DAS GEWÖHNLICHE LEBEN EINES SUPERSCHURKEN - Martin Förster - E-Book

DAS GEWÖHNLICHE LEBEN EINES SUPERSCHURKEN E-Book

Martin Förster

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Durch Zufall gelangt der von Selbstzweifeln und Existenznöten zerfressene Thomas Barbarossa an ein Artefakt, das ihn in die Lage versetzt, Materie und Energie zu manipulieren. Lange mit sich hadernd, was er mit dieser Macht anstellen soll, bringt erst die Vergewaltigung seiner Tochter ihn dazu, alle Bedenken über Bord zu werfen. Gefangen im Rausch seiner neuen Möglichkeiten verliert Barbarossa zunehmend seinen moralischen Kompass und wird so zum ersten Superschurken der Welt; ein Schurke, der sich schon bald der geballten Kraft der European Supreme gegenübersieht, die mit seiner Gefangennahme aber anscheinend ganz eigene Pläne verfolgt. Doch das Aufeinanderprallen der Supermenschen verwüstet nicht nur die norddeutsche Küste, sondern erschafft auch Monster, denen selbst diese neuen Götter auf Erden kaum etwas entgegenzusetzen haben. Mit scharfem Blick auf die deutsche Mittelschicht stellt die klischeebefreite Reise des Anti-Helden Barbarossa humorvoll und charmant die Allgemeingültigkeit des berühmten Satzes AUS GROSSER KRAFT FOLGT GROSSE VERANTWORTUNG in Frage und beweist gleichzeitig, dass bildgewaltige Superhelden-Action nicht nur aus den USA oder Fern-Ost kommen muss.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

 

 

MARTIN FÖRSTER

 

 

Das gewöhnliche Leben

eines Superschurken

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

DAS GEWÖHNLICHE LEBEN EINES SUPERSCHURKEN 

Barbarossa and the End of the Beginning 

Such a normal Day 

The Project 1 – The Day after 

Hello Fear, my old Friend 

The Project 2 - Letters to Jeanne 

Home, sweet Home 

The Project 3 - Wounds of War 

New Dimensions  

The Project 4 – European Supreme 

Clay 

The Project 5 – First Strike 

Days of Wonders and Madness 

The Project 6 – EYE ON 

The Devil in the Dark 

The Project 7 – News from the World 

The Devil´s Bride 

The Project 8 - Unexpected Encounters 

Zwischenspiel - Eine letzte Fahrt 

Consequenzes 

The Project 9 - Clash of Titans 

An Obol for Forgiveness 

The Project 10 – Of Heroes and Men 

Back to Normality 

The Project 11 - Grendel 

The Fearful One, the guilty Man and the Father 

The Project 12 - Resurrection 

The Day after 

Danksagung  

Post-Credits Scene 

Impressum

 

Copyright 2023 © by Martin Förster/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Cover-Artwork: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Durch Zufall gelangt der von Selbstzweifeln und Existenznöten zerfressene Thomas Barbarossa an ein Artefakt, das ihn in die Lage versetzt, Materie und Energie zu manipulieren. Lange mit sich hadernd, was er mit dieser Macht anstellen soll, bringt erst die Vergewaltigung seiner Tochter ihn dazu, alle Bedenken über Bord zu werfen. Gefangen im Rausch seiner neuen Möglichkeiten verliert Barbarossa zunehmend seinen moralischen Kompass und wird so zum ersten Superschurken der Welt; ein Schurke, der sich schon bald der geballten Kraft der European Supreme gegenübersieht, die mit seiner Gefangennahme aber anscheinend ganz eigene Pläne verfolgt.

Doch das Aufeinanderprallen der Supermenschen verwüstet nicht nur die norddeutsche Küste, sondern erschafft auch Monster, denen selbst diese neuen Götter auf Erden kaum etwas entgegenzusetzen haben.

 

Mit scharfem Blick auf die deutsche Mittelschicht stellt die klischeebefreite Reise des Anti-Helden Barbarossa humorvoll und charmant die Allgemeingültigkeit des berühmten Satzes Aus großer Kraft folgt große Verantwortung in Frage und beweist gleichzeitig, dass bildgewaltige Superhelden-Action nicht nur aus den USA oder Fern-Ost kommen muss. 

 

  DAS GEWÖHNLICHE LEBEN EINES SUPERSCHURKEN

 

 

 

 

 

 

  Barbarossa and the End of the Beginning

 

 

Ich werde diesen Schrei meinen Lebtag nicht vergessen. Es war die Art Schrei, die einem nicht nur durch Mark und Bein geht, sondern im Tiefsten und Innersten erschüttert.

Blinzelnd schaute ich auf, denn der Schrei kam nicht von dem Häufchen Elend vor mir. Nicht von diesem, diesem Kind?

Ja, ein Kind oder besser Teenager erkannte ich erst jetzt, da sich die Schleier meines Zorns verzogen. Ein junger Mann, welcher nun fast völlig nackt vor mir kniete und dessen schweißnasse Haare von meiner Linken fest umklammert wurden. Und der mich verängstigt aus geweiteten und von Tränen geröteten Augen entsetzt anstarrte, während ich dabei war, seine Existenz mit meiner Rechten zu beenden.

Nein, dieser Schrei kam von weiter her. Ich drehte meinen Kopf und erstarrte bei ihrem Anblick. Ich sah direkt in ihre Augen. Tiefblaue Augen. Augen, die ich seit sechzehn Jahren kannte. Augen, die mich voller Neugier anstarrten, als sie das Licht der Welt das erste Mal erblickt hatten.

Meine Tochter war nur gut fünfzig Meter weit von mir entfernt und schrie. Schrie vor Angst. Schrie vor Entsetzen. Schrie, als sie erkannte, wer dieses Monster war, dem sie gegenüber stand.

Der Schrei währte ewig. Doch was danach kam, war noch viel schlimmer. Tränen des Entsetzens begannen über ihr Gesicht zu laufen. Tränen der Scham, Tränen der Abscheu. Ich ließ von dem Jungen ab, der wie ein nasser Sack weinend zu Boden fiel und sich in eine Fötus-Stellung zusammenrollte.

Der Augenblick, in dem wir uns beider gewahr wurden, schien ewig zu dauern, bis wie in Zeitlupe ein Mann heraneilte, meine Tochter im Lauf schnappte und in Sicherheit brachte. Erst wollte ich schon reagieren. Jeder Instinkt in mir schrie danach, ihn einfach zu pulverisieren. Doch ich ließ den Uniformierten gewähren, während ich mich fragte, wie Lisa nur hier hergekommen war?

Das Praktikum, das gottverdammte Praktikum bei der Nordseezeitung, schoss die Erkenntnis mir schmerzhaft in den Schädel.

Verdammt, Verdammt, Verdammt! Wieso hat diese dumme Kuh namens Ella sie nur hierher gelassen? Scheiße!

Es war egal. Aller Rest an Wut verflog und machte dem Schrecken Platz, den nur Väter kennen können, die ihre Töchter zutiefst enttäuscht hatten. Und dann war sie weg, einfach weg. Weder Lisa noch der Uniformierte waren weiterhin zu sehen. Mein Blick schweifte über das Chaos, welches wir vier, nein schlussendlich wohl nur ich angerichtet hatte und einen Moment blieb mein Herz stehen. Ich hatte die Kontrolle verloren. Tief atmete ich durch, konzentrierte mich und fand den Fokus meines Tuns wieder. Der Orkan ebbte ab. Der Boden beruhigte sich wieder. Das flüssige Gestein kühlte aus.

In der Ferne hörte ich die Sirenen. Und war schon der Polizist von eben Beweis genug, wurde mir jetzt erst klar, dass weitere Einsatzkräfte kommen würden. Die Obrigkeit hatte wohl erkannt, dass ihre Helden heute nicht siegreich sein würden. Bewaffnete Gestalten tauchten auf und gingen in Stellung.

Ja, ich hätte auch sie besiegen können. Hätte ihre Waffen und Ausrüstung einfach in Asche verwandelt und wär wie ein Sturm durch sie hindurch gepflügt.

Doch ich war müde. Erschöpft. Und wollte einfach nicht mehr. Dies hier hatte mich wahrscheinlich wesentlich mehr gekostet, als mir lieb war. Ich hätte vielleicht doch einfach mit ihnen gehen sollen, aber nun war es zu spät.

Also öffnete ich den Boden unter mir und verschwand.

 

So endete also alles oder besser erst mal.

Mein Haus fand ich wenig später an diesem Tag, nachdem was die Medien künftig als einen der größten terroristischen Angriffe seit dem elften September beschreiben würden, vollkommen verlassen vor.

Keine Nachricht am Kühlschrank, keine SMS, nichts. Vielleicht war es in diesem Moment besser so.

Natürlich hatte ich die Umgebung zuvor abgesucht, körperlich wie auch geistig. Aber niemand war mir gefolgt oder wartete auf mich. Wie auch. Wussten sie doch noch immer nicht, wer ich war oder wo ich mich genau aufhielt. Zudem sollte meine Warnung nun wohl endlich verstanden worden sein. Mehr Nachdruck ging einfach nicht. Dennoch war es gut, dass Sarah und die Kinder nicht da waren. Ich brauchte Zeit für mich. Musste nachdenken. Zur Ruhe kommen.

