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In einer anderen Zeit, in einer anderen Realität 1868, Hauptstadt des preußischen Reiches - Berlin. In der Stadt der Zukunft, in der die Elektrokutschen der allgegenwärtigen Industrie- und Fortschrittsgesellschaft ebenso alltäglich sind wie die ersten Luftschiffe, verstecken sich die Kinder der Magie in Gettos, um der Angst des gemeinen Volkes zu entgehen. Die Sonderermittlerin Marie Nestling muss sich mit dem ehemaligen Hauptmann Wilhelm Lämmle zusammentun, um einen grausamen Ritualmord aufzuklären, dessen blutige Wurzeln weit in die Vergangenheit beider zurückzureichen scheinen. Während es für das ungleiche Duo immer schwieriger wird, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, ziehen am Horizont die Wolken eines neuen Krieges auf. Der letzte Krieg, der die deutschen Reiche endgültig vereinen soll.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
WELTENBAUM VERLAG
Vollständige Taschenbuchausgabe
06/2024 1. Auflage
Entfesselte Zukunft –
Von Menschen, Magie und Maschinen
© by Martin Förster
© by Weltenbaum Verlag
Egerten Str. 42
79400 Kandern
Umschlaggestaltung: © 2022 by Magicalcover
Lektorat: Michael Kothe
Korrektorat: Hanna Seiler
Buchsatz: Giusy Amé
Autorenfoto: Privat
ISBN 978-3-949640-81-0
www.weltenbaumverlag.com
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Martin Förster
Entfesselte
Zukunft
Von Menschen, Magie und Maschinen
Steampunk Thriller
Dieses Buch erhebt keinen Wirklichkeitsanspruch, obwohl reale Orte und Institutionen erwähnt werden. Es ist ein Unterhaltungsroman, dessen beschriebene Figuren, Begebenheiten, Gedanken und Dialoge fiktiv sind. Sollten sich dennoch Parallelen zur Wirklichkeit auftun, ist dies reiner Zufall.
Vorwort
Wie sagte es mein geehrter Kollege Herr Frank Schätzing in seinem Werk: Die Tyrannei des Schmetterlings?
»Wenn das Universum in all seiner Pracht unendlich ist, so ist es nicht undenkbar, dass es auch unendliche Gegebenheiten in unendlichen Variationen bietet.«
Und wenn dem so ist, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass irgendwo dort draußen eine andere, eine zweite Erde ihre Bahnen um eine lebensspendende Sonne zieht, begleitet von einem zweiten Mars, einem zweiten Merkur oder auch Titan. Eine Erde, auf der vieles so geschah wie bei uns. Vieles sich aber auch ganz anders ergab. Und in die Vergangenheit einer solchen Erde möchte ich Sie in diesem Buch entführen.
Viel Spaß beim Lesen,
Ihr Martin Förster
Prolog
18. Juni 1815,
Königreich der vereinigten Niederlande
Die Schlacht war sein Orchester und er der Dirigent.
Die Kanonen und Musketen waren seine Pauken, die Säbel seine Streicher und die Schreie der Kämpfenden und Sterbenden sein Chor.
Die weiten Felder und Hügel dienten ihm als Bühne, die Geschichte als sein Auditorium.
Und laut spielte der Tod seine Musik an jenem Tag.
So laut, dass dieses Stück niemals in Vergessenheit geraten sollte.
Der Donner raste durch die kühle Luft, als er den Kanonenkugeln folgte, welche in das tosende Meer aus Fleisch und Stoff geschleudert wurden. Seine Kraft erstickte fast all die Schreie der Kämpfenden, all das Gejaule der Sterbenden, einfach all jene Geräusche, die einst dafür ersonnen wurden, wenn Menschen ihre Menschlichkeit ablegten und mordeten wie geistlose Bestien. Doch kaum war der Hall verklungen, brandete der höllenhafte Chor wieder auf.
Er war so unbändig, wie die Männer, die nun schon seit Stunden zwischen Hougoumont und Frichermont zu Tausenden einander nach dem Leben trachteten und den vom tagelangen Regen aufgeweichten Boden unter sich in eine breiige Masse aus Blut und Dreck verwandelten. Ein Chor, den Antonio Castell mit aller Macht zu ignorieren versuchte.
Er versuchte die Mordlust zu ignorieren, dass Leid und die Angst um sich herum genauso, wie das andauernd wiederkehrende Brechen der Luft. Versuche, die ihm dank seiner Ausbildung durchaus gelangen.
Fast da! Stoisch, unter Aufbringung all seines Willens, arbeitete er sich Meter um Meter durch die Massen der Krieger vor, die einander nach dem Leben gierten und auch nach dem seinigen. Jedoch war er nicht hier, um gegen Menschen ins Gefecht zu ziehen. Daher warf er sich meist einfach in den Matsch, um etwaigen Angriffen auszuweichen. Kroch dann ein Stück auf allen vieren, nur um kurz darauf wieder aufrecht weiterzumarschieren. Oder er ließ einen jener Soldaten an seine Stelle treten und kämpfen, die nur dafür da waren, damit er das vollenden konnte, weswegen man ihn hierhergeschickt hatte. Denn sollte er scheitern, so war alles, war jeder einzelne Tod, war jede Aufopferung vergebens gewesen.
Fast da! Kaum etwas anderes fand noch Platz in seinem Denken und in einem seltenen Moment der Klarheit fragte er sich, ob er überhaupt noch dachte. Ob dies überhaupt wichtig wäre.
Fast da! Eine Fontäne aus Erde, Wasser und menschlichen Resten stieg urplötzlich neben ihm dem Himmel entgegen, als die Welt dort explodierte, wo man eben noch um den Sieg gerungen hatte. Die der natürlichen Ordnung entflohene Melange unterschiedlichster Materialien kam jedoch nicht weit, ergab sich schnell stärkeren Kräften und prasselte als eine abartige Form von Regen wieder auf ihn herab.
Seine Ohren klingelten und piepten und das Chaos um ihn herum verschwamm zu einem unwirklichen Abbild seiner selbst. Wie ein Traum, der sich dem erwachenden Geist zunehmend entzog.
In diesem Augenblick spürte er zum ersten Mal die Müdigkeit, die nach ihm griff. Das Brennen in seiner Lunge. Die Kälte, die ihm immer stärker durch Mark und Bein kroch.
Nur zu gern wäre ein Teil von ihm, ein Teil, den er über allen Maßen verachtete, umgekehrt. Aber jeder Gedanke an Flucht entschwand dankenswerterweise sofort, als die Welt wieder schärfere Konturen annahm.
Fast da! Er war auserwählt worden. Auserwählt von Gott. Gesegnet von Papst Pius VII. selbst und persönlich entsandt von Kardinal Elio Benedict Touróu, um das wiederherzustellen, was verloren ging. Um die Ketten zu sprengen, die der kleine Mann dem Heiligen Stuhl 1807 anlegte. Und um jene zu retten, die nun so verzweifelt nach der Hilfe und der Macht seiner Heiligkeit schrien, obwohl sie diese einst selbst als Relikt vergangener Zeiten abgetan hatten.
Nein, er war nicht hier, um zu fliehen. Genauso wenig wie die Männer, die ihm in diesem Augenblick zur Seite standen. Sie waren gekommen im Namen ihrer Könige. Sie kämpften im Namen der Freiheit von der französischen Tyrannei. Und nun starben sie für ihn. Er würde dafür sorgen, dass ihre Opfer nicht umsonst waren. Er schuldete es ihnen einfach.
Wäre er nicht gekommen, Wellington hätte sich schon längst hinter La Haye Sainte zurückgezogen. Hätte wahrscheinlich dafür gesorgt, dass eine Kompanie seiner Männer sich in dem kleinen Gehöft verbarrikadierte, um die Franzosen jeden vorrückenden Meter mit Blut bezahlen zu lassen.
Doch hätte der Duke das getan, hätte er nicht zugestimmt, einen letzten Ausfall zu wagen, alles wäre verloren gewesen.
Fast da! Nur noch ein paar Schritte. Nur noch die kleine Anhöhe hinauf und es war geschafft.
Fast ... Das Bajonett raste wie ein Blitz auf ihn zu. Es war reines Glück, das sein Denken in dieser Sekunde seinen Reflexen den Vorzug gab. Er ließ sich fallen, rollte durch den feuchten Boden, der an ihm haften blieb wie zerrissene Haut und kam wieder auf die Beine. Sein in Schwarz und Weiß und Blau gekleideter Gegner war der letzte, der ihn noch von seinem Ziel abbringen konnte. Das wusste Antonio und er war nicht bereit, ihn gewähren zu lassen.
Sein Gegenüber hieb wieder zu. Er jedoch wich nach links aus, drehte sich und zog seinerseits seinen Säbel. Dieser schnitt schon im nächsten Moment durch die Luft, suchte das Fleisch des anderen und verfehlte es nur um Haaresbreite. Der unbekannte Soldat, welcher eben noch direkt vor ihm gestanden hatte, war zur Seite gesprungen und schlug mit der Unterkante seines Gewehres zurück.
Schlug und traf. Der Schmerz explodierte in Antonios Schädel, als das Holz gegen seine Stirn rammte und er stürzte wie ein gefällter Baum. Trotz oder gerade wegen all der Kälte fühlte er, wie das warme Blut, sein Blut, an seiner Schläfe hinunterlief, während er zum grauen Himmel hinaufblickte.
Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und presste ihm die Lungen zu. Dennoch wischte er mit seinem dreckigen Ärmel über seine Augen, um seine Sicht zu befreien und im nächsten Moment sah Antonio schon das blau-weiß-rote Abzeichen und den Federschmuck, der an dem schwarzen Helm haftete und sich schnell immer weiter in sein Blickfeld schob.
Es war der Soldat von eben, der jetzt über ihm aufragte, das Gewehr samt Bajonett in die Höhe riss, um ihrem kurzen Tanz ein endgültiges Ende zu bereiten.
Nein! Fast da! Der Knall stieß erst in sein Ohr vor, nachdem sein Gegner über ihm begonnen hatte, zur Seite zu wanken. Der Mann, der eben noch voller Leben und Absichten war, fiel zu Boden, gleich einer geistlosen Puppe, der man die Fäden durchgeschnitten hatte und blieb dort friedvoll liegen.
Und dann veränderte sich der Klang all dessen, was ihn umgab. Etwas Neues hatte sich unter all die Verzweiflung, all den Schmerz und all die Angst gemischt. Etwas, was nur langsam zu fassen war. Doch es war da. Hoffnung. Hoffnung und neu entfachter Siegeswille.
Blücher!? Wahrhaftig. Er ist gekommen. Es muss so sein!, durchzuckte es seinen müden Geist, als er sich keuchend umdrehte. Der Gedanke verschwand jedoch so schnell, wie er gekommen war. Denn es spielte keine Rolle.
Fast da! Er stieß seine Hände in das weiche Erdreich und rappelte sich auf. Ignorierte dabei das Brennen in seinen Muskeln, seinem Kopf und den Schwindel der seinen Magen fast zum Überkochen brachte.
In einem Moment der Schwäche, für den er sich sofort schämte, wäre ihm nichts lieber gewesen als einfach liegen zu bleiben, die Augen zu schließen und abzuwarten, bis die Hölle, in der er sich befand, endlich vorüber war.
Doch wenn er das tat, dann konnte selbst die Ankunft der Preußen die endgültige Niederlage nicht verhindern.
Fast da! Mit neu entfachter Entschlossenheit erklomm Antonio den kleinen Hügel. Seine Stiefel rutschten weg und sein Körper landete mit dem Gesicht nach vorn erneut im Dreck. Er brüllte erstickt in das wenige Gras, welches sein Gesicht bettete.
Fast da! Kriechend legte er die letzten Meter zurück und dann erblickte er sie.
Endlich! Es waren sechs. Natürlich. Es waren immer sechs. Bewacht von einer ganzen Brigade standen sie abseits und bildeten einen Kreis, so wie man es vorhergesehen hatte. Sie hatten ihre Arme weit von sich gestreckt, sodass ihre Fingerspitzen sich fast berührten. Er konnte es erst nicht recht durch die Massen der Soldaten erkennen. Doch als er die Augen zusammenkniff, da sah er es. Die Gestalten in ihren dunklen Gewändern umschlossen einen wabernden, grauen und nicht recht zu erfassenden Nebel, welcher sich wand, zusammenzog, ausdehnte und in unbeschreiblichen Bahnen umherzuckte. Ihr Gesang, der über das Schlachtfeld selbst bis zu ihm wehte, war wunderschön. Auch wenn jede oder jeder von ihnen einen anderen Text zu rezitieren schien, verschmolzen ihre Worte zu einer einzigen Melodie und schufen auf erstaunliche Weise ein harmonisches Gesamtwerk, welches jedem Bühnenstück spottete, das er kannte.
Wunderschön. Ja. Wunderschön und tödlich zugleich.
Endlich! Es musste enden. Wenn Büchner und Wellington noch eine Chance haben sollten, den Despoten zu stoppen, musste es enden. Es würde enden. Jetzt!
Fahrig streifte er die lange braune Umhängetasche von seinem Rücken und zog das in weißes Leinen eingewickelte Mordinstrument hervor, welches nur für diesen einen Zweck, für diesen einen Moment geschaffen worden war.
Es muss enden! Erregung flutete seine gesamte Existenz. Mit zitternden Händen entfernte Antonio den Stoff, der übersät war mit kirchlichen Stickereien, überprüfte kurz das teinschloss und die Zündpfanne, lud die geheiligte Kugel sowie das geweihte Schießpulver in den langen Lauf und legte an.
Atmen.
Atmen.
Atmen.
Sein Herzschlag verlangsamte sich, als seine Lungen begannen langsamer zu arbeiten und die Luft nicht mehr krampfhaft einzuziehen oder auszustoßen. Er zielte, bis die Zittrigkeit aus seinen Gliedern wich. Ein Einziger reichte. Er musste nur einen einzigen dieser auf Erden wandelnden Teufel erwischen und dann war es vorbei. Endgültig.
Der Gesang der sechs schwoll an, als sich seine Welt und die Zeit, die sie vorantrieb, zusammenzog, auf einen einzigen Punkt. Die immer lauter werdende Melodie, das Donnern von Kanonen- und Gewehrkugeln, die Schreie all der Männer, all das wurde zu einem fernen Echo, als seine Augen sein Ziel fokussierten. Das Klicken des Schlaghebels, als er diesen spannte, war dagegen regelrecht ohrenbetäubend.
Und da sah sie ihn an. Genau in diesem Moment, in dieser Sekunde vor dem Ende, hob sie einfach ihren Kopf in seine Richtung. Sie war nicht schön. Nicht hässlich. Doch sie war jung. So unendlich jung. Und ja, in dieser Sekunde zweifelte er. Er zweifelte. Ein letztes Mal. Dann drückte er ab.
Der Knall nahm ihm die Fähigkeit zu hören. Der Qualm des explodierenden Pulvers, welches die fein gearbeitete Kugel durch den Lauf in die Freiheit katapultierte, ließ seine Sicht verschwimmen. Sein Arm schmerzte, als die Waffe in seiner Hand nach hinten und nach oben zugleich ruckte. Doch er besann sich. Es war nicht das erste Mal, dass er geschossen hatte, doch hoffte er, es würde endgültig das letzte Mal gewesen sein. Der letzte Dienst dieser Art für seinen Gott. Für den Gott aller.
Als sein Blick sich klärte, hätte er vor Jubel aufspringen können. Doch stattdessen schoss die Angst ihm durch Mark und Bein. Noch während sein Ziel zu Boden sackte, wandelte sich der harmonische Tanz von Wort und Klang. Verzehrte sich und wich Dissonanz und Chaos. Der Nebel, der eben noch im Kreis der sechs, nun fünf, gefangen war, nutzte das neu geschaffene Schlupfloch, entfleuchte in die Weite, zog sich zusammen und barst dann schlagartig auseinander.
Schnell rutschte Antonio zurück hinter den kleinen Hügel, auf dem er eben noch gelegen hatte. Doch dieser bot ihm keinen Schutz. Der unnatürliche Rauch fand ihn in wenigen Momenten wie so viele andere auch und drang durch jede Körperöffnung in sein innerstes.
Mit weit aufgerissenen, vor Schreck erstarrten Augen sah er mit an, wie seine Haut erbleichte, sich zurückzog, als das Fleisch darunter schwand und seine Finger bald nur noch den Knochen glichen, die ihnen ihre Form gaben. Sein Atem stockte, seine Lungen krampften, sein Körper zitterte wie das Laub einer Espe, als der Tod seine langen, gierigen Krallen jetzt auch nach ihm ausstreckte.
Und er? Er begann im Angesicht des Endes zu lächeln. Lächelte, als die Soldaten um ihn herum zu Hunderten, zu Tausenden fielen. Er lächelte, wie nur jemand lächeln konnte, der absolut zufrieden damit war, was er getan hatte, und dem die augenblicklichen Konsequenzen kaum kümmerten. Denn das Langfristige war es wert gewesen.
Es musste sein! Es musste sein, und es wurde getan.
Lächelnd umarmte er die Dunkelheit, die unaufhaltsam heranrückte. Lächelnd nahm er den Dank seines Gottes an, der ihn nun zu sich holen würde. Lächelnd war er bereit, an der Seite seines Herren zu sitzen bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.
Antonio Castells Lächeln erstarb, als er merkte, dass Teile seines Seins von ihm gingen, der Rest ihnen aber nicht folgen wollte.
1 Schatten der Vergangenheit
Ende Herbst des Jahres 1868,
Hauptstadt des preußischen Reiches
»Wilhelm Lämmle?«
Unerbittlich bohrte sich der hohe Klang der Stimme in seinen vernebelten Verstand und tat wesentlich mehr weh als der Fußtritt gegen seinen Unterschenkel, der diesem vorausgegangen war. Stöhnend zog er sein Bein zurück unter die dicke, kratzige Decke, nur um sich dann in dem knarrenden Bett von der einen auf die andere Seite zu drehen.
»Wilhelm Lämmle?«, klingelte es energisch von Neuem durch seinen Kopf und mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte es sich mehr und mehr so an, als ob eben jener zunehmend mit einem Schmiedehammer bearbeitet wurde.
Nein, er wollte nicht. Bei allem, was heilig war, er wollte nicht. Und dennoch konnte er dem Erwachen nicht entrinnen, gab schlussendlich jeden Widerstand auf und versuchte, langsam seine Augen zu öffnen.
