenstütze. Ein paar Sekunden lang beobachten seine Augen den wolkenlosen, sternenklaren Himmel. Alles scheint normal zu sein, aber er weiß, dass es nicht so ist. Jurijs Gedanken laufen durcheinander, überschlagen sich. Die vielen Pläne, die er hat, das Unheil, das er bringen wird. Dann verwirren sich seine Gedanken und lösen sich in nichts auf. Eine Welle steigt in ihm hoch, eine Welle, die aus Tinas Mund entspringt und seinen Körper überflutet, immer höher steigt. Eine Welle der Lust, die ihn beruhigt. Es ist wie eine Explosion, ein Etwas, das gleich wieder neue Nahrung sucht, eine andere Gier, einen anderen Tod.

Tina hebt den Kopf und lächelt ihn an. „Hat es dir gefallen?”

Jurij antwortet nicht. Er ist fertig, er will weg. Er lässt den Motor an und fährt sie zurück, ohne ihr Lächeln zu erwidern.

2

Claus blickt wohlgefällig in die Runde. Er ist in seinem Element, in illustrer Gesellschaft von Leuten, die er kennt und die ihn kennen. Die Kunststiftung hat zu ihrer großen Jahresausstellung eingeladen, und Claus sitzt seit Anbeginn im Ausschuss dieser Stiftung und hat über die Vergabe von Stipendien mitzuentscheiden. Er ist hier wer; nicht nur in seinem Beruf als Anwalt, damit verdient er seine Brötchen, sondern in seiner Eigenschaft als Kunstkenner und Sammler. Er kämmt sich mit den Fingern der rechten Hand durch die üppige Haarmähne und wirft den Kopf zurück. An den Schläfen blitzen die ersten grauweißen Strähnen auf. Aber das tut seiner Attraktivität keinen Abbruch. Zu schwarzen Jeans und schwarzem Rolli trägt er einen langen schwarzen Mantel, den er nicht an der Garderobe abgegeben, nur aufgeknöpft hat. Er ist der ‚Guy in Black‘.

„Hey, Irmela.”

Die Geschäftsführerin der Kunststiftung, eine drahtige Mittfünfzigerin von professioneller Gutlaune, kommt auf ihn zu. Im Schlepptau zieht sie zwei schüchterne junge Mädchen hinter sich her. „Tag, Clausi.” Sie umarmen und küssen sich, bisous, bisous, rechts und links auf die Wangen und noch mal links. „Darf ich dir Susanne und Laura vorstellen, zwei junge Künstlerinnen, die sich für ein Stipendium beworben haben.”

