Enter. Die Wahrheit wird dich töten - Willem Asman - E-Book

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Willem Asman

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Beschreibung

Mithilfe eines Zeugenschutzprogramms hat Tyler Young für sich und ihre Tochter Charlie ein neues Leben aufgebaut, nachdem sie beim FBI gegen ihren gewalttätigen Ehemann ausgesagt hat. Doch als Charlie Jahre später versucht, die Wahrheit über ihren Vater zu erfahren, gerät sie ins Visier eines dubiosen Unbekannten. Sie tappt in eine Falle und wird entführt. Tylers mühsam erkämpfte Sicherheit bricht von einem Moment auf den anderen zusammen. Als sie bei der Schutzorganisation um Hilfe bittet, wird sie plötzlich misstrauisch: Mit wem steht sie hier eigentlich in Kontakt? Haben ihre angeblichen Helfer etwas mit Charlies Verschwinden zu tun?

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Willem Asman

Enter

Die Wahrheit wird dich töten

Thriller

Aus dem Niederländischen von Olaf Knechten

Für Ginny, Indy und Liz

Kapitel 1

Oz, jetzt,

ein Büro im Zuidas-Distrikt,

Amsterdam

 

»Sie bauen sich ein neues Leben auf, so normal wie möglich«, sagt Oz. »Wir besorgen Ihnen ein Haus.«

»Wo?«, fragt Ubbink und wirft einen Blick auf seine goldene Rolex. Wie ein Mann, der eigentlich etwas Besseres zu tun hat.

»An einem sicheren Ort. Irgendwo, wo niemand Sie kennt.«

»Wo, will ich wissen.« Er schaut nicht auf. Verlangt Aufklärung.

»Wir organisieren Ihnen auch einen Arbeitsplatz.« Oz lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hält sich an sein Skript.

»Ich brauche keinen Arbeitsplatz.«

»Eine einfache, anspruchslose Stelle.«

»Und schon gar keine einfache, anspruchslose Stelle«, erwidert der Banker mit einer wegwerfenden Geste. Die goldenen Glieder seiner Armbanduhr klacken aneinander. »Ich habe Geld genug.«

An die hundertfünfzig Millionen, soweit Oz informiert ist, ein Drittel davon sauber, ganz solide in Immobilien auf den Namen seiner Frau angelegt, der Großteil auf Nummernkonten in der Karibik.

»Wir sorgen für Ihre Sicherheit«, sagt Oz. »Schaffen Ihnen eine neue Identität an einem neuen Ort. Irgendwo, wo Sie keiner findet. Eine Chance auf ein neues Leben ohne Angst.«

»Als ob das irgendjemand garantieren könnte.« Selbstgefällig verschränkt Ubbink die Arme. »Sie haben keine Ahnung, mit wem wir’s zu tun haben.«

Mit der Staatsanwaltschaft, mit dem Fiskus, den Banken, mit Ubbinks kriminellen falschen Freunden – und das sind noch längst nicht alle, denkt Oz.

»Sie können kaum von mir verlangen, dass ich ohne jegliche Garantie einwillige. Wegen Ihrer treuen blauen Augen etwa?« Ubbink schnaubt verächtlich. »Ich darf doch wohl zumindest Referenzen erwarten.«

»Tut mir leid«, sagt Oz. »Mit dem Beginn Ihres neuen Lebens werden alle Verbindungen zu Ihrem früheren gekappt. Das ist die Garantie, die wir Ihnen geben.«

Wie ein bluffender Pokerspieler, der seinen Einsatz verdoppelt, fordert Ubbink: »Ich will Stanley Hillis sprechen.«

Äußerlich ungerührt antwortet Oz: »Ich kenne niemanden, der so heißt.«

»Reden Sie doch keinen Mist, Mann. Hillis ist ein Klient von Ihnen. Angeblich ermordet worden, aber in Wirklichkeit haben Sie ihm zu einem neuen Leben verholfen.« Selbstzufrieden lehnt Ubbink sich auf seinem Designer-Schreibtischstuhl zurück.

Oz nickt. »Ich verstehe Ihr Problem. Sie versuchen herauszufinden, wem Sie noch trauen können. Den Behörden? Oder Ihren Geschäftspartnern?« Oz zuckt mit den Schultern. Der Grund für Ubbinks Probleme ist nicht, dass er mit der Staatsanwaltschaft gesprochen hat, sondern, dass seine angeblichen Freunde ihn dessen bezichtigen. »Auf diese Frage habe ich auch keine Antwort. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir noch nie jemanden verloren haben. Sie müssen wohl meinen blauen Augen vertrauen.« Er lächelt. Seine Augen sind braun.

Ubbink hört nicht zu, tut nicht einmal so. »Hillis«, schreit er. »Dem vertraue ich. Rufen Sie ihn an. Sagen Sie dem Alten meinen Namen. Er kennt mich. Oder lassen Sie mich ihn anrufen. Erst wenn ich seine Stimme höre, kommen wir ins Geschäft. Vorher nicht.«

»Noch einmal: Ich habe keine Ahnung, von wem Sie reden«, sagt Oz. »Und selbst wenn ich es wüsste und wir ihm wirklich geholfen hätten, wäre ich nicht in der Lage, ihn zu finden. Genau wie ich Sie, falls wir ins Geschäft kommen, nicht wiederfinden könnte. An Ihrem neuen Wohnort bekommen Sie einen Berater, einen sogenannten Guardian, der Sie in alles einweist und Ihnen eine Telefonnummer für den Notfall gibt. Er weiß nicht, wer oder was Sie in Ihrem alten Leben waren.«

»Hillis«, sagt Ubbink wieder fordernd. »Erstens will ich mit dem Alten sprechen.« Er streckt seinen Daumen hoch und zählt an den Fingern ab. »Zweitens«, Zeigefinger, »meine Frau kommt mit. Zum selben Preis, Punkt, aus. Drittens und viertens«, Mittel- und Ringfinger, »meine Kinder auch. Und fünftens«, kleiner Finger, »mein Schwiegervater. Ohne den wird meine Frau sich weigern mitzukommen. So läuft das in unserer Familie. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« Er betont jede Silbe und fuchtelt mit den ausgestreckten Fingern vor Oz’ Gesicht herum. »Denn wenn das nicht deutlich genug ist, dann …«

Mit einer blitzschnellen Bewegung packt Oz Ubbink am Handgelenk, umschließt die Rolex mit den Fingern. »Also gut, dann werde ich jetzt auch mal deutlich«, unterbricht er Ubbink ruhig. Es ist an der Zeit, den arroganten Banker mit der Welt von Oz bekannt zu machen. »Stellen Sie sich einmal folgende Szene vor: ein ganz normaler Abend unter der Woche in der Nachtegaallaan in Wassenaar. Sagen wir, es ist Dienstag. Ihre Frau kocht gerade.«

Ubbink räuspert sich. »Dafür haben wir jemanden. Unser Kindermädchen sorgt für …«

»Es ist Dienstag«, wiederholt Oz. »Da hat Nina frei.«

Ubbink klappt den Mund zu. Er scheint seine ausgestreckte Hand vergessen zu haben. Seine Finger werden schlaff.

»Yvonne macht Spaghetti mit Fleischbällchen, denn Ihr sechsjähriger Sohn Frits isst nichts anderes. Ihr Schwiegervater ist vorbeigekommen, wie er es dienstags öfter tut. Sie essen früh, denn er fährt nicht mehr im Dunkeln Auto. Ihr zehn Monate altes Töchterchen Johanneke schläft oben. Das Babyfon steht in der Küche.«

Oz lässt Ubbinks Hand mit der protzigen goldenen Uhr am Gelenk los. Der lässt sie achtlos in den Schoß fallen. Gleich wird er fragen, woher Oz das alles weiß. Das fragen sie immer.

»Dann klingelt es an der Tür«, fährt Oz mit seiner Beschreibung eines ganz normalen Dienstagabends im Hause Ubbink fort. »Ihre Frau greift zum Hörer der Gegensprechanlage. Der Bildschirm leuchtet auf und zeigt zwei Männer in Zivil. Angeblich haben Sie sie geschickt.«

Oz verdrängt den Gedanken an Hillis, den Unterweltkönig, der Anfang 2011 ermordet wurde, wenige Wochen nachdem Oz mit ihm gesprochen hatte. Er fährt fort. »›Wer ist das?‹, fragt Ihr Schwiegervater. Ihre Frau murmelt irgendetwas. Automatisch nimmt sie die Schürze ab und eilt in die Diele. Nach kurzem Zögern öffnet sie die Haustür. Vielleicht, weil Sie ihr erzählt haben, dass Sie an einer Lösung arbeiten. Dass Sie in Kontakt mit einer Organisation sind, die spezielle Dienstleistungen anbietet. Verständlich«, sagt Oz mit Nachdruck, »jedoch streng genommen gegen die Regeln.«

Hält Ubbink den Atem an?

