Entdeckt, erdacht, erfunden -  - E-Book

Entdeckt, erdacht, erfunden E-Book

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Beschreibung

Göttingen, »die Stadt, die Wissen schafft«, die Stadt der Nobelpreisträger. Wegweisende Erfindungen gehen auf Göttinger zurück, manche in Göttingen entwickelte Idee ist wiederum längst vergessen. Einige brachten Fortschritt und Innovation, andere Skandale und Unglück, wieder andere sollten dem Erfinder zu großem Ruhm verhelfen, scheiterten aber schon in ihrer Entstehung. Jenseits der bekannten Namen wie Gauß und Weber wirft dieses Buch die Frage auf, wie Wissen in Göttingen in unterschiedlichen Bereichen und Jahrhunderten entwickelt wurde, zu welchem Preis mancher seine Forschung vorantrieb und welche Geschichte hinter den Ideen steht. Vom ersten Göttinger Nobelpreisträger Otto Wallach, der 1910 mit seinen Forschungen den Grundstein für die Herstellung von Duft- und Aromastoffen legte, über den Nukleus der Rassenideologie bis hin zum Kokain spannt der Sammelband einen Bogen über die kuriosesten, bahnbrechendsten und verwerflichsten Ideen auf, die ihren Ursprung in Göttingen nahmen.

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Entdeckt, erdacht,erfunden

20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum

Herausgegeben vonTeresa Nentwig und Katharina Trittel

Mit 36 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13,D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Der Schlörwagen mit russischem Flugzeugpropeller aufdem Gelände der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen (AVA), 1942.Quelle: Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)

Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.deEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99935-7

Inhalt

Made in Göttingen. Erfindungen aus vier Jahrhunderten

Zur Einleitung

von Teresa Nentwig und Katharina Trittel

»Nichts verschwenden, wiederverwenden«

Die Erfindung des Recyclingpapiers

von Julia Zilles

»Daß in den Kirchen gepredigt wird, macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig.«

Lichtenbergs Versuch, die Gewitterfurcht zu überwinden

von Martin Grund

Christoph Meiners

Ein Göttinger Philosoph erfindet den Rassismus

von Peter Aufgebauer

Von Or bis Om

Die Erfindung einer krausen Sprache

von Katharina Trittel

Der Staat als juristische Person

Eine verfassungsrechtliche Innovation im Göttinger Symboljahr 1837

von Florian Finkbeiner und Julian Schenke

Große Entdeckungen und ihre Opfer

Auf der Suche nach dem nährenden Prinzip der Koka-Blätter

von Stine Marg und Michael Thiele

Der Jurist als Gesetzgeber

Gottlieb Planck und das Bürgerliche Gesetzbuch

von Danny Michelsen

Vitamin D für die Massen

Adolf Windaus versorgt die Welt mit dem Sonnenvitamin

von Pauline Höhlich

Fritz Lenz

Wie ein Vordenker der NS-Rassenlehre nach Göttingen kam und zum Neubegründer der deutschen Humangenetik wurde

von Niklas Schröder

Unter die Räder gekommen

Der Schlörwagen

von Philip Dudek

»Dafür stehen Sie sogar nachts auf!«

Die Geschichte der Bihunsuppe

von Teresa Nentwig und Michael Thiele

Die Göttinger Linie

Deeskalationsstrategie der Göttinger Polizei um 1968

von Birgit Redlich

Das Leiden an der Leitkultur

Über die Verselbstständigung einer Begriffsschöpfung und die Abwehr einer Auseinandersetzung

von Stine Marg und Julian Schenke

Das XLAB

Experiment(e) mit offenem Ausgang

von Lino Klevesath und Anne-Kathrin Meinhardt

Das »Göttinger Gebräu«

Oder: gut gegoogelt ist halb publiziert

von Annemieke Munderloh

Die Wiederentdeckung von NS-Raubbüchern in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen

Die Geschichte des Sozialdemokraten Heinrich Troeger

von Maximilian Blaeser und Otto-Eberhard Zander

Not macht erfinderisch

Ein Skandal um gefälschte Publikationslisten im Zeichen des Quantitätsparadigmas

von Luisa Rolfes

Affen oder Alpha?

Warum ein Patent um ein Synuclein für Aufmerksamkeit sorgt

von Katharina Heise

Eine spannende Angelegenheit

Die Tunnelsimulationsanlage des Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrums in Göttingen als technologisches Mash-Up

von Christopher Schmitz

Echtzeit-Filme vom schlagenden Herzen

Die revolutionäre Weiterentwicklung der Magnetresonanztomografie (MRT)

von Teresa Nentwig

Abkürzungen

Bildnachweis

Made in Göttingen.Erfindungen aus vier Jahrhunderten

Zur Einleitung

von Teresa Nentwig und Katharina Trittel

Den Begriffen »Erfindung« oder »Entdeckung« hängt etwas leicht Verruchtes an, ein Hauch von Abenteuer, ein Funken Genie. Wir denken möglicherweise an Columbus, wie er mit seiner Santa Maria Amerika entdeckte (obwohl er bei seinem Auf bruch eigentlich ganz anderes – den Seeweg nach Indien – im Sinn hatte), oder wir denken an einen verrückten Professor, der sich die Haare raufend über ein Reagenzglas mit brodelnder grüner Flüssigkeit beugt, um die Weltformel zu entdecken. Und auch amüsante Assoziationen tauchen in diesem Kontext auf: So bietet etwa der Katalog der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek als Suchtreffer zum Schlagwort »Erfindung« das Schrifterzeugnis »Galantes Magazin oder Sammlung der neuesten ergötzlichsten Begebenheiten, ausnehmender Liebesgeschichte, sinnreichen Erfindungen, spashaf ter Unternehmungen, listiger Griffe und Ränke, merkwürdiger Beyspiele der Einfalt, der Thorheit und des Aberglaubens: nebst allerhand geheimen Historien: Alles mit ernst- und scherzhaf ten Anmerkungen begleitet« aus dem Jahr 1755 an. Ebenso wurde im Jahr 1984 ein Patent auf eine Windel »mit Pipialarm« angemeldet.1

Indes: Wer an Göttingen denkt, denkt bei Erfindungen vielleicht eher an Zahlen, Formeln, Patente, Schrif ten – wissenschaftliche Entdeckungen und Ideen, zunächst in ihrer langweiligsten Form auf Papier gebannt. Vom Stadtmarketing unter der Formel »Göttingen – Stadt, die Wissen schafft«2 zu einem Standortfaktor veredelt, von der Universität im (derzeit erfolglosen) Streben nach Exzellenz in die Sachlogik und Domestizierung von Clustern gebannt.

»Göttingen – Stadt, die Wissen schafft«. Bereits seit mehreren Jahren wirbt die Stadt Göttingen mit diesem Slogan. Er spielt vor allem auf die Stadt als Standort von Wissenschaftseinrichtungen an, von der 1737 gegründeten Georg-August-Universität über die Max-Planck-Institute bis hin zum Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, um nur drei Beispiele zu nennen.