Gott, was für eine Nacht.

Müde und schmerzerfüllt schälte ich mich aus meinen Klamotten, schaute diese noch einmal an, als sie unnütz auf dem Boden lagen, und Wut stieg erneut in mir auf. Wut über mich selbst. Wut über meine Dummheit zu glauben, das alles, was ich getan hatte, nicht irgendwann einen Preis forderte. Nun, ich würde ihn wohl zahlen müssen, dass stand außer Frage. Oder hatte ich das schon? Ich wusste es nicht.

Der Helm, der eben noch in meiner Hand weilte, erreichte nicht einmal mehr den Boden, als er fiel und sich wie der Rest meiner Sachen auflöste. Endgültig! So viel stand fest. Danach legte ich den Quell meines Glücks und Unglücks ab, versteckte ihn und schwor, das dumme Ding nie wieder zu benutzen. Unsere Verbindung brach ein letztes Mal und verwandelte mich in einen, für sie unauffindbaren Geist, egal wie viele Suchstrahlen sie schicken mochten. Einen finsteren Schrecken. Eine Legende in den Köpfen der Menschen und der Welt. Der jedoch real nun nicht mehr existierte.

Es war also vorbei und ich ließ mich erst einmal auf das Sofa in unserem Wohnzimmer nieder. Kühlpacks linderten den Schmerz meiner Prellungen, ein Bier den in meinem Geist.

Das Vibrieren meines Handys kam fast einer Erlösung gleich. Sarah hatte mir eine Nachricht geschickt:

»Bin unterwegs, um Lisa von der Polizei abzuholen. Charlotte ist bei Oma. Kommen bald nach Hause. Dann müssen wir reden. Pass auf dich auf!«

Nach einer halben Minute, die einer Ewigkeit gleich kam, erschien ein weiterer Text. Wieder von Sarah:

»Ich liebe dich!«

Meine Mundwinkel begannen einen kurzen Trip aufwärts.  

Ich liebe dich auch Baby.

Ich war froh, dass Sarah ab jetzt erst einmal übernehmen würde, bangte vor dem Gespräch, was nun bevorstand und welches so unausweichlich war wie der Wechsel der Jahreszeiten. Das, was Lisa heute gesehen hatte, bedurfte einfach einer Erklärung, auch wenn ich noch nicht wusste, wie diese aussehen sollte. Aber noch war Zeit. Noch konnte ich etwas ruhen, bevor der Sturm anbrach.

Ein Druck auf die Fernbedienung erweckte den Fernseher zum Leben. Wie zu erwarten war, lief auf allen Kanälen nur das Gleiche. Aus verschiedenen Blickwinkel, von Handys, Drohnen oder wagemutigen Reportern gefilmt, wurde immer wieder gezeigt, wie der ach so tollen European Supreme der Arsch aufgerissen wurde. Und zwar von mir. Ich gebe zu, etwas stolz war ich schon, auch wenn es an sich nichts gab, auf das man hätte stolz sein können.

Doch dann kamen die Namen. Meine Namen. Terrorist, Monster, Feind, Dämon, schwarzer Teufel. Besonders gut gefiel mir aber der, den die Jungs von der BBC mir gaben. The Dark Binder. Ich musste unwillkürlich schmunzeln. Da hatte wohl jemand zu viel Avatar geschaut. Die Serie, nicht den Film mit den großen blauen Männchen. Nur damit wir uns nicht falsch verstehen. Es war nun also offiziell. Die Welt hatte ihren ersten, waschechten Superschurken.

Ach kacke, Thomas. Was hast du dir da nur eingebrockt? Wann hast du eigentlich die falsche Abbiegung genommen?

Ein weiterer Schluck kühlen Bieres floss meine Kehle herunter. Meine Augen wurden schwerer und schwerer.

Ja, wann nur?

 

Sie merken schon, dies hier ist keine Heldengeschichte. Keine Geschichte, von der ich behaupten würde, sie mit hoch erhobenem Haupt niederzuschreiben. Aber es ist eine Geschichte und eventuell eine Geschichte, die es Wert ist, erzählt zu werden.

Fakt ist jedenfalls, und dem sollten Sie sich immer bewusst sein, das ich wohl nie in den ehrenwerten Klub gehören werde, der vor allem jene aufnimmt, die die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Da bin ich mir jedenfalls sehr sicher, überlasse die Bewertung meiner Taten aber besser gelehrteren Leuten. Wie Ihnen vielleicht. Und ein Fakt ist auch, viele meiner Taten waren in der Retroperspektive einfach scheiße. Doch war ich deswegen das Böse in Person? Ein Darkside, Thanos, Joker oder Kahn? Was ist überhaupt ein Schurke oder Bösewicht? Nun an sich ganz einfach. Jemand, der ganz im Sinne der Definition: Böses tut, moralisch verwerflich handelt, eine niedrige Gesinnung hat.

Die Welt kennt jedoch nicht nur Schwarz und Weiß. Es gibt da viele hübsche Graustufen. Daher sah und sehe ich mich eher in einer Linie mit Walter White. Warum?

Vielleicht, weil ich mir gerne vorstelle, dass wir beide am Ende unseres Weges zurückblicken, auf das, was war und erkennen, dass das, was aus uns wurde, nie wirklich das war, was wir werden wollten. Aber wir taten es um zu leben. Wirklich zu leben.

Vielleicht habe ich die Serie aber auch vollkommen falsch verstanden, wer weiß. Ich denke, Sie werden schlussendlich wohl selber entscheiden müssen.

 

Aber alles nacheinander.

Jede Geschichte muss schließlich irgendwo beginnen, bevor sie enden kann. Verdrehen Sie jetzt bitte nicht die Augen. Mir ist durchaus bewusst, dass Entstehungsgeschichten von Figuren, der Story Arc, warum diese sind, was sie sind, gerade im Kino zurzeit häufig bemüht werden. Doch nur wer die Fehler der Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen, oder? Eventuell werden Sie ja einmal in meine Situation kommen, Superkräfte entwickeln und sich die Frage stellen: »Was nun?« 

Eventuell werden die folgenden Kapitel dann hilfreich für Sie sein. Eventuell aber auch nicht. Kommt ganz darauf an, was für ein Typ Sie sind und in welcher Realität, Dimension, Zeit- oder Quantenebene Sie sich gerade aufhalten. In jedem Fall darf ich Sie an dieser Stelle beruhigen. Das, was ich zu erzählen habe, geht weit über meine Herkunft und dem Weg zum Hier und Jetzt hinaus. Wenn Sie dies jedoch wirklich nicht interessiert, empfehle ich Ihnen, die nächsten Seiten zu überspringen und ab dem Kapitel »Consequenzes« wieder einzusteigen. Wenn doch, freue ich mich, dass Sie mir weiterhin Ihre Aufmerksamkeit schenken.

 

Zeit also für Exposition, Teil 1.

Doch wo fangen wir am besten an? Mit meiner Geburt? Bis auf den Umstand, dass diese in einem Land geschah, welches heute nicht mehr existiert ist das wohl ein relativ langweiliger Fakt.

Ich wuchs in den Achtzigern des zwanzigsten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung auf, zum Ende dessen, was man später als das goldene Zeitalter meiner Elterngeneration bezeichnete. Oder wenigsten jener Generation, welche das Glück hatte auf der anderen Seite der Grenze zu leben. Es war ein Zeitalter des Überflusses, an deren Ereignishorizont, wie ich finde, sich jedoch schon die ersten Wolken des sozialen und politischen Niedergangs abzeichneten. Warum diese Zeit so wichtig ist, fragen Sie? Nun, die Jugend prägt uns, sagt man. Vieles, was wir beim Heranwachsen in uns aufsaugen, macht uns später zu dem, was wir sind. Doch nein, meine Eltern waren keine Verbrecher und ich wuchs auch nicht in Armut oder einem sozialen Brennpunkt auf. Weshalb ich diese Zeit also hier erwähne, ist vielleicht der Umstand, dass ich damals meine Leidenschaft für einen ganz bestimmten Typus Figur der Literatur entdeckte. Ja, das ist es. Vielleicht sollten wir wirklich hier beginnen. Diese Art Mensch, welche in so vielen Abhandlungen beschrieben wurde, war keiner, den es in meiner Realität geben konnte. Die Gesetze der Natur und der Physik, die damals das Weltbild prägten, negierten dies vollkommen. Doch dessen Abenteuer waren so mitreißend, dass ich mich diesen einfach nicht entziehen konnte.

Kurz gesagt und Sie erahnen es bestimmt, ich liebte Superhelden-Geschichten.

Natürlich wusste ich schon vorher, was ein Held war. Sagen und Märchen wurden mir genauso zum Einschlafen vorgelesen wie vielen anderen Kindern auch. Und wie viele andere Kinder war ich oft genug selbst einer. Erschlug Drachen, stellte mich der Dunkelheit und rettete Prinzessinnen und so weiter und so fort.