»Unten an der Treppe steht ein schwarzer Minivan. Ihrer Frau fällt auf, dass der Motor noch läuft. Der Mann am Steuer schaut sich um, als rechne er jeden Augenblick mit einer Gefahr. Zwei Männer, einer bleibt in der Tür stehen, der andere – nennen wir ihn Dick – packt Ihre Frau am Ellbogen und schiebt sie zurück ins Haus. Fordert sie auf, die Kinder zu holen und ein paar Sachen zusammenzupacken, Waschzeug, Spielsachen, Windeln. Yvonne rennt die Treppe hoch.«

Ubbinks linkes Auge beginnt, nervös zu zucken.

»Dann kommt Ihr Schwiegervater in die Diele. Mit erregter Stimme fragt er, was los ist. Er weiß von Ihren Problemen, weiß von den Drohungen. Doch dass Sie vorhaben, mit der ganzen Familie unterzutauchen, davon weiß er noch nichts. Dick sieht ihn an und sagt: ›Sie kommen auch mit. Zu Ihrem eigenen Schutz.‹ Ihr Schwiegervater ist einundsiebzig und wohnt schon sein Leben lang in Den Haag. Hier ist er geboren. Hier liegt seine Frau begraben. Er hasst Überraschungen. Er hasst Reisen. Ihr Schwiegervater protestiert lauthals, denn er ist es gewohnt, seinen Willen durchzusetzen.«

Ubbink runzelt die Stirn.

»Oben am Treppenabsatz erscheint Ihre Frau, das Baby auf dem Arm, eine gepackte Reisetasche über der Schulter, Ihren kleinen Sohn an der Hand, seine Augen schreckgeweitet. Ihre Frau begreift auf Anhieb, was los ist, denn sie kennt ihren Vater nur zu gut. Sie eilt die Treppe hinunter, um sich zwischen die beiden Männer zu stellen. ›Es geht um unsere Sicherheit‹, sagt sie zu ihrem Vater. ›Ich denke nicht daran‹, antwortet der. ›Wir haben keine andere Wahl‹, sagt Yvonne flehend, ›bitte, Papa.‹ Das Baby fängt an zu weinen. Sehen Sie die Situation vor sich?«

Ubbink sieht sie. Und er sieht Oz an.

»Ihr Vater hört kaum zu. Er ist zu empört. Weigert sich entschieden. Und dann stellt er ihr die schreckliche Frage. Wissen Sie, welche?«

Ubbink schüttelt den Kopf.

»›Warum hast du den Kerl nur geheiratet?‹«

Das rüttelt Ubbink auf. Er gestikuliert wild mit dem rechten Arm und macht Anstalten aufzustehen. Doch dann sackt er wieder in sich zusammen und streicht sich mit beiden Händen durchs Haar, als könnte er mit dieser Geste ein wenig Ordnung ins Chaos bringen. Er verdreht die Augen, bis sein Blick an der Decke haften bleibt.

»Da stehen sie nun alle«, sagt Oz. »An einem Dienstagabend in Wassenaar, der ganz normal begann, und plötzlich ist gar nichts mehr normal. Sie stehen in der Diele, vor der Treppe. Ihre Frau in der Mitte. Ihr Schwiegervater schreit, das Baby weint, Ihr Sohn quengelt, Ihre Frau heult und fleht. ›Noch fünf Minuten‹, sagt Dick und hebt die Hand.« Oz tut es ebenso, mit gespreizten Fingern, so wie Ubbink vorhin, ihre Rollen nun vertauscht.

»Ihre Frau übergibt Ihrem Schwiegervater das Baby und läuft durchs ganze Haus, löscht alle Lichter und die Gasflamme unter dem Topf mit der Spaghettisoße. Dann blickt sie sich ein letztes Mal um. Die Fotoalben, denkt sie, die Reisepässe, die alte Bibel ihrer Mutter. Sie sucht diese Dinge zusammen. Das muss mit. Doch Dick schüttelt unerbittlich den Kopf. Yvonne ist enttäuscht, legt aber alles gehorsam auf den Tisch in der Diele. Dann eilt die Gruppe auf Dicks Anweisung zum Minivan. Ihr Schwiegervater kommt mit, wenn auch unter Protest. Sie fahren den Kiesweg entlang zum Tor und dann in rasantem Tempo auf die Nachtegaallaan. Ihre Frau schaut sich noch einmal um. Durch das Heckfenster sieht sie das Haus verschwinden, in dem ihre Kinder geboren sind. Was geht in diesem Augenblick wohl in ihr vor?«

Ubbink sitzt zusammengekauert da, als würde er jede Sekunde damit rechnen, dass Oz ihm den Gnadenschuss verpasst.

»Ihre Frau greift nach ihrem Handy, um ihre beste Freundin Emma anzurufen. Doch Dick nimmt ihr das Gerät ab. Er lächelt höflich, aber unerbittlich. Yvonnes Handy und das ihres Vaters verschwinden in Dicks Tasche. Ihrer Frau ist es wahrscheinlich noch nicht klar, jedenfalls nicht so richtig, doch ihr bisheriges Leben und das ihrer Kinder, ihres Vaters, aller Menschen, die sie liebt, wurde soeben jäh beendet. Durch ihre Tränen sieht sie den Blick ihres Vaters, der ihre eigenen Gefühle widerspiegelt. Wut und Ohnmacht. Und sie sieht noch etwas anderes. Wissen Sie, was?«

Oz bemerkt, wie Ubbink sich verspannt.

»Hass«, sagt Oz. »Hass auf den Mann, der ihnen das angetan hat.«

Ubbink stöhnt auf.

»In dieser Nacht wird Ihr Sohn wach und ist untröstlich, weil ihm einfällt, dass sein Kaninchen vergessen wurde.«

Oz macht eine Pause. Jetzt ist es an ihm, sich zurückzulehnen. »Also, sagen Sie es mir doch noch einmal ganz deutlich: Ihre Frau, Ihren Schwiegervater, die Kinder wollen Sie mitnehmen? Weil das ›in Ihrer Familie so läuft‹?«

Ubbink schweigt. Oz belässt es dabei. Seine Botschaft ist angekommen.

»Vorausgesetzt, ich stimme zu«, sagt Ubbink schließlich mit gesenktem Kopf.

»Wie bitte?«, fragt Oz. Dabei hat er ihn genau verstanden.

Ubbink schaut auf, räuspert sich. »Vorausgesetzt, ich stimme zu, was geschieht dann mit meiner Familie? Wer sorgt für sie?«

Finanziell müssen sie sich keine Sorgen machen. Sie verfügen über hohe Lebensversicherungen und Rentenpolicen, ganz zu schweigen von der Segeljacht, dem stattlichen Haus in Wassenaar und den Immobilien im Namen seiner Frau. Doch Oz weiß, dass Ubbink das nicht meint. »Wir behalten sie mindestens ein Jahr im Auge«, antwortet er. »Falls nötig, auch länger.«

»Bekommen sie meine Adresse? Und eine Telefonnummer? Ich kann ihnen doch wenigstens mitteilen, dass es mir gut geht, oder?«

Oz schüttelt den Kopf. »Absolut kein Kontakt. Weder mit Ihrer Familie noch mit sonst einem Menschen aus Ihrem früheren Leben. ›Kein Kontakt, keine Vergangenheit‹, lautet unsere Regel. Ausnahmen sind ausgeschlossen. Sie erhalten von uns eine Telefonnummer, die Sie im Notfall anrufen können. Zum Beispiel, wenn Sie glauben, jemanden erkannt zu haben oder erkannt worden zu sein.«

»Also werden sie …« Als es ihm langsam aufgeht, wird Ubbinks Stimme brüchig. »Sie werden glauben … dass ich tot bin?«

Tot ist besser als vermisst, denn es kommt vor, dass die Angehörigen ein Leben lang suchen. Die unterschiedlichsten Szenarien sind möglich, doch natürlich beantwortet Oz die Frage nicht. Es ist noch zu früh, diesen Ubbink in ihre Vorgehensweise einzuweihen.

»Allmächtiger. Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen?«

»Sie werden ein neues Leben beginnen und in Sicherheit sein«, sagt Oz. »Auch Ihre Frau und Ihre Kinder fangen ganz neu an und werden in Sicherheit sein. Es wird ein Begräbnis geben, Trauer und Ratlosigkeit, doch so können sie ihren Verlust verarbeiten, und das Leben geht weiter. Jedenfalls müssen sie sich keine Sorgen mehr um Ihre Sicherheit machen.«

»So einfach ist das, was?«, sagt Ubbink, während er an die Decke starrt. »Es ist, als würde mein Leben mir entgleiten. Was ich auch tue, ich mache alles nur noch schlimmer.«

Oz wartet ab. Ubbinks Widerstand ist gebrochen. Kopfschüttelnd betrachtet der Banker den vergoldeten Füllfederhalter, den er gerade aus seiner Jacketttasche geholt hat, als ob er keine Ahnung hätte, wo der plötzlich herkommt. Mit verbissener Miene unterschreibt er die einfache Erklärung. Zwei Seiten, mehr ist es nicht: Antrag, Bezahlung, Geschäftsbedingungen, Vollmacht.