Dort, aber auch außerhalb von Forschung und Wissenschaft, sind wegweisende Erfindungen und Ideen entstanden, wurden bahnbrechende Entdeckungen gemacht. Beispielsweise geht das Recyclingpapier auf einen Göttinger zurück: Der an der Georgia Augusta lehrende Juraprofessor Justus Claproth führte Ende des 18. Jahrhunderts in einer Papiermühle in Klein Lengden bei Göttingen erste Versuche durch, wie aus bedrucktem Papier neues Schreibpapier gewonnen werden könne.3

Jedoch: Manche in Göttingen entstandene oder von in Göttingen Wirkenden ersonnene Idee ist längst vergessen4 – wie etwa die Erfindung einer neuen Sprache durch den Philosophen Karl Christian Friedrich Krause5 – oder nur noch in Kennerkreisen präsent, so etwa der 1939 von Karl Schlör an der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen entwickelte »Schlörwagen«.6 Das wegen seiner Form auch »Göttinger Ei« genannte Fahrzeug ist auf dem Umschlag des vorliegenden Buches abgebildet.

Denken wir an Erfindungen, denken wir oftmals sogleich an Innovation, Fortschritt, an einen schöpferischen Akt. Der Ausgangspunkt kann eine kluge Frage, eine Notwendigkeit oder ein verrückter Traum sein – oder: Zufall. So ist die Entdeckung von etwas, wie etwa von einem bestimmten Pilz, meist Zufall, die daraus resultierende Erfindung, wie etwa Penicillin, dann jedoch ein zielgerichteter Akt. Mithilfe bekannter Mittel kann ein neues Ziel erreicht werden, oder es können für ein bekanntes Ziel neue Methoden zu dessen Erreichung entdeckt werden. Wie sich bereits angedeutet hat, muss eine Erfindung allerdings nichts Gegenständliches sein, vielmehr sollen in diesem Buch auch Begriffe, Theorien und soziale Errungenschaf ten darunter fallen, z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch, als dessen »Vater« der Göttinger Ehrenbürger Gottlieb Planck (1824–1910) gilt,7 oder der von Bassam Tibi geprägte Begriff »Leitkultur«.8

In der kleinen Universitätsstadt Göttingen wurden im Laufe der Jahrhunderte etliche Ideen geboren, Entdeckungen gemacht, Erfindungen reif ten und nahmen schließlich Gestalt an. Natürlich waren diese oft an die Universität gebunden, entstanden im Rahmen einer institutionalisierten Wissenschaft. Bereits diese Beobachtung offenbart ein Quellenproblem: Wir wissen schlichtweg mehr und besser Bescheid über Erfindungen aus diesem institutionalisierten Kontext als über diejenigen, die vielleicht aus der Not heraus geboren, jenseits der Wissenschaft in der Alltagspraxis »normaler« Göttinger Bürger entstanden sind.

Der Satz »Der Sieger schreibt die Geschichte« oder »The winner takes it all« mag platitüdenhaft erscheinen, ist jedoch für unser Buch insofern von Relevanz, als dass es naturgemäß schwerer fiel, solche Erfindungen zu recherchieren, die nicht im institutionalisierten Rahmen entstanden, bzw. solche, die sich möglicherweise eben nicht durchsetzten, deswegen der Vergessenheit anheimfielen oder schlechterdings kaum oder gar nicht überliefert sind.

Erfindungen sind allerdings auch insofern als weiter gefasster Begriff zu verstehen und beziehen sich nicht nur auf Entdeckungen, die eine Erfolgsgeschichte haben, sondern auch auf gescheiterte Ideen, die sich nicht durchsetzen konnten, (aus heutiger Perspektive) vielleicht auch skurril anmuten mögen oder sogar der Ursprung großen Leids gewesen sind.

Dieses Buch präsentiert zwanzig Geschichten um Erfindungen, die ihren Ursprung in Göttingen hatten. Die Orte und Personen, die mit ihnen verbunden sind, ebenso wie die z. T. unglaublichen Geschichten, die sie erzählen, und die Wirkung, die sie über die kleine Universitätsstadt hinaus, teilweise in die ganze Welt und bis heute entfalteten. So wird beispielsweise die am hiesigen Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie entwickelte FLASH-Magnetresonanztomografie weltweit bei rund 100 Millionen medizinischen Untersuchungen im Jahr eingesetzt,9 während das in Göttingen entdeckte Kokain mittlerweile international ein beliebtes Aufputschmittel der Reichen und Schönen10 und der Blitzableiter wiederum aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist.11

Es ist kaum überraschend, dass Göttinger Forscherinnen und Forscher für ihre Entdeckungen und Erfindungen vielfach ausgezeichnet wurden – auch und gerade mit dem Nobelpreis. Göttingen gilt gar als Stadt der Nobelpreisträger, werden doch inzwischen insgesamt 45 Empfänger der Auszeichnung mit ihr in Verbindung gebracht. Ein Beispiel ist der Chemiker Otto Wallach, der im Jahr 1910 als erster Göttinger Wissenschaftler einen Nobelpreis bekam. Mit seinen Forschungen hat er den Grundstein für die Herstellung von Duft- und Aromastoffen gelegt.12 2002, zwölf Jahre bevor Stefan W. Hell für seine Arbeiten auf dem Feld der ultrahochauf lösenden Fluoreszenzmikroskopie den Nobelpreis für Chemie erhielt, hatten die Universität Göttingen und die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen dieses »Göttinger Nobelpreiswunder«13 in der Paulinerkirche mit einer Ausstellung gefeiert.

Doch auch mit Irrtümern und Skandalen können Erfindungen und Ideen in Verbindung stehen. Zum Beispiel sorgte 2000/2001 der »Fälschungs-Skandal um Ärzte der Uniklinik Göttingen«14 für Aufsehen. Das, was zunächst als »Impfung gegen Krebs«15, als »Sensations-Impfung«16, als »Riesenerfolg für deutsche Krebsforscher«17 und »bahnbrechende Forschungsarbeit«18 gefeiert worden war, weckte bald große Zweifel und sorgte für Ernüchterung: Aufgrund diverser Unregelmäßigkeiten wurde der Impfstoff nicht weiterentwickelt; die Hoffnung auf bahnbrechende Fortschritte in der Krebshoffnung war dahin.19 Als nun im Frühjahr 2019 der Heidelberger »PR-Skandal«20 um einen Krebs-Bluttest ans Licht kam, fühlte man sich an die damaligen Göttinger Ereignisse erinnert. Nachdem zunächst die Bild-Zeitung von einer »Welt-Sensation aus Deutschland«21 gesprochen hatte, berichteten auch andere Medien – und zwar weltweit – über den Bluttest, der Brustkrebs im Frühstadium erkennen soll. Weit früher als im fast zwanzig Jahre zurückliegenden Göttinger Fall übten Wissenschaft und Fachgesellschaf ten harsche Kritik. »Da die Daten derzeit noch nicht in Form einer wissenschaftlichen Publikation vorliegen, halten wir Schlussfolgerungen über die Validität und den klinischen Nutzen für verfrüht und raten ausdrücklich davon ab, diagnostische oder therapeutische Entscheidungen basierend auf Blutuntersuchungen zu treffen, die nicht von nationalen oder internationalen Leitlinien empfohlen werden. Klinische Konsequenzen aus diesem Test sind bis dato nicht in Studien überprüft oder evaluiert worden«, hieß es beispielsweise in der Gemeinsamen Stellungnahme zur Berichterstattung über neuen Bluttest zur Früherkennung bei Brustkrebs, die sieben ärztliche Fachverbände, darunter die Deutsche Krebsgesellschaft, abgegeben haben.22 Möglicherweise standen wirtschaftliche Interessen hinter der PR-Kampagne für den Bluttest; eine Untersuchungskommission soll dem Heidelberger Universitätsklinikum nun bei der Auf klärung helfen.23