Der stechende Schmerz, verursacht vom grellen Schein, erwies sich jedoch als nicht minder quälend wie der Ton, der ihn in diese Realität zurückgezerrt hatte. Umgehend schloss er seine Lider wieder und bekundete sein Missfallen über die gesamte Situation mit einem gemurrten: »Scheiße.«
»Hauptmann Wilhelm Lämmle!?«
»Ja, verdammt! Schreien Sie nicht so!«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Verschwinden Sie! Himmel noch eins, kann man denn nicht einmal hier ein wenig Frieden haben?«
Ein Moment der Ruhe folgte. Ein Moment, in dem sich eine bittere Erkenntnis in ihm durchsetzte und schlussendlich nuschelnd über seine Lippen wanderte: »Sie werden nicht gehen, oder?«
»Nein«, kam es prompt zurück und entlockte ihm ein weiteres Stöhnen.
»Na schööön.« Seufzend rappelte er sich in eine sitzende Position. Seine linke Hand strich kurz darauf erst über die stoppligen Reste seines Haares, glitt danach hinunter zu seinen Augen, rieb diese mehrmals und fand sich wenig später oberhalb seines ausladenden Moustaches wieder. Dort drückten seine dicken Finger abwechselnd gegen seinen linken und seinen rechten Nasenflügel, während er Luft und Rotz aus dem jeweils anderen Loch hinausstieß. Erst dann wagte er einen weiteren vorsichtigen Versuch, seine Augen zu öffnen.
Es brauchte einige Zeit, bis die verwaschenen Schemen der Welt klarer wurden. Aber seine sich schärfenden Sinne offenbarten ihm wieder einmal schnell, dass Rosemarie endlich etwas an den Räumlichkeiten ihres Liebes-Etablissement ändern musste. Zu schäbig war all das, was ihn umgab. Jedenfalls für den Preis, den sie verlangte.
Andererseits sucht man Rosemarie auch nicht wegen des Interieurs auf, gestand er sich schweigend ein.
Er schaute zur Seite, doch seine Begleitung der letzten Nacht war nirgends zu erblicken.
»Falls Sie die kleine Nutte suchen, sie verschwand, kurz nachdem ich eintrat.«
Seine Augäpfel folgten den Worten und Wilhelm Lämmle nahm den Störenfried, welcher ihn aus seinem hart ertrunkenen Schlaf gerissen hatte, endlich vollends wahr.
Sein in dem vom Staub gebrochenen Licht badendes Erscheinungsbild erschien fast makellos und ließ ihn an diesem Ort in gewisser Weise deplatziert wirken. Ein schwarzer Dreispitz mit goldenen Rändern verbarg den Hauptteil seines braun-rötlichen Haares, dessen Rest zu einem strengen Zopf geflochten war. Die rechte Linie an goldenen Knöpfen seines dunkelblauen Mantels, getragen über nicht minder dunkelblauen Hosen, war so penibel poliert worden, dass es so aussah, als ob dort kleine Sonnen funkelten. Der hochgeschlagene Kragen des enganliegenden Gewands versuchte zudem, große Teile seines Gesichts vor allzu interessierten Blicken zu schützen.
Wahrscheinlich schämt er sich wegen der vernarbten Brandwunden. Verlaufen bestimmt weit über die rechte Gesichtshälfte hinaus, vermutete Lämmle, dessen Gehirn, so ermattet es auch war, sich jedes Detail genauestens einprägte. Berufskrankheit, wie er Rosie einmal gestand.
Dann fiel es ihm auf. Das Antlitz seines Gegenübers sah zwar jungenhaft aus, zugegeben, aber zu feminin, um vollkommen zu verhehlen, dass dort eine Frau vor ihm stand. Kein Bursche, dem es an Fleisch auf den Knochen mangelte oder dessen Stimme viel zu hoch geraten war.
Eine Frau in einem Haus wie dem von Rosemarie schien an sich nichts Besonderes zu sein. Eine Frau in Männersachen, gleich einer Uniform, zudem mit einem Zeichen der königlichen Schutzmannschaft am Revers jedoch schon.
Vor allem eine von solcher Herkunft, dachte er, als er die anderen Eigenheiten dieser Person erkannte.
Doch er sprach diesen Gedanken nicht aus. Ganz im Gegensatz zu anderen: »Erstens, die kleine Bordsteinschwalbe heißt Liliane. Zweitens wusste ich gar nicht, dass von Wurmb neuerdings auch Weibsbilder zur Truppe zulässt. Und drittens, wer zum Teufel sind Sie?«
Die junge Mannsfrau musterte ihn kurz mit hochgezogener Augenbraue, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. »Marie Nestling. Ich bin ihre neue Partnerin.«
»Partnerin?« Sein polterndes Lachen ging in ein schmerzendes Husten über. Schleim fiel auf die dreckigen Holzdielen, bevor sich Lämmle wieder beruhigen konnte, zurücklehnte und ihr somit die Gelegenheit gab, erneut zu sprechen.
»Ja. Partnerin. Ich habe ein entsprechendes Bestätigungsschreiben von Oberst Lund bei mir, falls Sie es sehen wollen. Aber ich würde es vorziehen, Ihnen weitere Fragen zu beantworten, sobald wir auf den Weg sind. Wenn Sie also die Güte hätten, sich anzuziehen und mir zu folgen. Bitte.«
Seine Miene verzog sich zu einer Mischung aus Erstaunen und gespielter Herablassung. Dass sie eine Frau war, noch zu allem eine solche Frau, spielte dabei keine Rolle. Er hasste es einfach, wenn man ihm Befehle erteilte, noch bevor er richtig wach war. Ein Problem, welches schon damals nicht nur einmal für Ärger mit der Obrigkeit des Heeres seiner Majestät gesorgt hatte.
Daher griff er, anstatt aufzustehen, lässig zur Seite und fand auf dem kleinen Abstelltisch seine Pfeife. Ein Streichholz später füllte der kratzende Rauch wohltuend seine Lungen, bis er diesen in die Luft entließ.
»Was kann so wichtig sein, dass Oberst ... Gott, jetzt wirklich Oberst? ... egal, dass Oberst Lund nach mir schicken lässt? Verdammt wusste nicht einmal, dass ich wieder offiziell im Dienst bin.«
Sein Gegenüber, Wie hieß Sie noch? Maria?, seufzte. »Es gab einen Mord.«
»Einen Mord? In dieser Stadt? Donnerwetter, das sind mal Neuigkeiten!«
»Ja, einen Mord. Und die Handschrift gehört augenscheinlich demjenigen, der für die Auslösung der Pogrome vor drei Jahren verantwortlich war. Es scheint so, als ob er zurückgekehrt ist.«
Lämmle entglitten die Gesichtszüge und all der Sarkasmus, der ihn bis eben wie einen Schild umgeben hatte. Stattdessen starrte er blind in den Raum hinein.
»Unmöglich«, entwich ihm heiser der Atem.
»Warum?«
»Was?«
»Warum sollte es unmöglich sein?«
Er verstand erst nicht, bis ihm klar wurde, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Doch da redete sie schon weiter: »Sie selbst gaben damals an, dass Sie nicht mit Sicherheit sagen könnten, was geschah, als Sie ihn stellten. Oder danach.«
»ER IST TOT!«, donnerte seine Stimme als Antwort zurück.
»Ihrer unbewiesenen Aussage nach. Zudem darf ich Sie daran erinnern, dass es keine Leiche gab und der Fall daher nie offiziell abgeschlossen wurde«, entgegnete sie kühl. »Jedenfalls hielt Oberst Lund es für eine gute Idee, Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in den Augen des Reiches zu rehabilitieren. Oder wie er es ausdrückte, eine alte Schuld zu begleichen. Also bewegen Sie jetzt ihren versoffenen Arsch und kommen Sie mit. Sie haben fünf Minuten. Ich warte unten.«
Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihn allein zurück, während sein Geist krampfhaft versuchte, das eben Gehörte zu verarbeiten.
»Unmöglich.«
Und wenn doch?
»Unmöglich!«
Von der einen zur anderen Sekunde wurde er nüchtern, jedenfalls soweit es seinen Geisteszustand betraf, nicht unbedingt seinen Körper. Etwas schwankend stand er auf und schlüpfte hastig in seine braune Hose, die schwarzen Stiefel sowie das weiße Hemd. Dann legte er das Holster mit dem darin enthaltenden Revolver an und warf den langen braunen Mantel über, welcher am Abend zuvor achtlos und im wilden Spiel zweier begieriger Körper einfach auf dem Boden liegen gelassen worden war. Danach schaute er sich stirnrunzelnd um, schritt zu dem kleinen Tisch hinüber und versicherte sich nach wenigen Handgriffen, dass die schwarze Melone, die eben noch dort ruhte, wieder ordentlich sein Haupt bedeckte. Mit der Pfeife im Mund verließ er zwei Minuten später das Gemach, während sein Sprachschatz weiterhin kaum mehr als ein Wort kannte: »Unmöglich.«
Ihre Hände suchten die Wärme ihrer Manteltaschen, während sie wartete. Leicht zerrte der kalte Morgenwind an ihr, doch sie nahm keine Notiz davon. Ihr gesamtes Denken galt dem Kennenlernen dieses Kerls, welchen ihr das Schicksal aufgebürdet hatte. Jeder Satz, jedes Wort, das sie gewechselt hatten, wurde von ihrem Verstand nun analysiert, auseinandergenommen und in andere Kontexte eingebunden.
Er wirkt in gewisser Weise verloren, ungehobelt, eigen, aber nicht dumm. Bei Weitem nicht. Er glaubt, was er sagt. Oder besser, er wünscht sich, es glauben zu können. So wie alle, die die Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Und dennoch, Wut ist der Begleiter der Unsicheren. Er zweifelt. So oder so, es wird sicher nicht einfach mit ihm.