Aber gern doch. Susanne verfügt über eine beachtliche Oberweite. Das mag er. Er würde gern hineinlangen. Laura blickt ihn aus scheuen Rehaugen an. Das mag er auch. Er wird den beiden später ein bisschen auf den Zahn fühlen. Aber erstmal müssen sie die Rede des Herrn Professor Fröhlich über sich ergehen lassen. Der hat eine Professur an der Kunsthochschule und hört sich gern reden. Er sitzt im Übrigen auch im Ausschuss der Stiftung. Claus und Fröhlich kennen sich gut. Zu gut. Es gibt reichlich Gelegenheiten, bei denen sich ihre Wege kreuzen. Claus schließt die Augen, als konzentriere er sich auf die hehren Worte des Professors. Die segensreiche Einrichtung der Kunststiftung, Irmelas Verdienste beim Auftreiben der Gelder, die Sprungbrettfunktion für die Stipendiaten. Wer hier ein Stipendium ergattert, ist ein gemachter Mann, eine gemachte Frau. Claus kennt das alles in- und auswendig. Er öffnet die Augen und bedenkt sowohl Susanne als auch Laura mit einem aufmunternden Lächeln. Die Oberweite gefällt ihm auf den zweiten Blick doch besser als die scheuen Rehaugen. Auch seine Verflossene hatte es ihm wegen ihrer enormen Oberweite angetan. Ganz verrückt war er nach ihren prallen Dingern gewesen. Konnte hineintauchen, sich zwischen ihnen auflösen. Professor Fröhlich redet über die schweren Zeiten und dass das Geld heutzutage nicht mehr auf der Straße liegt - wann tat es das jemals?! - aber wie die Kunststiftung trotz alledem... Bis diese prallen Bälle sich zu riesigen Ballons aufpumpten und auch den Rest ihres prachtvollen Körpers zum Wuchern brachten. Was er zunächst für Leidenschaft und Gier nach Fleischeslust gehalten hatte, verlagerte sich mehr und mehr in Gier nach Ess- und Trinkbarem. Sie entwickelte einen unersättlichen Hunger, dem er sich am Ende nicht mehr gewachsen fühlte. Seine Affinität zu voluminösen weiblichen Oberweiten aber ist ihm geblieben. Er tippt Susanne auf die Schulter. „Können sie mir ein paar von ihren Arbeiten zeigen?” flüstert er in eine kurze Pause der Fröhlichschen Rede hinein. Dabei blickt er ihr mit leicht gesenktem Kopf - sein Gesicht ist angenehm sonnenstudiogebräunt - frontal und verführerisch lächelnd in die Augen. Die Wirkung bleibt auch dieses Mal nicht aus. Susanne lächelt errötend zurück. Ihre Oberweite gerät sichtbar in Wallung, und Claus fährt sich zum wiederholten Male mit gespreizten Fingern durch die Haare, - wie liebend gern würde er seine Hände ganz woanders herumfahren lassen,- und konzentriert sich auf die Lobesworte des Kunstprofessors. Der kommt endlich auf die diesjährigen Stipendiaten zu sprechen und deren Werke, die heute Abend ausgestellt werden. Beifälliges Gemurmel, Applaus. Das Büfett wird eröffnet. In der Kunststiftung gibt es belegte Brötchen und Wein oder wahlweise ein Glas Mineralwasser. „Soll ich euch etwas mitbringen?” fragt er gönnerhaft die beiden jungen Mädchen, als würde er höchstpersönlich etwas für sie springen lassen. Doch daraus wird nichts. Mona, seine Ex, steht in der Tür, beziehungsweise füllt die Tür. Sie sind zwar noch verheiratet, eine Scheidung wäre zu teuer gekommen, leben aber seit Jahren getrennt. Vor zwei Wochen, als sie sich das letzte Mal über den Weg gelaufen sind, hatte sie noch blonde lange Haare gehabt. Heute sind sie kurz und rot, nicht henna-, sondern karottenrot mit Neoneffekt. Ihr Kopf ist wie ein loderndes Feuer über einem schwarzgewandeten Berg, einem Vulkan!

„Clausi!” Mit einer für ihre Körperfülle erstaunlichen Behändigkeit stürzt Mona auf ihn zu. „So eine Überraschung, dich hier zu sehen! Hast du schon was gegessen?” Sie hakt sich bei ihm unter und zieht ihn zum Büfett.

Er nickt hilflos zu seinen beiden jungen Bewunderinnen hinüber und lässt sich entführen. Von wegen Überraschung! Wenn Mona ihn heute finden will, dann hier in der Kunststiftung. Schließlich weiß sie, dass heute die große Jahresausstellung stattfindet. Ihr Kommen kann nichts Gutes bedeuten. Höchstwahrscheinlich braucht sie Geld. Er seufzt: „Seit wann interessierst du dich für Kunst?”

„Wieso Kunst?” Sie lacht mit vollem Mund. Ihre Lippenkonturen sind wie gewöhnlich überzeichnet. „Ich habe Hunger.” Sie greift nach einem zweiten Salamibrötchen. „Könntest du mir ein Glas Wein besorgen, Clausi, aber wenn’s geht vom Chianti, der Weiße ist sauer!”

Claus eilt zum Weintisch, sucht Susanne mit den Augen. Die unterhält sich angeregt mit einem jüngeren Typen, wahrscheinlich so einem brotlosen Künstler. Die haben nichts als Bumsen im Kopf, weil sie’s sonst zu nichts bringen. Schade, denkt Claus und lässt sich zwei Gläser Chianti einschenken, grüßt nach allen Seiten und eilt zurück zu Mona, die immer noch oder schon wieder auf einem belegten Brötchen kaut. Er reicht ihr das Glas, das sie fast in einem Zuge leert, reicht ihr sein eigenes. Er wird dafür mit einem breiten Lächeln ihrer inzwischen konturlosen Lippen belohnt.