Doch zurück nach Göttingen: Dass Erfindungen nicht nur mit Erfolgen, sondern auch mit Dramen zu tun haben können, zeigt die Geschichte der essbaren Pommesschale, die in Göttingen begann und hier auch ein tragisches Ende nahm. Die Produktions- und Lagerhalle im Groner Industriegebiet brannte im Frühjahr 1993 komplett nieder24 und wurde nicht wiederaufgebaut. Einen Tag nach dem Großbrand, der kurz zuvor in Betrieb genommene Backstraßen zerstörte,25 hieß es im Göttinger Tageblatt: »Die Waffelfabrik Wiebrecht hatte bundesweite Beachtung gefunden, als sie im vergangenen Jahr die erste eßbare Schale für Pommes Frites hergestellt hatte – aus Waffeln. Bis zu 60 Mitarbeiter sind in dem 1986 gegründeten und florierenden Unternehmen beschäftigt. […] ›Wir sind am Ende‹, kommentierte der Unternehmer [Peter Wiebrecht, Anm. d. V.], der in Kürze in Heiligenstadt eine weitere Produktionsstätte errichten wollte.«26 Innerhalb kürzester Zeit war alles aus und vorbei.

Jenseits der – manchmal anekdotisch anmutenden Geschichten – sagen all diese Erfindungen gleichzeitig auch etwas über die Stadt, in der sie gemacht wurden, aus, über die Bedingungen von Wissensgenese, vor allem – wie erwähnt – im universitären Rahmen durch die Jahrhunderte. Sie sind die Grundlage neuer Wissensbestände, die z. T. kanonisiert wurden, mithin von Fortschritt, der oftmals eo ipso als positiv, wünschenswert und zukunftsträchtig angesehen wird.

Hinzu kommt: die »Dignität des ›Fakts‹«27 – wie Franz Walter treffend die unhinterfragte Postulation einer als wahr behaupteten »Tatsache« durch einen Experten oder einen mit Macht ausgestatteten Sprecher bezeichnete, dem dann unkritisch Glauben geschenkt werden sollte, die »Faktenhörigkeit«, das Lechzen nach einer unverrückbaren »Expertenmeinung«. Diese Haltung hat heute einen enormen Stellenwert in der gesellschaftlichen Debatte (zurück)erlangt. Dies trifft umso mehr auf die Kreise der Wissenschaft zu, in denen oftmals gilt: »Fakten sind objektiv, Ergebnis empirischer Forschungen; sie bedeuten verbindliche Erkenntnis. So klang es weithin ebenfalls auf dem ›intellektuell selbstgenügsamen‹ March of Science im Frühjahr 2017, auf dem das ›simple Credo, dass Fakten für sich sprechen‹, dominierte, wie es auf der regelmäßig erstaunlich kritischen Seite ›Forschung und Lehre‹ in der FAZ hieß.«28

Der Begriff Wissen ist insofern – ähnlich wie der Begriff »Wirklichkeit« – ein »außerordentlich legitimitätsheischender Begriff«, wer sich darauf beruft, »reklamiert für sich die unleugbaren Fakten, die unstrittige Empirie, ja: Wahrheit.«29 Doch hat bereits Franz Walter darauf hingewiesen, dass natürlich die »Wirklichkeit« ebenso wie die »Wahrheit« – wir ergänzen hier: gleichfalls »Wissen« – höchst ambivalent ist. Wissen ist niemals eindeutig, sondern wird konstruiert, gedeutet, interpretiert und gerinnt oftmals zu Herrschaftswissen, welches hilft, normative Positionen zu begründen oder infrage zu stellen, mitunter auch Erfindungen abzusichern, die großes Leid bedeuten, gerade im Fall der deutschen Geschichte während der nationalsozialistischen Diktatur, als Leitwissenschaf ten grundlegend für den Zivilisationsbruch wurden.30

Deswegen mag das heute wieder so unumstößlich proklamierte »Primat der Fakten« – gerade im wissenschaftlichen Bereich – irritieren, schwingt in ihm doch ein »nahezu sakrale[r] Glaube an den uneingeschränkt zu akzeptierenden Anspruch auf Objektivität im professionellen Wissenschaftsbetrieb« mit.31 Aus diesem Grund soll in den vorliegenden Beispielen immer auch die Ambivalenz von Wissen und Wissensgenese in den Blick genommen, die Grenzen von Wissenschaftlichkeit thematisiert werden. Denn: Hier soll nicht nur vom Erfolg erzählt werden, sondern auch von gescheiterten Ideen und Erfindungen sowie von den Kehrseiten und Konsequenzen erfolgreicher Entdeckungen. Was einst als segensreiche Erfindung gefeiert wurde, kann mitunter zum Fluch für die gesamte Menschheit werden. Um Fortschritt zu erzielen, heiligt zudem der Zweck oftmals die Mittel. Das unbedingte Streben nach Erkenntnisgewinn mag zwar sowohl der Wissenschaft als auch der Moderne inhärent sein, zeitigt jedoch Folgen, die es zu benennen gilt.

Insbesondere die Bereiche Wissenschaft und Politik sind eng miteinander verzahnt. Wissen und Wissensgenese sind stets Teil einer bestimmten Ressourcenkonstellation zwischen Wissenschaft, politischem System, wirtschaftlichen Faktoren etc. Die Mobilisierung beruht innerhalb dieses dynamischen Geflechts auf Gegenseitigkeit, d. h., Ressourcen aus den Wissenschaf ten sind ebenso gut für politische Zwecke mobilisierbar wie umgekehrt. Die Konstellationen werden immer wieder neu ausgehandelt. Grundlegend dafür ist die triviale Einsicht, dass Wissenschaft sich nicht von der politischen Umwelt abkoppeln lässt: Die Wissenschaft und die Genese von Wissen werden bedingt durch ihre Produktionsverhältnisse und deren jeweilige Epochenspezifik; Wissenschaft ist also kein hermetisch abgeschiedenes Subsystem.32 Vielmehr verweben sich Wissenschaft und Politik: Wir beobachten eine Verwissenschaftlichung der Politik und eine damit zusammenhängende Politisierung der Wissenschaft – Prozesse, die indes nicht deckungsgleich sind, wie das Beispiel der Atombombe zeigt.

Die mit ihr verbundenen Wissenschaftler33 haben z. T. selbst über die Verantwortung, die das von ihnen generierte Wissen mit sich brachte, reflektiert.34 So nahm Carl Friedrich von Weizsäcker etwa mit Werner Heisenberg während des Zweiten Weltkrieges an einem Projekt zur Erforschung der Kernspaltung teil. Von Weizsäcker war sich dessen bewusst, dass er als Naturwissenschaftler eine politische Verantwortung trage; Wissenschaftler müssten in die Politik eingreifen, die dort getroffenen Entscheidungen kritisch überprüfen und gegebenenfalls Widerstand leisten – so seine zumindest später geäußerte Überzeugung.35 1957 – mitten im Kalten Krieg – rief der Physiker dazu auf, der Naturwissenschaftler brauche »bürgerlichen Mut«36, auch auf eine solche Waffe, die auf der Grundlage seiner Forschung möglich geworden sei, verzichten zu können.

