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Eigentlich wollte der Zürcher Polizist Pierre Von Allem, der vor einigen Monaten durch den plötzlichen Unfalltod seines Vaters, ein Millionenvermögen, eine Firma in Zürich und ein Schloss in Frankreich geerbt hat, ganz normale Sommerferien mit seiner neuen Freundin Valérie und ihren beiden Kindern Céline (18) und Michel (16) in der Bresse verbringen. Am ersten gemeinsamen Morgen geniessen sie in einem beliebten Strassenkaffee in Bourg En Bresse frische Croissants, als plötzlich Cousine Leonie (18) spurlos verschwindet. Durch das aufgefundene Erpresserschreiben wird sofort klar, dass es sich um eine Entführung und tragische Verwechslung handelt. Die hübsche Valérie, die ebenfalls Polizistin ist und bei Interpol Lyon arbeitet, löst mit einem Codewort, den für die Entführung von Polizeiangehörigen vorgesehenen, stillen Grossalarm aus. Eine der grössten Suchaktionen der Bresse beginnt. Nach umfangreichen, gemeinsamen Recherchen wird immer unwahrscheinlicher, dass nicht die Verbrecherorganisation des letzten gemeinsam gelösten Falles dahintersteckt. Ein unvorstellbarer Verdacht wird zur brutalen Tatsache!
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Ein Bresse Krimi von Peter Hüssy
Band 2
Peter HüssyEntführung in der Kühltruhe
Texte: 2. Ausgabe © 2019 by Peter Hüssy Lektorat: Ueli und Carola Meier Umschlag: Sibylle Uhler, [email protected] © Copyright 2019 by Irchel Verlag Verlag: Irchel Verlag Wartgutstrasse 7A CH-8413 Neftenbach (Schweiz) [email protected] Bilder und weitere Informationen zum Buch finden Sie auf: www.irchel-verlag.chDruck: epubli – ein Service derneopubli GmbH, Berlin
Die Klimaanlage in unserem Büro in Oerlikon, einem Stadtteil von Zürich, dreht auf Hochtouren. Trotzdem ist es schwül und heiss. Jedes Jahr, während den Sommerferien, ist es dasselbe. Die Schwimmbäder sind überfüllt, die Warenhäuser leer und es gibt genügend freie Parkplätze in der ganzen Stadt. Auch unser Team spürt die alljährliche Ruhephase von Zürich. Es scheint, dass die kleinen Ganoven mit den Touristen nach Mallorca und Italien gereist sind, während die grossen Fische ihr illegal verdientes Geld mit hübschen Frauen in Saint Tropez oder in Las Vegas auf den Kopf hauen.
Zusammen mit meinem Stellvertreter Rocky, der eigentlich Hans Berweger heisst, philosophieren wir über die vergangenen Wochen. Während er sich ständig Gedanken über eine Frühpensionierung macht und die Vor- und Nachteile zu Papier bringt, beschäftigen mich ganz andere Dinge.
Einerseits habe ich vor einigen Wochen meinen Vater und meinen Zwillingsbruder durch einen Autounfall in Deutschland verloren, andererseits bin ich frisch verliebt. Valérie Mercier, die bei Interpol in Lyon arbeitet, lernte ich während eines internationalen Kongresses kennen und lieben. Sie ist frisch geschieden und lebt mit ihren beiden beinahe erwachsenen Kindern in Pérouges, einem historischen Städtchen in der Bresse, in Frankreich.
Aber das ist noch nicht alles was mich bewegt. Durch den Tod unseres Vaters erbten meine Schwester Inés und ich eine Firma in Zürich, die mich bis jetzt noch nie interessiert hat. Und ein Schloss in der Bresse.
Obwohl eigentlich das Rauchen in den Büros der Kantonspolizei Zürich untersagt ist, bietet mir Rocky eine Zigarette an, öffnet eine Schublade und stellt einen Aschenbecher auf sein überhäuftes Pult. «Pierre, du hast es gut», beginnt er die nächste Runde, während er an seiner Zigarette zieht. «Du hast genügend Geld bis an dein Lebensende, brauchst eigentlich nicht mehr zu arbeiten und hast eine hübsche französische Freundin mit herzigen Kindern. Ich will mich nicht beklagen, wir erhalten bei der Polizei eine gute Pension und die staatliche Altersvorsorge in der Schweiz ist auch in Ordnung. Zudem arbeite ich gerne in deinem Team. Als Verdeckte erleben wir immer wieder spannende Momente. Dazu kann ich mir keinen besseren Chef als dich vorstellen. Trotzdem werde ich auch nicht jünger, die Gangster dafür immer schneller.»
«Ja, mein lieber Rocky, dafür hast du noch die gute alte Zeit erlebt, als die Ganoven noch mit dem Tram fuhren.»
«Zudem hat mir Marianne, die sich während den letzten 37 Ehejahren selten geirrt hat, prophezeit, dass du bald den Job an den Nagel hängen wirst und nach Frankreich in dein Schloss umziehst.» Während er das sagt, öffnet er wieder seine Schublade und zieht einen Flachmann hervor. «Dann müssen wir aber sofort Feierabend eingeben», kann ich noch loswerden, bevor Rocky den Deckel aufdreht und ihn mir entgegenstreckt. «Nein, danke. Für mich ist es noch ein bisschen zu früh und der Tesla fährt vorläufig auch noch nicht selbständig nach Hause. Ausserdem treffe ich mich heute Abend noch mit Inés. Sie will mir ihren neuen Freund vorstellen und noch einiges wegen der Firma und dem Schloss klären.» Rocky, der zu Fuss nach Hause gehen kann, nimmt einen kräftigen Schluck aus der kleinen, metallenen Flasche und stellt sie wieder zurück ins Pult.