Oz nimmt das Dokument entgegen, faltet es sorgfältig zusammen und lässt es in seiner Innentasche verschwinden. Nur ein Exemplar. Ubbink weiß, dass es keinen Sinn hat, um eine Kopie zu bitten.

»Und was jetzt?«, fragt der Banker.

»Sie hören bald von uns«, sagt Oz. »Spätestens übermorgen.«

Er schiebt ein einfaches Prepaid-Handy über den Tisch. »Falls wir Sie akzeptieren, erhalten Sie auf diesem Gerät eine SMS.«

»Dann besteht die Möglichkeit, abgelehnt zu werden?« Ubbink gibt ein mattes Lachen von sich, das sich wie ein Schluchzen anhört.

»Erzählen Sie niemandem von uns. Erzählen Sie niemandem von diesem Gespräch. Ihrem Anwalt nicht und Ihrer Frau auch nicht. Niemandem. Und machen Sie keine Dummheiten. Versuchen Sie nicht, besonders schlau zu sein.«

»Was meinen Sie damit?«

»Zum Beispiel in letzter Minute eine Lebensversicherung abschließen.«

Ubbink verzog das Gesicht. Er hätte sich denken können, was gemeint war. »Und wenn Sie mich nicht akzeptieren?«

»Dann trennen sich unsere Wege.« Oz steht auf.

»Also das war’s dann?«

»Ja, das war’s.«

»Ich bin kein Feigling«, flüstert der Banker. »Und kein Unmensch.« Tränen strömen ihm über die Wangen. »Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?«

Oz lügt, natürlich. Denn so läuft das in seiner Familie.

 

***

 

Kaum fünf Kilometer Luftlinie von Oz entfernt fährt in diesem Moment Tyler Young in ihrem unauffälligen Audi A3 zu ihrem unauffälligen Haus in einer unauffälligen Straße von Amsterdam-Buitenveldert.

Kapitel 2

Tyler, jetzt,

auf dem Heimweg,

Buitenveldert, Amsterdam

 

Im Rückspiegel sieht Tyler, dass der Mann auf dem Motorrad mit den zwei Vorderrädern dieselbe Abfahrt von der Ringstraße nimmt wie sie. Er folgt ihrem Audi in kurzem Abstand über den Europaboulevard. Genau wie sie hält er sich strikt ans Tempolimit, biegt links in die Boelelaan ab und dann rechts zum Einkaufszentrum.

Er blinkt auch brav, aber immer eine Sekunde später als Tyler. Als sie an der nächsten Ampel den Fuß vom Gas nimmt, reiht er sich in die Linksabbiegerspur ein, während Tyler auf der Geradeausspur bleibt. Er fährt an ihr vorbei, und sie wirft einen kurzen Blick nach links. Sie kann sich sein Kennzeichen mühelos merken.

Nachdem sie zur Sicherheit einen Block weiter gefahren ist, biegt sie schließlich in ihre Straße ein. Sie fährt an den Rand und kontrolliert noch kurz im Rückspiegel ihr Make-up.

Tyler wohnt in einem zweigeschossigen Reihenhaus aus rotem Backstein mit einem kleinen Garten. Sie steigt aus und blickt in den Himmel über den Dächern auf der anderen Straßenseite. Eine Frau, die sich fragt, ob es heute Abend Regen gibt.

Vor der Haustür lässt sie die Schlüssel fallen. Während sie sich bückt, schaut sie sich um, die Augen wegen der Spätnachmittagssonne zusammengekniffen. Niemand da. Vögel zwitschern.

Drinnen hebt sie die Post von der Matte auf, aber erst, nachdem sie die Tür sorgfältig abgeschlossen – zuerst das obere Schloss, dann das untere – und die Kette vorgelegt hat.

Das Haus ist still. Ihre fünfzehnjährige Tochter Charlie ist auf Klassenfahrt in London. Heute Morgen ist der Bus vom Platz vor der International School of Amsterdam losgefahren, die Charlie mittlerweile im vierten Jahr besucht.

An der Zwischentür zum Flur steckt fünf Zentimeter über dem Boden zwischen Tür und Zarge ein kleiner brauner Papierstreifen, genau dort, wo Tyler ihn heute Morgen platziert hat. Sie läuft durch den Flur in die Küche und sieht den anderen Papierstreifen an der Hintertür. Den Trick hat sie aus einem alten Spionagefilm.

Im Wohnzimmer holt sie ihr Samsung aus der Tasche. Das Display zeigt zwei verpasste Anrufe und zwei Nachrichten auf der Mailbox. Während sie die Schuhe mit den Pfennigabsätzen abstreift und unter das Sofa kickt, ruft sie ihre Nachrichten ab.

Die erste ist von Charlie. Sie seien im Hotel angekommen und alles sei in Ordnung.

»Und stell dir vor, Mom, es regnet.«

Tyler lächelt. Sobald das Ziel der diesjährigen Klassenfahrt bekannt wurde, fing Charlie an zu meckern. England, Mom, ausgerechnet England, wo es immer regnet. Warum nicht Florenz wie letztes Jahr? Oder Paris?

Der zweite Anruf stammt von einer anonymen Nummer. Der Anrufer hat aufgehängt, ohne etwas zu sagen. Tylers Lächeln verfliegt.

Seit einigen Tagen ruft er zu unterschiedlichen Uhrzeiten an. Die Nummer wird nie angezeigt. Der Anrufer hinterlässt auch keine Nachrichten.

Es mag völlig harmlos sein, Werbung etwa, ein Energieunternehmen oder ein Internetprovider mit einem Angebot. Es könnte auch eine Frau sein, aber Tyler glaubt, dass es sich um einen Mann handelt. Schon seit dreizehn Jahren verfolgt dieser Mann sie bis in ihre Träume. Er ist immer da, hält sich im Schatten. Sein Gesicht kann sie nie erkennen, doch sie weiß, wer es ist.

Mit einem Knopfdruck löscht sie die beiden Anrufe.

Sie geht die Treppe hoch, vorbei an den gerahmten Geburtstagsfotos von Charlie, die sie in einer diagonalen Reihe aufgehängt hat, insgesamt fünfzehn, für jedes Jahr eines.

Das unterste: Charlies erster Geburtstag. Ein so niedliches Baby mit schalkhaftem Blick in den dunkelbraunen Augen und Sahnetorte über das ganze Gesicht verteilt.

Daneben: Charlie wird zwei. Sie reitet auf ihrem Golden Retriever Buster – oder Uster, wie Charlie ihn damals nannte. Ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals gelegt strahlt sie übers ganze Gesicht, ihr Lachen so entwaffnend in all seiner Unschuld. Ihre Füßchen stecken in kleinen Nike-Sneakers. Sie ist sich der Gefahr nicht bewusst, auch nicht der Kamera. Letzteres ändert sich später, wie das Foto auf halbem Weg die Treppe hoch zeigt, auf dem die achtjährige Charlie sich duckt, während sie vorwurfsvoll »Mom!« ruft und sich mit der Hand vor dem Blitzlicht schützt.

Noch später dann die Posen des perfekten Models, wie auf dem neusten Foto, das oben an der Treppe hängt: Charlie mit fünfzehn Jahren und dem Blick einer jungen Erwachsenen, ihre Haltung herausfordernd, älter wirkend, als sie ist. Wenn Blicke töten könnten, denkt Tyler.

Das Ölgemälde, das über dem Frisiertisch in ihrem Schlafzimmer hängt, ein Freemantle, der ihren Safe verbirgt, ist bewusst leicht schief gehängt. Auf dem Bild sind zwei Palmen zu sehen, die sich im Sturm biegen, im Hintergrund der Strand und die wütenden Wellen des Ozeans vor den Florida Keys.

Nach einem kurzen Blick auf die Gärten der Nachbarn links und rechts und die Schatten der Sträucher unter der tief stehenden Sonne zieht Tyler die Vorhänge zu.

Im Dunkeln zieht sie sich aus und wirft die Kleidung aufs Bett.

Vor der Spiegelwand im Bad bindet sie ihr halblanges blondes Haar zusammen. Der Spiegel reflektiert ihren Körper, sechsunddreißig Jahre alt, leicht gebräunt, die sanduhrförmige Figur, aber Tyler sieht vor allem ein Muttermal auf ihrer Hüfte. Ist das neu?