Von Weizsäcker erkannte die Ambivalenz seiner Wissenschaft, deren Sinnbild die Atombombe ist. Er sah – ganz von seiner Profession überzeugt – in der Naturwissenschaft die zentrale Wissenschaft seiner Zeit, in der man »größte Sorgfalt« auf das Experimentieren legen müsse, sonst wäre Wissenschaft »nur Geflunker«.37 Das Hauptproblem des Naturwissenschaftlers, der verantwortlich handeln wolle, sei jedoch seine Verflechtung in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge, die Tatsache, dass er eben nicht abgeschieden Wissenschaft um ihrer selbst willen betreiben könne. »Er will wohl Leben fördern und nicht gefährden, aber erlaubt es ihm die Struktur der Welt, in der er lebt?«38

Allein: Auch noch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Physiker um Otto Hahn und Werner Heisenberg en gros als unpolitische Wissenschaftler, die eine »reine Wissenschaft« – in ihren Augen also Grundlagenforschung – zunächst von deren Anwendungsbezug trennten, geriert; ein Selbstbild, das sie insbesondere retrospektiv für die Zeit des Nationalsozialismus entwarfen.39

Griffen sie doch, wie in der berühmten »Göttinger Erklärung«40 von 1957, in das politische Geschehen ein und artikulierten einen Standpunkt, wurde ihr Handeln sogleich als »couragierter Akt des Gewissens und der Moral gelobt«41. »Und das ist ja auch ein durchaus sympathischer Gedanke: Dass sich eine Gruppe Gelehrter aus der Abgeschiedenheit des akademischen Elfenbeinturms erhebt und die Bevölkerung vor den Folgen einer problematischen Politik warnt, ja sogar irreführende Aussagen richtigstellt. Und in der Tat ist das ein großes Verdienst der Göttinger Achtzehn und ihrer ›Erklärung‹.«42 Diese Lesart darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass die Physiker ebenfalls »aller Welt klarmachen [wollten], mit militärischer Forschung partout nichts zu tun zu haben, und die Menschen für ihr ziviles Forschungsanliegen begeistern«43 wollten. »Damit suggerierten die Göttinger Achtzehn die Möglichkeit, klar zwischen militärischer, ›schlechter‹ und friedlicher / ziviler, also ›guter‹, Kernkraft trennen zu können.«44

Löst man sich von der Perspektive der Beteiligten, zeigt sich jedoch: Die vermeintliche Autonomie der Wissenschaf ten war stets eine relative; gerade in politischen Umbruchszeiten verflüssigen sich die Teilsysteme, ihre Zweckgebundenheit tritt zutage durch eine grundlegende Umgestaltung von Ressourcen-konstellationen auf personeller, institutioneller, materieller und ideologischer Ebene. Viele der am Bau der Atombombe beteiligten Wissenschaftler waren sich über die Konsequenzen im Klaren, lehnten eine Verantwortung für die Folgen aber ab, sahen – wenn überhaupt – die Gesellschaft oder Politik in einer regulierenden Verantwortung. So erklärte Robert Oppenheimer schon am 31. Mai 1945: »Zwar ist es wahr, dass wir zu den wenigen Bürgern zählen, die Gelegenheit hatten, den Einsatz der Bombe sorgfältig zu erwägen. Indes erheben wir keinen Anspruch auf besondere Zuständigkeit für die Lösung politischer, gesellschaftlicher und militärischer Probleme, die sich im Gefolge der Atomenergie einstellen.«45

Der »Vater der Wasserstoffbombe«, der übrigens auch zeitweise in Göttingen wirkende Edward Teller, beharrte zeitlebens auf der Trennung von Wissenschaft und Politik »und widerlegt sie durch seine Arbeit als Atomphysiker. Machte der Begriff des politischen Naturwissenschaftlers Sinn, Teller wäre sein Prototyp.«46 Teller selbst sagte, »die Pflicht des Wissenschaftlers sei es, […] Wissen zu produzieren und dessen technische Umsetzung zu ermöglichen – ›ohne Beschränkung und unter allen Umständen‹. Die konkrete Anwendung und damit die Verantwortung bleibe Sache politischer Entscheidung. Einstein hat am Ende seines Lebens bereut, Roosevelt zum Bau der Bombe bewegt zu haben. Teller: ›Ich würde das Bereuen bereuen.‹«47

Anders als Oppenheimer, der nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima ebenfalls die Rede von der »›Sünde‹ der Physiker«48 geprägt hatte, waren Erkenntnisse für Teller nicht moralischer Natur; verantwortungslos handelten »Wissenschaftler für ihn nur dann, wenn sie ihren ureigensten Auf trag, die Wissensproduktion, torpedieren. Wollte man die erkenntnistheoretische Entsprechung zur Wasserstoffbombe formulieren, man käme wohl auf Tellers Credo: ›Ich erkenne für die Wissenschaft keine Grenze an.‹«49

Anhand der zwanzig ausgewählten Erfindungen wollen wir exemplarisch am Beispiel von Göttingen auch zeigen, inwiefern die Innovationen respektive Erfinder vom politischen System, der institutionellen Umgebung, der Stadtgesellschaft als »Stadt, die Wissen schafft« gefördert oder gebremst wurden; inwiefern bestimmte Veränderungen und Zäsuren als Katalysator für Erfindungen wirken und welche Rolle städtische Promoter spielen können, die eine förderliche Umgebung für die Erfinder bereitstellen, kurzum: ob es bestimmte gesellschaftliche, institutionelle und städtisch-räumliche Determinanten gibt, die Erfindungen, Erfinder, Innovationen in Göttingen begünstigen.

Auch jenseits der bekannten Namen wie Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Weber als Erfinder des Telegrafen50 wirft das vorliegende Buch also die Fragen auf, wie Wissen in Göttingen in unterschiedlichen Bereichen und Jahrhunderten entwickelt wurde und zu welchem Preis mancher seine Forschung vorantrieb. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Geschichte hinter den Entdeckungen und Ideen.

Leicht hätten statt zwanzig vierzig Geschichten erzählt werden können. Denn eine Beschäftigung mit Wissenschaft und Forschung in Göttingen fördert noch viele, mehr oder weniger bekannte Entdeckungen, Erfindungen und Ideen zutage, so etwa die Henle-Schleife: Der Anatom und Physiologe Jacob Henle (1809–1885), der 33 Jahre in Göttingen forschte und lehrte, kam hier dem haarnadelförmigen Verlauf der Nierenkanälchens auf die Spur.51 Seine Entdeckung, nach ihm benannt als Henle-Schleife oder Henle’sche Schleife, findet bis heute in den einschlägigen Physiologie-Handbüchern Erwähnung;52 die Universitätsmedizin Göttingen verleiht seit 1988 einmal im Jahr für »herausragende, medizinisch relevante wissenschaftliche Leistungen«53 die Jacob-Henle-Medaille.

