Entführungen sind reine Nervensache - Allyson Snow - E-Book
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Allyson Snow

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Beschreibung

Pauline soll Gaylord helfen, sich von einem Vampir in einen Menschen zu verwandeln. Wer ahnt denn, dass man die Pest mit der Cholera bekämpfen muss? Eine halbe Stunde – mehr braucht Pauline nicht, um Gaylord klarzumachen, dass er ihre Entführung bereuen wird. Nur das Flüchten, das muss sie noch üben. Denn Gaylord kommt jedem ihrer kreativen Fluchtpläne zuvor. Als plötzlich seine Verlobte vor der Tür steht, wendet sich das Blatt und Pauline fasst einen Entschluss. Sie will ihrem Entführer das vampirische Leben endgültig zur Hölle machen. Plötzlich muss Gaylord nicht nur Pauline an der Flucht hindern, sondern auch noch dafür sorgen, dass seine Verlobte nichts von seinen Machenschaften oder gar seiner einseitigen Ernährungsweise erfährt. Zu allem Überfluss fahren seine Gefühle plötzlich Achterbahn. Soll er dem Verlangen nachgeben, Pauline zu erwürgen, oder ihr Blut und ihre Lippen kosten? Denn Pauline ist die verführerischste Praline, die ihm jemals untergekommen ist. "Hätte ich doch lieber die Tochter Satans entführt. Die würde mir wenigsten nur den Dreizack ihres Vaters in den Hintern rammen." ca. 394 Taschenbuchseiten. Alle Bände der Reihe ›verflixt und zugebissen‹ sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Fans erwartet ein Wiedersehen mit den Charakteren der Fantasy-Bestseller ›Vampire, Pech und P(f)annen‹ und ›Bis dass der Pflock euch scheidet‹.

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Allyson Snow

Entführungen sind reine Nervensache

Bei Risiken und Nebenwirkungen schlagen Sie Ihren Vampir oder Apotheker (Verflixt und zugebissen 3)

Zeilenfluss81371 München

Regel Nr. 1 - Das nächste Mal den Knebel nicht vergessen

»Ich hasse dich!« Die kleine Furie trat so heftig gegen Gaylords Sitz, dass er versehentlich auf die Hupe drückte. Der unschöne Ton erschreckte einen Fahrradfahrer neben ihm derart, dass dieser den Lenker verriss und geradewegs in einen anderen, vor sich hin träumenden Biker rauschte.

Fahrer wie Räder krachten ineinander verkeilt auf die Straße. Gaylord wechselte auf die rechte Spur, um dem Chaos auszuweichen. Mit erster Hilfe konnte er sich nicht aufhalten.

»Du hast gerade einen Unfall verursacht«, informierte Gaylord das kleine Biest auf dem Rücksitz.

»Du bist der Unfall.«

»Du verhältst dich wie ein bockiges Kind.«

Im Rückspiegel sah er, wie das Blut in Paulines Wangen schoss. Mehr noch, ihr Kopf begann zunehmend rot zu glühen. Eine Farbe, die sich mit ihrem lilafarbenen Kleid biss.

»Tut mir leid«, giftete Pauline. »Verhalten sich Entführungsopfer anders? Ich kenne mich da leider nicht aus. Es ist nämlich das erste Mal, dass mich ein durchgeknallter Vollidiot betäubt und mit Handschellen durch Paris fährt!«

»Du kannst froh sein, dass du nicht im Kofferraum mitfährst.«

Leider. Denn genau dort gehörte sie hin, aber das war ihm viel zu spät eingefallen. Wie so einiges anderes auch. Paulines Hände waren hinter ihrem Rücken mit Handschellen gefesselt. Ein guter Anfang, aber bedauerlicherweise hatte er vergessen, ihr gleich noch die Füße zusammenzubinden und sie überhaupt zu einem unbeweglichen Bündel zu verschnüren. Anstatt still und brav zu warten, dass er sie in ein abgelegenes Lagerhaus oder in seinen Keller fuhr, wand sich Pauline auf dem Rücksitz und versuchte, sich mit dem akrobatischen Können einer altersschwachen Giraffe von der Fessel zu befreien.

Während er im Rückspiegel das Treiben beobachtete, gratulierte sich Gaylord selbst zu seiner Weitsicht. Er hatte tatsächlich gezögert, ob er sie fesseln sollte. Aber von dem Chloroform war sie früher aufgewacht als berechnet, und so wütend wie sie war, würde sie ihm ohne diese Vorsichtsmaßnahme das Gesicht zerkratzen.

Eine Halbvampirin könnte in ihrer Wut vielleicht normale Handschellen aufbiegen. Aber wenigstens hier hatte er mitgedacht. Die Fesseln waren verzaubert. Kein Vampir konnte diese sprengen, erst recht kein Mensch. Und er hoffte, dass es auch auf eine Frau zutraf, die die seltene Mischung aus beidem war. Die Schellen schienen zu halten. Pauline zerrte, jedoch stöhnte sie leise, als sich das Metall in ihre Haut einschnitt.

»Hör auf zu strampeln«, mahnte Gaylord. Aber war ja klar, dass Pauline keineswegs die nötige Vernunft besaß. Sie schaffte es, ihren Sicherheitsgurt zu lösen und trat erneut gegen seinen Sitz. Gaylord drückte abrupt auf die Bremse und gab im nächsten Augenblick wieder Gas. Seine wertvolle Fracht krachte gegen den Vordersitz und rutschte in den Fußraum.

Pauline kreischte so laut, dass sich Gaylords Trommelfell stöhnend nach innen bog. Himmel, welcher sadistische Gott hatte ihr ein solches Stimmorgan geschenkt? Der gehörte aus der Mythologie entfernt.

Gaylord stoppte an einer roten Ampel und drehte sich herum.

Fluchend strampelte Pauline mit den Beinen in der Luft. »Du hättest ruhig aufräumen können. Hier liegen Kondome rum!«

»Es ist nicht mein Wagen. Er ist gestohlen.«

»Ich schwöre dir, wenn du mich genauso verkommen lässt, weil ich auch nur geklaut bin, werde ich dir die Haut abziehen!«

»Du bist meine Gefangene, ich werde dich pfleglicher behandeln als einen Wagen.«

»Sagte der Axtmörder.«

»Ich habe keine Axt.«

»Du bist schlecht vorbereitet.«

Schweigend sah Gaylord zu ihr hinunter. Ihr zickiges Gehabe konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Angst hatte. Die Röte der Wut war mittlerweile aus Paulines Gesicht verschwunden. Stattdessen war ihre Haut fahl, sie zitterte und in ihren Augen spiegelte sich blanke Panik wider. Sie senkte den Kopf, und zum ersten Mal seit ihrem Erwachen hielt sie ihren Mund.