Ich kann es Rocky, beziehungsweise Marianne, nicht verübeln, dass sie so von mir denken. Zu viel habe ich von Valérie geschwärmt. Ihre Art sich zu kleiden, wie sie zu ihren Kindern steht, wie sie arbeitet und wie sie aussieht! Über die Harmonie in ihrem Boxspringbett und unter der Dusche in Pérouges habe nie mit Rocky gesprochen. Aber ich nehme an, dass er es mir angesehen hat, als ich von Frankreich zurückkehrte.
Rocky öffnet schnell seine Schublade, nimmt noch einen kräftigen Schluck und fährt fort: «In deinem Outlook-Kalender habe ich gesehen, dass du morgen einen Termin beim Chef hast. Das kann auch viel bedeuten. Zudem weiss ich seit heute, dass Susi schwanger ist.»
«Und jetzt? Was willst du damit ausdrücken?», möchte ich von Rocky wissen. «Das bedeutet, dass vieles in unserem Team anders wird. Punkt Schluss!» Rocky schliesst das Fenster und wir verabschieden uns.
Der Lift bringt mich in die Tiefgarage und ich fahre mit meinem Tesla zum Restaurant Waid, etwas oberhalb der Stadt Zürich, am Hönggerberg und parkiere den Elektroflitzer auf einem freien Parkplatz mit Ladestation.
Als ich dem Chef de Service meinem Namen nenne, zeigt er auf einen Tisch im Freien. Meine Schwester Inés und unser Anwalt sind bereits anwesend. Walter Hächler kenne ich bereits von klein auf. Er hat schon meinen Vater in allen rechtlichen Belangen beraten. Wer sitzt da neben Inés? Nicolo! Mein bester Freund aus der Jugendzeit. Das gibt es doch nicht! Nie wäre ich darauf gekommen, dass Nicolo und meine Schwester jetzt ein Paar sind. Als er mich sieht, springt er auf, wir umarmen uns und schlagen uns gegenseitig kräftig auf den Rücken. «Pierre, super, dich zu sehen», ruft Nicolo. «Das ist eine Überraschung», mehr bringe ich vor lauter Freude über das Wiedersehen nicht hervor.
Nach der Begrüssung bestellen wir bei der Bedienung eine Flasche Weisswein aus der Weinkellerei Nadine Saxer, Neftenbach, und Mineralwasser zum Apéritif.
Ohne den Service abzuwarten, beginnt Walter: «Ich habe die Unterlagen von eurem Vater und vom Advokaten aus Frankreich eingehend studiert. Zuerst möchte ich mich aber bei euch für meine Verschwiegenheit rechtfertigen. Bevor ich vom Schloss Loriol erfuhr, musste ich unzählige Schriftstücke unterschreiben. Das Ganze war so geheim wie die Bank von England. Ich konnte leider nicht anders. Ich musste euch alles verschweigen.» Walter greift in seine alte Aktentasche, nimmt ein Stück Papier hervor und reicht es mir. «Das ist das Originalschreiben von eurem Vater. Eine Kopie davon habt ihr beim Anwalt in Bourg-en-Bresse gesehen. Ich möchte, dass ihr es nochmals durchlest, bevor wir weiterfahren.»
Der Kellner bringt die bestellten Getränke und während er die gekühlte Flasche entkorkt, schaut er uns fragend an. «Ich übernehme das», sage ich diskret zu ihm. Worauf er ein Glas zu mir hinstellt und eine kleine Probe einfüllt. «Sehr gut», lautet mein Kompliment, nachdem ich den Wein versucht habe. Ein Lob an die kompetente Winzerin aus Neftenbach. Dann schenkt er alle Gläser korrekt ein und überreicht uns die Speisekarten. Walter reicht mir ein Stück Papier und als ich Vaters Handschrift erkenne, beginne ich vorzulesen:
Liebe Kinder
Wenn ihr diese Zeilen lest, bin ich mit Sicherheit nicht mehr auf dieser Welt. Sicher seid ihr erstaunt, überhaupt in diesem Büro zu sitzen. Aber nach diesen Erklärungen wisst ihr mehr.
Es ist euch bekannt, dass unsere Familie seit Generationen viel Geld in verschiedenen Bereichen verdient hat. Was als Stahlwerk Von Allmen 1876 begann, ist heute ein weit verzweigter Konzern. Heute handeln wir vorwiegend mit Firmen und wir verhelfen jungen Startups zum Erfolg. Eine Stiftung unterstützt zudem junge Leute, die es nicht einfach haben, ins Erwerbsleben einzusteigen, mit Stipendien. Als sich im Jahre 1933 die politische Lage in Europa durch die Nationalsozialisten in Deutschland zu verändern begann, hat euer Urgrossvater, zusammen mit anderen führenden Industriellen und Handelsvertretern eine Art Loge gegründet. Die als Stiftung geführte Vereinigung setzte sich zum Ziel, von Nazis verfolgten Personen und Familien zur Flucht aus Nazideutschland zu verhelfen. Weiter verschoben sie Familienvermögen ins sichere Ausland, vor allem nach Amerika und in die Schweiz. Das war in dieser Zeit ein ganz gefährliches Unterfangen. Da die Nazis überall ihre Spione verteilt hatten und auch vor grausamen Foltermethoden nicht zurückschreckten, hiess der erste Leitsatz der Loge, die übrigens nicht einmal einen Namen hat: Nur wissen, was unbedingt notwendig ist. Sie führten keine Bücher, machten keine Notizen und jeder kannte maximal zehn Leute persönlich. Weder Familienmitglieder noch Geschäftspartner wurden eingeweiht. Deshalb habt auch ihr nie etwas davon gehört. Bitte verzeiht mir!