Bevor sie die Dusche aufdreht, fällt ihr wieder die unheimliche Stille im Haus auf. Seltsam, sie hatte erwartet, es mehr zu genießen, das Reich für ein paar Tage für sich zu haben, ganz ohne den Hormonaufruhr der pubertierenden Charlie. Sie dreht an der Mischbatterie und stellt sich unter die warmen Wasserstrahlen, ohne sie wirklich zu spüren.

Fragt man hundert junge Frauen, was sie außer Liebe sonst noch vom Leben erwarten, werden neunundneunzig antworten: Freiheit, Selbstständigkeit, einen guten Job und Freundinnen, denen sie vertrauen können.

Allem Anschein nach lebt Tyler diesen Traum. Sie hat alles, was eine Frau sich wünschen kann: ein großes Haus und eine feste Stelle mit netten Kollegen.

Und was die Liebe angeht, hat sie Charlie. Klug, beliebt, unabhängig, gesund und wunderhübsch. Eine Tochter, wie jeder sie sich wünschen würde.

Auf den ersten Blick scheint Tyler alles zu haben, was das Herz begehrt. Doch sie bezahlt einen hohen Preis dafür.

Mit einer falschen Identität, basierend auf einer gefälschten Geburtsurkunde, einer erfundenen Jugend und einem zusammengesponnenen Lebenslauf, lebt sie ein Leben, das aus Lügen besteht. Sie belügt ihre Freundinnen und Kollegen. Ebenso die Männer, mit denen sie manchmal ausgeht. Sogar ihre eigene Tochter belügt sie.

Sicher, es sind Notlügen, ihre Absichten nur die besten. Diese Lügen beschützen sie und ihre Tochter seit Jahren. Doch wie gut sie es auch meint, es bleiben Lügen.

Darum bleibt sie oft vor Spiegeln oder Schaufenstern stehen, als wollte sie ihr Make-up nachbessern, ob nötig oder nicht, um unauffällig hinter sich zu schauen. Darum lässt sie oft scheinbar ungeschickt ihr Schlüsselbund fallen. Klemmt Papierstreifen in Türen ein. Darum hat sie schon seit dreizehn Jahren ständig mit dem Gefühl zu kämpfen, etwas übersehen zu haben, etwas Lebenswichtiges. Und in letzter Zeit kommt noch die Befürchtung hinzu, hinter der Einbruchswelle in ihrem Viertel könnte etwas ganz anderes stecken, als die Polizei vermutet.

Als sie aus der Dusche kommt und sich abtrocknet, sieht sie die Narbe an ihrem linken Handgelenk: eine lebenslange Erinnerung daran, dass es eine Illusion ist zu glauben, man könne alles hinter sich lassen.

Dabei sind die schlimmsten Narben noch nicht einmal sichtbar. Sie liegen tief im Inneren verborgen.

 

***

 

Charlie ist ungewöhnlich still während der Klassenfahrt. Mark scheint es auch langsam aufzufallen. Je öfter sie auf seine Frage, ob es ihr gut gehe, den Blick abwendet und antwortet: »’türlich«, desto mehr stichelt ihr bester Freund.

Es ist fast Freitag.

Charlie hat noch niemandem von ihrem Vorhaben erzählt.

Wie wird Mark reagieren?

Kapitel 3

Oz, jetzt,

auf dem Heimweg,

Umgebung von Amsterdam

 

Die Metrostation liegt fußläufig zu dem Büro in der Zuidas, wo sein Treffen mit Ubbink stattfand.

Oz hat keine Eile, wartet auf die nächste Metro und steigt als Letzter ein. Auf die Displays ihrer Smartphones starrend stürmen Schulkinder zu den freien Sitzplätzen.

Oz bleibt an der Tür stehen. An der nächsten Station steigt er schon wieder aus, doch dann, in letzter Sekunde, scheint er es sich anders zu überlegen. Ein zerstreuter Mann, der sich in der Haltestelle geirrt hat.

Kurz bevor die automatische Tür sich schließt, steigt er wieder ein.

Der staubige dunkelblaue BMW älteren Modells steht auf dem Pendlerparkplatz am Bahnhof Amsterdam Sloterdijk. Oz steigt ein und fährt los. Er hält sich auf Nebenstraßen, damit er das Tempo variieren kann, und fährt zwei Runden durch einen Kreisel.

Gegen neunzehn Uhr fährt er auf die Ringstraße. Der Berufsverkehr ist größtenteils durch. Er folgt den Schildern nach Schiphol und stellt den BMW auf dem niedrigsten Level des Parkhauses P8 ab.

Er holt seine Ledertasche aus dem Kofferraum, schließt den Wagen ab und klappt die Außenspiegel ein. Um ihn herum Urlauber und Abholer mit Gepäckwagen, Koffern und Taschen. Das Geräusch von Heckklappen, die geöffnet und wieder zugeschlagen werden, hallt vom grauen Beton der Parkdecks wider. Er zählt drei Transporter, einen weniger als heute Morgen. Der alte Transit der Baufirma aus Volendam ist verschwunden.

Mit langen Schritten läuft er Richtung Abflughalle: ein Geschäftsmann im Anzug, Vielflieger, nur Handgepäck, auf dem Weg zu seinem Gate. Unten am Laufband biegt er rechts ab, Richtung Ausgang.

Als ein Tourist mit einem Gepäckwagen einen Sensor berührt, wird die Karusselltür langsamer. Oz blickt auf seine Uhr und schaut sich um, als würde ihm plötzlich etwas einfallen. Auf der anderen Seite tritt er nicht aus der Tür heraus, sondern lächelt die ihm entgegenkommenden Reisenden entschuldigend an und läuft die komplette Runde mit.

Wieder draußen steckt er sich eine Zigarette an, umgeben von Jugendlichen und älteren Leuten, die die letzten Züge vor dem Flug genießen. Eigentlich hat Oz aufgehört, aber die Geste ist jedes Mal beängstigend vertraut. Erst beim Inhalieren erinnert er sich wieder, wie eklig die Erste immer schmeckt.

Er achtet auf Gesichter, auf plötzliche Bewegungen, die schnell auf seine folgen. Achtet auf Personen, die zögern, bummeln, auffällig langsam herumschlendern. Auf Personen, die sich plötzlich von ihm abwenden oder eben nicht. Auf jeden Augenaufschlag. Beobachtet, ob jemand offenbar zerstreut eine zusätzliche Runde durch die Drehtür macht.

Eine schlanke blonde Frau, die sich dem Eingang nähert, weckt seine Aufmerksamkeit. Khakishorts, abgewetzte Chucks, weißes Hemd, ungeschminkt. An einer niedrigen Treppe müht sie sich mit ihrem Koffer ab, zerrt wild am Griff. Die Rollen wollen sich nicht drehen. Sie ist schön in ihrer Frustration. Oz bemerkt die Schweißtropfen auf ihrer Stirn, die Ohrringe, die auf ihren Wangen tanzen. Und durch den offenen Hemdkragen ihr Schlüsselbein, sonnengebräunt, und einen roten BH-Träger. Er wendet den Blick ab und drückt die Zigarette in dem schwelenden Aschenbecher aus.

Wieder im Gebäude nimmt er die Rolltreppe zur Abflughalle im ersten Stock. Er lässt sich Zeit, schlendert ein paar Minuten umher und betritt auf halbem Weg eine Toilette. Am Waschbecken wäscht er sich Hände und Gesicht, den Spiegel immer im Blick. Als er allein ist, betritt er eine Toilettenkabine, wo er Sakko, Hemd und Straßenschuhe auszieht, ein Poloshirt überstreift und in Sneakers schlüpft. Seine Ledertasche verschwindet in einer Sporttasche.

Er baut sein Smartphone zusammen und sieht, dass er zwei verpasste Anrufe und eine Voicemail hat, alle von einer Nummer mit der Ländervorwahl 0032. Belgien. Während er auf dem Toilettendeckel sitzt, hört er die Voicemail ab. »Mr Oz, mein Name ist Alexander Harris. Ihre Nummer habe ich von einem gemeinsamen Freund in Stockholm.«

Oz erkennt die Stimme. Der Mann mit dem starken britischen Akzent hat bereits vorher eine ähnliche Nachricht hinterlassen.

»Sie sind schwierig zu erreichen. Ich möchte mich noch einmal vorstellen: Ich bin ein sogenannter Headhunter und spezialisiert auf International Executive Search. Es geht um Stellen, für die man nicht gut Inserate aufgeben kann, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich vertrete ein Unternehmen, das in der Sicherheitsbranche tätig ist, und ich meine Sicherheit im weitesten Sinn. Ich würde gern mit Ihnen persönlich sprechen, um Ihnen im Namen des Unternehmens ein Angebot zu machen. Glauben Sie mir, es handelt sich um ein sehr attraktives Angebot. Sie haben meine Nummer. Rufen Sie mich an, Mr Oz. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich Ihnen.«

Oz speichert die Nummer und löscht die Nachricht, während er sich wieder fragt, wer der angebliche gemeinsame Freund aus Stockholm sein könnte, der dem Briten seine Nummer gegeben hat.