Ein Knarren vor ihr verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit und schnell schnürte sie ihre Überlegungen zu einem handlichen Paket, um dieses sicher in einem entfernteren Winkel ihres Geistes zu verwahren. Und irgendwie überraschte es Marie Nestling, dass dieser Lämmle halbwegs nüchtern wirkte, als er die Eingangstür zu Rosemaries Puff durchschritt.
Schnell erweiterte sie ihre Bestandsaufnahme um eine weitere Notiz: Ein gestandener Trinker. Wahrscheinlich abhängig. Das wird ja immer besser. Die krächzende Stimme der rothaarigen Bardame mit dem ausladenden Vorbau jagte ihm noch hinterher und verkündete, dass sie von Liliane lieb grüßen solle.
Dies veranlasste ihn wiederum zu einem verschmitzten Lächeln und einer lautstarken Antwort: »Bestell ihr liebe Grüße zurück und sag ihr, sie ist wirklich ein kleines Wunder!«
Der halbe Häuserzug musste dies gehört haben.
Dann schloss sich die schwere Holztür hinter dem in die Jahre gekommenen und in die Breite gegangenen Mann, und er trat weiter zu ihr in die eisige Kälte.
»Nun, meine Dame, wo soll‘s hingehen?«
Sie verdrehte nur die Augen. Ohne auf seine Frage einzugehen, wendete sie sich ab und schritt schweigend die kleine Seitengasse entlang, bis ihr Weg an der Brandenburgerstraße endete. Er folgte ihr dankenswerterweise weitestgehend stumm und ließ sich nur einmal zu einem abfälligen Kommentar bezüglich des aktuellen Wetters hinreißen.
Was veranlasst die Leute nur, immer übers Wetter zu reden, wenn sie nichts zu sagen haben? Als ob Stille etwas Unheilvolles wäre, kam es ihr in den Sinn, aber sie verwarf diesen Gedankengang sofort wieder. Er war nur Ablenkung und Ablenkung war der Tod der Genauigkeit. Ein Umstand, den sie sich nicht leisten konnte oder wollte.
Die stählerne Elektrokutsche wartete bereits am Straßenrand und summte monoton in den Tag hinein, als sie aus den Schatten der Häuser trat. Sie hörte, wie ihr Anhängsel kurz stehen blieb und leise pfiff, als ob er noch nie eines dieser funkelnden kleinen Schiffe mit den großen Rädern gesehen hatte. Doch auch dies ließ sie unkommentiert. Stattdessen öffnete Marie Nestling die schwere Schiebetür.
»Wohin?«, fragte der Fahrer auf dem überdachten Kutschbock am Bug, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er wirkte eingeklemmt, wie er da so saß, zwischen zwei langen Hebeln und einem großen zum Lenken gedachten Reifen aus Holz, der durch eine Stange mit dem Rest des Gefährts verbunden war.
»St. Michael.«
»Sehr wohl.«
Die Worte schienen wie ein Weckruf zu sein, denn Lämmle setzte sich endlich wieder in Bewegung und schloss zu ihr auf, während sie schon im Inneren Platz nahm.
»Bitte hier drin nicht rauchen.«
Er schaute abschätzig zu ihr auf, zögerte kurz, machte dann jedoch ohne ein Widerwort die Pfeife aus und verstaute sie in seiner Manteltasche, bevor er sich ihr gegenüber auf das rote Leder quälte.
Ein kleines Seufzen entfloh daraufhin ihren dünnen Lippen, bevor sie die Tür schloss: Nein, es wird definitiv nicht einfach mit ihm werden.
Leise und mit der Kraft aus den hängenden Leitungen über ihnen betrieben, welche durch den Abnehmerarm am Heck direkt zum Motor geleitet wurde, setzte sich der Wagen in Bewegung, beschleunigte und fuhr bald schon stoisch die breite Allee entlang.
Immer nach Norden. In Kürze würde er auf die Oranien- und dann auf die Pariserstraße einschwenken, um irgendwann auf die Köpenicker- und über diese bis zur Michael Kirchstraße zu fahren. Dorthin, wo das Grauen auf seine Insassen wartete.
Wilhelm Lämmle sah unentwegt durch das Bullauge zu seiner Rechten und betrachtete die vorbeiziehenden Häuser der Hauptstadt des preußischen Reiches. Und er lächelte dünn.
Berlin. Seine Stadt. Die Stadt, die ihn geboren, geschmiedet und schlussendlich beinahe vernichtet hätte. Doch er liebte sie und würde es weiter tun, bis zum bitteren Ende.
Es war ein wilder Mix aus verschiedenen Baustilen, welche sich dieser Ort über die Jahrhunderte zu eigen gemacht hatte. Die Gothic löste den Klassizismus ab, verschmolz zuweilen mit der Neorenaissance und wurde immer wieder von Auswüchsen der Biedermeier- oder Revolutionsarchitektur unterbrochen. Manche der mehrstöckigen Gebäude waren wahre Prunkbauten. Prahlten geradezu mit ihren dicken Sandstein-Quadern, die ihre Front bildeten, und mit den dort angebrachten kunstvollen Figuren, steinernen Ornamenten sowie dem ganzen vernieteten Stahl und verbauten Glas. Andere Backsteinhäuser dagegen wirkten mit ihrem gammelnden Fachwerk, als wären sie schon vor hundert Jahren einfach vergessen worden. Alt neben Neu. Arm neben Reich.
Gemein hatten sie jedoch, dass zu dieser frühen Stunde in den meisten ihrer Fenster noch der erleuchtende Segen Wilson Swans und dessen Förderer Albert Mahnmahls brannte. Gespeist wurde jener wie auch die stählerne pferdelose Kutsche, in der er saß, durch das sogenannte Wunder der Elektrizität, das man über die unzähligen schwarzen Kabel transportierte, die die Stadt wie ein von einer gigantischen Spinne gewobenes Netz durchzogen.
Vereinzelt entdeckte Lämmle dicke Rohre, die sich an die Fassaden schmiegten, überall dort, wo in den Hinterhöfen kein Platz für diese zu sein schien. Sie gehörten zu einem sich stetig ausbreitenden Geschwür, wie er fand, das dazu diente, die Nässe der Spree zu der wachsenden Anzahl an kleinen Pumpstationen und Dampfgeneratoren zu leiten.
Diese ewig bewachten und ewig nach Kohle hungernden und nach Wasser dürstenden Maschinen unterstützten das weitaus größere Kraftwerk weit außerhalb, um mit ihrer ganz eigenen Magie aus Hitze und Flüssigkeit den so genannten Strom zu erzeugen, nach dem die Stadt und ihr Wachstum immer mehr gierten.
Wilhelm beobachtete den dichten Rauch, der aus den vielen Schornsteinen hinaufstieg und sich mit dem Gas vermischte, das aus diesen Generatoren ausströmte, um am Himmel hängenzubleiben. Langsam begannen die Menschen, durch die Straßen zu wandeln und in quaderförmigen Kästen aus Holz auf Schienen die Hauptstraßen entlangzurasen. Eines dieser Ungetüme holperte lautstark an ihnen vorüber und präsentierte seine aus Messing bestehenden Schmuckranken, die es an den Seiten umschlungen und dem Gefährt wohl eine gewisse Opulenz verleihen sollte.
»Es hat sich einiges verändert, oder? Ich meine, nachdem Sie die Stadt verlassen haben. Vieles stand damals erst am Anfang.«
Er zuckte zusammen, als ihre Stimme sacht ertönte.
»Es verändert sich doch dauernd etwas«, kommentierte er nur stumpf und gab sich dann erneut dem Schweigen hin.
»Ja, aber die Geschwindigkeit ist beeindruckend, wie ich finde. Glauben Sie, dass es besser geworden ist?«
Er schaute sie nicht an, sondern fokussierte eines der neuartigen Luftschiffe, das gerade majestätisch und still in Richtung Osten über die mal mehr, mal weniger roten Schindeldächer schwebte. Dorthin, wo die neuerbauten Landeplätze mit ihren vielen kleinen Türmchen nur darauf warteten, allen Reisenden den Weg zurück auf die Erde zu weisen. Das Ding sah aus, als hätte man drei große, glänzend ledrige Kugeln in einen Rahmen aus vier geschwungenen dünnen Metallschienen gesperrt, an denen wiederum eine kleine silbrige Zigarre hing und mehrere weitere kreisförmige Objekte montiert waren. Es war eines der ersten seiner Art, so hatte es Lämmle jedenfalls in der Zeitung gelesen. Doch wenn es nach der Mahnmal Industrie- und Fortschrittsgesellschaft ging, würden bald Hunderte dieser Dinger zwischen jeder Großstadt des Reiches und weit darüber hinaus Tag ein, Tag aus hin und her fliegen.
»Besser? Was? Seit wann? Meinen Sie seit dem Sieg über den kleinen Mann oder seit den anderen Konflikten der letzten Zeit? Oder nach der Rückkehr seiner Heiligkeit auf den Thron in Rom und das Erstarken der Inquisition? Oder nach der Revolution? Oder nachdem man begonnen hatte mit diesem neuen Schnickschnack? Stadt der Zukunft – so ein Blödsinn.«
»Alles, schätze ich.«
Er spürte, dass sie ihn beobachtete und jede seiner Reaktionen genauestens studierte. Er wusste nur nicht, warum.