Ich selber wurde erst im Jahre 2000 durch euren Grossvater, der wahrscheinlich nicht mehr lebt, in die Loge aufgenommen. Das Château Loriol, das er wiederum von seinem Vater geerbt hat, stellte er für Aufgaben der Loge zur Verfügung. So konnte vielen, vor allem Familien und Einzelpersonen mit jüdischem Glauben, während ihrer Flucht Unterschlupf gewährt werden. Aber auch Kämpferinnen und Kämpfer der Résistance verbrachten viel Zeit im Loriol.
Einer der wichtigsten Verbindungsleute eures Grossvaters war Monsieur Bertrand. Er ist schon sehr alt und ich kann heute nicht wissen, ob er bei der Öffnung dieses Briefes noch lebt. Der Notar wird euch über die aktuelle Lage informieren. Seine Kanzlei verwaltet auch einen Teil des Stiftungsvermögens, das heute etwa 40 Millionen Francs umfasst. Bis jetzt ist es ständig gewachsen, da sich immer noch Familien für die Rettung ihrer Verwandten bedanken. Und da es sehr schwierig ist, an uns zu gelangen, dauerten einige Überweisungen mehrere Jahre.
Nun, da sich die politische Lage in Europa stabilisiert hat und solche Logen nicht mehr unbedingt notwendig sind, haben wir die einzelnen Zellen verselbstständigt. Was allerdings geblieben ist, ist die Verschwiegenheit. Nur so können wir auch im Nachhinein unsere Gründer schützen. Mit der Öffnung dieses Briefes bedeutet das die Rückkehr des Schlosses in unseren Familienbesitz. Ich hoffe, meine drei geliebten Kinder, dass ihr versucht, es zu verstehen und dass ihr das Bestmögliche aus dem Loriol macht. Vielleicht ein Hotel oder Museum? Sollte es wieder einmal solch schlimme Zeiten wie 1933 bis 1945 geben und ihr noch lebt, denkt an mich, euren Grossvater und euren Urgrossvater.
Lebt wohl und haltet stets zusammen.
In Liebe, euer Vater.
Vor allem bei den letzten Sätzen fällt es mir nicht leicht die Fassung zu behalten. Auch Inés scheint es zu bewegen, sie wischt mit dem Handrücken hastig einige Tränen weg. Auch Nicolo scheint von den Taten unserer Vorfahren schwer beeindruckt zu sein. Er fasst Inés sanft bei der Hand.
Der Kellner, der sich während meiner Vorlesung diskret im Hintergrund gehalten hat, kommt jetzt an unseren Tisch und stellt die obligate Frage: «Haben die Herrschaften schon gewählt?» Da heute Abend das Essen eher sekundär ist, meint Inés: «Ich hätte gerne das Zürcher Geschnetzelte mit Rösti und als Vorspeise einen grünen Salat mit französischer Sauce.» Interessanterweise schliessen sich alle diesem Wunsch an. Offensichtlich wissen sie, dass dies eine der bekannten Hausspezialitäten ist. Als Wein wähle ich das rote Gegenstück zum Weisswein aus. Es soll wieder ein Tropfen von Nadine Saxer aus Neftenbach sein.
Anwalt Hächler will keine Zeit verlieren und nimmt weitere Schriftstücke aus seiner Mappe und beginnt: «Wie ihr alle wisst, haben wir verschiedene Dinge zu klären. Heute Abend geht es nicht um eine definitive Verteilung der Objekte, Firmenanteile und des Vermögens. Wir wollen nur eine gewisse Richtung festlegen, damit ich weiss, was und wie ich alles vorbereiten muss.»
Er übergibt uns jeweils ein Blatt Papier und spricht gleich weiter: «Da ist zunächst die Firma, Von Allmen & Co. AG, mit Sitz in Zürich. Die Aktien sind seit Generationen im Familienbesitz und ich denke, euer verstorbener Vater würde sich das auch für die Zukunft so wünschen. Der Wert aller Aktien beläuft sich per gestern auf 2,45 Millionen Schweizer Franken. Die Firma besitzt 3,7 Millionen Aktiven und das Privatvermögen ist auf 1,38 Millionen Franken angewachsen. Euer Elternhaus am Zürichberg wird auf 2,5 Millionen geschätzt. Dazu kommt noch das Château du Loriol in Frankreich mit allem Grundbesitz. Da habe ich meinen Kollegen in Bourg-en-Bresse angefragt und er wiederum hat einen ortsansässigen Makler beauftragt, es zu schätzen. Dabei ist die stolze Zahl von 3 Millionen Euro genannt worden. Im Weiteren sind zurzeit ca. 750'000 Euro in die Stiftung eingelegt.»
Ich muss zunächst einmal tief Luft holen. «Ja, da ist im Laufe der Zeit einiges zusammengekommen», meine ich in die Runde. «Aber eigentlich interessieren mich diese Zahlen gar nicht. Wie ihr wisst, habe ich mich vor einigen Wochen frisch verliebt. Und so wie es aussieht, kann aus dieser Beziehung durchaus etwas sehr Ernsthaftes werden. Valérie ist durch eine Erbschaft relativ vermögend, und auch mein Konto lässt sich sehen. Also Existenzängste müssen wir uns keine machen. Im Weiteren arbeiten wir beide gerne in unseren Berufen. Ich denke, dass wir eher die Verantwortungen aufteilen.»