Die Ampel sprang von Rot auf Grün, aber es war Gaylord egal. Er schnallte sich ab, beugte sich nach hinten und packte Pauline am Arm, um sie wieder zurück auf ihren Sitz zu bugsieren. »Wenn du nicht gerade einen Bolzenschneider in deinem Höschen mit dir herumträgst, hast du keine Chance, dich zu befreien. Auch dein Vater wird dich nicht retten können, und mit deinem Gestrampel vergeudest du nur deine und meine Energie.«

Gaylord drehte sich nach vorn und gab Gas, als die Ampel gerade wieder auf Rot sprang.

»Hurensohn«, erklang es trotzig hinter ihm.

»Beleidigungen sind im Übrigen genauso unnütz.«

Gaylord drehte das Radio lauter. Vielleicht half das seiner Beute, sich zu beruhigen. Und wenn nicht, dann übertönte es wenigstens halbwegs ihre Gehässigkeiten.

Der Pariser Straßenverkehr zog sich zähflüssig dahin, aber Gaylord hatte keine Eile. Paulines Vater mochte zwar einer der gefürchtetsten Mafioso der Stadt und ein Vampir sein, aber Gaylords Vorsprung war groß genug. Damit das so blieb, fuhr Gaylord für Pariser Verhältnisse nahezu auffällig unauffällig. Er reihte sich nicht in das muntere Hupkonzert ein und schrammte auch nicht millimeterscharf an anderen Fahrzeugen vorbei, obwohl man sich ohnehin an der nächsten Ampel wiedertraf.

In knapp drei Stunden würden sie sein Haus erreichen. Dort fand Jason Harris seine Tochter nicht so schnell wieder. Gaylord hatte alle erforderlichen Maßnahmen getroffen, um genau das zu verhindern. Sie blieb bei ihm, solange er das für richtig hielt. Da konnte Pauline den Insassen der vorbeifahrenden Fahrzeuge noch so schaurige Grimassen schneiden. Sie bekam lediglich fröhliches Winken zur Antwort.

»Idioten«, murrte sie. »Wo ist die Polizei, wenn man sie mal braucht?«

»Die versucht immer noch aufzuklären, warum das Hotel deines Vaters ohne Vorwarnung explodiert ist.«

»Er wird dir das Fell über die Ohren ziehen.«

»Ich bin sicher, dass er das versuchen wird«, gab Gaylord freimütig zu. Er gab auch gerne zu, dass er ungern einem wütenden Vater in die Hände fiel. Aber das hatte er ja auch nicht vor.

Sein Plan war einfach und für Pauline sogar relativ ungefährlich. Sie erfüllte ihren Zweck, und er ließ sie anschließend aus reiner Freundlichkeit wieder laufen. Nun ja, sofern Pauline nicht doch vorher noch in den Genuss seiner Experimente kam.

Gaylord lenkte das Auto an einer ahnungslosen Polizeistreife vorbei. »Willst du nicht wissen, warum ich dich entführt habe?«

»Weil du ein heuchlerischer Kackstiefel und ein verrückter Stalker bist. Ich habe es von Anfang an gewusst. Ich hätte mir gleich eine Knarre kaufen und dich über den Haufen schießen sollen.«

»Falls du es vergessen hast, bis vor zwei Stunden habe ich dich noch vor bösartigen Hexern, cholerischen Vampirjägern und machtgeilen Mafiosi beschützt.«

Pauline lachte bitter, rutschte in einer Kurve wieder einmal vom Sitz, aber das hielt sie nicht vom Motzen ab. »Beschützt? Du hast auf meinem Balkon gestanden und gespannt!«

»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber nichts von dem, was ich gesehen habe, war so reizvoll, dass ich deswegen spannen musste«, widersprach Gaylord.

Pauline schnaubte so heftig, dass sie anschließend den Rotz wieder hochziehen musste. »Dein Glück. Wenn ich auch nur noch einen Handkuss von dir bekomme, springe ich von der nächsten Brücke!«

»Ich werde dich nie wieder mit meinen guten Manieren behelligen«, spottete Gaylord.

»Das will ich auch hoffen. Wäre doch schade, wenn ich dir in deinen geklauten Wagen kotzen müsste.«

Gaylord war wirklich kein guter Entführer, er hatte den Knebel vergessen. Schimpften alle Entführungsopfer so? Seine Erfahrungswerte waren trotz seines letzten Jobs gering. Als Mitarbeiter von Paulines Vater hatte Gaylord genug Verbrechen begangen. Erpressung, Diebstahl, das Entsorgen eines anderen Verbrechers, wenn der sich an Gaylords zugewiesenen Schützlingen vergreifen wollte … Auch als Vampir war Gaylord gezwungen, Menschen schnell und unauffällig den Garaus zu machen. Doch noch nie hatte er eine Frau entführt. Und zu seinem Pech erwischte er auch noch die mit der größten Klappe.

In den Tagen, an denen er für Jason auf Pauline aufgepasst hatte, hatte er sie nur aus der Ferne beobachtet. Selten nah genug, um zu verstehen, welche Obszönitäten sie von sich gab, aber nah genug, um jederzeit ihr Leben schützen zu können. Gaylord hätte jeden getötet, der Pauline auch nur schief ansah. Dieser Auftrag war Gaylord außerordentlich gelegen gekommen, schließlich sollte sich niemand an ihr vergreifen, bevor Gaylord zum Zug kam. Aber ihr Vater hatte nicht damit gerechnet, dass letztendlich Gaylord zum Feind wurde. Denn Pauline war Gaylords einzige Hoffnung. Eine sehr launische Hoffnung. Eine, die im Rückspiegel mit ihrem Schmollmund so süß aussah, dass er sich einen Moment lang wünschte, er müsste all das nicht tun. Aber ihm blieb keine Wahl. Sie war der Schlüssel zum Fluch der Vampire. 

