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"Giovanni- Der Geruch des Meeres und der Duft von Heu" berichtet am Beispiel eines Bauern in Ligurien vom Niedergang einer ländlichen Kultur- und erzählt von einer ungewöhnlichen Liebe: Rosa, die Frau in Giovannis Leben ist siebenundzwanzig Jahre älter als er. Was das in einem kleinen Dorf in den Bergen bedeutet, wo nichts den neugierigen Blicken der lieben Nachbaren verborgen bleibt, erfährt man in diesem Buch. Giovanni selbst hat sich nicht beirren lassen: "Wenn die Leute nicht mehr über mich reden, bin ich tot!"
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2023
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VORWORT
DER FRIEDHOF
MOGLIE-MADRE
MAMMA
POI GIUSEPPIN
FRANCO
LA MATRIGNA - DIE STIEFMUTTER
MADONNA - Bei den Padres
WIEDER DAHEIM
MOGLIE - MADRE - bei Rosa
MUTTER ERDE
NACHWORT
Wir haben uns 1974 eine alte Ölmühle in Ligurien gekauft. In Lecchiore, einem Dorf in den Bergen, das damals noch von Italienern bewohnt wurde. Gleich in den ersten Wochen haben wir Giovanni kennengelernt. Die Kommune hatte einen Weg von der Straße zur Mühle gebaut, damit die Bauern ihre Felder besser erreichen konnten. Und jetzt sollten wir uns an den Kosten beteiligen. Giovanni hatte man als Vermittler vorgeschickt, obwohl er kein Wort Deutsch sprach und wir nur stümperhaft Italienisch. Die Verhandlungen entpuppten sich als zäh. Wir wollten diesen Weg nicht, haben am Ende aber nachgegeben und einen Obulus bezahlt, auch weil wir Giovanni nicht im Regen stehen lassen wollten. Daraus ist eine jahrzehntelange Freundschaft erwachsen. Giovanni hat uns mehrfach in Deutschland besucht, obwohl er zuvor noch nie aus Ligutien herausgekommen war. Nicht einmal nach Frankreich, das keine Stunde entfernt liegt und wo bis weit hinter Nizza der gleiche Dialekt gesprochen wird .
Als Giovanni klar wurde, dass ich Journalistin bin, wollte er mir unbedingt sein Leben auf Band erzählen. Seine Geschichte und die Italiens. In all den Jahren haben wir den Niedergang des Dorfes hautnah beobachten können. Wo zu Rosas Zeiten, Giovannis Frau, noch 2oo Personen wohnten, lebt heute kein einziger Bauer mehr.
In den Ferien sind Giovanni und ich immer in seiner Küche gesessen und haben den Cassettenrecorder bei unseren Gesprächen laufen lassen. Rosa saß in ihrem Küchensessel im Eck und hat kommentarlos zugehört. Erst am Ende hat sie sich getraut, auch über ihre eigene Jugend etwas zu erzählen. Ihre Kindheit auf dem Lande, ein Leben in Armut, ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität.
Aus diesen Bandaufnahmen und meinen Notizen habe ich den Text des Buches zusammengestellt und aus dem Italienischn und aus dem ligurischen Dialekt ins Deutsche übersetzt. Giovannis Erzählungen waren sozusagen das Skelett des Buches, das Fleisch habe ich hinzugefügt. Über Gefühle und Intimes wollte er grundsätzlich nicht reden. Vor allem seine Beziehung zu Rosa hat er immer im Unklaren gelassen. Auf direkte Journalistenfragen, hat er meistens geantwortet: „Dazu sage ich nichts.“ Da ich beide sehr gut kannte, ist es mir, glaube ich, trotzdem gelungen, ihre Lebens- und Liebesgeschichte ziemlich authentisch darzustellen.
Giovanni und Rosa haben uns regelmäßig zum Essen zu sich nach Hause eingeladen und nach südländischer Art üppig aufgetischt. Eine Insalata Russa, selbstgemachte Ravioli, Kaninchenbraten in Weißwein und Olivenöl und als krönenden Abschluss ein Crème Caramel. Wir wurden zur Feier unseres Besuchs ins Esszimmer geführt, wo die Polster der Stühle nach Jahren noch original mit Zellofan verpackt waren, weil die beiden diesen Raum nie benutzt, sondern immer in der Küche gegessen haben. Im Esszimmer stand auch Giovannis Klavier. Und als Beilage zum Kaffe gab es jedes Mal „Wiener Blut“, einen ziemlich schrägen Walzer von Johann Strauß. Das Klavier war seit Jahrzehnten nicht mehr gestimmt.