Falls Sie nicht wissen, was ein Held ist oder lieber eine wissenschaftliche Erklärung als romantische oder kindliche Verklärung wünschen, empfehle ich Ihnen Johann Heinrich Zedlers Großes vollständigem Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, genauer Band 12. Dort finden sie folgende Auskunft:

 

»Held, lat. Heros, ist einer, der von Natur mit einer ansehnlichen Gestalt und ausnehmender Leibesstärke begabet, durch tapfere Taten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.«

 

Doch meine Begeisterung fußte nur teilweise auf den alten Heldenmythen von Siegfried oder Herkules. Es war viel mehr mein erster Comic, der diese Liebe vollends entfachte.

Er handelte von einem Jungen. Nicht viel älter als ich damals, welcher durch einen Spinnenbiss mutierte und besondere Kräfte erlangte. Also im Prinzip der Anfang einer Monstergeschichte. Doch nicht hier. Mein Protagonist entschied sich, zum Helden zu werden. Zum Superhelden. Und seitdem prägten Helden und fantastische Geschichten über diese meine Gedankenwelt, welche später noch durch das Universum der Science-Fiction und Fantasy erweitert wurde. In meinen Tagträumen und bei Nacht kämpfte ich mit Superman, Wonder Woman, Captain Amerika oder den Geisterjägern gegen das Böse und jagte mit Captain Kirk oder Luke Skywalker durch weit weit entfernte Galaxien. Leider blieben es Träume. Die Realität, das, was wir als solche definieren, sah dagegen regelrecht trostlos und langweilig aus. Keine Magie, keine Superkräfte, keine interstellaren Raumschiffe. Ich war ein normaler junger Bursche, wenn auch ein übergewichtiger, in einer normalen Welt voller normaler Menschen.

Wer hätte denn ahnen können, dass ich mich so täuschte.

 

Doch um der Höflichkeit die Ehre zu geben, sollte ich mich vielleicht erst einmal vorstellen.

Mein Name ist Barbarossa, Thomas Barbarossa. Nicht verwandt. Vater, Ehemann, arbeitendes Mitglied unserer Gesellschaft und nun auch vielleicht oder vielleicht nicht Super-Schurke. Geboren im schönen Tangermünde in einem beschaulichen Land, dass man Deutschland nennt. Sie kennen es vielleicht. Das Land der Dichter und Denker, Völkerschlächter und eine der führenden Industrienationen. Meine Eltern waren und sind, Sie können es sich sicher denken, normale Menschen. Meine Schwester war und ist ein normaler Mensch, wie alle anderen Mitglieder meiner Familie auch. Wir hatten normale Jobs, ein normales Leben, gefüllt mit normalen Wünschen und Sehnsüchten. Kein besonderes Familiengeheimnis. Kein altes magisches Blut. Keine übergreifende Bestimmung, die unser Schicksal lenkte. Wir waren so NORMAL, dass es fast wehtat.

Ich war nicht einmal besonders intelligent. Hatte keinen IQ von über 150. Zu behaupten, ich wäre eine Sportskanone, wäre zudem purer Hohn.

Nein, ich war normal. Nicht mehr als trauriger Durchschnitt. Und so wuchs ich auf und schlug mich durch wie Millionen anderer Heranwachsender bis in mein jetziges Dasein in Cuxhaven. Wo ich eine normale Familie hatte, in einem normalen Haus wohnte und einem normalen, wenn auch stressigen und für mich hassenswerten Job nachging. Aber was tut man nicht alles, um für Essen auf dem Tisch zu sorgen.

Mir ist heute durchaus klar, dass all dies nicht so hätte kommen müssen. Denn an sich genoss ich schon in meiner Kindheit das Privileg, frei zu sein.

Meine Eltern, meine Lehrer, ja an sich alle, die ich kannte, vermittelten mir gerne die Vorstellung, dass mir viele Möglichkeiten und viele Türen offen standen. Ich musste nur hindurchgehen, hart arbeiten und ich würde ein gutes Leben führen, ganz nach meinen Vorstellungen.

Andererseits, und ich denke, so erging es und ergeht es vielen jungen Heranwachsenden, fühlte ich mich in dieser Welt voller Freiheit zu wählen, in gewisser Weise verloren.

Wissen Sie, mit den Möglichkeiten ist es nämlich so eine Sache. Sie kennen vielleicht den Spruch Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Doch wenn man nicht weiß, wo der Hammer hängt und welches Metall man verwenden soll, dann hilft es einem gar nicht, dass der Ambos direkt vor einem steht.

Oh, diese schöne Mär von Freiheit und Möglichkeiten.

»Fuck it«, sage ich.

Ja, man trichterte mir diese Gedanken so lange ein, bis ich es selber glaubte. Und zu spät kam mir die Erkenntnis, dass die ach so gelobte Freiheit nur ein Trugschluss war. Ein Traum, den man mich zwang zu träumen. Niemand ist jemals wirklich frei! Auch Sie nicht. Freiheit in unserer Gesellschaft, und davon bin ich überzeugt, ist wie ein Fluss, der von Bergen und Tälern an Erwartungen, sozialen Bindungen und Erfolgen sowie Misserfolgen in bestimmte Bahnen gelenkt wird. An sich gibt es für uns alle nur ein: »Augen zu und durch.«

Und wie die Erkenntnis auch, dass ich niemals ein Superheld hätte werden können, war dies vielleicht der zweite Knacks in meiner Gedankenwelt. Ich wusste nicht, was und wer ich werden wollte, doch war immer die oberste Devise: »Werde jemand. Und im besten Fall jemand, auf den man stolz sein konnte.«

Doch wie genau? Das sagte man mir nicht. Warum auch, ich war ja frei, frei zu wählen. Doch hatte ich keine Vorstellung davon, was ich wählen sollte. Meine Welt waren die Geschichten über außergewöhnliche Leute, die anders als ich zu Größerem bestimmt waren.

Und so wurde ich einfach.

Zum Stolz meiner Eltern beendete ich Schule und Studium, so gut es eben ging. Was ich studierte, interessiert Sie? Politik und Soziologie, aber fragen Sie jetzt nicht, was man damit hätte werden können. Ich weiß es auch nicht. Ganz ehrlich.

Doch für etwas kapitalistisch Wertvolles wie Mathematik, Informatik oder BWL hatte es bei mir nie reichen wollen. Meine Eltern waren damals jedoch der Ansicht, dass ihr Junge nichts falsch machen konnte, wenn er nur einen Uni-Abschluss schaffte. Egal in was. In ihrer Vorstellung bedeutete ein Studium eine gesicherte berufliche Zukunft. Bis heute weiß ich nicht, ob sie es je bereuten, mich nicht haben abbrechen lassen. Vielleicht war es wirklich diese Hoffnung der einfachen Arbeiterklasse, dass ich es so besser haben würde. Bin ich ihnen deswegen böse? Nein. Zudem bin ich es im Laufe der Zeit leid geworden, darüber nachzudenken. Oder es ihnen nachzutragen. Wie alle Eltern, so hoffe ich, wollten sie halt einfach nur mein Bestes.

Natürlich hätte ich verschiedene Praktika in unterschiedlichen Instituten machen können. Immer in der Hoffnung, eine Anstellung im sozialen Bereich zu ergattern. Vielleicht wäre auch ein Quereinstieg als Lehrer möglich gewesen, mein Traumjob, wer weiß. Rückblickend betrachtet hätte ich vielleicht meinen eigenen Vorstellungen und Wünschen folgen sollen.

Es langsam angehen lassen.

Herausfinden, was ich wollte und dafür einstehen. Vielleicht und nur vielleicht wäre dann alles anders gekommen.

So viele »Vielleichts«.

Wenn man denen zu lange nachhängt, bekommt man glatt Kopfschmerzen.

Aber ich, und das war das Gute in dieser Zeit, lernte Sarah kennen, bekam mit ihr zusammen unser erstes Kind und nahm, das war eventuell der entscheidende Fehler, jeden Job an, den ich finden konnte. Bis ich schließlich in einem großen Unternehmen der Personaldienstleistungs-Branche angestellt wurde. Also eine Arbeit, die weder dazu beitrug, meine Träume zu verwirklichen, noch mich wirklich glücklich machte.

In Cuxhaven landeten wir, als meine Frau dort bei ihrer Mutter Arbeit und ihre berufliche Bestimmung in der Tourismusbranche fand.

Ah Cuxhaven, unser Itaka nach einer langen Odyssee, auf dessen Weg wir Skylla und Carryptis in Form von gemeinsamer Einsamkeit, Erziehung unseres ersten Kindes und Sorgen ums Geld so gut umschifften, wie es ging.

Cuxhaven, diese kleine Perle an der Nordseeküste, war, nein ist, ein beschauliches Örtchen. Umgeben von weiten Feldern im Süden und Osten, grenzt es im Norden und Westen an das raue Meer. Das gemäßigte Klima ist geradezu wohltuend und die Luft ist immer von einer gewissen salzigen Würze erfüllt. Ein guter Ort, um Kinder großzuziehen und alt zu werden. Sie sollten ihn beizeiten einmal besuchen. Ich kann es Ihnen nur empfehlen.

Also Ende gut, alles gut? Klingt doch ganz nett. Ein Leben, klar mit Schwierigkeiten, aber durchaus lebenswert. Richtig?