»Hören Sie, Maria ...«
»Marie.«
»Meinetwegen. Aber es ist viel zu früh, ich bin viel zu verkatert und viel zu unpolitisch, um mich auf eine derartige Diskussion einzulassen.« Er grinste breit und sie zog ernüchtert eine Augenbraue in die Höhe, bevor er sich wieder abwandte und erneut aus dem kleinen Fenster sah. Ein Mann in Uniform sauste stehend an ihnen vorbei und Lämmle erkannte noch ein unbeholfen in weißer Farbe gekitzeltes ‚Einigkeit‘ auf einem sonst roten Schild, das dieser gerade von einer der vielen neuen dunkelgrünen Straßenlaternen abnahm.
Schwer atmete er aus. Eindeutig zu unpolitisch.
Anstatt ihn weiter mit Fragen zu malträtieren, holte Marie Nestling einen runden, länglichen Zylinder hervor, der sich zuvor in einer braunen Tasche neben ihr auf dem dunkelroten ledernen Stoff versteckt hatte. Ihre schlanken, fast knochengleichen Finger öffneten den oberen Verschluss, drehten an einem kleinen Ventil und gossen den heißen dunklen Inhalt in die zuvor abgenommene Kappe. Dann reichte sie sie dem grummeligen Mann. Es war eindeutig ein Friedensangebot für einen Krieg, der noch nicht einmal richtig begonnen hatte, und dennoch konnte er nicht aus seiner Haut: »Kräutertrank, Gift oder Kaffee?«
»Das Letztere. Wie kommen Sie auf die beiden Ersteren?« Er nahm den improvisierten Becher, roch kurz daran, was zu einem gutmütigen Spiel seiner Lippen führte und trank einen Schluck, bevor er wieder ansetzte. »Bei euch Magischen weiß man doch nie.«
Für den Bruchteil einer Sekunde bekam ihrer Fassade aus purer Selbstsicherheit einen leichten, kaum merklichen Riss.
»Warum nehmen Sie an, dass ich jenem Teil der Menschheit angehörig bin?«
»Es fällt den meisten vielleicht gar nicht auf, aber Sie haben diese kleinen, bläulich schimmernden Punkte im Weiß um Ihre Pupillen herum wie all die anderen auch. Kaum zu erkennen bei Ihnen, das gebe ich zu, aber, nun, ich mag alt geworden sein, doch ich sehe noch so gut wie eh und je.«
»Jaaaaa, wir haben gleich dein inneres Feuer gespürt, Kleines.«
Wilhelm knackte kurz seinen Nacken, schloss für einen Moment die Augen und warf die kratzige Stimme in seinem Kopf zurück in die Dunkelheit.
»Haben Sie Schnaps?«
Marie schaute ihn wieder mit einer hochgezogenen Augenbraue an und er erwiderte ihren Blick mit einem unaufrichtigen schiefen Lächeln. »Das heißt wohl nein.«
Der Wagen rollte unruhig über das dicht gelegte Kopfsteinpflaster, bis er endlich fast direkt vor dem Ufer der Spree zum Stehen kam. Aber eben nur fast. Denn die Leitungen, die ihm seine Lebenskraft schenkten, endeten bei der gerade mal zehn Jahre alten St. Michael, die trotzig über den Fluss wachte.
Lämmle fröstelte es, als er aus der Wärme des Gefährts zurück in die Kälte des Tages stieg und das Bauwerk zweifelnd betrachtete: Was für eine Geldverschwendung!
»Ziemlich protzig, finden Sie nicht?«
Als die erwartete Antwort ausblieb, drehte er sich um, suchte und stolperte dann sofort los. Der ehemalige Hauptmann der königlichen Schutzmannschaft Berlins musste sich aus Leibeskräften bemühen, um seiner sogenannten neuen Partnerin hinterherzukommen.
»Scheiße, nun warten Sie doch!«
Doch sie wartete nicht und marschierte unbeirrt schnellen Schrittes weiter, direkt zu einem alten, verfallenen Bootshäuschen, dessen einzige Freundin eine knorrige Linde zu sein schien, deren besten Tage schon lange hinter ihr lagen.
Unwillkürlich spannten sich Lämmles Muskeln, während sein Blick über das verrottende Holz strich. Als ob sein Körper schon wesentlich mehr begriff als sein Verstand.
Das Ding schreit ja förmlich danach, eine Leiche zu verstecken, durchzuckte es ihn, als er kurz innehielt, um zu Atem zu kommen. Aber Marie Nestlings scharfe Stimme kettete ihn an sich und zog ihn hinter sich her wie einen räudigen Vierbeiner. »Kommen Sie schon!«
Reflexartig verdrehte er die Augen, verdrängte jeden Fluchtinstinkt aus den Fasern seines Körpers und schlenderte widerwillig weiter.
Kurz bevor er zu ihr aufschloss, wechselte sie schon einige Worte mit einem Gendarmen, der vor dem schiefen Bretterhaufen wachte und dessen Gesicht teilweise im Schatten einer Pickelhaube verschwand. Seine opulenten Ausmaße verrieten ihn jedoch sofort.
»Grüß dich, Günther. Wie geht‘s Frau und Kind?«, kam es daher betont sarkastisch von Lämmles Lippen, als sich der Hüne ihm in den Weg stellte, nachdem er die Nestling hatte passieren lassen.
»Wilhelm«, nickte der andere zurück, ohne sich auch nur einen Millimeter zu rühren. »Alles bestens. Wie immer. Wie geht‘s der Leber?«
»Wahrscheinlich besser als deinem Herzen. Und nun mach Platz. Madam dort hinten wird schon ungeduldig.«
Günther Waltz schaute hinter sich und spuckte dann auf den Boden, bevor er zur Seite trat. »Ich behalte dich im Auge.«
»Sicher. Hoffe, es tut nicht zu sehr weh.« Lämmle schüttelte nur den Kopf, als er an der menschlichen Mauer vorbeitrat, die unbeweglich stehen blieb, und kurz darauf durch das hindurchging, was einmal eine Tür gewesen war.
Als ob ich Lust hätte hier zu sein, du dicker ...
Der Hauptmann war schon seit Längerem der Meinung gewesen, in seinem Leben so viel Elend erlebt zu haben, dass ihn nichts mehr wirklich schockieren konnte. Doch nun musste er erkennen, dass er sich geirrt hatte. Dass alles in ihm sofort danach verlangte, kehrtzumachen und die nächste Bar aufzusuchen, lag nicht einmal so sehr an dem umwerfenden Duft, der in der von Fliegen erfüllten Luft hing oder der Anblick, der sich ihm nun bot.
Nein. Vielmehr war es die Erinnerung, die aus weiter Ferne heranrollte wie ein Tsunami und seinen Puls in die Höhe schnellen ließ. Zittrig griff er in seinen Mantel, holte die Pfeife wieder hervor, deren Kraut rein rechtlich nicht gern in der Öffentlichkeit gesehen wurde und zündete sie an. Er brauchte drei Versuche, bis der Rauch endlich in seine Lungen eindrang, um dort alles dafür zu tun, seine entspannende Wirkung zu entfalten.
»Meine Güte, ein wahres Kunstwerk.«
»Hm. Ich finde, Feuer hätte ihr besser gestanden.«
»Sie finden doch immer, dass Feuer allem besser steht.«
»Es ist nun mal eine universelle Schönheit, die Schönheit erschafft, Herr Doktor.«
»Was wissen Sie schon von Schönheit?«
»Bitte, meine Herren. Seien sie nicht so geschmacklos. Das arme Ding!«
»Verflucht noch mal. Nicht jetzt!«, zischte Lämmle, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die ihn seit so langer Zeit heimsuchten.
»Wie meinen Sie?«, fragte die einzig andere lebende Person in seiner Gegenwart und umkreiste dabei mit Bedacht die zur Schaustellung purer Grausamkeit, die die Mitte des Raumes ausfüllte.
»Äh, wie bitte?«
»Sie flüsterten erst lautstark: ‚Nicht jetzt!‘, und baten dann um Ruhe. Alles in Ordnung?«
»Äh ja. Nein. Wie könnte es auch bei so einer Scheiße hier?«
»Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ach, tun Sie das?«
»Durchaus. Aber Sie sind hier, weil Sie mich unterstützen sollen. Also konzentrieren Sie sich bitte und machen Sie ihre Arbeit.«
Fahr doch zur Hölle, du kleines Miststück, und nimm Lund gleich mit. Noch einmal zog er an der Pfeife und versuchte, alle Bilder der Vergangenheit zurück in das Loch zu zwingen, aus dem sie gespült worden waren.
Aber was, wenn ich mich geirrt habe? Tief atmete er ein und aus, bevor er den Tod, der vor ihm hing, genauer in Augenschein nahm.
In annähernd zwei Metern Höhe hatte irgendeine Abscheulichkeit dicke metallene Nägel durch zarte, eng zusammengeschnürte Knöchel in das Holz des Hauptträgers getrieben, welcher das Dach mit dem Boden verband.
Striemen, Schnitte, Verbrennungen und unzählige Blutergüsse zierten den schmächtigen blassen Torso, der so gleich dem Leib einer Kuh im Schlachthaus nach unten hing.
Dort, wo jugendliche straffe Brüste hätten sein sollen, war die Haut aufgeklappt wie bei einem ledrigen Zelt, dessen Eingang nun einladend offen stand. Weit gespreizte Rippen ragten hervor und glichen dürren Fingern, die noch versuchten, verzweifelt das zu greifen, was ihnen entrissen worden war.