Setzt man sich mit Erfindungen aus Göttingen auseinander, stößt man auch auf die Rechenmaschinen G(öttingen)1, G1a, G2 und G3, entwickelt ab 1948 am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik in der Bunsenstraße von Heinz Billing. Sie stehen heute für die »erste Entwicklung von Elektronenrechnern auf dem europäischen Festland«54. Und schließlich: Auch der »Start ins Jetzeitalter«55 begann im Süden Niedersachsens – der Physiker Hans Joachim Pabst von Ohain erfand hier in den 1930er Jahren das Düsentriebwerk, Ludwig Prandtl entwickelte hier, in der »Wiege der Luftfahrtforschung«56, seinen Windkanal weiter, der nicht nur grundlegend für Versuche mit Flugzeugen, sondern später auch für die Forschung zur Aerodynamik bei Skispringern oder bezüglich des Flugverhaltens von Vögeln wurde. Heute kann er als Modell auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in der Bunsenstraße von Schülern besichtigt werden.

Beinahe jedem, dem man von dem Thema »Entdeckungen, Erfindungen und Ideen aus Göttingen« erzählt, fallen zudem noch Gegenstände oder Ideen ein, deren Geschichten in dem vorliegenden Buch genauso gut hätten behandelt werden können. Da wäre etwa die Wiechert’sche Erdbebenwarte, gelegen an der Herzberger Landstraße zwischen Rohns und Bismarckstein. Sie ist die weltweit erste Erdbebenstation, die mit Seismografen ausgestattet wurde.57 Da wäre außerdem die weltweit erste mit einem Mikroprozessor gesteuerte Beinprothese, das C-Leg. 1997 von dem Duderstädter Unternehmen Otto Bock auf den Markt gebracht, bildet es einen »Meilenstein in der Prothetik«58. Als der mittlerweile weltgrößte Prothesenhersteller im Februar 2019 sein 100-jähriges Jubiläum feierte, reisten auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil ins Eichsfeld, um zu gratulieren.

Weniger öffentliche Aufmerksamkeit erfährt das in Göttingen entwickelte Dendrometer – ein Gerät, mit dem sich Umfang und Höhe von Bäumen messen lassen und das wegen seiner Form als »Göttinger Flaschenöffner«59 bekannt ist. Seine Ausbreitung ist dennoch enorm: Vom Institut für Forsteinrichtung und Ertragskunde der Universität Göttingen aus, wo Horst Kramer (1924–2015) das Dendrometer entwickelt hatte,60 trat es seinen Weg in die weite Welt an – die Gebrauchsanweisung gibt es heute nicht nur auf Deutsch, sondern auch in 17 weiteren Sprachen, darunter Albanisch, Dänisch und Koreanisch.61

Auch die sogenannte Riemann’sche Vermutung ist noch immer aktuell: 1859 vom Göttinger Mathematiker und »Virtuosen der Primzahlen«62 Bernhard Riemann formuliert, stellt sie bis heute »die berühmteste ungelöste Fragestellung der Mathematik«63 dar. Immer wieder zerbrechen sich sogar Träger der höchsten mathematischen Auszeichnung, der Fields-Medaille, darüber den Kopf – bisher erfolglos.64

Es gab jedoch auch deutlich profanere Erfindungen, die – wie bereits erwähnt – aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht ins Buch aufgenommen wurden. So z. B. eine auf einer Zeichnung vermutlich des 19. Jahrhunderts abgebildete Vorrichtung, die dem Henker die Arbeit an der Guillotine erleichtern sollte, indem der Delinquent auf einer Art Brett fixiert werden sollte.

Bereits diese wenigen Beispiele zeigen, dass Entdeckungen, Erfindungen und Ideen häufig aus Männerhand stammen. Ursächlich könnte hierfür hauptsächlich sein, dass es Frauen in Deutschland bis ca. 1900 in der Regel rechtlich verwehrt und bis in die 1950er Jahre hinein praktisch erschwert wurde, ein Studium aufzunehmen.65 Eine entscheidende Rolle dürf te darüber hinaus spielen, dass Frauen in Studienfächern aus dem sogenannten MINT-Bereich – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – lange Zeit unterrepräsentiert waren (und es weiterhin sind). Gerade auf diesen Feldern entstanden und entstehen aber wichtige Erfindungen, vor allem solche, die öffentliche Aufmerksamkeit versprechen und prestigeträchtig sind, wie im Februar 2019 auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung deutlich gemacht hat: »MINT-Bildung ist zentral für die Gesellschaft. Bahnbrechende naturwissenschaftliche Erkenntnisse wie die Entdeckung der Elektrizität, technische Errungenschaf ten wie die Erfindung des Automobils, des Computers oder des Internets verändern sie. Dank des medizinischen Fortschritts ist die Lebenserwartung stark gestiegen; Seuchen konnten weltweit eingedämmt werden. Der technische Fortschritt prägt die Art, wie wir uns fortbewegen und wie wir kommunizieren, und naturwissenschaftliche Erkenntnis trägt dazu bei, dass der Hunger in vielen Teilen der Welt zurückgedrängt wurde. MINT-Bildung trägt zum Verständnis der Welt und zur Offenheit für neue Technologien bei.«66

Für Göttingen gibt es mehrere Beispiele für Frauen, die herausragendes Wissen geschaffen haben. Zu nennen sind etwa Emmy Noether (1882–1935), die als Wegbereiterin der modernen Algebra gilt,67 und Lou Andreas-Salomé (1861–1937), die heute als »Pionierin der Psychoanalyse«68 bezeichnet wird: Sie ließ sich in Wien von Sigmund Freud zu einer der ersten Psychoanalytikerinnen der Welt ausbilden, war als erste Psychoanalytikerin Göttingens tätig und feierte zudem als Schriftstellerin Erfolge.69 Da diesen Frauen und ihren Leistungen jedoch bereits in kürzlich erschienenen Büchern über Göttingen Porträts gewidmet sind,70 haben wir an dieser Stelle auf Dopplungen verzichtet und stattdessen mit dem Experimentallabor XLAB eine Einrichtung in das vorliegende Buch aufgenommen, die die Göttinger Biochemikerin Eva-Maria Neher in den 1990er Jahren für Schülerinnen und Schüler geschaffen hat. Das XLAB ist Vorbild für zahlreiche vergleichbare Experimentallabore im In- und Ausland.71

Aufgrund der großen Bandbreite der Themen, die in dem vorliegenden Sammelband behandelt werden, ist es schwierig, ein Fazit zu ziehen, was die Göttinger Erfindungen eint; ein Versuch sei dennoch unternommen. So zeigt das Buch, dass Menschen durch Genie, oft gepaart mit Beharrlichkeit, aber auch mithilfe von Glück und Zufall72 Wegweisendes entdeckt bzw. erfunden haben – die Rahmenbedingungen für das Zustandekommen von Entdeckungen und Erfindungen sind vielfältig. Zum Teil waren die Denker und Erfinder auf ihrem jeweiligen Gebiet Pioniere; teilweise bauten die Errungenschaf ten auf bereits von anderen generiertem Wissen auf.

Darüber hinaus haben die Beispiele in ihrer Zusammenstellung gezeigt, dass schöpferische Wissensgenese auch bestimmter Freiräume bedarf, um sich überhaupt entfalten zu können. Und es wurde deutlich, dass gerade die Universität eben kein Hort der hehren wissenschaftlichen Redlichkeit sein muss, deren Wissen allein dem Wohle der Menschheit dient, sondern wir haben ebenfalls gesehen, dass Machtphalangen arrivierter Professoren Querdenker aus ihrem Kreise konsequent ausschlossen, dass Wissen oftmals zu jedem Preis gewonnen und alsdann von den Größen des Faches okkupiert und als eigenes ausgegeben wurde, dass die Universitäten Orte waren, an denen Rassismus und Rassenlehre theoretisch fundiert wurden und ihre Wirkmächtigkeit erst begründen konnten, und dass die Proklamation einer unpolitischen, reinen Wissenschaft stets eine (bewusst konstruierte) Chimäre war, um Fragen persönlicher Verantwortung zu externalisieren.