Giovanni lebt heute nicht mehr, er wäre sicher stolz auf „sein“ Buch oder erzürnt, weil ich zu viel preisgegeben und hineininterpretiert habe.
Der Friedhof von Dolcedo gleicht einer alten Stadt. Er liegt am Rande des Tales, von einer hohen weißen Mauer vor Alltagslärm und eiligen Blicken geschützt. Man muss die Hauptstraße verlassen und einem von hohen Zypressen gesäumten Weg folgen, bis das Eingangstor den Blick auf die Grabhäuser freigibt. Prächtige Marmorkapellen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Hier ruhen die Angehörigen der reichen Familien von Dolcedo. Die Benzas, Lupis, Ascheris, Ranises. Bis zum Anfang des vergangenen Jahrhunderts nur fünf oder sechs Familiennamen. Die Bewohner des Tales heirateten untereinander, weil sie so gut wie nie herauskamen aus ihrer kleinen engen Welt. Mit dem Esel war es schon weit bis Porto Maurizio.
Erst später, mit der Motorisierung, vermischten sich die Menschen und Namen. Einer aus Rom, einer aus Mailand liegen hier auf dem Friedhof von Dolcedo begraben. Die einfachen Leute bewohnen auch im Tode mehrstöckige Häuserblocks: Als letzte Ruhestätte dient ihnen ein eckiger Schacht, in den der Sarg hineingeschoben und mit einer Marmorplatte versiegelt wird. Zwanzig, dreißig in einer Reihe und vier solcher Reihen übereinander. Dabei kostet eine Ruhestatt im Wohnblock mehr als ein Erdgrab, weil dieses sehr viel zeitiger wieder geräumt werden muss. In Beton und Marmor dauert die Ewigkeit allemal länger als in der Erde. Auch Rosa wohnt im Hochhaus. Erste Gasse, erster Block, vierter Stock Mitte. Wenn Giovanni ihre Blumen erneuert, zieht er eine hohe Leiter auf Rädern herbei, um in den vierten Stock hinaufzusteigen. Dort lächelt Rosa ihn an von einem Foto, einem Passfoto, das sie im Alter von fünfundvierzig Jahren zeigt, lächelt in unvergänglicher Weise ein melancholisches „Ciao, come stai, Giovanni?"
„Ancora bene.“
Und er steckt ihr frische Blumen in die Vase, die wie ein Balkon aus der Marmorplatte ragt. In goldenen Lettern prangen ihr Geburts- und Sterbetag auf weißem Marmor. Sie ist siebenundachtzig geworden, die schöne dunkelhaarige traurige Frau mit den Kreolenohrringen. Unter ihrem Foto, auf dem sie für immer fünfundvierzig bleiben wird, brennt die ewige Lampe. Die Stromkosten betragen fünfzig Euro im Jahr. Ziemlich teuer für dieses bisschen Ewigkeit.
Bei Maria aus Lecchiore, der buckligen Krämerin, ist die Lampe erloschen, die Blumen hängen welk aus dem Vasenbalkon. Ihre Angehörigen haben sie offensichtlich vergessen, obwohl sie erst vor wenigen Jahren gestorben ist. Rosas Blumen werden dreimal wöchentlich erneuert. Neben ihrer Marmorplatte gähnt ein leerer Grabschacht, er wartet auf Giovanni, der sich hier eingekauft hat, um sich später, wenn die Zeit für ihn gekommen sein wird, neben seiner geliebten Rosa zur Ruhe zu betten.
Eduardo, Rosas Ehemann, der schon 1944, während des Krieges gestorben ist, haust derweil mit seinem Bruder, er oben, der andere unten, in einem Doppelstocksarkophag. Giovanni gießt jedesmal Wasser in die Vase, wenn er hier vorbeikommt. Eduardos Bild hängt in Giovannis Diele. Rosas beide Männer, Eduardo und Giovanni, haben sich nichts vorzuwerfen. Sie sind sich zu Lebzeiten nie begegnet.