Inés, die bis jetzt aufmerksam zugehört hat, meldet sich: «Ich habe bereits ein paar Mal mit Pierre telefoniert und so wie er mir jedes Mal mitgeteilt hat, interessiert ihn die Firma eigentlich gar nicht. Ich habe mich während den letzten Monaten relativ gut eingearbeitet und sehe ein Riesenpotential für die nächsten Jahre. Immer mehr Firmen geraten ins Strudeln und benötigen unsere Hilfe.» «Hilfe, die ihr euch sehr gut bezahlen lasst», meint Nicolo zwischendurch. «Du verdienst an deinen Autos ja auch gutes Geld», ereifert sich Inés und schaut mich lächelnd an. «Ja, das stimmt», äussere ich mich zu Inés. «Ich kann mir gut vorstellen, dass ich über längere Zeit betrachtet nach Frankreich umziehe.»
Inés ergänzt: «Der Liebe wegen.» Und ich bestätige: »Ja, genau. Ich habe innerhalb von wenigen Tagen selber erlebt, was ich mir eigentlich schon immer gewünscht habe. Eine Familie, die miteinander spricht, etwas unternimmt, nicht so verklemmt ist und sich gegenseitig liebt und respektiert.»
Alle scheinen über meine Worte nachzudenken. Dann wagt Nicolo die Stille zu unterbrechen: «Aber du hast es doch in deiner Familie auch immer sehr gut gehabt?» «Ja, das stimmt, aber mit Elena, meiner Ex-Freundin, hätte ich diese Ziele nie erreicht. Sie hat sich zu stark durch die «Kinder der Sonnentempler» beeinflussen lassen. Wir wären nie miteinander glücklich geworden.»
Nicolo, der mich die ganze Zeit beobachtet hat, meint: »So ging es mir mit Inés. Ich traf sie zufällig hier auf der Terrasse. Sie sass an einem kleinen Tisch in der Lounge und studierte Unterlagen. Zuerst hatte ich Mühe, sie zu erkennen. Sie hatte ihre Haare streng zusammengebunden und trug ein graues Businesskleid. Da wir uns von Kindheit her kennen, sprach ich sie erfreut an. Wir tauschten Erinnerungen aus und so ergab es sich, dass wir uns auch später wieder trafen. Dabei entdeckten wir viele Gemeinsamkeiten, wie die Freude an der Arbeit, die Einstellung zur Familie und vieles mehr. Als ich vor einem Monat die Gelegenheit bekam, die Tesla Werke in den USA zu besuchen und eine Begleiterin mitnehmen durfte und Inés spontan zusagte, funkte es definitiv. Seither sind wir ein Paar.»
Walter Hächler nützt die kurze Pause, um wieder zur Sache zu kommen: «Also, wenn ich einen Vorschlag unterbreiten darf, dann würde ich die Firma in die Hände von Inés geben. Pierre wäre jedoch in beiden Räten vertreten. Im Gegenzug würde ich das Château du Loriol und die Stiftung auf Pierre übertragen. Selbstverständlich wäre auch Inés im Stiftungsrat. Das Haus am Zürichberg würde ich im gemeinsamen Besitz belassen und eurer Mutter ein Wohnrecht einräumen.» Inés und ich finden die Vorschläge sehr gut und wir beauftragen Walter mit den Vorbereitungsaufgaben. Der Kellner, der uns aus gewisser Distanz beobachtet hat, gibt ein Zeichen Richtung Küche und das Essen wird serviert. Während wir die Spezialität des Hauses geniessen, diskutieren wir nur Nebensächlichkeiten. Vor allem sprechen wir über Kindheitserinnerungen. Nach einem leichten Dessert und Kaffee verabschieden wir uns und fahren nach Hause.
Bereits während der Fahrt freue ich mich auf das bevorstehende Telefongespräch mit meinem Schatz. Es ist jeden Abend aufregend, ihre sanfte Stimme zu hören. Wir erzählen uns jeweils die neusten Erlebnisse und ich stelle mir vor, zusammen mit Valérie neben ihrem Pool zu sitzen und den Sonnenuntergang zu geniessen.
Es klingelt nur drei Mal, bis ich die jugendliche Stimme von Céline, der achtzehnjährigen Tochter von Valérie, höre. «Hallo.» «Guten Abend Céline. Wie geht es dem hübschesten Mädchen von Pérouges?» «Ah, Pierre, du Schmeichler. Sehr gut, wir haben Ferien. Hat es bei dir auch Feierabend gegeben?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie weiter: «Wann kommst du wieder nach Pérouges?» «Genau das möchte ich mit Valérie besprechen.» «O.k., ich gebe sie dir. Einen Moment, sie kommt soeben aus der Dusche. Küsschen.»