Er schaltet das Smartphone wieder aus und nimmt Akku und SIM-Karte raus. Dann betätigt er die Toilettenspülung. Draußen wäscht er sich noch einmal die Hände.

Mit Baseballmütze auf dem Kopf und Ehering am Finger kehrt er zurück in die Halle, wo niemand auf ihn wartet. Von der schlanken blonden Frau mit dem störrischen Rollkoffer keine Spur.

Er läuft ans andere Ende der Halle und dann die Treppe hinunter, ohne auf- oder sich umzuschauen. Vielflieger, will nach Hause, kennt den Weg. Er folgt den Pfeilen zum Parkhaus P2 und nimmt den Fahrstuhl zum untersten Deck.

Als würde er nach seinem Auto suchen – die Schlüssel schon in der Hand, aber wo hat er geparkt? –, blickt Oz sich um. Ach ja, da steht er ja. Er steigt in den weißen Toyota Prius. Als er den Pfeilen zur Ausfahrt folgt, quietschen die Reifen auf dem Beton.

Während er an der Schranke wartet, sieht er im Rückspiegel ein Auto heranfahren. Hinter dem Steuer ein Mann, neben ihm eine Frau, die ihm das Ticket reicht. Beide tragen Baseballkappe und Sonnenbrille, genau wie Oz.

Die Schranke geht hoch und Oz gibt Gas.

Seit dem Treffen mit Ubbink sind anderthalb Stunden vergangen. Oz ist auf dem Weg nach Hause.

 

Mit der Fernbedienung öffnet er die Garagentür. Ein Junge und ein Mädchen gehen mit ihrem schwarzen Labrador Gassi. Sie laufen öfter hier lang, Bruder und Schwester, schweigend und widerwillig lassen sie sich von dem Hund zerren. Ein Garten wird bewässert. Geparkte Autos, nichts Auffälliges.

Eine ruhige Straße am Rand einer verkehrsberuhigten Zone in Diemen, einer Stadt vor den Toren Amsterdams. Laut Josie werden hier um acht Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt.

Langsam fährt er in die Garage. Links steht seine Werkbank mit Werkzeug, rechts an der Wand lehnt sein altes Rennrad. Er stellt den Motor ab, wartet, bis das Rolltor geschlossen ist, und steigt aus. Dann holt er die Sporttasche aus dem Kofferraum. Die Klimaanlage läuft noch nach.

Als sie ausgeht, übermannt ihn wie so oft in letzter Zeit die Intensität der Stille im Haus. Die Katzenklappe rappelt. Captain Jack Sparrow, der Kater, weiß, dass Oz im Anmarsch ist, und verzieht sich wie immer in den Garten.

Alexander Harris sagt vielleicht die Wahrheit, aber das ist eher unwahrscheinlich. Oz hat Josie damals die gleiche Headhuntergeschichte aufgetischt. Schon bei ihrer ersten Verabredung, als sie ihn nach seiner Arbeit fragte, hat er gelogen und gesagt, er würde für ein internationales Unternehmen arbeiten: Leute suchen, Leute finden, ständig auf Reisen, wichtige Arbeit und Blabla …

Den Regeln gemäß muss er Garf anrufen, alles melden. Garf fragen, was er von diesem Ubbink mit seinem Hillis hält und von Alexander Harris mit dem gemeinsamen Freund in Stockholm.

Im Flur riecht es nach Katzenklo.

Oz stellt seine Tasche unter der Pinnwand mit Fotos und Zeichnungen ab, Josies Projekt, ihre Wall of Fame.

Er geht in die Küche. Sogar hier liegt Spielzeug herum.

In der linken oberen Ecke des Whiteboards steht mit blauem Marker geschrieben: FLIP ♥. Er hat Josie so freundlich wie möglich erklärt, wie wichtig es für ihn ist zu wissen, wo sie sich aufhalten.

In Noordwijk also, bei Flip, Josies Bruder. Das Herz ist für Oz gedacht.

Die Wanduhr tickt.

Das Haus ist verlassen.

Wie immer nach dem Speech stellt er sich vor, wie es wäre, auf der anderen Seite zu sitzen. Nicht der allwissende Oz, sondern der verzweifelte Ubbink zu sein. In seiner Fantasie ist Josie mit den Kindern verschwunden. Und heute Nacht schreckt Sem aus dem Schlaf, untröstlich, weil sie die Katze vergessen haben.

 

Oz geht die Treppe hoch zu seinem Arbeitszimmer im Dachgeschoss. Bevor er die oberste Schublade seines Schreibtischs öffnet, kontrolliert er, ob das Haar noch dort steckt. Er holt sein privates Smartphone heraus, baut es zusammen, Akku, SIM … und ruft sie an, was sie freut.

Mit Bahn und Bus sind sie gefahren. Was für ein Abenteuer. Jetzt sitzen sie vor diesem Strandlokal und essen Pommes. Bisschen spät, aber die Kinder haben ja morgen frei. Es ist noch so schön draußen. Sie klingt heiter. Doch dann hält sie inne. Anscheinend ist ihr aufgefallen, dass er nicht viel sagt.

»Alles in Ordnung?«

»Ja, ja.«

»Ganz bestimmt?«

»Wirklich, alles gut«, sagt er.

»Ich habe versucht, dich anzurufen, aber ich habe wieder keine Verbindung bekommen.«

»Schon wieder nicht? Ich habe mein Handy doch nachschauen lassen.« Die Lüge kommt automatisch. Die Regel lautet, niemals ein Privatgerät mit zur Arbeit zu nehmen. »Und meine Dienstnummer?«

»Die soll ich doch nur im Notfall anrufen. Willst du kurz mit den Kindern sprechen?«

Bevor er antworten kann, ruft sie die beiden schon. »Sem? Sas? Papa ist am Telefon.« Oz hört dem lauten Geplapper zu, den Kaskaden der Erzählungen von Bruder und Schwester, die durcheinandersprechen und einander übertrumpfen wollen.

Nach einem Tag voller Eindrücke, Zucker und Junkfood bei Flip, der sie immer verwöhnt, ist deutlich spürbar, wie aufgedreht die siebenjährigen Zwillinge sind. Oz versucht vergeblich, aus ihrer Quasselei schlau zu werden.

 

***

 

»Bist du ganz sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragt Josie, als sie ihn wieder an der Strippe hat.

Sie hört sich seine beruhigenden Worte an, doch der Klang seiner Stimme sagt ihr genug. Bei Oz stecken die Sorgen zwischen und hinter den Worten. Sie liebt ihn von ganzem Herzen und versteht, dass es eine Erklärung dafür gibt (auch wenn sie nicht weiß, welche), dass ihr Mann, der selbst nie erreichbar ist, unbedingt wissen muss, wo sie sich aufhalten.

Sie denkt an das Foto seiner verstorbenen Eltern an der Pinnwand zu Hause, auf ihrer Wall of Fame, das Oz erst nach langem Drängen hervorholte. Am Tag ihrer Hochzeit aufgenommen, im Hintergrund eine Dattelpalme und eine niedrige Mauer irgendwo in einem Kibbuz bei Tel Aviv. Das einzige Foto, das er noch von ihnen hat, ein unscharfes Polaroid, also musste sie sich damit zufriedengeben.

Und dort ist die Erklärung zu finden, vermutet Josie, irgendwo in der Geschichte, die Oz nicht mit ihr teilen kann. Irgendwo unter diesem strahlend blauen Himmel.

Seine Mutter schaut verloren drein, sein Vater düster.

Oz schaut auch manchmal so, wenn er glaubt, dass sie es nicht sieht.

Kapitel 4

Tyler, jetzt,

zu Hause,

Buitenveldert, Amsterdam

 

Nach der SMS von Charlie aus London hat Tyler in der Nacht – trotz der Flasche Rotwein – kein Auge zugemacht. »Mom, ich sollte doch nichts tun, was du nicht auch tun würdest? Also habe ich einfach alles getan, was Papa getan hätte. Grüße von Mark, hab dich lieb.«

Tyler hat die Nachricht schon zwanzigmal gelesen und überlegt, was sie bedeuten könnte.

Der Hinweis auf Charlies Vater könnte natürlich völlig harmlos sein. Aber auch der Zeitpunkt, zu dem ihre Tochter die SMS verschickt hat, kurz nach ein Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit, hat Tyler den Schlaf geraubt. Nach langem Überlegen hat sie geantwortet: »Viel Spaß, mein Schatz, und grüß Mark herzlich zurück. Lass es nicht so spät werden, okay? Lieb dich.« Worauf sie schlaflos liegen blieb, während sie einerseits auf eine beruhigende Antwort hoffte und sich andererseits fragte, ob sie Charlie nicht zu sehr bemutterte.