Großvaters Grab hat einer Reiche-Leute-Kapelle weichen müssen. Aber das Erdgrab seiner Mutter ist wundersamerweise noch vorhanden, versteckt und in Vergessenheit geraten in dritter Reihe zum Hauptweg zwischen zwei anderen Erdgräbern. Nur eine schmale Marmorplatte mit der Inschrift „MAMMA" und einem eingravierten Kreuz bezeichnet diese Gedenkstätte. Weder Name noch Geburts- oder Sterbejahr. Nur dieses „MAMMA". Ein wilder Rosenbusch überwuchert das Grab wie eine Dornröschenhecke, nur dass dieses Dornröschen, seit 1931 tot , von keinem Prinzen wieder ins Leben zurückgeküsst werden kann. Gestorben im Kindbett vor fast neunzig Jahren, hat sie damals zwei Kleinkinder und einen Säugling hinterlassen, Giovanni und seine beiden jüngeren Schwestern. Zurückgelassen mit einem Vater, der nichts Besseres zu tun hatte, als sich möglichst bald wieder zu verheiraten und einem Großvater, der auf die achtzig zuging.
Als diese „mamma" unter der Erde lag, nahm das Drama seinen Lauf. Giovannis nächstgeborene Schwester hat als junge Frau die Marmorplatte auf das nackte Grab setzen lassen und den Rosenstock gepflanzt, weil sie den Verlust ihrer „mamma" niemals verwinden konnte. Giovanni hatte inzwischen eine andere „mamma" gefunden, seine „moglie-madre". Seine Mutter-Frau.
Er hatte sein Leben lang Rücksicht auf die Meinung der anderen genommen. Nur nicht negativ auffallen, niemanden verärgern, es allen recht machen. Aber als Rosa die 75 Jahre überschritten hatte, setzte er sich über alle hinweg. Die Nachbarn im Dorf, die Freunde, die Geschwister mit ihren Familien; sollten sie sich ihre Mäuler zerreißen. Er rief den Pfarrer. Don Aldo kam wie so oft zum Abendessen. In der Küche zog er die weiße Soutane über seinen Anzug. Dann wusch er sich die Hände an der Küchenspüle und stellte zwei Kerzen und eine Schale mit Weihwasser auf den Küchentisch, der an diesem Abend zum Altar wurde. Er schlug das Kreuz. Dann breitete er eine bestickte Schärpe über Rosas und Giovannis Hände.
„Giovanni, willst du Rosa zur Frau nehmen?“
„Ja!“
„Rosa, willst du Giovanni zum Mann nehmen?“
„Ja!“
Rosa hatte ein weißes Spitzentuch über die grauen Haare gesteckt, ihr gepunktetes langes Kleid mit einem frischen weißen Kragen geschmückt, die ausgetreteten Hausschuhe durch ein Paar neue, rote ersetzt. Seit einer Lungenentzündung vor zwei Jahren war sie nicht mehr aus dem Haus gegangen. Nicht einmal zur Kirche. Deshalb musste Don Aldo die Trauung hier in ihrer Küche vollziehen. Rosa lächelte ihren Bräutigam an. Sie war zufrieden. Sie wollte den Segen der Kirche. Mit zunehmender Gebrechlichkeit wuchs die Angst in ihr, dereinst, vielleicht schon bald, in Sünde vor ihren Herrgott treten zu müssen. Jetzt waren sie endlich Mann und Frau.
Rosa war auch zufrieden, weil sie ihren jungen Ehemann versorgt wissen wollte. Er sollte nach ihrem Tod ihre Rente bekommen.
Giovanni war kleiner als sie, von gedrungener Gestalt, mit sonnengebräuntem Teint und vollem, schwarzen Haar, das erst zaghaft an den Schläfen ergraute. Mit seinen 48 Jahren sah er jünger, knackiger aus, als es seinem Alter entsprach. Er trug einen dunklen Pullover zu dunklen Hosen und lächelte verschämt. Diese Zeremonie sollte geheim bleiben. Don Aldo hatte Stillschweigen gelobt. Wie Verschwörer setzten sie sich an den Küchentisch, den Rosa im Handumdrehen fürs Abendessen - ihr Hochzeitsmahl - gedeckt hatte. Es gab eingelegte Pilze, selbstgemachte Ravioli, einen Kaninchenbraten in Wein und Knoblauch und als „dolce" eine Crème Caramel. Dazu Giovannis eigenen Rotwein und zum Schluss einen cafe coretto, einen Espresso mit Brandy.