„Was verschafft mir die Ehre?

„Wieso? Darf ich nicht mehr auf Ausstellungen gehen, ohne dass du mir böse Absichten unterstellst? Und wo soll ich dich sonst bitteschön erreichen? Zu Hause bist du so gut wie nie, da kann ich mich tagelang mit deinem Anrufbeantworter unterhalten, und im Büro darf ich nicht stören.”

Du störst mich auch hier, denkt Claus genervt. Hier weiß zwar jeder, dass sie nicht mehr zusammenleben. Aber Monas leibhaftige Auftritte liefern immer wieder neue Nahrung für Klatsch. Sie soll neuerdings auf Frauen stehen, hat man ihm in aller Freundschaft zugetragen.

„Was willst du? Brauchst du Geld?”

„Also, du hast davon angefangen. Ich hätte nie einen Pfennig von dir verlangt. Das weißt du doch, Clausi!”

„Wie viel?” Er will sie loswerden, bevor sie noch ein Gläschen und noch eines in sich hineinkippt und ihre große Show abzieht, einen Striptease hinlegt, singt. Alles ist dann möglich. Aber bitte nicht heute Abend!

„Ach, Clausi. Weißt du, ich will bei einer Freundin ins Geschäft einsteigen. Sie hat eine Zimmer- und Wohnungsvermittlung in Wilmersdorf eröffnet und braucht Geld! Das wird ´ne Goldgrube, sag ich dir.” Sie schürzt die Lippen zu einem Kuss.

Es muss sich um einen größeren Betrag handeln. Das letzte Mal war es ein Feinkostladen in der Kantstraße, der blitzschnell Konkurs ging, weil Mona selbst ihre beste Kundin war.

„So eine Goldgrube wie dein Laden?”

Mona zieht eine beleidigte Schnute. „Du bist gemein. Das war nicht meine Schuld. Wenn ich eine Konzession für einen Mittagstisch bekommen hätte....”

„ Schon gut. Also wie viel?”

„Zehntausend.”

Eine Menge Geld, aber vielleicht packt sie es ja doch mal, sich auf eigene Füße zu stellen. Es wird Zeit, dass sie ihm nicht mehr auf der Tasche liegt. „O.K. Komm morgen in der Kanzlei vorbei, aber bitte während der Mittagszeit, wenn meine Sekretärin nicht da ist. Du bekommst das Geld, und wir setzen einen Vertrag auf.”

„Was heißt denn das schon wieder?”

„Zehntausend, und damit Schluss. Bei mir fließt das Geld nicht aus der Steckdose. Dafür muss ich verdammt viel ackern, auch wenn du das nie begriffen hast, meine Liebe. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe. Ich muss noch mit einigen Leuten sprechen.”

„Ist ja okay. Ich bin so gut wie weg.” Sie drückt ihm die letzen Reste ihres Lippenstiftes auf die Wange, greift nach einem Stück Käse als Magenschluss, grüßt kauend zu Irmela hinüber und macht einige wiegende Schritte in Richtung Tür. Dann dreht sie sich auf dem Stöckelschuh noch mal um und ruft für alle hörbar: „Pass auf dich auf, Clausi. Ich hab seit Tagen den Eremiten, den Teufel und die Schwert-Zehn, wenn ich meine Karten lege. Weißt du, was das bedeutet?”

„Keine Ahnung, ich geb’ nichts auf Karten.”

„Eremit, Teufel, Schwert-Zehn bedeuten den Tod!”

„Klar. Irgendjemand stirbt immer!”

„Bedeuten den Tod einer Person, die einem nahesteht. Tu nicht so, als wüsstest du das nicht!”

Claus hält nichts von ihrer esoterischen Passion. Außerdem kann er sie mit seiner Missachtung so wunderbar auf die Palme bringen, was bis heute noch seinen Reiz hat. „Ich hab’s, Tequila schwebt in großer Gefahr!” sagt er grinsend. Tequila ist Monas Hund.