Früh am nächsten Morgen ruft sie in der mittelgroßen Modelagentur an, für die sie arbeitet, um sich krankzumelden: Sie fühle sich nicht gut, habe gestern Abend vielleicht etwas Falsches gegessen.

Nach elf hält sie es nicht länger im Bett aus. Alle zehn Minuten aufs Handy zu starren, um zu sehen, ob Charlie sich gemeldet hat, bringt auch nichts. Sie überlegt, Mark zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Mark, Sohn eines schottischen Diplomaten und Charlies Schulkamerad auf der International School. Charlie hasst es, wenn Tyler Mark ihren »Lover« nennt.

Gegen Trübsinn und Selbstvorwürfe ankämpfend zieht Tyler sich an: ärmelloses Top, abgeschnittene Jeans und ihre Timberlands. Die blonden Haare bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie geht raus in den Garten. An die Arbeit; sie muss etwas tun, um sich abzulenken.

Mit einem Spaten aus dem Schuppen gräbt sie die Stelle um, wo schon vor Monaten ihr Gemüsegarten entstehen sollte. Eine Aktivität, die plötzlich keine Sekunde Aufschub mehr duldet. Natürlich unsinnig, dass sie das selbst tut. Sie hätte einen Gärtner anrufen sollen.

Wütend hackt sie auf die Wurzeln ein, bis sie mit einem Schrei voller Widerwillen und Selbstmitleid den Spaten hinwirft.

Die Hände auf den Hüften begutachtet sie keuchend die Fortschritte, die sie gemacht hat.

Verdammte Wurzeln, nicht kleinzukriegen.

Garf würde irgendeinen philosophischen Kommentar dazu abgeben, etwa: »Wurzeln sind zäh. Man sieht sie vielleicht nicht und sie sind auch nicht wirklich schön, aber sie sind da. Ohne Wurzeln kein Leben.«

Dann würde er Tyler fragen, ob sie sicher sei, dass der Gemüsegarten ausgerechnet an diese Stelle muss, zu Füßen der Eibe neben dem Schuppen.

Sie lächelt grimmig in sich hinein.

Wurzeln, verdammt, was bringen die schon, außer Probleme? Wenn sie ohne leben kann, dann kann Charlie das auch.

Als sie sich umdreht, sieht sie etwas aus dem Augenwinkel. Ist es Ted, der Nachbarsjunge, im offenen Fenster seiner Dachkammer? Im Gegenlicht der Sonne hat sie Mühe, etwas zu erkennen. Als sie die Augen mit der Hand abschirmt, sieht sie nur noch die Bewegung der Vorhänge. Unwillkürlich schaudert sie. Hat der kleine Widerling sie etwa begafft? Scheiße, Charlie sonnt sich hier oben ohne.

Sie geht wieder rein, schließt die Hintertür ab und klemmt den Papierstreifen ein. Wieder hat sie das Gefühl, dass jemand im Haus war. Es ist ein unentrinnbarer Teufelskreis, wie sie aus Lehrbüchern weiß: Man erleidet einen emotionalen Schaden, wird achtsamer und deshalb ängstlicher.

Als sie oben an Charlies Schlafzimmertür vorbeikommt, fällt ihr ein Gesprächsfetzen ein.

Charlie, empört: »Hast du mein Tagebuch gelesen?«

Tyler, sich keiner Schuld bewusst: »Dein Tagebuch? Ich wusste nicht mal, dass du eins hast.«

Charlie fünfzehn, der Nachbarsjunge achtzehn … Welche Mutter würde da nicht ein bisschen rumschnüffeln, wenn sie bemerkt, wie viel Aufmerksamkeit ihre Tochter auf sich zieht? Die größten Lügner sind zugleich die misstrauischsten Menschen, wie Tyler sich nicht zum ersten Mal gewahr wird.

Sie betritt ihr eigenes Schlafzimmer. Bevor sie die Vorhänge zuzieht, wirft sie noch einen Blick in ihren Garten und die Gärten der Nachbarn. Dann nimmt sie den Freemantle von der Wand.

Sie gibt auf dem Ziffernblock die Kennzahl ein und drückt ENTER. Die schwere Safetür öffnet sich mit einem Klicken. Tyler holt den großen braunen Umschlag mit den Reisepässen und Kreditkarten, dem Bargeld, dem Handy und der Notfallnummer heraus, den sie vor langer Zeit von Garf, ihrem »Guardian«, bekommen hat. Den Umschlag, der für alle Fälle bereitliegt.

Nach kurzem Zögern holt sie auch den Ordner mit den Zeitungsausschnitten heraus, die sie aufbewahrt hat. Was gegen Garfs Regeln verstößt, doch sie wusste, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem Charlie Fragen stellen würde. Der richtige Zeitpunkt, nicht zu früh und nicht zu spät. Und dann würde Tyler ihrer Tochter die Wahrheit über ihre Vergangenheit erzählen. Und über ihren Vater.

Oft stellte Tyler sich vor, wie sie es Charlie erklären würde … ruhig, überlegt. Und wie Charlie es verstehen würde. Aber wenn sie ehrlich mit sich ist, ist diese Hoffnung inzwischen dahin. Den richtigen Zeitpunkt, falls es ihn je gab, hat sie verpasst. Oder besser gesagt: Charlie hat früher als erwartet die Geduld verloren.

Wie alt war Charlie, als ihre Gespräche über die Vergangenheit jedes Mal Anlass für einen Riesenstreit boten? Tyler weiß es nicht mehr genau. Aber Tatsache ist, dass Charlies Fragen immer eindringlicher wurden: Wo genau war das Feuer ausgebrochen, bei dem Papa und Buster ums Leben kamen? Und wo waren wir an jenem Neujahrstag? Hat man die Einbrecher jemals gefasst? Wieso ist das Foto von Buster, das an der Treppe hängt, nicht verbrannt? Wo liegt Papa begraben? Wo genau haben wir früher gewohnt? Und warum können wir da nicht mal hin? Warum habe ich keine Großeltern? Und besonders herausfordernd: Ähnele ich mehr Papa oder dir?

Die Augen hat sie auf jeden Fall von ihrem Vater. Dunkelbraun, ihr Blick allerliebst und vertrauenerweckend. Und unter all dem unwiderstehlichen Charme ein schwelender Vulkan, der jederzeit ausbrechen kann.

Seit Charlies Pubertätshormone wüten, ist sie, wie Tyler zu ihrem Bedauern feststellt, hinterhältiger und durchtriebener geworden.

Doch Garfs Regel gehorchend blieb Tyler bei der Geschichte, die sie, wie es schien, schon tausendmal erzählt hatte … den Nachbarn, ihren Kollegen und neugierigen Kunden. Sie hatte das Märchen schon so oft heruntergeleiert, dass man meinen könnte, durch die ständige Wiederholung würde es schließlich besonders überzeugend wirken.

Doch Charlie wurde älter, und sie war nicht dumm. Sie gab sich nicht mehr mit Tylers Ausflüchten zufrieden. Fragte immer weiter, lag ihr ständig in den Ohren, verlangte Antworten. Und Tyler musste sich eingestehen, dass sie immer defensiver wurde und sich in ihren halbgaren Geschichten verstrickte. Sie konnte sich keine Achtlosigkeit mehr erlauben.

Später, dachte Tyler immer. Später ist früh genug. Sie hatte alle Zeit der Welt. Charlie ist noch so jung. Sie muss es noch nicht erfahren. Später, wenn sie die Pubertät hinter sich hat. Später, wenn Tyler beschlossen hat, was sie mit den ganzen Zeitungsausschnitten in dem Ordner tun will, und mit dem Foto von dem Tag auf dem Spielplatz, die Millers in glücklicheren Zeiten, kurz bevor ihre Welt zusammenbrach.

Manchmal denkt sie, sie hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Hätte die Ausschnitte und Fotos vernichten müssen. Sie war schon oft kurz davor, öfter, als ihr lieb ist, konnte sich aber nie dazu überwinden. Denn damit würde sie die Lügen bekräftigen, verewigen, Charlie für immer die Chance nehmen, die Wahrheit zu erfahren.

Dann wieder gibt es Momente, in denen sie überzeugt ist, dass sie den Ordner nicht so sehr für Charlie, sondern vor allem für sich selbst aufbewahrt. Als Beweis dafür, dass dies alles wirklich geschehen ist. Als Warnung und zugleich als Strafe für ihre damalige Dummheit und Naivität.

Wie schön wäre es doch, keine Geheimnisse mehr zu haben.