Die Arme der Toten, Scheiße noch mal, sie kann kaum 18 gewesen sein, hatte man zu beiden Seiten ausgestreckt und mit weiteren Nägeln durch die Hände fest mit den Dielen verankert.
Fleischige Höhlen starrten ins Leere, als ob sie nach ihren verlorenen Augen Ausschau hielten und weinten rote Tränen, während das einst goldgleiche Haar unter ihnen in einer kleinen Pfütze ruhte, die mehr aus Blut als aus Wasser bestand.
»Ihr Herz fehlt. Sehr interessant.«
»Also, ich finde es ja obszön. Man hätte sie wenigstens bedecken können.«
»Seien Sie nicht so prüde!«
Lämmle zog wieder an seiner Pfeife und nuschelte ein ersticktes: »Ruhe, verdammt!«
»Ich habe nichts gesagt. Haben Sie etwas gehört?«, fragte Nestling und musterte ihn weiterhin interessiert.
Er wollte schon etwas sagen, hielt sich dann aber zurück. Die Gestalt war aus dem nichts aufgetaucht, so wie sie es immer taten, und Lämmle beobachtete, wie die junge Frau, die ihn hierher geschleift hatte, durch die bläulich schimmernde Aura des Arztes schritt, der fasziniert die Tote betrachtete.
Sie wirkte dabei wie ein Raubtier, dessen Beute jedoch nicht das erlegte Fleisch, sondern er selbst war. Als sie ihren Rundgang endlich beendete, trat sie neben Lämmle und gab diesem noch einen Moment, bevor sie die einzige wichtige Frage aussprach, die es zu stellen galt.
»Wie stehen Sie nun zu meiner Einschätzung und der von Oberst Lund? Könnte es derselbe Täter gewesen sein?«
»Nein, eher nicht. Jedenfalls nicht nach all dem, was ich gelesen habe.«
»Dr. Peter Hängle, nun lassen Sie den Herrn Hauptmann seine Arbeit tun.«
»Professor Doktor. So viel Zeit muss sein, meine Teuerste. Und gönnen Sie mir doch diese kleine Freude, Madam. In letzter Zeit gab es nicht viel davon.«
»Sie verhalten sich wie ein ungezogenes Balg im Süßigkeitenladen.«
Der Doktor schaute kurz zur rechten Seite und Lämmles Blick folgte dem seinen zu einem kleinen Fenster. Die ebenfalls bläulich schimmernden Umrisse der Madam standen dort, die sich wie immer in ausladendem Barock präsentierte und tadelnd zum genauso kontrastlosen Abbild des Arztes sah. Dieser zuckte kurz mit den Schultern, bevor er verschwand. Dann blickte sie den Hauptmann direkt an. »Nur zu, mein Guter, tun Sie ihre Arbeit. Ignorieren Sie uns einfach. Wie immer.«
»Nein, also, ich meine nicht unbedingt«, kam es folgend schwermütig klingend aus Lämmles Mund, der sich nicht länger gegen all die Erinnerungen von einst wehren konnte. Diese stürzten auf ihn ein und jedes Detail, jeder Schmerz und Wahnsinn der vergangenen Tage türmte sich in ihm auf, um bereitzustehen, wann immer er eine der schrecklichen Informationen benötigte. Ob er wollte oder nicht.
»Welche Zweifel haben Sie?«
»Nun, wir können durchaus nicht ausschließen, dass hier ein Nachahmer zur Tat geschritten ist. Meinen Sie nicht? Die Beschreibungen, in welchem Zustand die Opfer damals gefunden wurden, standen zum Ende hin in jedem Schmierblatt. Zudem gibt es auffällige Unterschiede.«
»Welche?«
»Die Brutalität zum Beispiel. Bis auf das Herausschneiden des Herzens und die – sagen wir mal – Platzierung der Leiche waren die anderen Opfer sonst unversehrt. Das hier sieht so aus, als ob man das Mädel bis auf die Knochen gefoltert hat.
Zudem haftete den früheren Morden immer eine gewisse ...«, er überlegte kurz, um das richtige Wort zu finden und räusperte sich dann. Denn wenn das falsche Wort zur falschen Zeit in das falsche Ohr gelangte, so konnte es die Welt in Brand setzen. Das wusste Lämmle aus eigener Erfahrung nur zu gut.
»Ritualität ist vielleicht der Begriff, den Sie suchen?«, hakte Nestling ein und entlockte ihm so ein Schnauben.
»Ja, wenn Sie es so nennen wollen. Jedenfalls war es da. Mal mehr, mal weniger. Dem, der das hier tat, scheint dafür jegliche künstlerische Ader zu fehlen.«
»Künstlerische Ader?«
»Die Orte, wo wir die anderen Leichen fanden, waren immer mit Symbolen aller Art übersät, deren Bedeutung sich uns entzog. Gezeichnet mit dem Blut der Opfer. Doch hier? Nichts.«
»Und sehen Sie sich das an, Herr Hauptmann. Das ist doch durchaus aufschlussreich. Die Todesflecken sind noch im Begriff, sich zu verfärben und bei Weitem nicht vollends ausgebildet. Trotz der niedrigen Temperaturen kann der Tod noch nicht allzu lange her sein«, erklang wieder der betont aufgeregte Tenor des Doktors, dessen Essenz sich erneut manifestierte und nun vor der Leiche hockte.
Schnauze!, schrie Lämmles Hirn ihm entgegen, bevor er seine Lungen mit Luft füllte und sich eingestand, dass dieses Ding wahrscheinlich recht hatte.
»Es scheint auch, dass die Tat nicht sehr lange vor ihrer Entdeckung geschah. Doch die anderen Leichen fanden wir immer erst Tage später«, murmelte er dann.
»Wenn er es wollte, nicht wahr?«
Sie starrte ihn an, was er jedoch geflissentlich ignorierte.
Es vergingen ein paar Momente, bis Marie Nestling einlenkte. »Nun gut, wie kommen Sie darauf?«
»Sehen Sie sich die Haut genau an. Die Todesflecken«, erklang Lämmles Stimme, als ob er den Hauch eines Vorwurfs nie gehört hätte. »Die Färbung. Alles wirkt noch recht frisch.«
»Interessante Beobachtung. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich in der Leichenschau auskennen.«
»Tue ich auch nicht. Aber über die Jahre lernt man einiges.«
»In der Tat.«
Langsam löste er sich aus seiner Starre, die ihn bis jetzt an Ort und Stelle gehalten hatte, und folgte vorsichtig Nestling auf dem knarzenden Bretterboden entlang zu dem Leichnam.
»Grundgütiger, sagen Sie ihr, dass ich mich nicht irre! Dieser Zweifel ist beleidigend.«
Er ignorierte den Doktor, der Nestling einen wütenden Blick zuwarf, als er sich zu ihr hockte und wechselte das Thema. »Wie hat man sie gefunden?«
»Gendarm Waltz hat den Tatort bei seinem Rundgang entdeckt und die Dienststelle informiert.«
»Waltz? Ihr Ernst?«
»So wurde es mir berichtet. Oberst Lund war des Morgens schon erreichbar und aufgrund der Beschreibung von Waltz nahm er direkt zu von Wurmb Kontakt auf, der anwies, dass niemand das Bootshaus betreten dürfe, bis ich hier bin.«
»Das heißt, Sie waren schon hier?«
»Ja. Und habe dann nach einer kurzen Unterredung mit dem Oberst auf dessen Wunsch hin Sie geholt, damit Sie einen ungefilterten Eindruck vom Tatort bekommen.«
»Na danke.«
Es dauerte kurz, bis sein Verstand jedes Wort verarbeitet hatte, doch dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen. »Warum gerade Sie?«
»Von Wurmb hat mich hinzugezogen, da ich auf Verbrechen in Verbindung mit einem bestimmten Milieu spezialisiert bin, wie Sie sicher schon geschlussfolgert haben.«
»Denken Sie wirklich, das hier hat ein Puer Magicae getan?«
»Möglich. Und wie ich anmerken darf, Sie vermuteten damals schon früh das Gleiche.«
Lämmles Blick wurde finster, als er erwiderte: »Was nie eindeutig bewiesen wurde. Und wozu Vermutungen führen können, haben wir ja gesehen.«
»Richtig. Weshalb wir das hier mit äußerster Diskretion behandeln sollten.«
Er nickte nur und verband alle Bilder, die durch seinen Geist blitzten, um sich neu zu fokussieren. Irgendetwas nagte an ihm, ohne dass er es recht zu fassen bekam.
»Ich wusste gar nicht, dass von Wurmb Spezialisten für derartige Fälle hat.«
»Hat er auch nicht. Ich bin die Einzige. Doch er meinte schon früh und erst recht seit den damaligen Vorkommnissen, es könnte nützlich sein.«
»Und warum gerade Sie?«
»Fragen Sie wegen meiner Abstammung oder weil ich eine Frau bin?«
Wilhelm runzelte die Stirn. »Ich weiß gern, mit wem ich zusammenarbeiten soll. Der Rest ist mir, mit Verlaub, scheißegal. Doch es erscheint mir im Allgemeinen ungewöhnlich, dass von Wurmb überhaupt jemanden aus Ihrer Zunft rekrutieren konnte. Soweit ich weiß, seid ihr doch sonst eine eher verschworene Gemeinschaft.«
Sie sah ihn nicht an, sondern betrachtete wie gefesselt die roten Punkte auf der fahlen Haut vor ihr. Als nach einigen Momenten immer noch keine Antwort ihren Mund verließ, schnaubte er abfällig, beließ es aber erst einmal dabei, um selbst seinen Blick über das nackte Mädchen streifen zu lassen.