Don Aldo schenkte sich kräftig vom Brandy nach. Er war hier oft zu Gast. Aber heute hatte es ihm besonders gut geschmeckt. Dies war eine gesegnete Mahlzeit.
In dieser Nacht saßen die beiden Brautsleute noch lange am Küchentisch. Rosa wischte sich müde eine Haarsträhne aus der Stirn und drückte den Rücken durch. Er schmerzte. Sie rieb sich ihre pochenden Schläfen.
„Lass mich das machen." Giovanni massierte mit geübten Händen ihre Stirn, ihre Schläfen, ihren Nacken, ihren schmerzenden Rücken, bis er spürte, dass sie sich langsam entspannte. Da glitten seine Finger abwärts. Was für einen strammen Hintern Rosa noch immer hatte und wie schön sie aussah trotz ihrer Müdigkeit oder vielleicht gerade deswegen. Sanft drückte er sie gegen den Tisch und schob ihren langen Rock hoch.
„Was machst du da?" fragte sie erschrocken und umklammerte die Tischkante.
„Das ist gut für deinen Rücken. Außerdem sind wir jetzt verheiratet.“
„Ach so", ihre Stimme wurde weich, und sie ließ sich sachte auf den Tisch sinken, wie in ein Boot, sich rhythmisch wiegen, wiegte ihn und fing ihn zärtlich auf.
Ihre Haare hatten sich im Sturm gelöst und er vergrub sein Gesicht in diesem dunklen, welligen Meer, während sie ihm zaghaft den Nacken streichelte. Er brauchte so unendlich viel Wärme, dieser Junge. Und Rosa, eine herbe Frau, mit der das Leben jahrzehntelang nur ruppig umgesprungen war, konnte bei ihm ihre Härte abstreifen. Sie waren Bergbauern, in den Bergen geboren und aufgewachsen, aber nur wenige Kilometer vom Meer entfernt und mit einer großen Sehnsucht nach der Weite erfüllt. An manchen Tagen, wenn der Wind drehte, konnten sie das Mittelmeer sogar riechen.
Giovanni streichelte Rosas Hand. Er hatte keine Ringe gekauft, aber sie nahm es ihm nicht übel. Ihr stand der Sinn nicht nach Schmuck, sie war zufrieden mit dem, was sie besaßen, das Haus, den Garten, die Äcker. Und sie war zufrieden mit ihrem jungen Ehemann. Nach Eduardos Tod hatten einige Verehrer bei ihr angeklopft. Sie war damals Anfang vierzig, eine schöne, großgewachsene, schlanke Frau, von der im Dorf alle wussten, dass sie gut kochen konnte und sich auch für die Feldarbeit nicht zu schade war. Sie hat allen Interessenten einen Korb ggeben und sich für den Jungen entschieden.
„Er war so lieb und anhänglich. Besser konnte ich’s nirgendwo haben.“
“Gianni, gib mir deine Hand!" Er stand auf der Steintreppe, die in den Keller hinunterführte. Seine Mutter streckte ihm ihre Hand entgegen. Er umklammerte sie fest. Und so folgte er ihr, mit der rechten in der ihren und der linken an der Wand entlang, Stufe für Stufe in den Keller. Dort lagerten die Vorräte, das Eingemachte, das Fass mit Öl und das Fass mit Wein. Seine Mutter füllte Olivenöl in Flaschen ab und der Kleine machte sich am Weinfass zu schaffen. Er mochte damals vielleicht zweieinhalb, höchstens drei Jahre alt gewesen sein.
„Mamma! Mamma!" Giovanni hatte den Zapfhahn des Weinfasses geöffnet und bekam ihn nicht wieder zu. Das Fass war hochkant gestellt und darunter eine Vertiefung im Boden, in die man einen großen Kanister stellen und den Wein darin auffangen konnte. Jetzt plätscherte der Wein direkt auf den Fußboden. Und auf seine weißen Strampelhosen. „Mamma!“
Seine Mutter war sofort da. Daran erinnerte er sich genau, nicht nur im Nachhinein aus den Erzählungen der anderen. Sie drehte den Zapfhahn zu, wischte den Wein auf und holte die Ölflaschen.