Doch sie brauchte mehr Zeit. Schlaf noch einmal drüber, sagte sie sich immer wieder. Kommt Zeit, kommt Rat. Mit diesem Mantra hatte sie sich selbst eingelullt, sich weisgemacht, dass später immer noch früh genug wäre. Wie in Gottes Namen hätte sie diesen Grabenkrieg zwischen Mutter und Tochter nur verhindern sollen?

Vor ein paar Wochen wurde es Tyler zu viel. Sie hatte einen Tiefpunkt erreicht. Sie kam spät nach Hause, in Gedanken noch bei dem Stress im Büro, als Charlie sie in kämpferischer Höchstform erwartete. »Was soll ich denn sagen?«, hatte sie, mit ihrem Latein am Ende, ihre Tochter angeschrien. »Dein Vater ist tot. Meiner auch und meine Mutter genauso. Willst du mit mir tauschen?«

Großer Gott, wie sehr sie das bereute. Sie schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie damit die harten Worte zurücknehmen.

»Was bist du für eine verdammte Scheißmutter«, rief Charlie, während sie die Treppe hochrannte.

Tyler rief ihr noch nach: »Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen, Liebling.« Aber der Schaden war schon angerichtet. Und die Episode endete, wie so oft, mit Charlies zugeschlagener Tür.

Aber in den letzten Wochen schien wieder Frieden eingekehrt zu sein. Ein vorübergehender Frieden, wie Tyler wusste, oder sie musste sich schon sehr in ihrer Tochter irren. Das Thema hing wie eine Gewitterwolke über ihnen. Es war wie ein Waffenstillstand, an den niemand glaubt und den beide Parteien dazu nutzen, sich auf neue Feuergefechte vorzubereiten.

Sie musste den Knoten irgendwann durchtrennen. Aber wie sollte sie es Charlie erzählen? Wo sollte sie anfangen? Bei den Hühnern? Bei dem, was sie an dem Abend in der Lagerhalle gesehen hatte? Bei der wahren Geschichte von Busters Tod? Die Folgen waren kaum abzusehen, aber auf jeden Fall wären sie weitreichend, nicht rückgängig zu machen und lebensbedrohlich.

»Liebling, ich habe das alles für dich getan«, würde sie sagen. Würde Charlie das verstehen und Tyler all ihre Lügen vergeben? Großer Gott, wenn sie nur daran dachte.

Charlie wollte die Wahrheit erfahren. Aber konnte sie die Wahrheit auch ertragen?

 

***

 

Wieder schläft Tyler unruhig, wieder nach zu viel Wein. Draußen grinst zwischen dahinjagenden Wolken der Mond. Im Garten tanzen Schatten und zeigen das unbeabsichtigte Resultat ihrer morgendlichen Gartenarbeiten. Die Vertiefung hat die Form eines flachen Grabs.

Kapitel 5

Charlie, jetzt,

Kensington Gardens,

London

 

»Charles, du passt doch auf dich auf?«, sagt Mark.

Charlie nimmt einen Zug von dem Joint und fängt an zu husten. »Was?« Hat sie richtig gehört?

»Du sollst auf dich aufpassen.« Vorsichtig nimmt Mark den Joint zwischen die Fingerspitzen.

»Ernsthaft?«

»Ja, ernsthaft. Onlinedates sind gefährlich.«

»Großer Gott, du hörst dich an wie meine Mutter. Und es ist kein Date, sondern eine Verabredung«, sagt sie.

Sie haben sich davongeschlichen. Haben Schuhe und Strümpfe ausgezogen und lassen in Kensington Gardens unweit ihres Hotels in Knightsbridge die Füße im Teich baumeln. Mark liegt mit dem Kopf gerade noch im Schatten, Charlie in der Sonne.

»Ich bin doch nicht verrückt«, fügt sie hinzu. Sie ist nicht wie ihre Mutter, die scheinbar zerstreut ihre Schlüssel fallen lässt, um zu sehen, ob sie nicht verfolgt wird. Und die, wie sie glaubt, ganz unauffällig Papierstreifen in die Tür klemmt.

»Darf ich dich was fragen?«

Ups. Jetzt kommt’s. »Sei doch nicht so komisch. Natürlich darfst du«, antwortet Charlie.

»Willst du es überhaupt?«, fragt er.

Sie schnaubt. »Natürlich will ich es.«

»Oder gehört dieses Date in die gleiche Kategorie wie das Tattoo, von dem deine Mutter nichts weiß, das Piercing, von dem deine Mutter nichts weiß, und die Joints, von denen deine Mutter nichts weiß?«

»Sie ist …« ein verdammtes Miststück, will Charlie sagen, aber sie weiß, wie Mark darüber denkt. »Es ist kein Date.«

»Ich meine, du hast doch auch Geheimnisse vor ihr«, sagt Mark.

»Das ist doch was ganz anderes.«

Mark zuckt mit den Schultern.

Ach verdammt, denkt Charlie. Das Schweigen zwischen ihnen, das sie sonst so schätzt – anders als die Pausen in Gesprächen mit ihrer Mutter, die geradezu danach schreien, gefüllt zu werden –, wirkt belastend.

Sie diskutieren das Thema nicht zum ersten Mal. Mark meint, dass es gute Gründe dafür geben kann, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Und dass Charlie loslassen soll. Er erinnert sie an die alte Gruselgeschichte von König Blaubart: Die soundsovielte Frau des Königs darf alle Zimmer des Schlosses betreten, nur das eine nicht. Natürlich kann die frisch verheiratete Frau ihre Neugier nicht bezwingen, und als sie das verbotene Zimmer betritt, findet sie die abgehackten Köpfe ihrer Vorgängerinnen.

Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen, meint Mark. Charlie musste ihm versprechen, nicht weiter nachzuforschen.

Aber es war, als hätte die Geschichte von König Blaubart ihre Neugier erst richtig entfacht.

Ein Stück weiter balgen sich zwei Golden Retriever um ein Frisbee.

»Ich hatte früher auch einen Retriever«, sagt Charlie in der Hoffnung, das Gespräch wieder in normale Bahnen zu lenken.

»Weiß ich«, antwortet Mark. »Bei euch an der Treppe hängt sein Foto mit dir auf dem Rücken. Neben dem mit der Sahne.«

»Er hieß Buster«, sagt sie überflüssigerweise. So was merkt sich Mark. »Ich habe ihn immer Uster genannt. Ich konnte noch kein B aussprechen.« Sie kann sich nicht mehr daran erinnern.

»Dein erstes Wort«, sagt Mark nickend.

»Und dann ist er umgekommen.« Bei einem großen Brand am Neujahrstag vor dreizehn Jahren ist ihr Hund ums Leben gekommen, ebenso wie ihr Vater. Das ist die offizielle Version. Doch seit sie den Inhalt des Safes gesehen hat, weiß Charlie es besser.

 

***

 

Sie hatte es schon öfter so gemacht, entweder um einer Klassenarbeit zu entkommen oder weil sie einfach keine Lust auf Schule hatte: Am Vorabend wenig essen und früh ins Bett gehen, über Bauch- oder Kopfschmerzen klagen, und alles möglichst vage halten. Am nächsten Morgen dann die Stirn ein wenig anfeuchten und sich unter der Bettdecke verkriechen. Ihre Mutter kam in ihr Zimmer, bereits startklar, im Kostüm und mit hohen Absätzen.

»Sollen wir zum Arzt fahren?«, fragte sie. »Dann rufe ich im Büro an.«

»Nein, nicht nötig. Ich glaube, es ist nur ein harmloser Virus. Schon die ganze Woche husten alle in der Schule.«

Tyler schaute auf die Uhr.

»Geh schon, Mom.«

»Bist du sicher?«

»Ja, ganz sicher.« Sie hustete, ohne zu übertreiben.

»Okay. Dann schon dich, Liebling. Und ruf an, wenn irgendwas ist.«

»Mach ich, Mom.«

Sie lauschte, wie ihre Mutter die Treppe hinunterlief, die Tür zuzog und im Auto davonfuhr.

Kurz darauf stand sie in Schlafanzughose und T-Shirt im Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie bewegte sich auf Zehenspitzen, achtete auf jedes Geräusch. Zog die Vorhänge zu, schaltete das Licht an und nahm das Bild von der Wand.

Jetzt oder nie. Sollte sie? Ja. Ihre Mutter hätte eben ihre vorwitzige Nase nicht in ihr Tagebuch stecken dürfen. Ohne zu zögern, gab Charlie die Zahlenkombination ein, die sie schon so lange kannte, wie sie denken konnte. Dann drückte sie auf ENTER.

Das Schloss machte klick. Sie umfasste den Griff. Unwillkürlich machte sie einen Schritt zurück, als ob sie fürchtete, was immer im Safe war, könnte sie anspringen.