Da mögen Sie recht haben. Doch es war kein freies Leben. Ich schwamm einfach nur in seinem Fluss, wusste nicht, wo dieser mich hinführen würde und seine Fluten aus Arbeit, finanziellen Engpässen und Familienfürsorge ließen alle Träume und Wünsche ertrinken.

Eine Bekannte von mir sagte einmal: »Sei dankbar, aber sei auch undankbar, denn dies ist der Motor zur Veränderung.«

Manchmal hat man jedoch einfach nicht die Kraft, sich von selber zu verändern, den Strom des Lebens in andere Bahnen zu lenken, alles zum Besseren zu wenden. Manchmal gelingt es einem ein Leben lang nicht. Manchmal braucht es Hilfe, gewollt oder ungewollt. Manchmal braucht es einfach einen Schubs. Oder, wie in meinem Fall, einen Vorschlaghammer, der einen voll durch die Wand donnert. 

 

 

 

 

  Such a normal Day

 

 

Wenn Sie eine zeitliche Einordnung brauchen, so befinden wir uns irgendwo nach 2012. Die Welt war in meiner Realität nicht untergegangen und es waren nur noch wenige Wochen bis Weihnachten. Genauer gesagt beginnt unsere eigentliche Reise Anfang Dezember.

Und nein, bevor Sie auf diese Idee auch nur kommen, an sich ist es vollkommen unwichtig, wann es geschah. Dass wir im Dezember beginnen, hat keine versteckte Botschaft, keine besondere Bedeutung, keinen Hintergedanken. Es ist oder besser war einfach die Zeit, zu der ES passierte.

 

60,- Euro, nicht viel Geld oder?

Und dennoch bereitete mir der Preis Kopfschmerzen.

60,- Euro.

Der Baum, welcher gerade meine Aufmerksamkeit beanspruchte, war im Licht der Scheinwerfer des Verkaufsstandes recht gut zu erkennen. Jedenfalls so gut, wie es das aktuelle Wetter zuließ. Stark gewachsen in den unteren Regionen und sich nach oben hin relativ gleichmäßig verjüngend. Ein Meter achtzig insgesamt. Ein stattlicher, wenn auch nicht übermäßig beeindruckender Vertreter seiner pflanzlichen Art.

Die seit Tagen anhaltende feuchte Kälte hatte sich langsam durch meine dicke alte Winterjacke gefressen und stieß nun immer weiter zu meinen Knochen vor. Es hatte zwar nicht geregnet aber die Luft war erfüllt von kleinen Wassertröpfchen, die so dicht aneinanderhingen, dass sie einen Nebel erzeugten, der das Licht an diesem Abend geradezu schaurig diffus brach. Man konnte keine fünfzig Meter weit blicken. The Fog ließ grüßen. Die Feuchtigkeit verstärkte zudem den Eindruck körperlichen Unbehagens immens. Eigentlich liebte ich die Kälte. Es hätte nach meinem Geschmack zu dieser Jahreszeit schon sehr viel frostiger sein können aber heute ließ mich die feuchte Luft immer wieder frösteln. Und es würde wohl nicht besser werden. Nach einem langen trockenen Sommer waren die Temperaturen zwar seit Kurzem deutlich gegen den Nullpunkt gewandert aber richtige Minusgrade würden laut den Wetterfröschen dieses Jahr wohl noch lange auf sich warten lassen. Auch wenn der astronomische Winterbeginn noch bis zum 22. Dezember hin war, so befürchtete man schon jetzt einen noch nie da gewesenen warmen Winter, kombiniert mit viel Regen statt Schnee. Na super.

Aber vielleicht war es nicht nur das Nass in der Luft, welches mir die Stimmung vermieste. Ich war einfach erschöpft und das schlechte Gewissen plagte mich. Wie so oft viel zu spät von der Arbeit losgekommen, hatte ich mal wieder eine Aufführung meiner Tochter verpasst. In letzter Zeit passierte das häufiger. Zu häufig. Es war nicht so, dass ich nicht gerne hingegangen wäre und meine Anstellung als Ausrede diente. Keineswegs. Meine Tätigkeit erforderte oft Überstunden, gerade in diesen Zeiten und ließ es nicht zu, dass die Familie vorging. Klingt klischeehaft nicht wahr? Aber mir ist es bis heute unbegreiflich, warum man solche Veranstaltungen auch an einem Montag stattfinden lassen musste. Doch vielleicht wollten auch Musiklehrer am Wochenende einfach frei haben. Ich habe mal gehört, dass sollen ja auch nur Menschen sein. Nun ja, es war, wie es war.

Erst gegen 17:30 Uhr hatte ich Feierabend machen können, um mich vierzig Minuten später mit meiner Frau und meiner Jüngsten, Charlotte war damals acht Jahre alt, zu treffen und ein paar Besorgungen zu machen. Gemeinsame Zeit war und ist immer kostbar, auch wenn man sie mit einkaufen verbringt. Froh, wieder bei meinem Liebsten zu sein, versuchte ich, so gut es eben ging, den Stress des bisherigen Tages abzuschütteln, was, wie ich mir leidlich eingestehen musste, mir nur schwer gelang. Jedoch lag der Grund für meine Erschöpfung nicht allein bei meiner Arbeit. Charlotte wurde seit einiger Zeit von Albträumen geplagt, welche sie des nächtens aus dem Schlaf rissen. Und wenn Sie selber zu der ehrwürdigen Fraktion der Elternschaft gehören, dann wissen Sie nur zu gut, was dies für die eigene Nachtruhe bedeutete. Nein, ich war nicht nur müde, sondern regelrecht gerädert.

Zum Glück war meine Frau so vorausschauend gewesen, die meisten Einkäufe alleine zu tätigen, sodass nun nur noch die Wahl und der Erwerb des diesjährigen Weihnachtsbaumes bevorstand. In dieser Hinsicht waren wir Traditionalisten. Zudem bestanden die Kinder darauf. Selbst unsere Große, was ich durchaus nachvollziehen konnte. Ein Weihnachten ohne Baum? Da hätten wir auch gleich Ostern feiern können.

Also standen wir nach diesem anstrengenden Montag hier auf dem Grundstück einer ehemaligen Tankstelle, deren Besitzer das Geschäft schon vor langer Zeit aufgegeben zu haben schienen, anstatt es uns daheim gemütlich zu machen. So gemütlich wie es ging, in Anbetracht dessen, dass dort eine Sechzehnjährige nur darauf wartete, ihre Enttäuschung auf mich zu kotzen.

60,- Euro, schoss es mir erneut durch den Kopf, als Sarahs Stimme mein Bewusstsein wieder mit der Zeit verband und mich aufschrecken ließ.

»Thomas... THOMAS???«

»Ja, Schatz?«, murmelte ich nur zurück.

»Was meinst du, nehmen wir ihn?«, fragte mich meine bessere Hälfte und zeigte auf den Baum, der mich anscheinend so gefesselt hatte. Ich schaute auf, bewunderte erneut die Tatsache, dass ihr neuer und nicht ganz billiger, dunkelgrüner Wintermantel ihr ausgesprochen gut stand und sah in das liebreizende Gesicht meiner Frau. Gott, wie ich sie liebte. Und Gott, wie sie mich manchmal zur Weißglut treiben konnte. Aber dieses Problem hatten mit Sicherheit alle Ehemänner. Ja, bei uns war bestimmt nicht alles perfekt. Aber welches Paar kann das schon von sich behaupten?  Wir trugen beide unseren Teil zur Freud und zum Leid des anderen bei. Aber im Moment machten meine langen Arbeitszeiten es bei Weitem nicht besser. Bis heute rechne ich es ihr hoch an, dass sie es mir an diesem Abend nicht zum Vorwurf machte, unsere Große wieder einmal enttäuscht zu haben.

»60,- Euro sind ganz schön viel für einen so kleinen Baum, meinst du nicht?«, sagte ich gleich etwas lauter.

Ihr Gesicht offenbarte eindeutig, dass dies nicht die Antwort war, die sie hatte hören wollen.

»Thomas, komm schon, es ist Weihnachten.«

Ihre Ungeduld war deutlich zu spüren.

»Aber 60,- Euro? Finden wir nicht einen Günstigeren?«, entgegnete ich jedoch unbeeindruckt und wieder einmal viel zu schroff, wie so oft in den vergangenen Tagen. In der Sekunde, die sie mir gab, bevor Sarah sich anschickte, diese Diskussion zu beenden, rechnete ich schon wieder in Gedanken unsere Ausgaben für diesen Monat durch. Mir wurde direkt schlecht, was dazu führte, dass meine Laune dem Boden noch einmal erheblich näher kam.

»Thomas, mir ist kalt, Charlotte braucht etwas zu essen und Lisa wartet zu Hause bestimmt schon auf uns.«

»Ja klar...«, setzte ich an, »...aber so langsam wird das ganz schön viel diesen Monat«, und versuchte so, meinen Standpunkt zu verteidigen. Erfolglos, wie sich schnell feststellen ließ, da meine Herzensdame ihr Gesicht zu einer Grimasse verzog.