Pauline schob sich wieder nach oben, rutschte auf ihrem Sitz hin und her und starrte auf die vorbeiziehende Umgebung. Sie zwinkerte und schüttelte leicht den Kopf, wenn ihr einzelne Haare des Ponys in die Augen fielen. Das Kleid war hoffnungslos zerknittert. Wegen der fehlenden Träger rutschte es zunehmend nach unten und zeigte Stück für Stück mehr von ihrem üppigen Dekolleté. Schade, dass Korsetts in den heutigen Zeiten so unbeliebt waren. Die Mode zu seinen Lebzeiten würde ihr mehr schmeicheln, als es dieses knittrige Stück Stoff jemals könnte. Kurz gesagt: Wenn Pauline den Mund hielt, war sie recht hübsch. Aber er war nicht an ihrem Gesicht, den vollen Lippen oder ihren Brüsten interessiert, sondern an ganz anderen Teilen ihrer Anatomie.

Pauline zog die Füße an, stützte sie gegen seine Rücklehne und presste die Lippen aufeinander. Unweigerlich keimte Misstrauen in ihm auf. Was denn? Gingen ihr schon die Beleidigungen aus?

Sie wippte mit dem Bein, sodass sein gesamter Sitz vibrierte, doch bevor Gaylord ihr deswegen noch einmal ein Tuch mit Chloroform ins Gesicht drücken konnte, schaffte sie es, die Türverriegelung zu lösen.

Himmel noch eins, warum hatte er eine solche Schrottkarre und keine mit Kindersicherung geklaut? Gaylord trat aufs Gas. Sie musste sich schon den Hals brechen, wenn sie hier rauswollte. Doch da schob sich ein Mopedfahrer vor ihn, und nur Gaylords beherzter Druck auf die Bremse bewahrte den Idioten davor, zwischen zwei Autos zu Brei zerdrückt zu werden.

Pauline schrie auf, krachte erst gegen seinen Sitz, fiel gegen die Tür und dann auf die Straße. Die anderen Verkehrsteilnehmer hupten, und Gaylord könnte schwören, dass diese nicht minder verstört waren wie er. Pauline rappelte sich auf und rannte, mit auf den Rücken gefesselten Händen, durch den halsbrecherischen Pariser Feierabendverkehr!

Auf vier Spuren schoben sich kreuz und quer die verschiedensten Fahrzeuge durch den Kreisverkehr und Pauline mittendrin. War sie wahnsinnig? Was sollte das werden? Wollte sie ihm aus Rache graue Haare bescheren?

Gaylord hielt an, stieß die Tür auf und ignorierte das Moped, das quietschend nur einen Millimeter vor ihm zum Stehen kam.

»Bist du bescheuert? Wo hast du Fahren gelernt? Du sehbehinderte Kaulquappe«, brüllte der Mopedfahrer, als er es schaffte, seinen Helm herunterzuzerren.

Pah, sollte der schimpfen. Wo, zum Teufel, war Pauline?

Gaylord drehte sich um seine eigene Achse und spähte über das Chaos aus Blechdächern, Helmen und Rädern. Dort. Pauline rannte kopflos zwischen den Autos umher. Immer wieder musste sie ausweichen und schaffte es nicht, den Bürgersteig zu erreichen.

Verflucht sei diese Frau. Er konnte ihr doch unmöglich so viel Angst eingejagt haben, dass sie sich lieber über den Haufen fahren ließ.

Vor einem Cabrio blieb sie wie ein erstarrtes Reh stehen, und Gaylord konnte an ihrer verkrampften Haltung sehen, dass sie mit einem Zusammenprall rechnete.

Herrgott, tot nützte ihm dieses Frauenzimmer nichts! Auf die Geheimhaltung seiner Kräfte geschissen! Gaylord sprang mit unerhörter Leichtigkeit über die Motorhaube seiner Karre und war im nächsten Augenblick bei Pauline, um sie aus der Fahrspur des wahnsinnigen Fahrers und auf den sicheren Bordstein zu zerren.

Pauline keuchte und trat ihm mit dem Absatz auf den großen Zeh.

»Au. Hör auf damit«, zischte Gaylord.

»Hilfe!«, brüllte Pauline als Antwort.

Fest legte er seinen Arm um ihre Taille. Sie strampelte und wand sich, trat ihm gegen das Schienbein und versuchte ernsthaft, ihn zu beißen.

Sie konnte froh sein, dass es noch zu früh war, sie umzubringen. Sein Plan war so einfach gewesen. Pauline betäuben, ins Auto packen und sie dann in seinem baufälligen Haus einsperren. Aber niemand hatte ihm gesagt, dass sich Pauline so schnell von dem Chloroform erholte und dann nicht verängstigt auf dem Rücksitz kauerte, sondern sich als widerspenstiges Biest erwies.

Warum hatte er nicht auf seinen Butler gehört? Seinen Charme einzusetzen und Pauline so lange zu umgarnen, bis sie ihm half, war eine zumutbare Alternative. Scheiterte bedauerlicherweise nur daran, dass Pauline ihn auf ihrem Balkon gesehen hatte und ihn ab der ersten Sekunde nicht leiden konnte. Gut, die wenigsten Frauen mochten die Männer, von denen sie sich verfolgt fühlten. Gleichgültig, ob es zu ihrem Besten und zu ihrem Schutz war. Also hatte er sich endgültig bei ihr unbeliebt gemacht und sie entführt. Und diese Entführung würde nicht hier enden! Auch wenn er sie nicht einfach packen und wie der Schall mit ihr davonrasen konnte. Es gab zu viele Zeugen. Zeugen, die sie jetzt dämlich anglotzten.

»Hilfe, Entführung«, brüllte Pauline. »Hey, Sie da, in der roten Jacke. Rufen Sie die Polizei.«

Pah, mehr hatte sie nicht zu bieten? Die Passanten waren keine ernsthafte Gefahr, geschweige denn eine Hilfe. Sie griffen nach ihren Handys. Aber nicht, um die Polizei zu rufen, sondern um Videos zu drehen. Ihm sollte es recht sein. Die Leute wollten ein Schauspiel, sie bekamen eines.

»Du wolltest doch diese Nummer von wegen Entführung«, donnerte Gaylord. »Ich fand dieses Rollenspiel affig. Aber gut, wenn meine Liebste eine erotische Entführung will, dann bekommt sie die auch mit anschließender Verführung. Aber wenn du jetzt plötzlich keine Lust mehr hast, dann kann ich die Peitschen und das ganze Gedöns wieder zurückgeben!«

Er musste zugeben, Paulines entgleisende Gesichtszüge entschädigten ihn für den Ärger. Sprachlos starrte sie ihn an und klappte wie ein an Land zurückgebliebener Fisch den Mund auf und wieder zu. Aber sie zuckte zurück, als er sie herumdrehte, bis sie mit dem Rücken zu ihm stand.