Bis sich Valérie meldet, stelle ich sie mir vor. Ich sehe sie in meinen Gedanken, wie sie in ihrem kurzen, weissen Bademantel das Wohnzimmer betritt. Ich sehe die hübschen Beine und die perfekte Figur, die durch den … «Hallo Pierre, schön dich zu hören.» Die Stimme Valéries reisst mich aus den Gedanken. «Wie geht es meinem Schweizer Polizisten?» Sie tönt richtig übermütig und glücklich. «Er leidet, weil er vierhundert Kilometer von seiner Traumfrau entfernt ist.» «Mir geht es ebenso. Setz dich doch in dein schwarzes Elektroauto und fahre nach Frankreich. Genauer gesagt nach Pérouges, dem schönsten Städtchen der Welt.» «Du meinst, zur schönsten Frau der Welt?» Wir müssen beide lachen. Sofort stelle ich mir vor, wie sich auf Valéries Wangen Grübchen bilden. «Ich habe morgen noch eine Besprechung mit meinem Chef, dann werde ich mehr wissen. Aber grundsätzlich habe ich ab Freitag Urlaub vorgesehen, da ich noch einiges im Château du Loriol erledigen möchte. Zudem hätte ich gerne wieder einmal meinen hübschen Engel geküsst. Wie sieht dein Programm aus?» «Ich habe diese Woche noch Bereitschaft, aber ab Sonntag sind drei Wochen Ferien angesagt!» Valérie schreit es vor Freude förmlich ins Smartphone. Dann fährt sie fort: «Meine Schwester Yolanda kommt mit ihrer Tochter Leonie für ein paar Tage zu Besuch. Die beiden möchten dich gerne kennenlernen. Aber leider ist dann das Gästezimmer besetzt und du müsstest mit mir den Platz im Bett teilen.» «Wenn das so ist, komme ich erst, wenn die beiden wieder abgereist sind.» Erneut müssen wir lachen. Obwohl im Schloss genügend Platz für mehrere Familien vorhanden ist, besteht Valérie auf ihrer Einladung. Was mich selbstverständlich sehr freut. Nach weiteren Albernheiten, Komplimenten und Liebesbekundungen beenden wir das abendliche Gespräch.
Ausgeschlafen, ausgiebig geduscht und gut gelaunt beginnt ein neuer Tag. Als ich die Türe meines Autos öffne, schlägt mir die bereits stark erhitzte Sommerluft der Stadt Zürich entgegen. Der Hauptsitz der Kantonspolizei Zürich liegt mitten in der Innenstadt. Zum Glück sind Sommerferien, sonst wären die spärlichen Parkplätze für Gäste bereits alle belegt. Das Büro von René Holliger, meinem Chef, liegt in der dritten Etage und da ich etwas zu früh bin, nehme ich die Treppe. Zehn Sekunden nachdem ich die Anmeldetaste an seiner Bürotür betätigt habe, leuchtet Bitte eintreten auf dem Display. Ich öffne die Tür und René, der hinter seinem grossen Schreibtisch sitzt, schiesst in die Höhe. «Mein lieber Pierre», ruft er mir entgegen, «hereinspaziert.» Noch bevor ich ihm die Hand schütteln kann, sehe ich die Zeitungsausschnitte, die er offensichtlich sauber sortiert vor sich ausgebreitet hat. Alle stammen aus dem Le Progrès, der französischen Lokalzeitung, die auch in der Bresse gelesen wird. Während er mir die Hand drückt, fährt er weiter: «Unser Superkommissar aus Zürich. Gut gemacht, sehr gut gemacht, Pierre. Du bist der Star! Die Franzosen sind völlig aus dem Häuschen. Man feiert euch bereits als Superpolizisten.» Als er mich endlich zu Wort kommen lässt, kann ich mich nur kurz bedanken, dann redet er weiter: «Obwohl ich nur Schulfranzösisch kann, verstand ich die wichtigsten Details aus den Zeitungsausschnitten, die mir mein alter Freund Hugo aus Lyon zugestellt hat. Zugegeben, Yvette aus der Presseabteilung hat mir noch etwas assistiert. Ihr habt also zwei Mordfälle aufgeklärt und eine internationale Schmugglerbande auffliegen lassen! Super, einfach super!» René vergisst beinahe, nach Luft zu schnappen. Mit seinen sechzig Jahren, geschätzten 95 Kilo und viel zu hohem Blutdruck, ein nicht zu unterschätzendes Risiko. «Dann steht auch noch in der Zeitung, dass ihr ein Paar seid», fährt er weiter, «und vielleicht schon bald heiraten werdet.» Ich nutze die Gelegenheit und unterbreche meinen Chef: »Also an diesem Fall waren über fünfzig Personen aus Frankreich und der Schweiz beteiligt und alle haben ihren Job gut gemacht.» «Ja, schon, aber die Franzosen spielen die ganze Sache hoch und fokussieren es auf euch zwei. Sie brauchen solche Stories für ihre PR-Abteilungen. Die Polizei, dein Freund und Helfer und so.» René zieht wieder, sichtbar unter enormen Anstrengungen, Luft ein und redet weiter: «Da müsst ihr durch, ich habe schon verschiedene Anrufe von «oben» erhalten, dass da etwas gemacht werden muss. «Sie» wollen dich! Die guten Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich müssen unbedingt publikumswirksam verbreitet werden. Es geht ja auch um die Beschaffung der neuen Militärflugzeuge für die Schweizer Armee und da mischt jetzt auch Paris mit.» René Holliger nimmt einen Zeitungsausschnitt in die Hand und legt ihn vor mich auf den Tisch. Ich muss zugeben, es ist eine gelungene Aufnahme. Sie zeigt Valérie und mich im Regieraum der Lyoner Polizei, wie wir aufmerksam auf den grossen Monitor schauen, der uns die Ereignisse live präsentiert. Auf dem Monitor sind vier Quadranten sichtbar. Ein Bild zeigt den Flixbus, in welchem das Heroin geschmuggelt wurde, der zweite zeigt den Zugriff in Zürich, wie der Abholer der Drogen abgeführt wird. Im dritten Quadranten ist der Mörder von Emma Blanc zu erkennen, der verhört wird und im letzten sieht man die repräsentative Unterkunft des Drogenbosses.