„Carmelina, wo bleibst du?"
Das war die dröhnende Stimme von Poi Giuseppin, Giovannis Großvater. Zu Hause sprach man Dialekt. Poi heißt Vater. Poi gefolgt vom Vornamen „Großvater". Poi Giuseppin war also Giovannis Großvater Giuseppe, der Vater seines Vaters.
„Ich komme schon!“ Seine Mutter nahm ihn rasch an die Hand und stieg mit ihm die Kellertreppe ins Erdgeschoss hoch.
Sie sagte kein Wort, aber traurig sah sie aus. Sie war überhaupt eine melancholische Frau, das haben ihm die Leute später erzählt.Von einer Schwermut, wie sie einem früher wohl häufiger begegnete. Und Poi Giuseppin, ein strenger, resoluter Mann, war alles andere als einfach zu nehmen. Wie sollte sie dem Alten nur beibringen, dass sein Wein ausgelaufen war? Wo sie doch in seinem Haus wohnte. Aber Giovanni bekam kein böses Wort von Poi Giuseppin zu hören!
Das ist die erste Erinnerung aus seiner frühen Kindheit und die einzige an seine Mutter, als sie noch lebte. Das zweite Bild, das er von ihr noch vor Augen hat, zeigt sie auf dem Totenbett.
„Komm, Giovanni ". Poi Giuseppin führte ihn ins Schlafzimmer seiner Eltern. Vor drei Tagen war seine kleine Schwester Carmelina geboren worden. Aber „mamma“ lag immer noch im Bett. Ganz in Weiß gekleidet, die schwarzen Haarflechten aufgelöst. Er ist zu ihr gelaufen und hat sein Gesicht an ihren Hals gepresst.
„Mamma, wann stehst du wieder auf?“
Keine Antwort … Sie atmete schwer, sie lag schon in ihren letzten Zügen. Das begiff er sicher nicht. Aber er erinnert sich noch an das Gefühl von Verlassenheit, das er verspürte, als sie ihm nicht mehr geantwortet hat.
Das Foto seiner Mutter steht heute noch im Goldrahmen auf Giovannis Nachttischkommode. Eine pausbackige junge Frau , mit einem Goldmedaillon im Ausschnitt ihrer feinen Spitzenbluse , die unter dunklen Augenbrauen schwermütig und schicksalergeben in die Ferne schaut. Daneben hängt ein billiger Kaufhausdruck der Jungfrau Maria. Mamma und Maria. Für den Jungen verschwimmen sie zu einer einzigen Frau. In der Erinnerung des Jungen verklärt sich die viel zu früh verstorbene Mutter zu einem übermenschlichen, unfehlbaren Wesen, vergleichbar der Madonna, da sie ihrem kleinen Giovanni nie die Gelegenheit geben konnte, ihre menschlichen Fehler und Schwächen kennenzulernen.
Giovanni wurde am 1 .Dezember 1928 in Isolalunga geboren. Und als seine Mutter starb, war er dreieinhalb Jahre alt. Mit sechsunddreißig Jahren hinterließ seine Mutter drei kleine Kinder. Giovanni , den ältesten, seine Schwester Caterina, die später auch in Isolalunga lebte, und seine neugeborene Schwester Carmelina, bei der die Mutter während der Schwangerschaft eine Nierenentzündung bekam. Drei Tage nach Carmelinas Geburt war sie tot, und der Junge blieb allein mit Poi Giuseppin, einem Mann von siebenundsiebzig Jahren. Der Vater wohnte zwar auch im Haus, aber er kümmerte sich kaum um seine Kinder. Er kam und ging, wie es ihm passte. Poi Giuseppin hatte mit Giovannis Vater, seinem Sohn Franco, schon immer seine Probleme gehabt. Es war ihm nicht gelungen, etwas Ordentliches aus ihm zu machen, obwohl er sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte. Denn Poi Giuseppin war ein sehr korrekter, strenger Mann. Auch etwas starrköpfig. Und daneben Giovannis Vater, der sich am liebsten amüsierte. Das passte nicht zusammen.