»Hm.«
»Was ist?«
»Sehen Sie den Finger dort? Sieht gebrochen aus.« Er wies auf ihre linke Hand.
»Anhand der Druckstelle würde ich sagen, jemand versuchte offenbar einen Ring zu entfernen«, kam es nachdenklich von ihr.
»Nicht nur versucht.« Langsam strichen seine Finger über die schmalen, leblosen Glieder, die nicht nur aufgrund der Leichenstarre gegen die seinen wirkten wie dünne Äste. »Fühlt sich ölig an. Saß wohl sehr fest.«
»Sie war eventuell verlobt und der Täter war so umsichtig, diesen Hinweis mit sich zu nehmen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Langsam erhob er sich wieder und drehte sich suchend im Kreis. »Wann waren Sie noch mal hier?«
»Gegen 07:30 Uhr.«
»Wann hat Waltz Meldung gemacht?«
»Gegen 06:30 Uhr.«
»Schlafen Sie nicht?«
Nestling lächelte dünn. »Andere Fälle, andere Umstände, Herr Lämmle. Manches hält einen wach. Doch das ist nicht von Belang.«
»Wenn Sie meinen. Also war unsere Leiche einige Zeit allein oder rein in der Gesellschaft mit unserem guten Günther.«
»Wollen Sie Gendarm Waltz etwas unterstellen?«
»Um Gottes Willen, niemals. Ein schlecht bezahlter Reichsdiener mit einer Frau, deren Stand ihr seit langem nicht genug ist, und mit drei Kindern? Wie könnte man an dessen Gesinnung zweifeln«, echauffierte er sich gespielt. Es knarrte unter seinen Schritten, die ihn nur einen Meter weiterführten.
»Sieht aus, als ob jemand versucht hätte, hier eines der Bodenbretter anzuheben.« Lämmle packte das Holz und zog daran. »Hm. Kaum zu bewegen. Lässt sich nur einen Spalt öffnen. Da passt keine erwachsene Hand durch.«
»Ich werde anweisen, dass man den Boden aufreißt, sobald wir Oberst Lund Bericht erstatteten. Wenn wir etwas Glück haben ...«
Ein Krachen brach von draußen herein, dem kurz darauf eine männlich herbe Stimme folgte. »HALT, VERFLUCHT!«
Maries schlanker Körper schoss geschmeidig in die Höhe und stürmte hinaus. Lämmle wollte es ihr schon gleichtun, bevor eine andere Stimme ihn aufhielt.
»Oh, der arme Junge. Hoffentlich hat er sich nichts getan.«
Langsam, aber nicht zu langsam, begab er sich zu dem kleinen Fenster, wo die durchscheinende Gestalt der Madam hinausschaute, wie immer umhüllt von der vertrauten, leicht bläulich schimmernden Aura. Er folgte ihrem Blick und sah noch eine dunkle Mütze etwas entfernt ins Gebüsch verschwinden, der zwei nackte Füße und wenig später die ausladende Erscheinung Waltz‘ folgten.
Dick und schwer hing der Zigarrenqualm unter der Decke des fensterlosen Raumes. Es war ein schlichtes Zimmer. Keine Bilder, kein Wandschmuck, keine Regale. Nur ein alter massiver Schreibtisch, der monolithisch die Mitte einnahm, als ob er schon immer da gewesen wäre, auf ewig bewacht von drei Sitzgelegenheiten. Das einzige Licht kam von einer kleinen Tischlampe mit grüner Haube. Diese machte es sich neben einem Aschenbecher und einem neumodischen Telesprech-Apparat, einer einfachen, schlanken Halterung, an deren Ende eine kleine schwarze Hör- sowie Sprechmuschel hing, auf dem hölzernen Ungetüm bequem.
Der Einrichtungsstil dieser vier Wände im Kommissariat der Schutzmannschaft Berlins sprach Bände über denjenigen, der hier seiner Arbeit nachging. Keine Ablenkung vom Denken und Tun.
»Also, was haben wir?«
Oberst Lund lehnte sich weit in seinen breiten ledernen Stuhl zurück und fuhr sich mit seiner Linken über den Schnauzer, um einige Tropfen des noch warmen Kaffees wegzuwischen, welche dort respektlos hängengeblieben waren. Seine Uniform saß tadellos und unterstrich geradezu seine Autorität, die weit über das ihm zugestandene Büro hinausging. Seine stahlblauen Augen unter der gefurchten und von einigen Altersflecken gezeichneten Stirn fokussierten dabei den ihm gegenübersitzenden Lämmle.
»Der Name des Mädchens, ihr Alter und ihre Herkunft sind uns momentan nicht bekannt«, erwiderte die stehende Marie Nestling, die, wie Lämmle auch, es vorzog, Hut und Mantel anzubehalten, während sie Bericht erstattete. »Ebenfalls liegt der Hergang der Tat völlig im Dunklen. Die ersichtlichen Auswirkungen derselbigen konnten bisher keinen weiteren Aufschluss darüber geben. Wir können nicht einmal sagen, ob der Tod des Opfers im Bootshaus selbst erfolgte oder ihre Leiche dorthin gebracht wurde.«
»Hm«, entgegnete Lund ruhig. »Eine Unbekannte, die man nackt und falsch herum kreuzigte, um ihr danach das Herz zu entfernen. Klingt wirklich bekannt, oder, Wilhelm?«
»Ob man das Herz nach der Kreuzigung entfernte, können wir ebenfalls nicht sagen. Zudem scheint unser Täter auch Gefallen daran gefunden zu haben, seinem Opfer die Augen zu entfernen«, gab Nestling zu bedenken und erntete für diesen Einwand nur ein Achselzucken Lunds.
»Täter ändern manchmal ihr Handeln. Weiß Gott, was ihn dazu trieb. Wie auch immer. Tja, Wilhelm, es scheint, du hast dich doch geirrt und er ist wieder da.«
»Unmöglich«, grummelte Lämmle, was Lund jedoch keinen weiteren Kommentar entlockte, woraufhin Nestling einwarf: »Oder es ist zumindest jemand, der ihm nacheifert.«
Der Blick des Obersts begann zwischen den beiden anderen hin und her zu wandern, bevor er fortfuhr. »Wie gehen wir also vor?«
Marie Nestling schaute erwartungsvoll zu Lämmle. Aber dieser machte keinerlei Anstalten, weswegen sie entschied, die Frage selbst zu beantworten. »Ich denke, wir sollten damit anfangen, den Jungen zu suchen.«
Lund runzelte die Stirn: »Welchen Jungen?«
»Als Lämmle und ich vor Ort waren, um den Tatort zu inspizieren, wurden wir beobachtet. Ein Junge muss durch das Fenster des Schuppens geblickt haben, bevor die alten Holzkisten unter seinen Füßen nachgaben. Er ist uns jedoch entwischt.«
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Nein, leider nicht.«
Der Oberst lachte auf. »Das heißt, unsere aktuell beste Spur ist ein unbekannter Knabe, von dem wir nicht einmal wissen, wie er aussieht?«
Marie blieb von dem Hohn des Obersts vollkommen unbeeindruckt. »Sie haben uns zu verstehen gegeben, dass wir momentan nicht mit der Presse zusammenarbeiten sollen und daher auch nicht ein Bild des Opfers veröffentlichen können. Somit bleiben uns kaum Optionen.«
»Dass wir die Zeitungen erst einmal außen vor lassen, kommt von unserem direkten Vorgesetzten höchstpersönlich. In Anbetracht dessen, was beim letzten Mal passierte, kann ich das durchaus nachvollziehen. Aber ich werde noch einmal mit von Wurmb sprechen.«
Nestling nickte leicht und legte dann den Kopf schief. »Dann sollten wir mit dem Pastor von St. Michael reden. Könnte sein, dass er oder jemand seiner Leute etwas Ungewöhnliches ...«
»Eventuell weiß man in Friedrichsberg etwas über den Burschen.« Die Stimme Lämmles war kaum zu hören und dennoch ließ sie Lund und Nestling aufhorchen.
»Wie kommst du darauf?«, wollte sein alter und neuer Vorgesetzter sofort wissen.
Marie, welche den Oberst nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, entging es nicht, dass bei der Erwähnung dieser Ortschaft sich dessen Gesicht zu einer misstrauischen Grimasse verzog. Diese währte vielleicht nur eine oder zwei Sekunden, doch die Zeit reichte, um ihren Argwohn zu wecken und sich eine gedankliche Notiz zu machen: Irgendetwas oder irgendwer dort beunruhigt ihn. Oder vielmehr, dass Lämmle dieses Etwas findet oder diesen Jemand aufsucht. Interessant.
»Er wirkte nicht so, als ob er aus gutem Hause kam. Seine Kleidung schien auf den ersten Blick abgetragen. Zudem fanden wir nach einigem Suchen im Bootshaus ein verstecktes Lager. Als ob jemand dort häufiger übernachtet hat. Könnte ihm gehören. Viele der Halbstarken aus Friedrichsberg verdingen sich an den Bahnhöfen oder bei den Häfen. Ich werde mich dort jedenfalls mal umhören, ein paar alte Kontakte aufsuchen, während Nestling sich mit den Kuttenträgern befasst.«
»Kontakte aufsuchen? So, so. Na, mir soll es recht sein.«
Der Ton des Obersts hatte für Maries Geschmack durchaus noch einmal an Kälte zugelegt. Doch dies war nebensächlich momentan, denn etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. »Es dürfte ohne eine genaue Beschreibung schwierig sein, ihn zu finden. Oder haben Sie den Jungen genauer gesehen als ich oder Waltz?«
Lämmle antwortete nicht sofort. Schaute nicht einmal auf. Viel mehr blickte er auf eine kleine goldene Uhr, die durch eine ebenfalls goldene Kette mit seiner Hose verbunden war.