«Paris unternimmt alles, um den Schweizern und ihren eigenen Landsleuten die guten Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern zu zeigen. Da gehören auch die Polizei und die Zollbehörden dazu», ruft mir René voller Stolz entgegen. «Auch unser Justizdirektor steht hinter einer werbewirksamen Story, die zur besten Sendezeit in den staatlichen TV-Kanälen gesendet werden könnte. Er meint, vielleicht wäre sogar eine mehrteilige Berichterstattung angebracht, in der auch die direkten und übergeordneten Vorgesetzten kurz zu Wort kämen.» Ich muss lachen und kann es nicht lassen: «Mit Einblendung des Namens und der Parteizugehörigkeit?» «Pierre, bleib bitte realistisch. Sowohl der Justizdirektor, als auch ich, sehen zum Beispiel eine Szene mit dem Grossmünster im Hintergrund, wie wir dir gemeinsam eine Medaille überreichen. Dann ein Schnitt und man sieht, wie Valérie, zum Beispiel am Ufer der Sâone, ebenfalls durch den Polizeichef und den Justizminister geehrt wird.» René holt wieder tief Luft und meint: «Übrigens eine absolute Schönheit, deine Valérie!»
«Ja, ja. Ihr mit euren Vorstellungen. Und die normale Polizistin, die bei einem Verkehrsunfall mühsam im Regen den Verkehr regelt? Über die wird kein Film gedreht.» René sieht mich gross an. «Das ist etwas anderes. Übrigens drehen wir erst nach den Sommerferien, wenn wieder alle vor der Glotze hocken. Wir haben also noch viel Zeit, um das zu besprechen. Du kannst ja Valérie mal vorwarnen.»
Da ich jetzt nicht mehr über dieses Thema sprechen möchte, lenke ich ihn ab: «Aber das ist ja nicht der Hauptgrund, weshalb du mich in dein Büro bestellt hast. Oder?» René überlegt kurz, rafft die Zeitungsausschnitte zusammen und antwortet: «Ja, richtig. Es geht auch um deine Zukunft - Pierre. Wie dir vielleicht Rocky bereits berichtet hat, möchte er sich frühzeitig pensionieren lassen, weiter ist Susi schwanger und will bei den verdeckten Ermittlern aufhören und sich in den Innendienst versetzen lassen. Es wird also Änderungen in deinem Team geben. Zudem hat mir Rocky im Vertrauen erzählt, dass du im Prinzip gar nicht mehr arbeiten müsstest. Du bist mehrfacher Millionär.»
Jetzt werde auch ich eine Spur lauter: «Was heisst das konkret? Willst du mich rausschmeissen?» «Nein, um Gottes Willen – Pierre», er schnauft mittlerweile wie ein altes Brauereipferd. «Nein, nein. Auf keinen Fall. Im Gegenteil. Der Justizdirektor und ich sind der Meinung, dass wir dich befördern sollten. Und zwar ausserplanmässig, wie bereits schon einmal, als du die Albanerbande festgenagelt hast.»
Da ich meinen Job vor allem aus Freude am Beruf ausübe, bringt mich dieses Angebot nicht aus der Fassung, aber trotzdem möchte ich wissen, was die beiden ausgeheckt haben: «An welche Beförderung habt ihr gedacht?» René scheint ein bisschen aus dem Konzept geraten zu sein und bittet mich erst einmal, Platz zu nehmen und setzt sich selber auf seinen ausgeleierten Bürostuhl, der leicht ächzend nachgibt.
«Also, Pierre, dir ist sicher auch bekannt, dass der Leiter Interpol Ost seit längerer Zeit krank ist und voraussichtlich nicht mehr zum Dienst antritt. Und da haben der Justizdirektor und ich gedacht, dies wäre eine Gelegenheit für dich.» Während René das ausspricht, strahlt er immer mehr. Wie wenn ich bereits zugesagt hätte. Ich muss allerdings schmunzeln. «Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig», muss ich einfach loswerden. René schaut mich gross an. «Wie meinst du das?», will er wissen. «Genauso, wie ich es gesagt habe. Nach meinen Informationen ist diese Stelle für Beatrice Blumer vorgesehen, um die Frauenquote zu verbessern.» Jetzt ist er endgültig überfordert und weicht aus: «Du kannst dir das Ganze noch überlegen. Während den Ferien werden sowieso keine Entscheidungen getroffen.» Nach einer kurzen Pause überrascht er mich: «Als Anerkennung der geleisteten Dienste wird dir noch eine zusätzliche Ferienwoche offeriert.» Ich bedanke mich. Zum Abschied überreicht er mir ein Couvert mit Kopien der Presseartikel über Valérie und mich.
Auf dem Weg zum Auto überlege ich mir, was ich als Nächstes erledigen will. Noch auf der Treppe erkundige ich mich bei Rocky, meinem Stellvertreter, was im Büro los ist. «Lauter tote Hose», meint er in seinem üblichen Ton. «Wie lief es beim Chef?» In wenigen Sätzen erzähle ich ihm, wie die Besprechung abgelaufen ist. Wie ich erwartet habe, lacht Rocky laut ins Mikrofon. «Ja, ja, das sind unsere Vorgesetzten», lautet sein Kommentar. «O.k. Rocky, dann nehme ich mir heute Nachmittag frei, wenn das für dich in Ordnung ist und fahre voraussichtlich morgen in die Bresse.» Wir wünschen uns gegenseitig schöne Ferien und beenden das Gespräch.