»Mein Gott, es reicht jetzt! Seit zwei Wochen höre ich mir das nun an. Thomas, es ist Weihnachten und wir brauchen einen Baum. Du kannst ja einen Baum illegal im Wald hacken gehen. Mach doch, was du willst«, sprach sie und drehte sich um. Charlotte, dick eingepackt in ihre rote Jacke, die bisher vollkommen stumm geblieben war, musste wohl an der Hand ihrer Mutter festgefroren sein, auch ohne Minusgrade. Diese wurde nämlich etwas unwirsch hinterhergezogen, als Sarah Richtung Straße marschierte. Ich hasste es ihr, hinterherlaufen zu müssen, doch die Prioritäten hatten sich in einer Nano-Sekunde meines Seins verändert. Nun ging es nicht mehr darum, einen Baum zu erwerben, sondern, wie so oft in solchen Situationen, das Schlimmste, einen Abend voller Streit zu verhindern.

»Schatz!«, rief ich hinter ihr her.

»Schatz nun warte doch.«

Mit einem Ruck blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. Jeder Liebreiz war in dieser Sekunde aus ihrem Antlitz gewichen. Die Augen meiner Kleinen sahen mich unter ihrer kleinen Sternenmütze ebenfalls mit diesem »Papa?«-Blick an, der immer sagte: »Mach jetzt keinen Scheiß«. Ich hoffte, dass ich den kleinen Spatz nun nicht enttäuschen würde. Ruhig, aber mit unverhüllt drohender Stimme richtete Sarah das Wort an mich: »Nein Thomas, ich habe keine Lust mehr. Du nörgelst nur noch rum und versaust die gesamte Stimmung. Und das schon seit Tagen. Wir können ja Weihnachten abblasen, wenn es dir dann besser geht.«

Der entsetzte Blick der Kleinen nach oben zu Mamas Kopf hin, sprach Bände. Es wurde Zeit, das Feuer zu löschen, dass ich gelegt hatte.

»Schatz bitte, ok, ich geb´s ja zu...«, ja im klein beigeben war ich gut, »...du hast ja Recht. Entschuldige. Ich will doch auch ein schönes Fest.«, wobei ich Charlotte zuzwinkerte. »Lass mich den Baum holen und dann fahren wir nach Hause. Ok? Lass uns nicht streiten.«

Ich hätte in diesem Moment alles getan, um zu vermeiden, dass dieses kleine Gefecht zu einer ausgewachsenen Schlacht wurde. Zum Glück schien meine Frau das genauso zu sehen. Leicht schüttelte sie ihren Kopf und erwiderte dann sanfter: »Ok. Kriegst du das alleine hin?«

Ich nickte.

»Gut. Dann fahre ich jetzt nach Hause, das Essen vorbereiten. Den Baum liefern sie bestimmt, wie letztes Jahr auch. Frag sie auf jeden Fall, dann musst du ihn nicht irgendwie mit dem Polo transportieren. Also bis nachher dann.«

Erleichtert atmete ich auf und gab nur ein kurzes: »Ich liebe dich«, zurück.

»Ich liebe dich auch«, kam es spitz von ihr, während sie sich umdrehte und mir so zu verstehen gab, dass das Schlimmste vorbei war. Schlacht abgewendet. YEAH! Ich freute mich wirklich und fühlte mich gleichzeitig wie ein Verlierer. Es war bei uns nicht unüblich, dass kleine Streitereien, unbedeutende Meinungsverschiedenheiten gerne einmal in größere Zusammenstöße verbaler Art mündeten. Ich gebe dafür nicht meiner Gattin die alleinige Schuld. Es gehören immer zwei dazu. Charlotte löste sich noch einmal von ihrer Mutter, kam zu mir gelaufen und reckte sich, wie sie es schon als kleines Baby getan hatte. Ich konnte nicht anders, als zu lächeln, während ich mich zu ihr runter bückte. Die Kleine ging mir sonst gerade mal bis zum Bauch, war aber damit schon eine der Größten in ihrer Klasse. Eine kleine Umarmung, ein kleiner Kuss auf die Wange sowie ein liebevolles: »Ich habe dich lieb Papa!«, und aller Rest-Ärger in meinem Kopf war verflogen. So sanft wie ich konnte, gab ich ihr ein kurzes: »Ich dich auch Mäusespeck«, mit auf den Heimweg. Sie kicherte, wie sie immer kichern musste, wenn ich ihren alten Kosenamen benutzte. Dann drehte sich meine Jüngste schlagartig um und lief zu ihrer Mutter. Sarah warf mir noch einmal eines ihrer umwerfenden Lächeln zu, um sich danach endgültig auf den Weg zu machen. Und ich? Ich begab ich mich zum Verkäufer, bezahlte die Tanne und vereinbarte die Lieferung unserer neuen Inneneinrichtung für den morgigen Abend.

Tja, 60,- Euro wieder futsch. Toll! Aber auf mich hört ja keiner.

Mehr gab mein Gehirn dazu nicht mehr her. Ich überschlug noch mal alles im Kopf und kam mal wieder zu der Erkenntnis, das da nicht mehr viel übrig blieb. Zum Glück waren die Geschenke der Kinder schon gekauft. Weiter grübelnd und sichtlich entnervt von der Gesamtsituation verabschiedete ich mich von dem Verkäufer, welcher ein sehr weiser Mann gewesen sein musste, hatte er sich doch zu keinem Kommentar hinreißen lassen. An der Straße angekommen stieg ich in meinen Firmenwagen, startete den Motor und begab mich auf den Heimweg.

So war es immer. Gefühlt bekam sie immer, was sie wollte. Zorn über mich, über meine Unfähigkeit, solche Wortgefechte zu gewinnen, stieg in mir auf. Ich verließ die Stadt südwärts und nahm eine Strecke, welche nicht die kürzeste war. Diese führte eine geschwungene Landstraße entlang, die das kleine Dörfchen umfuhr, in dem mein, nein unser Haus stand. Ich wollte und musste dringend den Kopf freibekommen. Der Weg gab mir die Möglichkeit dazu. Zum Glück war mein Handy immer automatisch per Bluetooth mit dem Autoradio gekoppelt und so war es ein Leichtes meine Playlist zu starten. The Soundtrack of my Live. Ich drehte die Musik voll auf und Clueso´s Achterbahn donnerte aus den Lautsprechern. Und während der junge und wie ich fand, nicht untalentierte Barde von einem Leben aus Freiheit und Unabhängigkeit sang, merkte ich nicht, wie sich das Gaspedal immer weiter durchdrückte. Die Kurven wurden enger, ich nahm sie härter.

Warum kann nicht einmal alles entspannt sein? Warum muss immer alles so sein, wie andere es wollen?

Enger, schneller, enger, schneller.

Warum kann man nicht einmal auf mich hören. WARUM VERDAMMT?»Ich sag Hallo aus der Achterbahn...«, dröhnte es zum klingenden Finale aus den Bose-Boxen, die seitlich in die Türen eingelassen waren.

Dann verlor ich die Kontrolle.

Vielleicht war es unerwarteterweise etwas Eis oder doch nur eine Pfütze gewesen. Es kann auch sein, dass ich mich schlicht und einfach verbremste ohne es zu merken. Ich kann es Ihnen gar nicht mehr sagen. Fakt war, dass sich der, aus dunklem Beton bestehende, von den Scheinwerfern hell erleuchtete Fluss, dem ich gerade noch gefolgt war, vor meinen Augen in einen Tornado aus Licht und Dunkelheit verwandelte. Die Fliehkräfte drückten mich gegen die Seitentür. Meine Hände hielten krampfhaft das Lenkrad in Position. Mein Körper versteifte sich. Und dann.

BUM!

 

Der Wagen kam abrupt zum Stehen. Es fühlte sich an, als ob mein gesamtes Inneres in diesem Moment versuchte seinem Gefängnis aus Haut und Knochen zu entkommen. Alles drückte in eine Richtung. Schmerz explodierte in meiner rechten Schulter und im Nacken, als ich mit meinen hart erarbeiteten hundertzwanzig Kilo in den Sicherheitsgurt geworfen wurde. Kurz gesagt, auf einmal hing ich schräg in den Seilen.

Scheiße!

Mein Herz raste, trieb das Blut durch die Adern und das Atmen fiel schwerer und schwerer. Ich zwang meine Augen, sich zu öffnen, und sah eine gebrochene Welt vor mir. Klare Konturen waren nicht zu erkennen und kurz fürchtete ich um mein Augenlicht. Der zweite Gedanke galt dann aber meiner Brille. War diese zerbrochen oder nur runter gefallen? Ich hoffte inständig sie würde heil sein und krampfhaft unterdrückte ich eine Panikattacke. Sie fragen warum? Nun, ich trage seit dem vierten Lebensjahr eine Brille und eine meiner größten Ängste war schon immer diese zu verlieren, ohne direkt Ersatz dabeizuhaben. Denn dann war ich so gut wie blind.

Und bevor Sie weiter fragen, Kontaktlinsen vertrage ich bis heute nicht. Ganz ehrlich, wie hart im Nehmen muss man sein, sich jeden Morgen und Abend den Finger aufs offene Auge zu drücken. Allein die Vorstellung ist doch widerlich!