Schließlich zeigt das Buch »Entdeckt, erdacht, erfunden. 20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum« an Beispielen, dass Erfinder mit dem Auf bau eines weltweiten Systems zum Schutz geistigen Eigentums (Markenschutz, Patentwesen) im 20. Jahrhundert in gewisser Weise auch Unternehmer wurden, wollten sie – zumindest für einen bestimmten Zeitraum – über die exklusive wirtschaftliche Nutzung ihrer Leistung verfügen.73 Und so überrascht es kaum, dass die Georgia Augusta eine Patentberatung anbietet und mit der MBM ScienceBridge GmbH, einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft der Universität Göttingen und der Universitätsmedizin Göttingen, gar über eine »Patentverwertungsagentur«74 verfügt. Sie ist »der Ansprechpartner, wenn es um Erfindungen, Patentierungen und Lizenzierung von Forschungsergebnissen an der Universität geht.«75 Mit dem Großprojekt »Forum Wissen« ist in Göttingen ein zusätzlicher Standort in Planung, der nicht nur Wissen archivieren, sondern auch Prozesse der Wissensgenese veranschaulichen und – so steht zumindest zu hoffen – kritisch hinterfragen soll.

Am Ende dieser Einleitung ist zunächst den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von den Autorinnen und Autoren benutzten Archive und Bibliotheken zu danken. Sie haben die umfangreichen Quellenrecherchen ermöglicht und sachkundig unterstützt. Großer Dank gilt darüber hinaus allen Gesprächspartnerinnen und -partnern. Sie haben zum Gelingen des mittlerweile dritten Buchprojekts zum Thema »Göttingen« am Institut für Demokratieforschung76 beigetragen, indem sie mit ihrer Expertise weitergeholfen oder sogar die Geschichte ihrer eigenen Erfindung geschildert haben. Danken möchten wir ihnen auch dafür, dass sie uns relevante, teils persönliche Unterlagen und Fotos zur Verfügung gestellt haben. Nicht zuletzt gilt unser Dank unserem Kollegen Philipp Heimann für sein zuverlässiges und präzises Lektorat, das uns eine große Hilfe war.

Das Konzept der geschlechter- bzw. gendergerechten Sprache führt immer wieder – auch an unserem Institut – zu kontroversen Diskussionen. Deshalb wurde es den Autorinnen und Autoren der nachfolgenden Texte freigestellt, wie sie mit der Geschlechterfrage sprachlich umgehen.

Anmerkungen

1Vgl. die Homepage der GEO, online einsehbar unter https://www.geo.de/system/files/82/0e/leseprobe-erfindungen-_9783473326563-sitb-1.pdf [eingesehen am 18.04.2019].

2Vgl. die Homepage der Stadt Göttingen, online einsehbar unter https://www.goettingen.de/index.php?lang=de [eingesehen am 26.02.2019].

3Vgl. dazu den Beitrag von Julia Zilles im vorliegenden Band.

4Allgemein zu vergessenen Erfindungen vgl. Christian Mähr, Vergessene Erfindungen. Geniale Ideen und was aus ihnen wurde, 2. Aufl., Köln 2016.

5Vgl. dazu den Beitrag von Katharina Trittel im vorliegenden Band.

6Vgl. dazu den Beitrag von Philip Dudek im vorliegenden Band.

7Vgl. dazu den Beitrag von Danny Michelsen im vorliegenden Band.

8Vgl. dazu den Beitrag von Stine Marg und Julian Schenke im vorliegenden Band.

9Vgl. dazu den Beitrag von Teresa Nentwig im vorliegenden Band.

10Vgl. dazu den Beitrag von Stine Marg und Michael Thiele im vorliegenden Band.

11Vgl. dazu den Beitrag von Martin Grund im vorliegenden Band.

12Zu Wallach vgl. Heidemarie Frank, Otto Wallach. 27. März 1847–26. Februar 1931, in: dies., Der Göttinger Stadtfriedhof. Ein biografischer Spaziergang, Göttingen 2017, S. 113–118; Jürgen Troe, Otto Wallach – ein großer Göttinger Chemiker, in: Christiane Freudenstein (Hg.), Göttinger Stadtgespräche. Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erinnern an Größen ihrer Stadt, Göttingen 2016, S. 121–127.

13»Das Göttinger Nobelpreiswunder – 100 Jahre Nobelpreis« lautete der Titel der Ausstellung. Vgl. dazu Elmar Mittler / Fritz Paul (Hg.), Das Göttinger Nobelpreiswunder – 100 Jahre Nobelpreis. Vortragsband, Göttingen 2004.

14Thorsten Dargartz, Krebsforschung um Jahre zurückgeworfen, in: Welt am Sonntag, 12.08.2001.

15Rainer Flöhl, Eine Impfung gegen Krebs, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.2000.

16Holger Wormer / Hubert Rehm, Gebräu aus Göttingen, Süddeutsche Zeitung, 03.07.2001.

17O. V., Deutsche Forscher: Großer Erfolg mit Anti-Krebs-Spritze, in: Kölner Express, 01.03.2000.

18So die Jury eines der höchstdotierten Medizinpreise in Deutschland. Zit. nach Wormer / Rehm.

19Vgl. dazu den Beitrag von Annemieke Munderloh im vorliegenden Band.

20Veronika Hackenbroch, Aufs Pferd gesetzt, in: Der Spiegel, 30.03.2019.

21So titelte die Zeitung am 21.02.2019.

22Deutsche Krebsgesellschaft et al., Gemeinsame Stellungnahme zur Berichterstattung über neuen Bluttest zur Früherkennung bei Brustkrebs, online einsehbar unter https://www.doktor-schmid-partner.de/aktueller-artikel/items/gemeinsame-stellungnahme-zur-berichterstattung-ueber-neuen-bluttest-zur-frueherkennung-bei-brustkrebs.html?file=tl_files/dr-schmid/Aktuelles/Stellungnahme_Bluttest_Heidelberg_FINAL.pdf [eingesehen am 03.04.2019].

23Vgl. dazu u. a. Hackenbroch; Rüdiger Soldt, Ärzte als Insider?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.2019; ders., Weltsensation aus Heidelberg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.04.2019; ders., Führung der Uniklinik Heidelberg nach Bluttest-Affäre unter Druck, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.04.2019; Uwe Westdörp, Deutsche Krebshilfe warnt vor Bluttest, in: Neue Osnabrücker Zeitung Online, 02.04.2019, online einsehbar unter https://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/1692325/deutsche-krebshilfe-warntvor-bluttest [eingesehen am 03.04.2019].

24Vgl. Klaus Plaisir, 30 Meter hohe Flammen legen Waffelfabrik in Schutt und Asche, in: Göttinger Tageblatt, 10.04.1993; Stadtarchiv Göttingen, Chronik für das Jahr 1993, online einsehbar unter http://www.stadtarchiv.goettingen.de/chronik/1993_04.htm [eingesehen am 26.02.2019].

25Vgl. Klaus Plaisir, Löscharbeiten dauern drei Tage, in: Göttinger Tageblatt, 13.04.1993.