Gaylord spürte das Zittern ihres Körpers unter seinen Fingern. Was denn? Hatte sie Angst, dass er sie für den Fluchtversuch bestrafte? Aber er zog lediglich den Schlüssel aus seiner Hosentasche und löste die Handschellen.

Pauline ließ die Luft ab, kaum dass das Metall nicht mehr um ihre Handgelenke lag.

Doch bevor sich Pauline oder gar einer ihrer Zuschauer von der Überraschung erholten oder tatsächlich noch die lästigen Freunde und Helfer zu Rate zogen, strich er über Paulines Wange und küsste sie inbrünstig, verlangend und leidenschaftlich. Pauline erstarrte. Stocksteif ließ sie es über sich ergehen. Hervorragend, er wollte sie nicht umsonst küssen müssen.

Bevor ihr Gehirn den Schock verdaute und ihr wieder Schimpfwörter und Hilfeschreie in den Mund legte, fasste er in einer vertraulichen Geste Paulines Hand und zog sie mit sich. Im Vorbeigehen registrierte er das Kopfschütteln, das begeisterte Grinsen und teilweise auch das neidische Schmachten der Zuschauer. Von denen rief niemand mehr die Polizei, und Pauline würde es auch nicht gelingen. Denn bevor sie merkte, was geschah, führte er sie in die nächste Seitenstraße.

Endlich war er nicht mehr den Blicken und Handykameras neugieriger Passanten ausgesetzt. Er warf sich Pauline über die Schulter und raste mit der Geschwindigkeit eines gedopten Schnellzuges durch das Straßengewirr von Paris. Er mied die belebten Straßen, und so scherte sich niemand um Paulines Geschrei, das mit jeder Minute leiser und gurgelnder wurde.

Er raste über Felder und Wiesen, sprang über Bäche, immer begleitet von Paulines Stöhnen und Würgen. Die Dämmerung senkte sich bereits herab und ließ die kahle Landschaft noch trister wirken. Der Wind, der ihnen entgegenblies, kühlte Pauline aus. Die Halbvampirin konnte froh sein, dass dieser Februar ungewöhnlich mild war, sonst würde Pauline schon längst als Eiszapfen über seiner Schulter hängen.

Erst als hinter einem kleinen Wäldchen sein Haus auftauchte, wurde Gaylord langsamer, bis er schließlich auf der festgestampften Erde seiner Auffahrt stoppte. Er bückte sich und stellte Pauline wieder auf ihren eigenen Füßen ab. Zumindest versuchte er es. Doch das großmäulige Frauenzimmer sackte erstaunlich still in sich zusammen und krallte sich an die spärlichen Grashalme.

Vielleicht sollte er diese Ruhe auf Band aufnehmen. Dann könnte er sich die Aufnahme immer wieder anhören. Es kam bestimmt nicht oft vor, dass es ihr die Sprache verschlug. Und noch weniger nahm er an, dass dieser Effekt von Dauer war. Ihm sollte es recht sein. Maison de Lys lag viele Meilen von Paris entfernt, und bis zur Hauptstraße fuhr man zwei Kilometer. Der nächste Nachbar wohnte hinter dem Wald. Niemand würde Paulines Gemotze hören. Sie konnte höchstens den Putz zum Bröckeln bringen. Gut, dafür genügte bereits ein Niesen. Seit Urzeiten befand sich Gaylords Heim in den Händen seiner Familie und so sah es auch aus.

Die Fassade erhielt nur noch ein Wunder aufrecht. Auf dem Dach des Türmchens fehlte die Hälfte der Schindeln. Das Baustellengerüst verhinderte gerade so, dass hervorstehende Stuckverzierungen oder Balkone einfach abfielen und verlieh dem Haus einen Endzeitcharme, der jede Frau in die Flucht schlug.

Einzig Albert, sein Butler, trat so unerschütterlich wie eh und je aus der Eingangstür. Er schlurfte ihnen gemächlich entgegen. Das Licht der flackernden Fassadenleuchte spiegelte sich auf dem Schädel des Mannes, auf dem nur noch vereinzelte Haare sprossen. Die wenigen pflegte Albert mit der gleichen Hingabe wie seine Manieren.

Kritisch betrachtete Albert die kniende Pauline. »Belle Mademoiselle, Sie müssen nicht auf dem Boden sitzen, ich bringe Ihnen einen Stuhl.«

»Sie braucht keinen Stuhl«, mischte sich Gaylord ein.

Albert reichte Pauline seine Hand, die in einem weißen Handschuh steckte, und hievte Gaylords zitternde Gefangene auf die Beine. Beide ächzten, und erst als Gaylord zupackte, stand Pauline endlich wieder aufrecht.

Hatte sie ihm gerade noch wie ein verschrecktes Reh entgegengestarrt, wehrte sie sich plötzlich mit einer Vehemenz, die Gaylords Griff verstärkte. Sie hatte es drauf und schlug ihm noch ins Gesicht. Rein versehentlich natürlich.

»Au«, protestierte Pauline. Sie trat ihm gegen das Knie und taumelte in Alberts Arme.

»Oh, wir hatten schon lange keinen so hübschen Gast«, verkündete der Butler. »Möchten Mademoiselle einen Tee?«

Gaylord rieb sich die Nasenwurzel. »Albert, bitte. Sie ist unsere Gefangene. Gefangenen bietet man keinen Tee an.«

»Sie sieht aber aus, als könnte sie einen Tee vertragen«, widersprach Albert.

»Sie haben nicht zufällig ein Telefon?«, fragte Pauline.

Albert runzelte erst die Stirn, bevor er sich leicht verbeugte. »Aber natürlich haben wir ein Telefon, Mademoiselle. Zugegeben, es ist ein wenig alt, und die Verbindung ist schlecht, aber …«

»Du lässt sie nicht an das Telefon«, donnerte Gaylord. »Entweder sie ruft die Polizei oder den Heimatschutz oder schlimmer noch ihren Vater!«

»Aber ihr Vater kann sie doch ruhig besuchen. Es ist viel zu lange her, dass hier eine Party gegeben wurde …«

»ALBERT!«

Nur der Teufel wusste, wie das alles auf Pauline wirken mochte. Sie schien absolut kein Interesse mehr daran zu haben wegzulaufen. Anstatt sich nach Fluchtwegen umzusehen, starrte sie Albert so fasziniert an, dass Gaylord auf seinen betagten Butler eifersüchtig wurde. Gott stehe ihm bei. Jetzt drehte er völlig durch.