Was sein Großvater von Beruf gewesen war, wusste Giovanni nicht so genau. Wahrscheinlich Maurer. Sein Haus in Isolalunga hatte er selbst gebaut. Er arbeitete auch auf dem Feld, aber vor allem war er wohl Maurer. Giovannis Vater musste sich später, als der Großvater nicht mehr lebte, sein Geld als Hilfsarbeiter verdienen. Aber zur Zeit des Großvaters ging es der Familie nicht schlecht. Sie waren nicht reich, doch sie lebten in bescheidenem Wohlstand. Sie wohnten im eigenen Haus und besaßen genug Land, um sich davon zu ernähren. Poi Giuseppin war ein angesehener Mann im Dorf.
„Nimm dir ein Beispiel an deinem Vater, dann wird‘s dir besser gehen“, haben die Leute später Giovannis Vater ermahnt. Aber er hat solche Ratschläge in den Wind geschlagen. Großvater besaß einen eigenen Weinberg und eine Mühle, wo er sein Öl pressen konnte. Außerdem gehörte ihm ein „orto“, ein großer Küchengarten, unten am Fluss, wo er alles Mögliche anpflanzte. Kartoffeln, Bohnen, Gemüse, Salat. Alles gedieh dort prächtig, denn Poi Giuseppin hatte ein raffiniertes Bewässungssystem angelegt.
Wer weiß, vielleicht haben die Araber, die Sarazenen, dieses Wissen nach Ligurien gebracht. Er leitete das Wasser weiter oben vom Fluss in ein Sammelbecken.Von dort strömte es durch einen Kanal aufs Feld. An bestimmten Stellen zweigten kleine Gräben ab, die geöffnet wurden, bis sie gefüllt waren. In diesen Furchen floss das Wasser immer bergab, von einer Ebene zur nächsten bis ganz hinunter zum Prino-Fluss.
Der Großvater besaß so viele Olivenbäume, dass er einen Teil des Olivenöls verkaufen konnte. Außerdem bezog er eine Rente von seinem verstorbenen Sohn Giabatta, der im Ersten Weltkrieg auf den Höhen des Ortigara gefallen war, wo die Österreicher gegen die Italiener kämpften. Es ging der Familie finanziell gesehen nicht schlecht. Sie lebten alle zusammen in Großvaters Haus. Es war solide gebaut und stand etwas außerhalb des Dorfes.Von ihren Nachbarn wurden sie um dieses Haus beneidet, denn es war hübsch anzusehen mit seinen Bögen und Gewölben. Unten lagen die Ställe, darüber das Stockwerk des Großvaters und über diesem das des Vaters. Das Haus war nicht übermäßig groß, auf jedem Stockwerk gab es nur drei Zimmer. In der unteren Etage befanden sich die Küche, ein Schlafzimmer für Poi Giuseppin, eines für Giovanni und daneben ein Wohnzimmer. Die beiden, Großvater und Enkel, aßen immer in der Küche und setzten sich anschließend ins Wohnzimmer. Auch das war klein, alle Räume waren klein, weil sie so dicke Mauern hatten.
Poi Giuseppin ging niemals ins obere Stockwerk, denn dort wohnte sein Sohn. Zunächst mit seiner Frau und später allein.
„Wo ist Din?" fragte der kleine Giovanni seinen Großvater.
Im Dialekt heißt Vater „Ogin". Da er das nicht aussprechen konnte, nannte er ihn Din.
„Wo ist Din?"
Poi Giuseppin zog fragend die Schultern hoch.
„Woher soll ich das wissen?"
„Din! Din", brüllte Giovanni die Treppe hoch. Aber Din antwortete nicht, er war unterwegs. Immer wieder versuchte der Kleine, die Treppe ins obere Stockwerk hochzusteigen. Umsonst. Die Stufen türmten sich zu einem schroffen, uneinnehmbaren Gebirge vor ihm auf, so dass er spätestens auf der dritten Stufe weinend sitzen blieb, bis Poi Giuseppin ihn holen kam.
„Komm runter, Gianni. Din ist wirklich nicht da."
„Wann kommt Din?"
„Weiß ich nicht. Vielleicht heut' Abend."
Giovanni bekam seinen Vater nur selten zu Gesicht. Nach dem Tode seiner Mutter so gut wie gar nicht mehr. Es war Großvater, der auf ihn aufpasste, der ihm zu essen gab.