»Der Leichenbeschauer sollte inzwischen mit der Arbeit begonnen haben. Treffen wir uns doch dort wieder. So gegen 16:00 Uhr.«
Er hat eindeutig etwas zu verbergen, ganz wie von Wurmb vermutet, ging es sofort in ihrem Kopf herum. Doch noch sei es zu früh, um zu intervenieren, beschloss sie und ließ Lämmle sein Spiel spielen.
»Ich denke, wir sollten in dieser Sache ...«, versuchte Nestling stattdessen einzuwerfen und wurde sofort von Oberst Lund unterbrochen.
»Gut, so machen wir es. Unterrichtet mich umgehend und ständig, wo ihr seid und was ihr herausfinden konntet. Wir dürfen uns hierbei keinerlei Fehler erlauben. Also wünsche ich, bei euren Ermittlungen durchgängig mit einbezogen zu werden. Ist das klar?«
Er schaute streng zu Lämmle.
»Ja«, gab dieser leise zurück.
»Gut. Weggetreten.«
Kurz dachte Marie darüber nach zu protestieren, verwarf diesen Einfall jedoch und wendete sich gleichgültig zur Tür. Erst, als diese sich hinter ihr geschlossen hatte, bemerkte sie, dass Lämmle ihr nicht gefolgt war.
Ganz im Gegensatz zu Lämmles äußerem Anschein rasten seine Gedanken wie ein galoppierender Gaul. Er wusste, dass seine Worte von eben Misstrauen geweckt hatten. Aber was hätte er auch sagen sollen? Dass der Geist einer von ihm gestellten Mörderin den Jungen beobachtet und ihm eine genaue Beschreibung gegeben hatte? Wer hätte dies schon geglaubt? Wer hätte ihn nicht direkt für verrückt erklärt und in die psychiatrische Anstalt gesteckt? Wer? Und auch etwas anderes ließ ihm keine Ruhe: »Wer ist sie?«
Lund schaute nachdenklich und an seinem Gesichtsausdruck erkannte er nur zu gut, dass dieser mit sich haderte.
Er wägt ab, was er mir sagen darf, soll oder überhaupt will. Er vertraut mir nicht. Ich kann es ihm kaum verdenken.
»Von Wurmb hat sich vor einiger Zeit eine kleine Spezialeinheit aufgebaut, die sich vor allem mit der Aufklärung von Verbrechen in Verbindung mit magischem Wissen beschäftigt. Und dieser Fall riecht so wie unser letzter auch extrem danach.«
»Das habe ich mir auch schon selbst zusammenreimen können. Ist die Inquisition schon involviert?«
»Nein, wir haben freie Hand. Und auch wenn von Wurmb unserer Kirche sehr nahe steht, so will er doch, dass dies auch so bleibt.«
»Hm. Gut. Doch weißt du, wer sie ist?«
»Ich weiß nicht mehr als du. Man hat mich heute Morgen aus dem Bett geholt und gesagt, dass jemand kommt.«
»Man hat dir gesagt, dass jemand kommt? Du hast vorher nicht mit von Wurmb geredet?«
»Doch, natürlich hat er sich mit mir abgestimmt. Warum?«
»Hm, nur so.«
»Jetzt spuck es schon aus.«
»Es ging etwas schnell. Findest du nicht? Kaum ist die Wache informiert, hat von Wurmb schon alle Infos und schickt sein Schoßhündchen, das nicht einmal eine Stunde später vor Ort ist. Als ob alles schon parat stand.«
»Vielleicht war sie einfach in der Nähe?«
»Vielleicht. Aber wer hat von Wurmb informiert? Du ja anscheinend nicht, wenn er dich anrief. Wie haltet ihr es eigentlich neuerdings mit der Befehlskette hier.«
»Vorsicht ...«
»Davon mal abgesehen, dass dieses faule Stück Waltz wohl einen besonders guten Tag hatte, wenn er freiwillig mehr tut, als seinen Wanst die Straße rauf und runter zu schieben.«
»Lämmle ...«
»Und war es eigentlich wirklich deine Idee, mich zurückzuholen? Woher wusstest du oder irgendwer sonst überhaupt, dass ich wieder in der Stadt bin?«
»JETZT REICHT ES!« Wäre die Stimme des Obersts eine Faust gewesen, sie hätte Lämmle einen mächtigen Kinnhaken versetzt. »Denkst du, du bist der Einzige aus der Mannschaft, der in Rosemaries Liebesstübchen seine Sorgen vergessen will? Hm? Und ja, Waltz macht durchaus seinen Job, im Gegensatz zu dir!« Stille folgte, während beide sich finster anstarrten.
»Hör zu, Wilhelm, es ist, wie es ist. Wer wann wem Bescheid sagte, ist vollkommen irrelevant. Denn alles sieht für mich danach aus, dass dieses Monster von einst seine alte Wirkungsstätte wieder aufsucht, um sein Werk fortzusetzen. Was nicht passieren würde, wenn du damals keinen Alleingang unternommen hättest, du verdammter Dickschädel. Zudem hast du den Dienst nie quittiert. Bist einfach verschwunden. Somit hast du technisch gesehen die Truppe nicht verlassen, bist weiterhin Hauptmann der Schutzmannschaft. Und nun hast du, haben wir die Möglichkeit, es endlich wirklich zu beenden. Ich rate dir, sie zu nutzen und dich darauf zu konzentrieren, anstatt dich von solchen Kleinigkeiten ablenken zu lassen.«
»Wenn du meinst.«
Lund seufzte. Nicht einen dieser erschöpften, resignierenden Seufzer, sondern einen, welcher darauf hinwies, wie sehr es in ihm brodelte. »Wilhelm, dieser ganze Mist beginnt vom Neuen, kaum nachdem du wieder in Berlin bist. Ich finde, das sollte dir mehr zu denken geben als alles andere. Oder mir.«
2 Erste Spuren
Die Spree rauschte in ihren Ohren, als sie ihm aus dem Inneren der Elektro-Kutsche nachsah.
Marie Nestling hatte während der Fahrt mehrmals versucht, das eisige Schweigen zwischen ihnen zu brechen. Wies darauf hin, dass eine enge Zusammenarbeit bei diesem Fall so unabdingbar wäre wie gegenseitiges Vertrauen. Doch nur einmal bestand seine Reaktion aus mehr als einem stumpfen: »Hm.«
»Es ist ein Fehler, wenn wir getrennt potenzielle Zeugen befragen. Persönliche Eindrücke können genauso wichtig sein wie Aussagen. Ihr Instinkt könnte Ihnen mehr verraten als meiner mir. Oder umgekehrt.«
»Ich würde dem Kuttenträger wahrscheinlich eher eine aufs Maul geben, als mich in diplomatischer Gesprächsführung zu versuchen.«
»Dann hören Sie nur zu und beobachten.«
»Ha, einfacher gesagt als getan. Nein, es ist besser, Sie übernehmen das allein. Glauben Sie mir. Außerdem sind Fremde in Friedrichsberg nicht gern gesehen.«
»Und Sie sind kein Fremder?«
Er hatte nur dünn gelächelt, erneut geschwiegen und blieb so weiterhin ein Rätsel für sie. Ein eventuell gefährliches Rätsel, rief sie sich ins Gedächtnis. Zudem eines, dessen Lösung noch einige Zeit brauchen würde.
Nestling wandte den Blick ab und wollte den Kutscher schon anweisen weiterzufahren, überlegte es sich jedoch anders. Etwas kühle Luft wird dir guttun. Und die Leute der Kirche laufen dir schon nicht weg.
So stieg sie kurzentschlossen aus und konnte nicht anders, als Lämmle noch einmal hinterherzuschauen, dessen massiger Körper zunehmend kleiner wurde.
Ja. Eventuell ein wirklich gefährliches Rätsel. Aber noch stehen wir ganz am Anfang. Warten wir es ab.
Sie legte ihre durch lederne Handschuhe geschützten Hände zusammen und hauchte in den kleinen Hohlraum hinein, welcher so entstand. Doch die Wärme ihres Atems entschwand noch in dem Augenblick, in dem sie ihn ausgespien hatte. Dann drehte sie sich um und schritt langsam den geheiligten roten Backsteinen entgegen, während der Wind auffrischte.
Es beginnt wieder, kaum dass ich zurück bin. Scheiße, Lund, was soll das denn heißen? Idiot! Lämmle folgte dem kleinen Übergang über den Fluss zur Holzmarktstraße und hielt sich dann rechts. Kurz darauf durchquerte er die Gassen nahe des Frankfurter sowie des weitaus größeren Ostbahnhofs und ließ alsbald das pompöse Ostend-Theater hinter sich.
Wenn man sich so umschaute in diesen sauberen Straßen, diesem Tor Berlins zum Osten des Kontinents, dann konnte man sich das Elend, welches in der Nähe hauste, kaum vorstellen. Nicht bei all den feinen Leuten, die hier flanierten.