Albert würde eine Frau wie Pauline nicht überleben, und gutmütig wie der alte Knabe war, behandelte er das verwöhnte Frauenzimmer wie eine Prinzessin, anstatt ihr Brot und Wasser als Kerkermahlzeit zu reichen.

Am Ende blieb Pauline noch freiwillig. Pah, eine lächerliche Vorstellung. Sie blieb niemals aus freien Stücken hier. Entführungen nahmen die Meisten persönlich.

Gaylord griff Pauline am Arm und zog sie durch die Eingangstür. Je mehr sie sich widersetzte, umso fester packte er zu.

»Dein Butler hat bessere Manieren«, schimpfte Pauline.

»Er begeht auch keine Freiheitsberaubung.«

»Das schließt sich nicht gegenseitig aus. Aber ihr Entführer müsst ja immer den großen Macker machen, anstatt einfach mal zu fragen, ob man freiwillig mitkommt.«

»Tut mir leid, dass ich das Risiko nicht eingegangen bin, dich höflich darum zu ersuchen, dich, dein Wesen, dein Blut und überhaupt deine ganze Existenz für Experimente zur Verfügung zu stellen.«

Er sah zu ihr, und im nächsten Moment taten ihm seine harschen Worte bereits wieder leid. Pauline war blass geworden. »Ex… Experimente?«, stotterte sie.

»Ja, du bist etwas Besonderes«, sagte Gaylord sanfter. »Du bist ein halber Vampir und ein halber Mensch. Vampire schwängern normalerweise keine menschlichen Frauen. Und wenn sie es doch tun, dann überleben es diese nicht. Halbvampire sind also eine Seltenheit. In all den Jahren, die ich lebe, habe ich nur einen Halbvampir getroffen und das bist du. Mit Jeremys und Linetts Brut sind es jetzt zwei, aber bei Gott, wer sich mit Linett anlegt, muss größenwahnsinnig sein. Aber du, du bist mit ein wenig Glück die Lösung meines Problems.«

Pauline presste die Lippen aufeinander. »Ich scheiß auf dein Problem.«

Wer hätte das gedacht? Gaylord zog Pauline die Treppe bis in den zweiten Stock hinauf, stieß eine Tür auf und sie in das Zimmer. »Das Zimmer ist von einer Hexe ausbruchssicher gemacht worden. Tu dir selbst einen Gefallen und lass das Bett und sämtliche Möbel unversehrt.«

Damit schlug er die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss. Er hörte Paulines Fluchen, aber sollte sie doch. Sollte sie schimpfen, fluchen oder weinen. Nichts würde ihr helfen.

Er stieg gerade die Treppe hinunter, als er ihr Rufen vernahm: »Ich will trotzdem einen verdammten Tee!«

 

 

Regel Nr. 2 - Gefangene sollen Kreuzworträtsel in Gedanken ausfüllen

Pauline schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. »Au!«

So ein blöder Mist. In ihrem Zeigefinger steckte ein kleiner Holzsplitter. Echt jetzt? Was war das nur für eine Bruchbude? Sie hatte nicht viel vom Haus gesehen, aber wenn dieses unappetitliche Braun davor den herrschaftlichen Vorgarten darstellen sollte, dann sollte Gaylord seinen Gärtner auf Schadenersatz verklagen. Das war definitiv keine gelungene Gartengestaltung. Und wer auch immer ihm ein Baugerüst als Deko empfohlen hatte, gehörte im versifften Goldfischteich ertränkt.

Pauline rüttelte an der Klinke, aber das Schloss war robuster als es aussah. Der Türgriff leuchtete rötlich unter ihrer Hand auf und hektisch zog Pauline sie zurück. Mist, die Tür war wirklich verzaubert. Dann versuchte sie ihr Glück eben woanders. Pauline drehte sich herum. Viel konnte sie in ihrem neuen Domizil nicht inspizieren. Um es kurz zu machen: Die Inneneinrichtung war zum Kotzen.

Die Tapete in diesem Zimmer war moosgrün. Oder war das keine Tapete, sondern echtes Moos? Vorsichtig strich sie darüber. Nein, es war Tapete. Früher hatte diese bestimmt edel geschimmert, heute sah sie nur noch schäbig aus. Neben dem Fenster hingen ein paar Fetzen herunter. Passte hervorragend zu den dunkelroten, schweren Vorhängen. Wie viele Motten wohl in dem Staubfänger wohnten?

Die Dielen waren dunkel und abgeschabt. Die Deckenlampe sah aus, als wäre sie von einem Künstler zusammengelötet worden, der eine Vorliebe für verkeimten und verrosteten Schrott besaß.

Hatte der Kerl sie mit auf eine Zeitreise genommen? Sie war in einem Museum gelandet, und dieses Scheusal von Hausherr sollte sich wirklich einmal die Stellenbeschreibung seines Butlers näher ansehen. Staub wischen stand da offensichtlich nicht drauf. Als sie an dem Bett vorbeiging, stoben ein paar Wollmäuse darunter hervor.

Die einzige Lichtquelle war die Lampe auf dem schiefen Nachttisch. Für einen Moment glaubte Pauline, die Lampe wäre eine Kerze, so hektisch flackerte der Schein. Aber als sie näher kam, stellte sie fest, dass es lediglich ein Wackelkontakt war.

In den blattlosen Efeuranken vor dem Fenster tummelten sich bestimmt Spinnen und Käfer, die nur darauf lauerten, dass jemand das Fenster öffnete. Was sie im Übrigen ohnehin nicht konnte, denn jemand ganz Cleveres hatte den Griff abgeschraubt. Pah, kletterte sie eben nicht wie Rapunzel am Bettlaken aus dem zweiten Stock. Oder war das Cinderella gewesen? Amélie wüsste das. Sie kannte jedes Märchen auswendig.

Vorsichtig zog Pauline den Splitter aus ihrem Finger. Fuck, das tat weh. Ein kleiner Tropfen Blut trat hervor, und sie steckte den Finger in den Mund.

So sehr sie sich auch bemühte, etwas zu verstehen, sie hörte draußen nur undefinierbares Stimmengewirr. Oh Himmel, bereitete der Irre gerade seine Experimente vor? Angespannt biss sie sich auf den verletzten Finger.

Sie wünschte, Amélie wäre hier. Oder nein. Lieber doch nicht. Ihre beste Freundin hatte schon genug durchgemacht, nur für Pauline war der Horror offenbar noch nicht zu Ende.