„Was wollen wir heute kochen? Was magst du gern essen?", fragte er ihn oft.
„Minestrone."
„Va bene, machen wir heute Minestrone“, sagte Großvater dann und kochte eine Minestrone.
Giovanni musste keinen Hunger leiden, ihm hat es an nichts gefehlt. Wenn nur diese Einsamkeit nicht gewesen wäre. Ohne die Mutter, ohne den Vater, nur immer mit seinem Großvater. Die Einsamkeit, die ein kleines Kind empfindet, das mit einem Siebenundsiebzigjährigen aufwächst! Ein kleiner Junge und ein uralter Mann, das waren zwei Welten, die nicht zusammen passten. Der Großvater liebte seinen Enkel über alles. Aber Zärtlichkeit konnte er ihm keine geben. Er hatte sein Leben lang hart arbeiten und kämpfen müssen und war darüber selbst hart und unbeugsam geworden wie ein alter knorriger Olivenbaum. Lesen, Schreiben und Rechnen hat er dem Kleinen beigebracht, bevor der überhaupt in die Schule kam. Dabei hat der Großvater selbst nur einnige wenige Jahre eine Schule besucht. Er wollte, dass es seinem Enkel einmal besser gehen sollte.
Giovannis beide Schwestern lebten nicht im Haus. Caterina war gleich nach dem Tod der Mutter zu den Großeltern mütterlicherseits nach Piemont gebracht worden. Genau genommen nicht nach Piemont, sondern in die ligurische Provinz Calizzano-Savona oben in den Bergen, wo das Wasser schon nach Piemont hinüberfließt. Die kleine Carmelina, nach ihrer verstorbenen Mutter benannt, kam, kaum geboren, zu fremden Leuten in Pflege, wo sie mit dem Milchfläschchen großgezogen wurde.
Wenn man von den gelegentlichen Stippvisiten seines Vaters absah, war Giovanni allein mit Poi Giuseppin.
„Poieppin, ich möchte draußen spielen!“
„Nein, du gehst nicht raus!“
„Ich will zu Antonio!”
„ Kommt nicht in Frage, du bleibst hier!“ Poi Giuseppin verriegelte die Tür und zeigte mit dem Finger auf den leeren Stuhl neben ihm.
„Setz dich hierher!“
Er wollte ihn immer um sich haben. Am liebsten hätte er den Jungen überhaupt nicht aus dem Haus gelassen.
Und Giovanni wollte so gern mit den andern Kindern spielen. Er war ein geselliges Kind, -und später ein geselliger Mann - aber stattdessen musste er sich meistens mit sich selbst beschäftigen, während Poi Giuseppin seine Zeitung las. Er saß am Küchentisch hinter seiner Zeitung verschanzt und war für den Kleinen so gut wie unansprechbar.
Tocktorocktocktock, trommelten Großvaters Finger auf die Tischplatte. Tocktorocktocktock, während er seine Zeitung las. Dieses Fingertrommeln hatte Giovanni ein Leben lang im Ohr. Poi hat ihn gut behandelt. Es hat dem Jungen an nichts gefehlt. Aber immer nur mit diesem alten Mann. Soviel Einsamkeit. So viel Langeweile ...
Und diese Sehnsucht nach ein bisschen Wärme, nach jemandem, der ihn mal auf den Arm nimmt, ihm mal über die Haare streicht. Giovanni besaß nicht einmal Spielsachen wie die Kinder von heute.
Einmal hatte ihm jemand eine Schokoladenuhr geschenkt, so groß wie seine Handfläche. Das war ein Fest. Mit der spielte er tagelang, bevor sie Stück um Stück in seinem Bauch verschwand.
Seine Spielsachen machte er sich selbst, zum Beispiel Kreisel aus Garnspulen. Die Spulen verjüngten sich in der Mitte zu einer Art Taille, wo der Faden aufgewickelt wurde. Dort konnte man sie durchsägen. Großvater klebte ein Stück Holz auf die breite Seite, und fertig war der Kreisel, ein winzig kleines Spielzeug, das Giovanni mit einem Faden in Schwung versetzen konnte. Damit spielte er auf der Tischplatte, während Poi Giuseppin seine Zeitung las.