26Plaisir, 30 Meter hohe Flammen.

27Franz Walter, Zeiten des Umbruchs? Analysen zur Politik, Stuttgart 2018, S. 199.

28Ebd. (Hervorhebungen im Original).

29Ebd., S. 201.

30Vgl. etwa den Beitrag von Niklas Schröder im vorliegenden Band, ebenso wie den von Peter Aufgebauer.

31Walter, S. 205.

32Vgl. beispielsweise dazu Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: Rüdiger vom Bruch / Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51.

33Etliche von ihnen sind porträtiert in Stine Marg / Franz Walter (Hg.), Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt, Göttingen 2012.

34Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter, Göttingen 1957.

35Vgl. etwa Marion Gräfin Dönhoff / Theo Sommer, »Der Wandel des Bewußtseins ist unterwegs«, in: Zeit Online, 26.06.1992 (Interview mit Carl Friedrich von Weizsäcker), online einsehbar unter https://www.zeit.de/1992/27/der-wandel-des-bewusstseins-ist-unterwegs/komplettansicht [eingesehen am 23.04.2019].

36Weizsäcker, S. 25.

37Ebd., S. 15.

38Ebd., S. 16.

39Vgl. zu diesem Selbstbild auch Katharina Trittel, Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung, Paderborn 2018.

40Vgl. dazu ausführlich Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011.

41Robert Lorenz, Erklärung, Auf klärung und Verklärung, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 11.04.2017, online einsehbar unter http://www.demokratie-goettingen.de/blog/goettingererklaerung-1957-erklaerung-aufklaerung-und-verklaerung [eingesehen am 18.04.2019].

42Ebd.

43Ebd.

44Ebd.

45Zit. nach Detlef Wienecke-Janz, Die große Chronik der Weltgeschichte. Die Teilung der Welt 1945–1961, Gütersloh 2008, S. 45.

46Matthias Geiß, Bloß keine Selbstzweifel, in: Zeit Online, 28.04.1995, online einsehbar unter https://www.zeit.de/1995/18/Bloss_keine_Selbst zweifel [eingesehen am 18.04.2019].

47Ebd.

48Ebd.

49Ebd.

50Gauß ist nicht nur als Physiker, sondern auch als Astronom und Mathematiker in die Geschichte eingegangen. Vgl. dazu Ian Stewart, Das unsichtbare Gerüst: Carl Friedrich Gauß, in: ders., Größen der Mathematik. 25 Denker, die Geschichte schrieben, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 158–177.

51Vgl. Heidemarie Frank, Jacob Henle. 19. Juli 1809–13. Mai 1885, in: dies., Der Göttinger Stadtfriedhof, S. 47–55, hier S. 47. Zu Henle vgl. auch Fritz Dross / Kamran Salimi (Hg.), Jacob Henle. Bürgerliches Leben und »rationelle Medicin«. Eine Ausstellung im Klinikum Fürth 10. Juli–10. September 2009, Fürth 2009.

52Vgl. exemplarisch Armin Kurtz / Charlotte Wagner, Niere und Salz-/ Wasserhaushalt, in: Jan Behrends et al., Physiologie, 3. Aufl., Stuttgart 2016, S. 295–334, hier u. a. S. 304–306.

53Universitätsmedizin Göttingen, Jacob-Henle-Medaille, online einsehbar unter https://www.umg.eu/ueber-uns/medizinische-fakultaet/infos-der-medizinischen-fakultaet/auszeichnungen/jacob-henlemedaille/ [eingesehen am 26.02.2019].

54Manfred Eyßell, Das Rechnermuseum der GWDG bei der Jubiläumsausstellung »Dinge des Wissens« der Universität Göttingen, in: GWDG Nachrichten, Sonderausgabe 1/2012, S. 3–11, hier S. 7, online einsehbar unter https://www.gwdg.de/documents/20182/27257/GN_01-2012_SON_www.pdf/d6030002-1223-46eb-a587-6f4c0a13ad70[eingesehen am 26.02.2019].

55O. V., Das Jet-Zeitalter begann in Göttingen: 100. Geburtstag von Hans von Ohain, Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) vom 09.12.2011, online einsehbar unter https://www.dlr.de/dlr/desktopdefault.aspx/tabid-10204/296_read-2283/year-2011/#/gallery/4258 [eingesehen am 26.02.2019].

56Vgl. Helmuth Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1900–1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt am Main 1992, Teil 1, insbesondere S. 56–70 (Zitat: S. 56).

57Vgl. Wiechert’sche Erdbebenwarte Göttingen e. V., Wiechert’sche Erdbebenwarte Göttingen, online einsehbar unter https://www.erdbebenwarte.de/ [eingesehen am 26.02.2019].

58O. V., Das C-Leg: Eine Erfolgsgeschichte seit 1997, in: 100 Jahre ottobock. Quality for Life. Verlagsbeilage des Göttinger Tageblatts und des Eichsfelder Tageblatts, 08.02.2019, S. 36. Zum C-Leg vgl. auch Heike Haupt, Der Motor des Fort-Schritts: C-Leg, in: dies., Deutsche Erfindungen. Von Bier bis MP3 – geniale Ideen made in Germany, München 2018, S. 156–158.

59Christoph Kleinn (Georg-August-Universität Göttingen, Institut für Waldinventur und Waldwachstum, Arbeitsbereich Fernerkundung und Waldinventur), Bachelor of Science: Waldmesslehre, Waldinventur I, Sommersemester, o. D., S. 4, online einsehbar unter http://www.iww.forst.uni-goettingen.de/doc/ckleinn/lehre/waldmess/Material/wml%2011%20winkelzaehlprobe.pdf [eingesehen am 26.02.2019].

60Vgl. Klaus von Gadow et al., Professor em. Dr. Dr. h. c. Horst Kramer begeht seinen 80. Geburtstag, in: Allgemeine Forst- und Jagdzeitung, Jg. 175 (2004), H. 7/8, S. 125; Horst Kramer / Alparslan Akça, Leitfaden zur Waldmeßlehre, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1995, S. 43 f.

61Vgl. Georg-August-Universität Göttingen, Fakultät für Forstwissenschaften und Waldökologie, Burckhardt-Institut, Abteilung Waldinventur und Fernerkundung, Dendrometer – Messgeräte, online einsehbar unter https://www.uni-goettingen.de/de/75936.html [eingesehen am 26.02.2019].

62Ian Stewart, Primzahl-Virtuose: Bernhard Riemann, in: ders., Größen der Mathematik, S. 249–262, hier S. 262.

63George Szpiro, Zwei berühmte mathematische Vermutungen sorgen für Zündstoff, in: NZZ digital, 09.10.2018, online einsehbar unter https://www.nzz.ch/wissenschaft/zwei-beruehmte-mathematische-vermutungen-sorgen-fuer-zuendstoff-ld.1425932 [eingesehen am 26.02.2019]. Zu Riemann vgl. auch Stewart, Primzahl-Virtuose.

64Vgl. Manon Bischoff, Riemannsche Vermutung endlich gelöst?, in: Spektrum der Wissenschaft, 24.09.2018, online einsehbar unter https://www.spektrum.de/news/atiyah-praesentiert-angeblichen-beweis-derriemannschen-vermutung/1593390 [eingesehen am 26.02.2019].