Pauline nahm den Finger aus dem Mund und betrachtete ihn. Von der ohnehin winzigen Wunde war nichts mehr zu sehen. Es juckte nur noch ein wenig, aber schmerzte nicht mehr. Pauline stöhnte auf. Toll. Nicht einmal das Jammern über ihren schwer verletzten Finger gönnte ihr das Schicksal.

Wenigstens musste sie sich jetzt nicht mehr wundern, warum ihre Verletzungen immer schneller verheilten als bei anderen. Seit ein paar Stunden kannte sie die Wahrheit. Ihr Vater war ein Vampir. Ob er nach ihr suchte? Oder vögelte er gerade Amélie in die Wonnen der Flitterwochen, während sie hier mit diesem Spinner festsaß? Und dem Butler? Wer, bitteschön, hatte schon einen Butler?

Unschlüssig ging sie zum Fenster. Der Rahmen bestand aus Holz, und die weiße Farbe blätterte ab. Das Ding sah aus, als würde es die kleinste Berührung zu Staub zerfallen lassen. Aber darauf fiel sie kein zweites Mal herein.

Sie könnte auch einen Amboss gegen das Glas werfen, es zerbrach ohnehin nicht. Alles andere ging dann kaputt, aber nicht das Fenster. Er hatte selbst gesagt, dass das Zimmer ausbruchssicher verhext war.

Viel zum Werfen gab es hier sowieso nicht. Im Grunde nur das Bett, wuchtig und breit genug für fünf Paulines. Aber es sah genauso altersschwach aus wie der Butler. Die Decken stanken nach Mottenkugeln, und der Spiegel über dem Frisiertisch war angelaufen.

Na super. Da war manches Motel noch besser ausgestattet. Ob dieser Spinner sie in den Keller sperrte, wenn sie ihn ganz lieb darum bat? Vielleicht gab es ja eine moderne Heizung, an die er sie ketten konnte.

Pauline setzte sich auf das Bett und zog die Beine an. Was hatte sie nur verbrochen, um so bestraft zu werden?

Es erschien ihr alles wie ein schlechter Traum. Dabei hatte es so gut angefangen.

Amélie hatte endlich ihren unsympathischen Verlobten auf den Mond geschossen und war dem Märchenprinzen ihrer Kindheit begegnet. Zum Glück. Amélies Besessenheit von Jason hatte Pauline seit Jahren Sorgen bereitet. Welches Mädchen wusste mit fünf Jahren schließlich schon, welchen Mann es mal heiraten wollte? Und wie wahrscheinlich war es, dass dieser Kerl zwanzig Jahre später nicht reif für das Altersheim und Rollatoren war? Aber Vampire blieben ja ewig jung. Zumindest äußerlich. Für Amélie hoffte Pauline, dass gewisse Teile da keine Ausnahme bildeten.

Und dann war die Hochzeit von Amélie und Jason eskaliert. Der Bräutigam wurde erschossen, Amélie und Pauline von einem durchgeknallten Schweden entführt. Als ob der nicht genug war, tauchte auch noch ein Hexer auf, der Pauline wie ein verfluchter Messias verkündete, dass Jason niemand geringeres als ihr biologischer Erzeuger war. Deswegen wurden Propheten und Messiasse angefeindet, die brachten immer unbequeme Wahrheiten.

Wenigstens besaß Jason genügend Anstand, von den Toten wieder einmal aufzuerstehen und diesen Kerl umzubringen. Die anschließende Feier wäre eine hervorragende Gelegenheit gewesen, die vorangegangene Entführung von Pauline und Amélie zu vergessen. Aber nein, Linett musste ja unbedingt ihre Wehen bekommen, und die Unaufmerksamkeit von Jason nutzte der Spinner Gaylord aus, um Pauline einfach wie eine verdammte Halskette zu klauen.

Das hielt doch keiner im Kopf aus. War sie ein verdammter Spielball, den man sich ausleihen konnte, wie man wollte? Die Hilflosigkeit machte sie fertig.

Pauline lauschte in das Haus hinein, aber sie hörte weder Stimmen noch Schritte. Was hieß das? Dass er sie für heute in Ruhe ließ? Dass er erst noch seine Skalpelle putzen musste?

Sie zog die Decke über sich, rollte sich unter den schweren Daunen zusammen und seufzte leise, als endlich wieder ein wenig Wärme in ihre Arme und Beine zurückkehrte. Sie schmiegte sich in den weichen Stoff und schloss die Augen. Vielleicht war das alles nur ein Albtraum. Ja, genau, sie lag zu Hause in ihrem Bett und träumte das alles nur.

Und auch der schlimmste Albtraum musste doch irgendwann enden, oder?

Je wärmer ihr wurde, umso schwerer wurden ihre Lider. Die muffige Wohligkeit unter der Decke erinnerte sie an den schlechten Schlaf der letzten Tage, und ehe sie sich versah, schlief sie ein. Sie wusste nicht, ob sie träumte. Sie wusste nur, dass sie irgendwann die Nase unter den Daunen hervorsteckte, um nicht zu ersticken. Als sie die Decke schließlich zur Seite schob, war es draußen wesentlich heller geworden. Die Sonne hing hinter grauen Nebelschwaden fest. Toll, als ob Pauline nicht schon deprimiert genug war. Paulines Hoffnung, bei sich zu Hause aufzuwachen, zerbrach. Das war nicht ihr Zuhause. Ihre Wohnung war klein, gemütlich, und sie scheiterte dort nicht bereits an der Zimmertür.

Ein Klicken erklang, und Pauline sprang aus dem Bett. Der Türknauf drehte sich, und es folgte ein dumpfes Rumsen.

»Sacre bleu«, hörte sie die jammernde Stimme des Butlers. Er klopfte leise. »Psst. Ich bringe Ihnen Tee.«

Der verarschte sie doch, oder? Er brachte ihr wirklich Tee?

Sie lief zur Tür. »Die Tür ist von außen abgeschlossen.«

»Der Herr hatte auch schon mal bessere Manieren«, brummte Albert. »Das liegt an dieser Frau. Diese Braut Satans. Ich wollte Ihnen schon gestern Tee bringen. Aber Monsieur La Goutte hat es verboten. Ich musste ihm bei der Vorbereitung des Labors helfen. Nicht einmal Frühstück durfte ich Ihnen bereiten!«

Sollte sie ihm sagen, dass sie keinen Hunger hatte? Erst recht nicht, wenn von einem Labor die Rede war!

Es schepperte. Och nö, er hatte doch nicht ihren Tee fallen lassen, oder?