Im Dorf wimmelte es von Katzen, und Giovanni hatte eine Lieblingskatze, einen kleinen Kater, den er ins Herz geschlossen hatte. Bei schönem Wetter durfte der Junge in den Garten. Das Haus lag auf einem Hügel, die Wege waren mit Steinen befestigt, und das Grundstück wurde nach unten von einer Mauer begrenzt. Wenn es regnete, rutschten die Steine ab, so steil war es, und wurden lawinenartig zur Mauer hinuntergespült, wo sie große Löcher schlugen. In solch einem Mauerloch pflegte Giovanni Zufluchtsort zu suchen.Dort versteckte er sich und bastelte Spielzeug aus Drähten und Metallstückchen und aus all den Sachen, die dort herumlagen. Denn in diesem Teil des Gartens stand Großvaters Zementmischmaschine, sein Werkzeug und alles, was er für die Maurerarbeit brauchte. Manchmal saß Giovanni auch nur da und starrte trübsinnig vor sich hin.
Und dann kam ganz sachte, auf leisen Pfoten sein Lieblingskater angeschlichen, anfassen ließ er sich nicht, sprang in die Mischmaschine, rollte sich zusammen und schlief ein. Sobald Giovanni Anstalten machte, ihn zu streicheln, wachte er auf und huschte davon. Aber er tauchte bald wieder auf, um es sich in der Mischmaschine bequem zu machen, weil es hier so schön warm von der Sonne war. Manchmal gelang es dem Jungen, den Kater zu packen. So verbrachten sie ganze Nachmittage gemeinsam an der Mauer, Giovanni und sein Kater.
Zur Erntezeit nahmen der Großvater und der Vater den Jungen mit aufs Feld, das die Familie unten am Fluss bewirtschaftete. Dort hatten sie Bohnen gesteckt, Kartoffeln gesetzt, die Beete bewässert. Giovanni konnten sie dabei nicht brauchen, solange er noch klein war. Auf der Mauer, die das Feld umschloss, standen riesengroße Bottiche, die man heute noch für die Weinernte benutzt, nebeneinander aufgereiht. Und in einen dieser Bottiche steckten Poi Giuseppin und Ogin kurzerhand den kleinen Giovanni, damit er nicht störte, während sie Weintrauben pflückten.
„Din, ich will raus! Poieppin, lass mich raus!" schrie der Kleine aus Leibeskräften und trommelte wütend gegen die Holzwand. Er konnte drüber hinweggucken, aber nicht rausklettern.
„Du bleibst, wo du bist!", brüllte sein Vater.
„Ich will auch Weintrauben pflücken!"
„Kommt nicht in Frage“, rief der Großvater.
Aber nach einer Weile kam er dann doch.
„ Hier hast du eine Traube, und nun sei still!"
Auf dem Heimweg saß Giovanni immer noch im Bottich. Und wenn sie die kleine Brücke erreichten, die den Fluss überquert, riefen Großvater und Vater jedes Mal:
„Beweg dich nicht, bleib ganz still sitzen, wenn wir über die Brücke gehen, sonst fällst du in den Bach!"
Der Leiterwagen knarrte, der Bottich schwankte hin und her, und Giovanni hockte starr vor Angst auf dem Boden. Erst nach der Brücke konnte er wieder aufatmen, und die Angst fiel von ihm ab. So ging das jahrelang. Als er größer wurde, durfte er unten am Fluss spielen, während die Großen bei der Ernte halfen.
Dort am Fluss hat es Giovanni gefallen, dort hat er am liebsten gespielt. Und später hätte er viel darum geben, wenn ihnen das Land noch gehört hätte. Aber nach Großvaters Tod hat es die Schwester seines Vaters geerbt, und sie durften nicht mehr auf ihre Felder.
Auch als Halbwüchsiger hat Giovanni gern am Bach gespielt und Jahre später eine Höhle unter der Brücke entdeckt. Wilde Gerüchte machten seit Urzeiten im Dorf die Runde. In dieser Höhle sollen sich im Mittelalter die Hexen der Umgebung getroffen und im Rausch hemmungslos getanzt und Orgien gefeiert haben. Auch heute noch ist die Höhle ein geheimnisvoller Ort, der inzwischen als Treffpunkt und Liebesnest für Jugendliche dient.