Eine halbe Stunde später sitze ich im Seefeld, einem Quartier der Stadt Zürich, direkt am See auf der Terrasse des Lake Side. Ich kenne das Restaurant seit meiner Kindheit. Damals hiess es Casino Zürichhorn. Obwohl es schon oft den Besitzer gewechselt hat und nun Sushi und iberische Spezialitäten anbietet, ist die Lage einfach einmalig. Aus lauter Polizistengewohnheit wähle ich einen Sitzplatz am Rande der Terrasse, mit dem Rücken zur Hauswand. So hat man den besten Überblick auf die Gäste und vor allem auch auf den Zürichsee. Von weitem hört man Lachen und ab zu Schreien aus dem nahegelegenen Seebad. Dieses besuchte ich jeweils in den Sommermonaten, meist in Begleitung von Nicolo. Zusammen spürten wir mit jedem Jahr mehr, wie wir uns zum anderen Geschlecht hingezogen fühlten. Wir tauschten Erfahrungen und Eindrücke aus, klassifizierten die anwesenden Mädchen mit der üblichen Notenskala der Schule und verübten so manche Streiche.
Ein freundliches «Hallo» reisst mich aus den Gedanken. Ich schaue auf und vor mir steht eine hübsche Bedienung mit zu einem Rossschwanz zusammengebundenem, hellbraunem Haar. Die weisse Bluse, die Figur und ihre Haarfarbe erinnern mich sofort an Valérie. «Was darf ich Ihnen bringen?» Da ich mich mit den Weinen der iberischen Halbinsel nicht gut auskenne, wähle ich einen normalen gespritzten Weisswein.
Aus Gewohnheit studiere ich die verschiedenen Gäste. Der Anteil an Einzelpersonen, Paaren und Familien dürfte in etwa gleich gross sein. Ganz automatisch überlege ich, welche Form mir zum jetzigen Zeitpunkt am angenehmsten wäre. Wieder spüre ich, dass zwei verschiedene Beraterteams in meinem Kopf einander übertrumpfen wollen. Während das eine von grosser Freiheit schwärmt und das Single-Leben über alles lobt, meint das gemässigte Team, eine Familie mit einer schönen Frau und lieben Kindern wäre die Erfüllung im Leben. Ohne gross zu überlegen, muss ich dem zweiten Team zustimmen. Wie schön wäre es jetzt, Valérie vom Angebot meines Chefs zu berichten und die jugendlichen Ratschläge von Céline und Michel zu hören. Das typische Geräusch, das beim Abstellen eines Glases entsteht, bringt mich augenblicklich in die Realität zurück. «Zum Wohl», wünscht mir die hübsche Bedienung, dreht sich um und ich erwische mich, wie ich ihr hinterher schaue und sofort ihre Figur mit derjenigen von Valérie vergleiche. Als sie sich nach wenigen Metern auch noch lächelnd umdreht, jubilieren die Kobolde in meinem Kopf: «Er ist immer noch der Alte!» Ich nippe am gespritzten Weisswein und beobachte die Gäste. Beim Paar, das unmittelbar am See sitzt, bleibt mein Blick hängen. Eine attraktive junge Frau, ziemlich stark geschminkt, löffelt gelangweilt an einem grossen Glacé. Ihr Gegenüber, ein junger Mann, zirka 30-jährig, telefoniert aufgeregt. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Unauffällig ziehe ich mein Smartphone hervor und schaue mir die neusten Fahndungsfotos an. Nach zehn Bildern werde ich fündig: Furkan Hadic, gesucht wegen Verdachts auf Geldwäscherei, sitzt keine 30 Meter vor mir!
Ich erhebe mich und gehe ruhigen Schrittes Richtung Restaurant und wähle die Nummer unseres Büros. Wieder meldet sich Rocky und ich erkläre ihm die Situation. «Da er direkt am Wasser sitzt, würde ich auch die Kollegen von der Seepolizei informieren. Es wäre nicht schlecht, wenn ein Boot in der Nähe wäre. Vielleicht wählt Hadic zur Flucht einen Sprung ins Wasser.» Rocky wiederholt die wichtigsten Details, dann legt er auf und ich gehe an meinen Platz zurück. Hadic telefoniert immer noch. Ab und zu erhebt er sich und läuft einige Schritte um den Tisch. Seine Begleiterin löffelt immer noch am Glacé.
Ich setzte mich wieder und zünde eine Zigarette an. Das erste, was ich bemerke, ist das Polizeiboot, dass von der gegenüberliegenden Seeseite mit hoher Geschwindigkeit Richtung Strandbad Tiefenbrunnen rast. Einige Minuten nachdem ich die Zigarette ausgedrückt habe, erscheint ein ungleiches Paar auf der Terrasse. Ein älterer Herr mit angegrautem Rossschwanz und eine junge Dame suchen offensichtlich einen freien Tisch in der Nähe des Wassers. Sie könnten Vater und Tochter sein, die sich vor dem Mittagessen eine Erfrischung genehmigen möchten. Für die anderen Gäste praktisch unsichtbar, zwinkert mir Susi zu, als sich unsere Blicke für ein paar Sekunden treffen.
Sie wirken zunächst etwas unentschlossen, aber als Rocky eine Armbewegung Richtung Hadic macht, setzen sie sich zwei Tische von ihm entfernt an einen Zweiertisch. Trotz der Riesenhitze trägt Rocky seine etwas ins Alter gekommene Lederjacke. Susi eine Bauchtasche.