Dann konnte sie sich nicht länger beherrschen. In einem großen braunen Umschlag fand sie ein Handy, Geldscheine, nagelneue Kreditkarten und zwei amerikanische Pässe. Unter dem Umschlag einen Ordner mit Zeitungsauschnitten.

Von den Pässen war einer für sie, wie sie an Foto und Geburtsdatum feststellte, der andere für ihre Mutter. Gefälscht? Sie sahen echt aus. Verdutzt las sie die Namen: Kathleen und Claire Adams.

Sie begutachtete die Geldscheine. Euros, Pfund und Dollar, sorgfältig mit Gummibändern zusammengebunden. Wie viel? Zwanzig-, dreißigtausend? Mehr?

In dem Ordner fand sie Zeitungsausschnitte über ein viele Jahre zurückliegendes Gerichtsverfahren in Amerika. Ein internationales Transportunternehmen wurde verdächtigt, an Geldwäsche und Menschenhandel beteiligt zu sein. Charlies Blick fiel auf eine riesige Schlagzeile: GRAUSAMER CONTAINERFUND – VERDÄCHTIGE AUF FREIEM FUSS. Kronzeugen hatten Aussagen zurückgezogen oder waren spurlos verschwunden. In einem anderen Artikel – SCHRECKENSNACHT IN HORRORCONTAINER – war von achtundfünfzig Toten die Rede, das jüngste Opfer ein zweijähriges Kind.

Hä? Was hatten diese Zeitungsartikel mit ihrer Mutter zu tun? Was war daran so wichtig, dass sie sie aufbewahrte, noch dazu im Safe? Charlie sah weiter den Ordner durch. Diesmal suchte sie in den Artikeln nach Namen, fand jedoch weder Young noch Adams.

Als sie gerade alles wieder zurücklegen wollte, fand sie unter dem braunen Umschlag zwei Fotos, die sie zuvor übersehen hatte.

Auf dem ersten war sie selbst zu sehen, deutlich zu erkennen, wenn auch noch sehr klein, zwischen zwei älteren Menschen, einem Mann und einer Frau. Eine jüngere Version ihrer Mutter stand ganz links. Vier lachende Gesichter.

War der Mann vielleicht dieser Garf, über den ihre Mutter bis zum Gehtnichtmehr redete? Garf dieses, Garf jenes … Und war die Dame, die Charlies Hand hielt, vielleicht Garfs Frau? Im Hintergrund war ein amerikanisches Wohnmobil zu sehen, so ein Aluminiumteil. Alle vier trugen Baseballtrikots mit Nummern. Charlies Shirt war so groß, dass es wie ein Kleid aussah. Ihr linker Arm in hellblauem Gips. Charlie überlegte kurz. Hatte sie sich den Arm gebrochen, als sie klein war? Davon hatte ihre Mutter ihr nie etwas erzählt.

Die zweite Aufnahme war auf den ersten Blick ein ganz gewöhnliches Familienfoto: Vater, Mutter, Kind und Haustier auf einem Spielplatz. Charlie sah eine Schaukel, eine Rutsche und ein Klettergerüst. Das Kind war sie selbst, die Frau war ihre Mutter, der Hund war Buster. Kein Gips.

Den Mann auf dem Foto kannte sie nicht.

Auf der Rückseite stand geschrieben: MEET THE MILLERS, LOUISE & DANIEL, CHARLOTTE BELLE & BUSTER.

Darunter ein Datum: 23. Mai. Das Foto war dreizehn Jahre alt. Charlie blinzelte. Sie betrachtete noch einmal die Vorderseite. Dann wieder die Namen und das Datum.

Meet the Millers?

Louise Miller? Aber die Frau auf dem Foto war eindeutig ihre Mutter, Tyler Young. Andere Frisur, jünger, aber unbestreitbar ihre Mutter. Charlotte Belle war sie selbst. Hieß sie mit Nachnamen also Miller, nicht Young? Oder doch Adams, wie in dem Pass stand?

Und war der Mann ihr Vater? Er trug eine Lederjacke und Cowboystiefel. Aus seinem Kragen schaute eine Tätowierung hervor. Ein Muskelprotz, ein Wichtigtuer. Konnte sie eine Ähnlichkeit erkennen? Die Nase? Das Grübchen am Kinn? Die Augen vielleicht?

Doch falls er es war, konnte das Datum – 23. Mai, Monate nach dem großen Feuer am Neujahrstag, bei dem Buster und er umgekommen waren – unmöglich stimmen.

Wieder nahm sie den Ordner mit den Zeitungsausschnitten in die Hand. Sie meinte, den Namen Miller dort gelesen zu haben. Und tatsächlich … In einem Artikel mit der Überschrift HEFTIGE KRITIK AN FBI-METHODEN fand sie ihn. Miller war einer der Verdächtigen, die freigesprochen wurden. Das Datum auf dem Ausschnitt in der Handschrift ihrer Mutter: 22. November, vor dreizehn Jahren. Fast ein Jahr nach dem Feuer, bei dem ihr Vater umgekommen war.

Ein Geräusch. Die Haustür! Sie sprang auf, lief auf Zehenspitzen zur Schlafzimmertür und spitzte die Ohren. »Mom?«

Scheiße. Sie blickte sich um. Der Safe weit offen, der Ordner und der Inhalt des Umschlags auf dem Boden ausgebreitet. Eine Sekunde lang spielte Charlie mit dem Gedanken, sich wieder hinzusetzen. Hier inmitten all dieser Rätsel zu warten. Und ihre Mutter mit den Beweisen zu konfrontieren … Aber Beweise wofür?

Stattdessen wurde sie aktiv. So schnell wie möglich legte sie alles zurück in den Safe. Flink hängte sie das Bild wieder an den Haken, genau wie ihre Mutter es immer tat, leicht schief. Gleichzeitig lauschte sie nach den Schritten.

Auf dem Weg nach unten fiel ihr rechtzeitig wieder ihr grippaler Infekt ein. »Mom?«, rief sie in schläfrigem Ton. Aber Mom war nicht da. Unten war niemand. Hatte sie es sich nur eingebildet? Weil sie ein schlechtes Gewissen hatte?

Wieder oben öffnete Charlie erneut den Safe.

Sie fand nichts Weiteres. Aber sie hatte zwei Dinge herausgefunden.

Erstens: Es gab doch noch ein Foto von ihrem Vater.

Zweitens: Er war nicht am Neujahrstag ums Leben gekommen. Das wusste sie nun mit Sicherheit.

Mit dieser Erkenntnis nahm ihre Wut ganz neue Dimensionen an. Sie war nun höllenrot, giftig, tief und ätzend, in all ihren Poren spürbar. All die Lügen und die Grausamkeit dieses Verrats machten sie so wütend. Was für ein krankes Hirn brachte so etwas fertig? Sicher keine liebende Mutter!

Charlie weinte nicht. Sie fluchte nicht. Sie rief in ihrer Verzweiflung auch nicht Mark an, um über das Unrecht zu klagen, das man ihr angetan hatte. Charlie lief auch nicht von zu Hause weg, obwohl das verdammte Miststück es verdient hätte.

Sie öffnete ihr MacBook und plante ihre Rache.

Im Forum der Website lookingforlonglostlovedones.com hinterließ Charlie unter der Kategorie lost neighbours eine Nachricht. Lost parents oder lost family members hätte vielleicht besser gepasst, aber das konnte sie später noch versuchen.

Sie tat so, als würde sie ehemalige Nachbarn suchen:

Suche die Millers, Daniel und Louise. Auf der Website wurde empfohlen, möglichst detaillierte Angaben zu machen, Daten, Orte, um die Chance auf Erfolg zu vergrößern. Doch Charlie beschränkte sich auf: »Vor ungefähr dreizehn Jahren im Süden von Florida.« Sie widerstand der Versuchung, dick aufzutragen und die süße kleine Charlie, die Tochter der Millers, und ihren ständigen Begleiter, den Golden Retriever Buster, zu erwähnen.

Für ihr E-Mail-Alias hatte sie das Alter ihrer Mutter angegeben. Nachdem sie alle Perverslinge und Spamnachrichten aussortiert hatte, blieb nur einer übrig: John John Blackstone ([email protected]) – oder J.J., wie Charlie ihn nannte.

J.J. sagte, er könne ihr vielleicht helfen. Sein Vater sei eine Art Privatdetektiv, der sich auf Familiensachen wie Scheidungen und DNA-Tests spezialisierte.

Charlie war skeptisch. Sie hatten die amerikanische Staatsbürgerschaft. In diesen Zeiten zogen Amerikaner besondere Aufmerksamkeit auf sich. Amerikaner haben Feinde, wie ihre Mutter immer sagte. »Sie haben Osama schon erwischt, Mom«, entgegnete ihr Charlie dann.

Nimm dich in Acht vor Fremden. Sei vorsichtig im Internet.