Aufatmend erkannte ich jedoch schnell, dass meine Sehhilfe noch dort war, wo sie seit je her hingehörte. Verrutscht aber da. Ich richtete diese schnell und das Bild fügte sich wieder zu einem Ganzen. Eine kurze geistige Bestandsaufnahme meiner selbst ergab, dass ich zwar Schmerzen hatte, mich aber frei bewegen konnte. Noch jedenfalls, denn mir war klar, warum. Die biologischen Schutz- und Stressmechanismen in meinem Körper arbeiteten gerade sicher unter Hochdruck. Doch dies würde nicht ewig anhalten. Trotzdem, Adrenalin ist etwas Wunderbares. Gebrochen schien jedenfalls nichts zu sein. Soweit so gut. Also war es Zeit für einen guten, altmodischen und überaus emotionalen Ausbruch.

»Nein, nein, nein. NEIN......... FUCK!«, schrie ich in die Stille hinein und dachte nur: Nicht schon wieder! 

Das war nun schon der zweite Unfall in diesem Jahr. Mein Chef würde toben, auch wenn der Wagen versichert war. Zwei Unfälle in einem Jahr, das war einfach zu viel. Und die Selbstbeteiligung erst. Beim Ersten war ich um diese noch einmal herumgekommen. Diesmal würde ich garantiert nicht so viel Glück haben.

»SCHEISSE!«

Ich löste den Gurt und schlug die Fahrertür auf. Mit meiner rechten Hand den Nacken massierend, kämpfte ich mich aus dem Wagen, um das Chaos nun von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten. Die nasse Luft, die ich vorhin noch verteufelt hatte, war angenehm kühl, geradezu wohltuend und langsam beruhigte sich mein Herz. Doch nur um meinem Magen die Gelegenheit zu geben, sich zu verkrampfen.

Der Wagen lag in Fahrtrichtung schräg im Graben. Seine Scheinwerfer fluteten weiterhin die Straße mit Licht, welche mich eigentlich nach Hause geleiten sollte. Es war ruhig, geisterhaft ruhig. Da die rechte Seite des Polos aufgrund seiner Lage nicht zu erkennen war, konnte ich den Schaden natürlich nicht richtig begutachten. Aber das, was ich sah, schien völlig in Ordnung. Vielleicht hatte ich Glück. Ein Funke Hoffnung glimmte hinter meiner Stirn auf. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm. Vielleicht würde der Wagen nur etwas dreckig sein. Wenn nicht, fiel mir für ein oder zwei Beulen eventuell eine gute Erklärung ein. Ja, eine Ausrede musste her. Nur welche? Ein Reh! Ein Reh, dessen Leben ich in selbstloser heroischer Hingabe todesmutig verschont hatte? Klang gut. Aber im Hier und Jetzt, brachten mich solche Überlegungen erst einmal nicht weiter. Der Wagen musste aus dem Graben, denn ich wollte wissen, wie die andere Seite aussah und auch daheim sollte ich langsam erscheinen. Also setzte ich mich wieder hinter das Lenkrad und startete den Motor. Dieser sprang an, ohne einmal zu murren.

YEAH Baby!, blitzte Mike Meiers Grinsefratze alias Austin Powers in meinen Gedanken auf und ich grinste mit.

»Ja, Yeah Baby!«

Langsam drückte ich das Gaspedal durch und ließ die Kupplung kommen.

»Komm schon. Komm schon. Komm schon!«

Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Die Hinterräder drehten ein paar Mal durch und hinterließen, wie ich später feststellte, tiefe Furchen in dem grasbewachsenen Boden. Dieser musste durch den ständigen Wechsel von Wärme, Kälte und Regen der letzten Zeit stark aufgeweicht worden sein. Doch die Reifen fanden alsbald Grip und bewegten den Wagen vorwärts. Ich gab mehr Gas, ein kleines Stück, nur noch ein kleines Stück und schwups stand ich wieder auf der Straße. Gut, wenigstens musste ich so nicht nach Hause laufen.

Eins zu null für mich, Schicksal.

Ich stellte den Motor ab, stieg wieder aus und lief nervös um die Front herum. Waren es eben noch ein kleiner Schimmer Hoffnung und das Gesicht von Austin Powers gewesen, die mich begleiteten, so hatten beide gerade Fahnenflucht begangen. Hoffnung ist eine feige Sau, wenn es ernst wird, zieht sie sich meistens zurück, um der Realität Platz zu machen. Diese traf mich mit einem rechten Schwinger direkt in die Magenkuhle.

Mein Chef wird mich umbringen!

Die linke Seite, viel mehr die Beifahrertür, war vollkommen eingedellt und verkratzt. Das Logo meines Arbeitgebers, welches Stolz die Flanke des Polos geziert hatte, sah aus, als ob ein Tiger es zerfetzt hätte. Der linke Spiegel hing nur noch traurig an einem Kabel herunter, als wolle mir der Wagen einen »Thumbs down« geben. Tränen stiegen mir in die Augen. Ja, meine Damen und Herren, welch Überraschung, Männer können auch weinen und ja, manchmal kann es auch für uns einfach zu viel werden. So viel, dass wir nicht ausrasten, nicht schimpfen, schweigen oder uns sportlich austoben. Manchmal weinen wir einfach. Und bei mir war es einfach soweit.

Warum? Warum ich? Verdammte Scheiße!, kam mir als Erstes in den Sinn.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Kann nicht einmal alles gut sein? Muss so ein Kack immer mir passieren?

Die Tränen liefen heiß meine Wangen herunter. Ich wusste nicht wie es anders rauslassen sollte und dachte ehrlicherweise auch gar nicht darüber nach. Ich wollte wieder schreien, brüllen, gegen das Auto treten, aber ich stand nur da. Stand da und weinte. Das Adrenalin ließ mich nun ebenfalls langsam im Stich und ich fühlte schlagartig die Kälte, die durch meinen Körper kroch.

Die Schmerzen in meinem Nacken sowie der Schulter hatten sich nun bis zu meinem Kopf vorgearbeitet und auch meine komplette rechte Seite erobert. Ich begann ein wenig nach hinten zu taumeln. Natürlich hatte ich in diesem Moment nicht auf den Schirm, dass ich noch mitten neben einem Graben stand. Eins, zwei, schwups zum zweiten. Weg war ich und muss wohl kurz das Bewusstsein verloren haben. Jedenfalls fühlte es sich so an, als ob ich frisch aus einem tiefen Schlaf erwachte, während sich meine Augen aus der Dunkelheit kämpften. Das letzte Quäntchen Adrenalin hatte sich wohl abgebaut und nun bekam ich die Auswirkungen des Unfalls voll zu spüren. Und dennoch kam ich nicht umhin die Schönheit des Nachthimmels zu bewundern, welcher zwischen Wolkenschleiern immer wieder hervortrat.

Wunderschön.  

Meine Augenlider wurden wieder schwer.

Vielleicht sollte ich sie einfach geschlossen lassen und alles würde gut werden, dachte ich.

Vielleicht wache ich ja gar nicht mehr auf? Wär vielleicht nicht das schlimmste.

Ja, ein ewig währender traumloser Schlaf erschien mir momentan als ein optimaler Ausweg. Kein Stress mehr, keine Wortgefechte mehr, kein Druck mehr, keine Sorgen mehr ums Geld. Nur glückselige Ruhe. 

  The Project 1 – The Day after

 

 

User III – Esat Adil

 

Die Schreie hallten durch sein Inneres. Erst dumpf und fern, aber deutlich zu hören, dann immer lauter und ausfüllender. Schreie von Kindern nach ihren Müttern. Schreie von Müttern, die um das Leben ihrer Liebsten flehten. Schreie von Männern, voller Furcht und Hilflosigkeit im Angesicht des drohenden Untergangs. Und dann erkannte er, dass unter den vielen, vielen Schreien auch sein Eigener war. Er schrie. Schrie um sein Leben, wie all die anderen.

Mit Schrecken erwartete er die kalten Fluten, die sich anschickten, ihn zu verschlingen. Das salzige Nass würde durch seinen Mund und die Nase dringen, bis es die Luft aus seinen Lungen herauspresste. Er schrie aus Angst vor dem Unausweichlichen. Dem Ende all dessen, was er war.

Er schrie.

Und nur langsam, ganz langsam, so langsam wie die aufgehende Sonne das Land bei Tagesanbruch Stück für Stück in ihren goldenen Schein badete, wurde ihm gewahr, dass das Ende nicht kam.

Dafür kehrte das Denken zurück. Verdrängte die Panik und das Tosen des vokalen Sturmes aus seinem Kopf. Leiser, immer leiser wurde es dort, wo man ganz für sich war. Bis jeder Hall alsbald verstummte. Der Junge öffnete die Augen. Schon wähnte er sich dem Albtraum nicht entkommen zu sein, jedoch waren es Tränen, die seinen Blick trübten, kein Meerwasser. Er wischte sie weg, überschritt letztendlich die Schwelle zum vollkommenen Wachsein und konnte somit der Wahrnehmung des Wirklichen nicht mehr entkommen. Erste Bilder, die mit annähernder Lichtgeschwindigkeit von seinen Sehnerven übertragen wurden, begannen verarbeitet zu werden und formten eine neue Realität. Die Angst wich langsam zurück, als eine Frage in seinem Bewusstsein begann Form anzunehmen. Eine simple Frage, ohne Zweifel und doch so existenziell wie auch die Fragen nach dem »Wer?«, dem »Was?« oder dem »Warum?«.