Mona funkelt ihn zornig an. „Mach, was du willst. Ich hab‘ dich auf alle Fälle gewarnt!” Behände wie sie gekommen ist, entschwindet sie in Richtung Tür. Ein schwarzer feuerspeiender Vulkan, eine Bilderbuchhexe mit ihren neonroten Haaren und all ihrem Zauberkram, ihren Tarotkarten, Horoskopen, Kristallkugeln und Handlesereien,

Wie er das all die Jahre ausgehalten hat, weiß Claus wirklich nicht mehr. Aber langweilig war es nie mit Mona. Sie steckt voller Überraschungen und Power. Mit den Augen sucht er nach Susanne. Ihre Oberweite hat es ihm wirklich angetan.

3

Jurij rückt seinen Krawattenknoten zurecht und fährt sich durchs Haar. Ein seriöses Aussehen ist ihm wichtig. Er liebt westlichen Luxus, westliche Eleganz und westliche Markenartikel, als könnte er damit den Makel seiner östlichen Geburt übertünchen. Ein dunkler Anzug ist im Übrigen die beste Tarnung für seine dunklen Machenschaften. Seinen Regenmantel hat er im Auto gelassen. Nur keine Zeit verlieren. Die Ausweiskontrolle passiert er ohne Probleme. Wie sollte es anders sein, wo er seit Jahren nicht mehr im Europa Center war. Er tauscht siebenunddreißig Grüne, praktisch alles Geld, das er bei sich hat, in runde weiß-rote Chips, Fünfhunderter, und in eckige orange Chips, in Tausender. Heute Abend will er’s wissen. Er will es immer wissen, wenn er ins Kasino geht. Heute wird er gewinnen. Das weiß er ganz genau.

Er hält den Atem an, als er den großen, schummrig beleuchteten Raum betritt. Ihm ist, als grüßten die fünf Spieltische ihn freundlich „Hey, gut siehst du aus. Wo hast du so lange gesteckt? Wir haben die ganze Zeit auf dich gewartet. Nur zu!”

Er dreht eine kleine Runde. Es ist alles wie früher. Gleich im Eingangsbereich steht der Tisch mit dem Mindesteinsatz von fünf Mark, der von älteren Damen umlagert wird, die auf gerade oder ungerade, auf rot oder schwarz setzen und am Ende der Nacht mit hart erarbeiteten fünfzig Mark Gewinn nach Hause gehen. An den Tischen mit den höchsten Einsätzen hängen Trauben von Japanern, die mit bewegungslosen Mienen ihre Hundertmarkchips setzen. Jurij hat keine Augen für all diese Leute. Ihn interessieren die Tabellen über den Spieltischen, auf denen die Zahlen des Tages notiert sind. 17, 35, 8, 4 und so fort. Seine Zahlen sind nicht dabei. Er setzt seit Jahren auf seine Geburtsdaten, auf den fünfundzwanzigsten November und, je nach Eingebung, hin und wieder auf die Null. Die Fünfundzwanzig, die Elf und die Null.

Er setzt an einem Tisch und gleichzeitig an einem zweiten. Kurz vor dem ‚Rien -ne- va- plus‘ schnippst er seine rot-weißen Marken auf die Zahlenfeldchen und pendelt zwischen den Tischen hin und her. Hände und Füße zittern, das Blut steigt ihm in den Kopf. Er wird gewinnen. Er wird das Kasino als reicher Mann verlassen. Sein Lieblingscroupier, Karl Lauer, ist leider nicht da. Schade. Er hätte gern einen Zeugen für seinen Triumph. Karl hat ihm das großzügige Trinkgeld mit einem kaum wahrnehmbaren Augenzwinkern vergolten, ihn manchmal auch nach einer Glückssträhne mit vollen Taschen nach Hause geschickt, rien- ne- va- plus, um ihn am nächsten Tag um so freudiger zu begrüßen. Volle Taschen ziehen Jurij wie magisch wieder an den Ort seines Lasters, an den Spieltisch, denn im Grunde bedeutet Geld ihm nichts. Geld ist ein Stück Papier, ein Chip aus Plastik, eine Ziffer auf einem Konto, und vor allem ein Mittel um weiterzuspielen. Nicht Gewinnen oder Verlieren ist wichtig, sondern nur die vibrierende Spannung: wo wird die Kugel landen? Es ist dieser kurze Augenblick des Wartens, Hoffens und Wünschens, der ihn elektrisiert.