Albert hustete. »Ich komme gleich wieder.«

»Okay«, hauchte Pauline. Sie spürte ihr Herz klopfen und wippte auf den Zehenspitzen. Holte Albert jetzt wirklich den Schlüssel und öffnete die Tür?

Einmal mehr drückte Pauline das Ohr gegen das Holz. Sie lauschte seinen Schritten, die die Treppe hinunterschlurften, bevor er wieder umzudrehen schien und zurückkam.

Sie zuckte zusammen, als es neben ihrem Ohr fürchterlich laut knirschte, aber es war nur der Schlüssel, den er ins Schloss steckte.

Der entriegelte tatsächlich die Tür! Vor Aufregung warf sich Pauline dagegen und schlug diese prompt wieder in den Rahmen. Himmel, was war sie dumm. Sie wich zurück, als sich die Tür ein zweites Mal öffnete.

Albert hielt sich die Nase. »Aua!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an und deutete auf das Tablett, das auf der Anrichte neben ihm stand. »Ihr Tee!«

»Sie sind ein Engel«, hauchte Pauline und küsste den Alten auf die Wange, bevor sie sich an ihm vorbeidrückte.

Sie musste auf dem schnellsten Weg hinaus. Sie ignorierte die protestierenden Rufe Alberts, dass das eindeutig die falsche Richtung zum Tee war, und rauschte die Treppe hinunter. Auf den letzten Stufen knickte sie um, und ein scharfer Schmerz schoss in ihren Knöchel, aber verflucht, darauf konnte sie nun wirklich keine Rücksicht nehmen.

Pauline humpelte auf die Eingangstür zu, aber da zischte ein Schatten an ihr vorbei, und aus dem Nichts stand Gaylord zwischen ihr und der verdammten Tür! Sie konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Sie prallte gegen ihn, und die Anstecknadel seines Jabots drückte sich in ihr Nasenbein.

Fest legte er seine Arme um sie und presste sie an sich. So ein Mist! Sein Geruch stieg ihr in die Nase. Ein Aroma von frischem Gras und Vanille. Hatte der sich auf einer Vanilleplantage gewälzt? Andererseits roch er wirklich gut. Nein, er roch überhaupt nicht gut! Das fehlte ihr noch, dass sie sich in eine Vanilleblüte verliebte. Wahnsinnig männlich.

Pauline drückte ihre Arme gegen Gaylords Brustkorb und versuchte, sich aus seinem Griff zu winden. Aber der Mistkerl packte nur noch fester zu. Und als ob das nicht genug Gewalt war, legte er die Hand auf ihren Hinterkopf und drückte ihr Gesicht auf seine berüschte Brust. Der Stoff verdeckte ihren Mund und die Nase. Sie versuchte, ihm auf den Fuß zu treten, aber entweder wich er ihr immer wieder aus oder sie traf einfach nicht. Durch den blöden Stoff sah sie nichts!

Ihre Lunge begann bereits nach Luft zu schreien und ihr schwindelte.

»Albert …«, knurrte der Wahnsinnige und besaß endlich die Güte sie loszulassen. Sie taumelte zurück und holte keuchend Luft.

»Meine Nähe macht dich also atemlos«, spottete dieses Scheusal.

»Das Chloroform gestern war unnötig, allein dein Körpergeruch betäubt alles. Da fallen sogar die Wanzen aus dem Bett«, fauchte Pauline. Prustendes Lachen ertönte hinter ihr. Sie drehte sich um. »Was gibt es da zu lachen?«

Albert verschluckte sich an seinem unangebrachten Gelächter und setzte eine unbeteiligte Miene auf. Zumindest versuchte er es. Seine Mundwinkel zogen sich immer wieder nach oben.

Pah, wie schön, dass wenigstens einer Spaß hatte.

»Wer von euch ist eigentlich der Butler?«, stichelte Pauline. Okay, ja, es war eine blöde Frage, aber sie konnte sich diese einfach nicht verkneifen. Albert sah schon affig aus, mit dem schwarzen Anzug und der Fliege, aber Gaylord übertraf das noch um Längen. Entweder war der Typ aus einem Kostümfilm geflohen oder er war modisch im 18. Jahrhundert stehengeblieben. Er trug ernsthaft einen grauen Frack, ein Jabot, und in der Hand hielt er einen Zylinder.

Keines der schwarzen Haare auf Gaylords Kopf wagte es, am Scheitel über seinem rechten Ohr auf der falschen Seite zu liegen. Alles an dem Kerl war geschniegelt. Nun ja, fast alles.

»Deine Weste sitzt schief«, teilte sie ihm lieblich mit.

Schade, sein Blick war ungerührt, als er sie zurechtzog. »Ich kann deine rechte Brustwarze sehen.«

Was? Pauline starrte an sich herab und tatsächlich, das verflixte Kleid hing viel zu weit unten. Sie zerrte es nach oben, bis ihr die Körbchen auf den Schultern hingen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Jetzt kann ich ein Stück deines Slips sehen. Zieht das nicht zwischen den Beinen?«, spottete dieser niederträchtige Kerl.

»Ein bisschen«, erwiderte sie schnippisch.

»Das Kleid steht Mademoiselle ausgezeichnet«, lobte Albert und fing sich einen garstigen Blick vom Hausherrn ein.

»Gib mir den Schlüssel«, verlangte Gaylord von dem Butler und streckte die Hand aus.

Albert zog die Schultern hoch und legte den Schlüssel zögerlich in die Hand seines Arbeitgebers. Pauline wich zurück, einen Schritt, dann einen zweiten. Nur noch einen dritten, dann wäre sie an der Tür und müsste sie nur noch schnell aufreißen, um zu einer verdammten Straße oder einem verflixten Nachbarn zu kommen. Vielleicht begegnete ihr auch einer dieser enthusiastischen Jogger?

Doch bevor Pauline den entscheidenden Satz machen konnte, packte sie Gaylord im Genick, als wäre sie eine ungezogene Katze.

»Ich wette, dem geklauten Wagen hast du nicht die Haare rausgerissen«, maulte Pauline.

»Der wollte auch nicht abhauen.«

»Sicher war der blind.«

Dieser verfluchte Mistkerl zerrte sie mit einer Leichtigkeit die Treppe hinauf, für die sie ihn zusätzlich hasste. Pauline angelte nach dem Treppengeländer und krallte sich mit aller Kraft daran fest. Er musste schon das Geländer abreißen, wenn sie weitergehen sollte. Oder ihr die Arme brechen. Oh, bitte, er würde ihr doch nicht die Arme brechen, oder?