Diese waren jedoch momentan nicht von Belang. Wer und was er war, wusste der Junge genau und das Warum konnte warten. Es war die Frage nach dem »Wo?«, die am heißesten brannte.

»Wo bin ich?«, kam es über seine Lippen, als ob das Denken nicht reichen würde, dieser Frage Substanz zu verleihen. Die Neugier erwachte kurz darauf.

Esat Adil, von seinen Freunden, fernen Freunde, toten Freunde, immer nur Essy genannt, blickte sich vorsichtig um. Fahles Mondlicht ließ ihn mehr oder weniger erkennen, dass er nicht unter freiem Himmel lag. Es musste durch ein Fenster hinter seinem Rücken fallen, denn lange kreuzförmige Schatten dehnten sich von seinen Beinen aus, bis sie an einer Wand vor ihm endeten. Schatten die Esat nur allzu gut kannte. Schatten von Gittern, Fenstergittern, Gefängnisgittern. Doch dies war keine Gefängniszelle, soviel schien festzustehen. Die, die er kannte, waren karg, unbequem und überfüllt. Drei Wände, eventuell auch manchmal ein Fenster, ja. Doch nur um den Insassen immer die Freiheit vor Augen zu führen, die sie verloren hatten. Und sie hatten Gittertüren. Gittertüren, welche jedem der es wollte, von der gegenüberliegende Seite Einblick gewährte. Manchmal hatten die Zellen auch eine Toilette, oft genug jedoch nur ein Loch, um das Notdürftigste zu verrichten.

In diesem Raum gab es kein Loch und auch keine Wände aus spröden Metallstangen. Dafür erkannte er eine grau melierte Tür, welche fast vollkommen mit der Wand verschmolz. Ein Blick zur Rechten zeigte einen Tisch mit Schubladen, da wo die Beine hätten sein sollen. Darauf eine Lampe, ein Stift und ein kleiner Block mit Papier. Diese waren so einladend drapiert, als ob sie ihm zuriefen: »Setz dich. Schreib, wenn du magst.«

Noch weiter rechts vom Schreibtisch fanden Esats Augen eine weitere Tür, ebenfalls grau, doch mit einem Symbol versehen. Zwei Buchstaben waren darauf zu erkennen. WC. Esat hatte nicht viel für Sprache übrig, doch auch er wusste, dass dies eine Bezeichnung für eine Waschzelle und eine Toilette war. Nein, das hier war sicher kein Gefängnis und wenn, dann war es das komfortabelste, welches er je gesehen hatte.

Solche, die es nur im Westen geben konnte, wurde ihm klar. Sein Herz schlug schneller.

Habe ich es geschafft? Bin ich allem entkommen? Subhâna rabbiya-l-'azîm. Lieber in Europa im Gefängnis verrotten, als in der Heimat in Freiheit zu leben.

Von dieser Erkenntnis gestärkt, schickte East seine Sinne auf weitere Erkundungstour. In der Luft lag ein chemischer Geruch. Vielleicht von Reinigungsmitteln. Er schluckte schwer, da sein Rachen rau war wie der eines Jungen, der um sein Leben geschrien hatte. Sein Hintern schmiegte sich derweil an ein weiches Bett direkt unter ihm. Die Decke, welche momentan nur noch seine Unterschenkel und Fußknöchel bedeckte, wirkt behaglich, schwer und einfach gemütlich. Somit widersprach sie dem Schreibtisch auf das Entschiedenste, fand Esat. Denn er hörte ihren Sirenengesang: »Komm, bleib liegen, wickle dich ein und schlaf.«

Wo bin ich nur?, ging es ihm wieder im Kopf herum.

Ein Klopfen drang an sein Ohr. Erst kaum wahrnehmbar, dann fordernder, riss es ihn aus seinen Gedanken. Esat starrte auf die Tür, ohne zu wissen, was er tun sollte. Dann verklang das Klopfen so abrupt, wie es begonnen hatte. Die Tür vor ihm öffnete sich einen kleinen Spalt und weitaus grelleres Licht drang nun herein. Ein Kopf folgte. Esat stutzte. Der Kopf bewegte sich mehrmals herum, verharrte dann einen Moment, als ob er gefunden hatte, was er suchte und verschwand wieder. Kurz darauf öffnete sich die Tür jetzt vollends. Heller Schein blendete seine Augen so sehr, dass er eine Hand zum Schutz erheben musste.

Umhüllt von diesem erschien eine hagere Gestalt, nur um sich gleich darauf in den Schimmer des Mondes zu hüllen, als die Tür hinter ihm zufiel. Die Gestalt, oder besser der Mann, wie nun zu erkennen war, blieb vor ihm stehen. Es schien fast so, als ob er Esat die Möglichkeit geben wollte, ihn genau zu betrachten. Ihn vollends wahrzunehmen.

Vielleicht, so kam es Esat in den Sinn, will er, dass ich sehe, dass von ihm keine Gefahr ausgeht.

Doch sicher war sich der junge Mann nicht.

»Die Unscheinbaren, das sind die, auf die du Acht geben musst Junge.«, hörte er die Stimme eines ehemaligen Mitinsassen, der sich bei Esat´s erstem Gefängnisaufenthalt seiner angenommen hatte. Seinen Namen wusste er allerdings schon lange nicht mehr. Das Gesicht des Mannes vor ihm war schmal, die Wangen leicht eingefallen. Sein Alter war für Esat schwer abzuschätzen, doch graue Schläfen verrieten, dass er nicht mehr der Jüngste sein konnte. Seine ansonsten schwarzen Haare waren ordentlich nach hinten gekämmt und wurden mit einem Hauch zu viel Gel in Form gehalten. Die Lippen, kaum mehr als zwei dünne Striche, die Nase lang und etwas gekrümmt, entsprach die Erscheinung genau dem Klischee, welches Esat immer für Ärzte und Professoren aus der westlichen Welt verinnerlicht hatte. Nur eines entsprach so gar nicht seiner Vorstellung. Der Mann war kein Weißer. Sein Teint war dunkel. Seine Haut wirkte zwar fahl, als ob er sehr lange nicht mehr in der Sonne gewesen war, doch er sah aus, als ob er direkt aus Esats Heimat stammte. Nussbraune Augen musterten ihn. Sie blickten jedoch nicht streng, sondern eher gütig über die Gläser einer vielleicht zu großen Brille hinweg, deren breite Bügel sich zu den Ohren hin verjüngten. Seine Lippen begannen sich auf einmal zu bewegen. Eine freundliche Stimme sendete Worte in Esats Richtung, welche er jedoch weder verstand noch deuten konnte. Fast unmerklich bewegte er den Kopf nach links und rechts, in der Hoffnung sein Gegenüber würde es verstehen. Und tatsächlich schien das der Fall zu sein, denn die Lippen, die gerade noch so erregt in Bewegung waren, stoppten augenblicklich. Die Stirn des Mannes furchte sich. Dann präsentierte er Esat ein breites Lächeln, während sich seine Augen leicht verdrehten. Der Junge hörte das Klatschen der Hand, die hochschnellte und für einen kurzen Augenblick an der Stirn des Mannes haften blieb. Dieser lachte auf und es wirkte, als ob ihm gerade bewusst geworden war, dass er etwas durchaus Dummes getan hatte. Wie zur Bestätigung murmelte er wieder unverständliche Worte. Doch diesmal mehr zu sich selbst als zu Esat. Seine linke Hand begann in seiner Hosentasche aus Cord herumzunesteln und förderte bald ein kleines weißes Etui zu Tage. Es klickte kurz und das Ei in der Hand des Mannes gebar zwei noch kleinere Objekte, von dem eines Esat gereicht wurde. Er beobachtete, wie der Mann eines dieser kleinen Dinger in sein rechtes Ohr schob und Esat mit einer Handbewegung aufforderte, es ihm gleich zu tun. Dieser tat wie ihm geheißen. Esat glaubte zwar nicht an Wunder, doch das, was dann geschah, kam dem schon sehr nahe. Der Mann vor ihm begann wieder zu reden und die Worte wurden fast ohne Verzögerung ins Arabische übersetzt. Es gab nicht einmal eine Computerstimme, wie in den wenigen Sci-Fi-Filmen, die er in seiner Jugend gesehen hatte. Nein, es war die Stimme des Mannes selbst. Direkt, ohne eine akustische Dopplung. Esat war kein Dummkopf. Kein Junge, der hinter dem Mond gelebt hatte. Er wusste über moderne Kommunikationsmedien durchaus Bescheid. Kannte Skype, WhatsApp, Facebook und die verschiedenen Übersetzer der großen IT-Riesen. Doch das hier, ja das war neu und einfach erstaunlich.

»Guten Morgen mein Junge, mein Name ist Braun. Schön, dass du wach bist«, sagte der Mann und lächelte wieder gutmütig, bevor er fortfuhr.