Der Moment, in dem die Kugel ihr Tempo verlangsamt, über einem Zahlenabgrund ins Stolpern gerät, sich in letzter Sekunde anders entscheidet, noch einen unerwarteten Hüpfer macht, um dann unwiderruflich in eine Zahl zu stürzen, treibt ihm das Blut durch die Adern. Null. Zero. Am zweiten Tisch die Null! Mit gleichmütiger Miene wartet Jurij ab, bis der Croupier ihm den fünfunddreißigfachen Betrag seines Einsatzes über den Tisch schiebt. Er stopft die Chips achtlos in seine Jacketttaschen, weiß nicht einmal genau, wie viel er heute Nacht schon gewonnen hat. Sind es sechzigtausend, sind es fünfundsechzigtausend Mark? Mit so viel Geld könnte er eine Weile in Berlin leben, sich ein teures Hotelzimmer mieten, gut essen gehen. Aber was soll ihm das alles? Er darf sich sowieso nirgendwo blicken lassen. Das Geld wird in seinen Taschen nicht heimisch werden, es brennt ihm schon jetzt unter den Fingern. Sechzigtausend verdoppelt macht einhundertundzwanzigtausend. Das wär’ doch mal `ne andere Nummer. Er muss weitermachen.

Er ändert jetzt sein System. Wenn er auf Zahl gewonnen hat, muss sein Glück sich erfahrungsgemäß ein Weilchen ausruhen. Er setzt mit Tausendern auf schwarz oder rot, gerade oder ungerade, bis diese innere Unruhe ihn wieder packt und er seine Rot-Weißen erneut auf Zahl setzt. Er macht’s wie ein Marathonläufer. Der spart seine Kräfte bis zum Endspurt auf, Jurij muss mit seiner Intuition und seinen Chips haushalten. Bis drei Uhr nachts ist noch eine lange Strecke Zeit, und der Genuss, auch des Spielens, liegt im Aufschub, im suspence.

Er umrundet wieder die Tische. Je später die Nacht, desto offensichtlicher bleiben die echten Spieler unter sich. Er kennt keinen persönlich, aber er erkennt sie sofort. Diese Unruhe, dieser starre Blick auf die kreisende, hüpfende Kugel, als hinge das Leben davon ab. Wie sie gleich ihm die Tische umrunden, ihre Chips auf Nummern setzen und hyänengleich auf Beute warten. O ja, das kennt er nur zu gut.

Er wechselt zu einem Tisch, an dem gerade eine Nullserie gelaufen ist und, als wollte er sein Schicksal herausfordern, setzt er auf Null. Wider besseres Wissen reizt ihn das Gesetz der Reihe. Er weiß, jeder Wurf bedeutet vom anderen unabhängig eine neue Chance. Aber in seinem Kopf verbinden, vernetzen sich die Chancen. Wenn er nur hartnäckig genug ist, kann er das Glück erzwingen. Er setzt auf Null und auf Rot und verliert. Er setzt fünf Fünfhunderter auf Null und zehn Tausender auf Rot und gewinnt auf Rot. Er gleitet in einen Rausch. Er schließt die Augen, lauscht dem Scheppern der Kugel, setzt kurz vor Nichts-gehtmehr zehn rot-weiße Chips auf Null, zehn auf Rot. Er beobachtet die letzten Zuckungen der Kugel wie ein Gerichtsurteil: 25. Seine Geburtstagszahl! Er setzt jeweils zehn Chips auf 25, 11 und Null. Er weiß nicht mehr, was er in der Tasche hat, legt noch jeweils 5 nach. Seine Hände zittern. Er gewinnt auf 11, bekommt einen Riesenberg rot-weiße Chips zugeschoben. Ach, Karl, schade, dass du heute Abend nicht hier bist. Aber vielleicht auch gut so. Er muss weitermachen. Jetzt kann er nicht mehr aufhören. Jetzt, wo ihm das Glück so lacht, das Glück, nicht dieser Karl. Jetzt, wo er sich anschickt, die Gesetze der Statistik auszuhebeln und, was die Mathematiker Wahrscheinlichkeit nennen, in Chancen zu verwandeln. Chancen nur für ihn.