Pflichtbewusst erscheint die hübsche Bedienung am Tisch von Susi und Rocky und fragt sie nach ihren Wünschen. In Gedanken versunken schaue ich zu, wie sie die Bestellung ins Miniterminal eintippt. Im rechten Augenwinkel erkenne ich meine Kollegen von der Kreiswache 8, ebenfalls in Zivil, wie sie direkt auf den Tisch von Hadic und seiner Begleiterin zugehen. Die Servicefachangestellte hat die Bestellung meiner Kollegen aufgenommen und verlässt die Terrasse Richtung Restaurant. Ich schaue auf den See und von rechts nähert sich langsam das Polizeiboot, mit der stolzen Nummer «ZH 5», dem Landungssteg des Lake Side. Hadic, der immer noch nervös telefoniert, merkt nichts. Hingegen bemerkt seine Begleiterin in diesem Moment das Polizeiboot und die beiden Polizisten, die direkt auf ihren Tisch zuschreiten. Sie lässt den Löffel fallen und stösst einen undefinierbaren Schrei aus. Jetzt realisiert Hadic seine Lage und steckt das Handy in seine Jackentasche. Ich erhebe mich, ziehe meine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter und mache einige Schritte auf Hadic zu. Susi und Rocky, die beide einen Knopf im Ohr haben und den Befehl «Zugriff» per Funk empfangen haben, sind bereits bei Hadic. Gleichzeitig schreien wir gemeinsam «Polizei, stehen bleiben.» Rocky, der hinter Hadic zum Stehen kommt, zieht ihm mit einem Ruck seine Jacke über den Kopf. Das Smartphone und eine Pistole fallen scheppernd zu Boden. Während die beiden Einsatzpolizisten Hadic an beiden Armen festhalten, kümmert sich Susi um seine Begleiterin. Ich sichere den Einsatz und die Bootsbesatzung beobachtet die Situation vom Wasser aus. Jetzt beginnen einzelne Besucherinnen und Besucher zu kreischen und verlassen ihre Tische fluchtartig. Andere wiederum, die sich etwas weiter entfernt aufhalten, ziehen ihre Handys und knipsen Erinnerungsfotos. Dann klicken die Handschellen zu und Rocky befreit Hadic aus seiner misslichen Lage, indem er ihm die Jacke wieder nach unten zieht. Dann hebt er in aller Ruhe das Smartphone und die Pistole auf und steckt beides in seine lädierte Lederjacke. Während Hadic laut zu fluchen beginnt, versucht seine Begleiterin, Susi in den Arm zu beissen. Aber ich bin schneller und hindere sie mit einem festen Griff am Hals daran. Dann schnappen auch bei ihr die Handschellen zu und Susi packt sie ziemlich unsanft am Oberarm. Ein orange-weisser VW-Bus fährt neben die Terrasse und zwei weitere Beamte in Uniform steigen aus.
Zwei Minuten später ist der ganze Spuk vorbei und einzelne Gäste kehren wieder an ihre Tische zurück. Die vier Polizisten und Susi begleiten das Duo zum Fahrzeug und Rocky kommt auf mich zu. Ich stecke die Dienstwaffe wieder unter mein Jackett und begrüsse ihn mit einem kräftigen Händedruck. Die Crew von «ZH 5» verabschiedet sich mit einem kurzen «Tuuutt.» Susi schaut nochmals zurück und winkt uns lässig zu. «So, jetzt bleibt die Schreibarbeit wieder einmal mehr an mir hängen», meint Rocky und lächelt wie ein kleiner Schelm. Als wir uns gesetzt haben, erscheint die Bedienung in Begleitung eines älteren, sehr nervösen Asiaten an unserem Tisch. «Was wal das für eine Volstellung», kreischt mich der Schwarzgekleidete an. «Entschuldigung, das ist unser Manager, Herr Ming», stottert die junge Dame. Ich erhebe mich und zeige ihnen den Dienstausweis und erkläre die Situation. «Alles klal, alles klal, Sie sind meine Gäste. Vielen Dank, vielen Dank.» Dann verschwindet er wieder im Gebäude, während sich Rocky ein Bier bestellt.
Nachdem das Bier gebracht wurde und Rocky mir zugeprostet und einen kräftigen Schluck davon getrunken hat, beginnt er: «Hat es in der Bresse auch so einen schönen See wie hier in Zürich?» «Nein, leider nicht. Aber hunderte kleine Teiche, die abwechslungsweise für den Ackerbau oder die Fischzucht gebraucht werden», antworte ich ihm. «Aber ich nehme an, dass wir bald gemeinsam die Bresse unsicher machen. Ich möchte dir demnächst Valérie und ihre Familie vorstellen und das Schloss zeigen. Dann werden wir auch Zeit finden, die Teiche zu besichtigen.»
Wir vertiefen uns in die Speisekarte und bestellen zwei leichte Mittagessen. Rocky beschäftigt sich mit meinen Zukunftsplänen. Plötzlich meint er: «Wenn du weggehst, lasse ich mich vorzeitig pensionieren.» Nach dem Mittagessen fährt Rocky zurück ins Büro und ich nach Hause. Bereits im Lift sehe ich die angekommene Post durch und ein C4-Couvert weckt sofort meine Aufmerksamkeit. Dem Absender nach stammt es von Silvio Lissi, einem Kollegen von mir und Wohnungsmakler. Ich habe ihn vor einiger Zeit gebeten, mich sofort zu informieren, wenn er attraktive Angebote hat, da ich mir etwas Ruhigeres suchen möchte.
Gespannt öffne ich den Briefumschlag von Silvio und ziehe das Dossier und den Begleitbrief hervor. Lieber Pierre Per Zufall bietet sich eine, von mir ausgesehen, einmalige Gelegenheit. Aus familiären Gründen kommt es in Neftenbach zu einem Notverkauf. Das freistehende Einfamilienhaus ist erst zehn Jahre alt, an erhöhter, unverbaubarer Lage und in sehr gutem Zustand. Der derzeitige Besitzer liess modernste Technik einbauen, genauso, wie du es liebst. Schau mal die Unterlagen durch und melde dich. Herzliche Grüsse Silvio