»Du musst sicher viele Fragen haben, aber bitte lass dir erst einmal gesagt sein, das wir froh sind, dass du hier bist. Bitte, fühle dich willkommen!«

Herr Braun schaute Esat erwartungsvoll an. Doch was dachte er, was passieren würde? Dass er ihm fröhlich entgegensprang? Ihm aus Dankbarkeit vor die Füße fiel? Dankbarkeit wofür? Wo hieß man ihn denn überhaupt willkommen? Doch der einzige Gedanke, den Esat wirklich fassen konnte, war schlicht und ergreifend: Der Name ist nicht echt. Er passt nicht zu dir! Was ist hier bloß los und wie bin ich hierhergekommen? 

Statt zu Antworten schwieg er und wurde weiterhin geduldig gemustert. Wie aus dem Nichts stiegen Erinnerungen hoch und ließen sein Herz erneut schneller schlagen. Erst waren es nur Fetzen, die sich mehr und mehr zu einem Wandteppich verwoben, um erneut den vergangenen Schrecken zu zeigen. Fluten, die nach ihm griffen, ihn für sich haben wollten, ihn zu verschlingen drohten. Ihn hinab zogen in eine Welt, in der er nur den Tod finden konnte. Esat erinnerte sich an das kleine überfüllte Schlauchboot. Und dann kamen sie wieder. Die Schreie der Kinder, Frauen und Männer, als die Wogen die kleine schwimmende Insel auf dem Mittelmeer, auf der sie nun seit einer Woche lebten, umherwirbelten und zum kentern brachten. Ihm stieg der Schweiß auf die Stirn, sein Herz war kaum noch zu bändigen. Das Blut schoss durch seine Adern wie ein reißender Strom. Sein Atem ging immer schneller und schneller, bis er kurz davor stand zu hyperventilieren. Lange, dünne, aber starke Finger legten sich auf seine schmächtigen Schultern und ein Blick so intensiv, dass man befürchten musste, Laserstrahlen würden gleich durch die Luft sirren, fesselte seine Aufmerksamkeit. Die freundliche Stimme von Herrn Braun erklang erneut.

»Ruhig. Ruhig, mein Junge. Atmen, einfach Atmen. Es ist vorbei, du bist in Sicherheit. Atme. Ja, so ist es gut. Einfach atmen. Alles wird sich klären, versprochen.«

Esat gehorchte und sein Atem wurde langsamer, immer langsamer. Der Ochse, der seine Brust zu zerreißen drohte, entspannte sich immer mehr und legt sich schlussendlich wieder schlafen, während Herr Braun sein Mantra fortsetzte.

»Gut so. Du machst das sehr gut. Einfach weiter atmen.«

Esat entspannte sich zunehmend und die Frage, die erste Frage, die in seinem Geist erschien, nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war, nahm durch eine vorsichtige Modulation seiner Stimmbänder Gestalt an. Herr Braun lächelte weiter und es blitze in seinen Augen, als er zum ersten Mal die Stimme des Jungen vernahm. Es war die Stimme eines Jungen, der vor dem Krieg geflohen war. Es war die Stimme eines Jungen, und da war sich Herr Brauns sicher, der nun dabei helfen würde, die Welt zu verändern.

 

»Wo bin ich?«, kam es Esat endlich über die Lippen.

Herr Braun schaute in das ausgezehrte Gesicht von Esat Adil und staunte innerlich. Dieses kleine Häufchen Elend vor ihm, welches für die Rettung von über dreiundsechzig Menschen verantwortlich war, hatte endlich den Mut gefunden zu sprechen. Hatte endlich den Mut gefunden, eine Frage zu stellen.

Du bist nicht gebrochen, ich habe nichts anderes von dir erwartet, dachte er und überlegte kurz. Es war eine gute Frage, wie er fand. Und dieser Junge hatte das Recht darauf, eine ehrliche Antwort zu erhalten, auch wenn diese sich als kompliziert erwies. Zu kompliziert für diesen Moment.

»Du bist an einem Ort, an dem du in Sicherheit bist mein Junge.«

»Bin ich ein Gefangener?«, kam es direkt aufs Neue.

»Ein Gast.«

»Das heißt, ich kann gehen?«

Herr Braun wand sich innerlich und wägte erneut seine Worte ab.

»Das wird sich zeigen.«

»Also bin ich ein Gefangener«, erwiderte sein Gegenüber sofort und Zorn schwang in jeder Silbe mit.

Herr Braun lachte auf.

Dumm bist du jedenfalls nicht, und er musterte den Jungen erneut. Schmächtig war er. Abgemagert. Das dunkle Haar wild zerzaust. In seinen Augen blitzten Furcht und Wut, aber auch Neugier sowie Intelligenz. In dieser Situation, so wusste Herr Braun, würden Lügen und Ausflüchte ihm nicht weiter helfen. Gute Zusammenarbeit fußte auf Vertrauen. Und dieses musste mit Wahrheit verdient werden. Wie auch immer diese aussehen mochte. Langsam und wohl bedacht sprach er dann: »Esat, du bist an einem Ort, an dem dir kein Leid geschieht, an dem kein Krieg herrscht und an dem deine Vergangenheit hinter die liegt. Du bist an einem Ort, an dem du deine Zukunft neu bestimmen kannst und ich hoffe, dass du mich dir dabei helfen lässt. Denn Großes steckt in dir Junge und ich will es dir gerne zeigen, wenn du mich lässt.«

Ein prüfender Blick traf ihn, als der Junge direkt in sein Gesicht starrte.

»Wie? Wie meinen Sie das?«

»So, wie ich es gesagt habe. Ich verspreche dir, es wird bald alles klarer für dich werden und du wirst verstehen. Doch sage mal hast du nicht Hunger?«

Das brachte Esat völlig aus dem Konzept. Doch wie zur Bestätigung knurrte sein Magen. Herr Braun lachte erneut.

»Ich denke, dass war eine klare Antwort. Hör zu. Ich habe einen Vorschlag. Ich lasse dir erst einmal etwas zu Essen bringen. Und wenn du dich gesättigt hast und etwas ausgeruhter bist, dann sprechen wir nochmal miteinander.« Der Junge dachte einige Sekunde über den Vorschlag nach. »Und dann?«, erwiderte er schließlich.

»Dann entscheidest du. Wenn du, nachdem ich dir alles gezeigt habe, immer noch gehen willst, dann werde ich alles in meiner Macht stehende tun, dass du dies tun kannst. Doch zuerst wirst du mir zuhören, ok? Was meinst du?«

Wieder grübelte Esat. Es war deutlich zu sehen. Doch was hatte er zu verlieren oder besser was konnte er sonst tun? Er war sich zwar unsicher, ob er nun frei war oder nicht, aber selbst als Gefangener war dies hier tausendmal besser als das, was er in seiner Heimat erlebt hatte. Und er war wirklich hungrig.

»Gut, abgemacht«, kam es schließlich aus seinem Mund.

»Abgemacht«, bestätigte Herr Braun.

»Doch jetzt entschuldige mich bitte. Das Essen wird dir gleich serviert werden und wir sehen uns dann später wieder. Ich habe noch ein paar andere Dinge zu erledigen, bevor wir wieder reden können.«

Esat brachte nur ein kurzes: »Ok«, heraus, als sich Herr Braun erhob und zur Tür ging. Bevor er hindurchschritt, warf dieser noch einmal einen Blick zurück.

»Mach dir nicht zu viele Sorgen, mein Junge, ich bin wirklich sehr froh darüber, dass du bei uns bist. Und ich werde mich um dich kümmern. Versprochen.«

Esat nickte nur kurz. Dann war Herr Braun auch schon verschwunden. Wieder allein ließ sich Esat zurück ins weiche Bett sinken und dachte nach. Das alles war sehr merkwürdig. Wirklich. Aber es hätte auch schlimmer kommen können, stellte er fest. Still war es um ihn herum und er verblieb in freudiger Erwartung, endlich etwas in den Magen zu bekommen.

Ob es hier Kibbeh gibt?

 

Herr Braun ging entspannt über den klinisch sauberen Gang, welcher Esats Zimmer mit seinem Büro verband. Langsam voranschreitend, streifte sein Blick über weitere Türen, die gleichmäßig links und rechts in die dicken weißen Mauern eingelassen worden waren und rot hervortraten. Nur auf zwei der insgesamt sechs Türen, waren Codes zu lesen, wo Namen hätten stehen sollen. Die Chiffren waren ihm noch immer zuwider. Denn diese erinnerten ihn nur zu gut daran, unter welcher Schirmherrschaft er seine Arbeit verrichtete. Er seufzte, denn auch Esats Tür würde bald entsprechend markiert werden. Doch es war, wie es war, und nicht zu ändern. Das wusste Herrn Braun nur zu gut.

»Und wenn du etwas nicht ändern kannst, akzeptiere es, passe dich an und nutze alles zu deinem Vorteil.«

Ein weiser Rat, Vater. Damals wie heute.

Nachdem die Tür zu seinem persönlichen Arbeitsbereich hinter ihm ins Schloss gefallen war, atmete er erst einmal tief durch. Endlich allein. Es war ein harter Tag gewesen, dessen Ende, wie so oft, wohl noch lange auf sich warten ließ.

Wie spät es wohl war?

Er hatte mal wieder jedes Zeitgefühl verloren. Da ertönte ein aufdringliches Piepen an seinem rechten Handgelenk und gab ihm eine gewisse Orientierung.

Ah, so spät also.