65Zu Frauen in der Wissenschaft bzw. zum Studium von Frauen in historischer Perspektive vgl. ausführlich Johanna Bleker (Hg.), Der Eintritt der Frauen in die Gelehrtenrepublik. Zur Geschlechterfrage im akademischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis am Anfang des 20. Jahrhunderts, Husum 1998; Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996; Anne Schlüter (Hg.), Pionierinnen, Feministinnen, Karrierefrauen? Zur Geschichte des Frauenstudiums in Deutschland, Pfaffenweiler 1992.

66Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Mit MINT in die Zukunft! Der MINT-Aktionsplan des BMBF, Berlin 2019, S. 4, online einsehbar unter https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/MINT_Aktionsplan.pdf [eingesehen am 26.02.2019].

67Vgl. Mechthild Koreuber, Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra. Zur Geschichte einer kulturellen Bewegung, Berlin / Heidelberg 2015; Ian Stewart, Einsturz der akademischen Ordnung: Emmy Noether, in: ders., Größen der Mathematik, S. 337–351.

68Laura Solmaz-Litschel, Lou Andreas-Salomé, in: Zeit Campus, 07.06.2016.

69Vgl. ebd.; Lou Andreas-Salomé Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (DPG, VAKJP) Göttingen e. V., Lou Andreas-Salomé 1861–1937, online einsehbar unter https://www.las-institut.de/institut/lou-andreas-salome/ [eingesehen am 26.02.2019].

70Zu Emmy Noether vgl. Johanna Klatt, Amalie Emmy Noether. Emmy und »ihre Jungs«, in: Stine Marg / Franz Walter (Hg.), Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt, Göttingen 2012, S. 73–80; Cordula Tollmien, »Die Weiblichkeit war nur durch Fräulein Emmy Noether vertreten« – die Mathematikerin Emmy Noether, in: Freudenstein (Hg.), S. 185– 193. Zu Lou Andreas-Salomé, vgl. Heidemarie Frank, Lou Andreas-Salomé. 12. Februar 1861–5. Februar 1937, in: dies., Der Göttinger Stadtfriedhof, S. 125–135; Inge Weber, »Im Häuschen will ich auch sterben und nur von dort aus noch leben«. Lou Andreas-Salomé und Göttingen, in: Freudenstein (Hg.), S. 151–160. Zu bedeutenden Frauen aus Göttingen vgl. auch Traudel Weber-Reich (Hg.), »Des Kennenlernens werth«. Bedeutende Frauen Göttingens, 4. Aufl., Göttingen 2002.

71Vgl. dazu den Beitrag von Lino Klevesath und Anne-Kathrin Meinhardt im vorliegenden Band.

72Vgl. dazu allgemein Graeme Donald, Glück und Zufall in der Wissenschaft. Spektakuläre Entdeckungen und Erfindungen, Köln 2015.

73Allgemein zum Erfindungsschutz vgl. Peter Kurz, Weltgeschichte des Erfindungsschutzes. Erfinder und Patente im Spiegel der Zeiten, Köln 2000.

74Georg-August-Universität Göttingen, Patentberatung, online einsehbar unter https://www.uni-goettingen.de/de/patentberatung/30379.html [eingesehen am 26.02.2019].

75Ebd.

76Folgende Sammelbände liegen bereits vor: Stine Marg / Franz Walter (Hg.), Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt, Göttingen 2012; Franz Walter / Teresa Nentwig (Hg.), Das gekränkte Gänseliesel. 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, Göttingen 2016.

»Nichts verschwenden, wiederverwenden«

Die Erfindung des Recyclingpapiers

von Julia Zilles

Viele Eltern können diesen Spruch sicherlich kaum noch hören – »nichts verschwenden, wiederverwenden« wird in nahezu jeder Folge der 2019 beliebten Kinderserie »Paw Patrol« von dem Hund Rocky, Mitglied, Recyclingspezialist und Reparaturkünstler der Paw Patrol propagiert. Der Hundetruppe gelingt es in der Serie, jedes erdenkliche Problem zu lösen – eben auch mit den besonderen Fähigkeiten und Tricks von Rocky.1 In den Ohren der Eltern mag das überpädagogisierend klingen, aber auf diese Weise beschäftigen sich schon kleine Kinder mit dem Konzept des Recyclings.

Gerade die deutsche Bevölkerung ist vielfach davon überzeugt, besonders sorgsam bei der Mülltrennung und der Wiederverwertung von Müll vorzugehen. Und tatsächlich steigt durch die Etablierung der Kreislaufwirtschaft die Wiederverwertung aller Abfallarten an.2 Dennoch könnte im Bereich des Recyclings noch viel mehr erreicht werden. Hier klaffen die eigene Wahrnehmung als Vorreiter beim Thema Mülltrennung und die tatsächliche Recyclingquote weit auseinander. Der aktuelle Diskurs konzentriert sich vor allem auf die Vermeidung und bessere Wiederverwendung von Plastikmüll.

Die Ursprünge der Recyclingidee gehen aber auf den so allgegenwärtigen wie unspektakulären Werkstoff Papier zurück: Im alltäglichen Leben und ein ganzes Leben lang sind wir von Papier und aus Papier bestehenden Produkten umgeben. Von Hygienepapier im Badezimmer, die Zeitung beim Frühstück, über Schreib- und Malpapier in Kindergarten und Schule, Reihen von Aktenordnern im Büro bis hin zum Buch, dass man gemütlich vor dem Einschlafen liest. Zumindest bislang sind im Alltag vieler Menschen all diese Aktivitäten eng mit Papier verknüpft, auch wenn die Digitalisierung Alternativen wie E-Book-Reader, Tablets und Möglichkeiten für das papierfreie Büro bereithält.

Wurde Papier noch bis weit ins 19. Jahrhundert aus sogenannten Hadern, also Lumpen und abgetragenen Kleidungsstücken aus Leinen hergestellt, wird es nun aus Celluse, die aus Holzfasern gewonnen wird, produziert. Das Problem der Rohstoffknappheit stellte sich indes bereits in früheren Zeiten.

Es war der Göttinger Jurist Dr. Justus Claproth, der 1774 als Reaktion auf die Lumpenknappheit eine geniale Idee zur Reduktion des Ressourceneinsatzes hatte und seine »Erfindung, aus gedrucktem Papier wiederum neues Papier zu machen und die Druckerfarbe völlig herauszuwaschen«3, beschrieb. Er erfand ein Verfahren, bei dem man hochwertiges Schreibpapier aus Altpapier herstellt. Als Beweis, dass seine Erfindung funktioniert, druckte er sein Buch auf Papier, welches mit diesem Verfahren hergestellt wurde. Hans Bockwitz beschrieb dieses Werk 1948 als eines der »interessantesten Dokumente der Papiergeschichte«4. Ein Exemplar dieser Schrift kann heute in der Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek eingesehen werden.

Schon vor Claproths Experimenten hatte man versuchte, Altpapier wiederzuverwenden. In Venedig wurde bereits 1366 das Privileg erteilt, alte Papiere nur noch zur Papiermühle von Treviso zu bringen.5 Zu dieser Zeit wurde Papier noch ausschließlich aus Lumpen hergestellt. Altpapier konnte damals lediglich für die Herstellung von grauer Pappe und billigem sogenannten Schrenzpapier, welches für Verpackungszwecke benutzt wurde, verwendet werden.6 Somit blieb das Problem, aus altem Papier wieder weißes Schreibpapier herzustellen, weiter bestehen.