Sie biss sich auf die Lippe und starrte ihn trotzig an. Noch immer hielt er sie am Genick gepackt, aber er hörte auf, an ihr zu ziehen. Stattdessen legte er den Kopf schief.

»Ich frage mich …«, sagte er gedehnt. »… ob du kitzlig bist.«

Moment mal, was?

»Wehe …«, drohte Pauline. Er wäre der erste Entführer, der vor der Drohung seines Opfers zurückzuckte, aber er war bestimmt auch der erste Entführer, der seine Gefangene von einem Treppengeländer loskitzelte. Immer wieder pikste er mit seinem Finger in ihre Seite.

»Hau ab!« Sie versuchte, ihm auszuweichen, stolperte die Stufen nach unten, doch er folgte ihr ungerührt.

Pauline wusste nicht, ob sie lachen oder heulen sollte. Sie prustete, als er eine besonders kitzlige Stelle fand und zog die Arme schützend über ihre Taille. Keine Sekunde später fand sie sich über seiner Schulter hängend wieder. Oh nein, nein, verflucht!

Ihr flehender Blick fiel auf Albert, der sich gerade verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte und sie angrinste. Ja, toll. Er erfreute sich an der Vorführung, aber sie nicht! Für sie war das hier bitterer Ernst.

Dieser Psychopath trug Pauline die Treppe hinauf. Wenn er sie wieder in das Zimmer sperrte, kam sie so schnell nicht wieder hinaus.

»Ich muss aufs Klo«, platzte sie heraus. Sie hatte in dem Zimmer keine weitere Tür gesehen, dort konnte es also kein Badezimmer geben. Und wenn sie sich das Ganze genauer überlegte, waren ihre Worte nicht einmal eine Lüge.

Mitten auf der Treppe blieb dieser Spinner stehen. »Dringend?«

»Natürlich dringend, du Idiot«, wetterte Pauline, bevor sie ein wenig verkniffener hinzufügte: »Mir drückt deine Schulter auf die Blase. Ich mach mir gleich ein. Im Zimmer gibt es kein Klo.«

»Das ist ein guter Einwand. Daran habe ich nicht gedacht.«

»Du bist halt ein beschissener Entführer. Besser, du lässt mich laufen, bevor du dich aus Versehen selbst mit Chloroform vergiftest.«

Dieser blöde Kerl legte die Hand auf ihren Rücken und drückte sie auf seine Schulter. Ja, toll, danke schön. Jetzt musste sie erst recht pinkeln!

Sie schlug ihm mit der Faust auf den Rücken, und er lachte. »Sollte ich mich mit Chloroform vergiften, würde ich wenigstens mit einem hübschen Anblick vor Augen sterben. Ich bin sicher, du würdest lächeln als wäre Weihnachten.«

Oh, da hatte er recht. Und wie sie lächeln würde. Sie würde ihm mit einem Lächeln ein Messer ins Herz rammen. Aber halt, Vampire brachte man doch nur mit Holz um? Sie musste unbedingt in die Küche oder zum Schuppen! Draußen hatte sie leider keinen maroden Zaun gesehen, den sie zweckentfremden konnte, aber in diesem Haus gab es sicher einen Kochlöffel.

Der Typ erreichte den ersten Stock und trug sie nun in eine andere Richtung. Er stieß die Tür zu einem gefliesten Raum auf, der, wie alles hier, einschließlich ihrem Entführer, auch schon bessere Tage gesehen hatte.

Die Zinkbadewanne glänzte, aber er schien tatsächlich eine halbwegs moderne Toilette zu besitzen. Kein Plumpsklo.

Er setzte Pauline ab, schob sie zur Toilette und ließ sie los. Aber er ging nicht weg.

Auffordernd starrte sie ihn an, aber er trat nur einen Schritt zurück. Gaylord schob die Tür zu, lehnte sich gegen das Holz und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Geh weg«, forderte sie ihn auf.

»Nein.«

Er wollte ihr beim Pinkeln zusehen? Nun, sie konnte es verstehen. Das Fenster war schön groß, der Griff nicht abgeschraubt, der Sims niedrig und der Boden nicht weit entfernt. Sobald er auch nur blinzelte, würde sie aus dem Fenster springen.

»Dann brauch ich ein Kreuzworträtsel.«

Für einen Moment starrte er sie verblüfft an. »Was?«

»Ein Kreuzworträtsel. Ich muss mich von der hässlichen Visage des perversen Spinners ablenken, der mir beim Pinkeln zusehen will und sich dann spätestens in seinem Zimmer einen von der Palme wedelt.«

»Von der Palme wedelt …«, echote der Kerl.

»Masturbieren!«

Wurde er tatsächlich rot? Krass, sie hatte noch nie einen Mann rot werden sehen. War der jetzt wütend oder wurde er schamhaft?

»Entweder du gehst jetzt auf Toilette oder ich schaffe dich zurück in dein Zimmer«, brüllte er plötzlich. Okay, er war wohl eher wütend als peinlich berührt und verlor eindeutig die Geduld. Aber verflucht noch eins, das war nicht ihr Problem.

»Ich kann nicht, wenn jemand zusieht«, fauchte sie zurück.

»Dann eben nicht.« Er trat auf sie zu, aber sie wich zurück, bis sie die Fliesen im Rücken spürte.

Pauline hielt ihm den Finger vor seinen missratenen Zinken. »Wenn ich nicht pinkeln kann, entzündet sich meine Blase, und dann werde ich krank. Du brauchst mich doch bestimmt gesund für deine blöden Experimente.«

Regungslos starrte er sie an. Okay, er brauchte sie nicht gesund?

»Außerdem willst du doch bestimmt nicht, dass ich dir auf deine wertvollen Teppiche pinkle«, platzte Pauline heraus.

Ha, das wirkte. Seufzend strich sich der Penner durch die Haare und öffnete die Tür. Er zuckte vor Albert zurück, der grinsend davorstand. »Bring bitte ein Kreuzworträtsel …«

»Und einen Bleistift«, rief Pauline.

»Und einen Bleistift …«

Warum sah der auf einmal so müde aus? Hey, sie war hier die Gefangene, die Mitleid verdiente!

Sie versuchte, einen Blick auf Albert zu erhaschen, als dieser zurückkehrte. Aber er drückte seinem Herrn nur etwas in die Hand und zog dann wieder ab.

Gaylord wandte sich zu ihr um, reichte ihr eine aufgeschlagene Zeitschrift und einen Bleistift. Ha, dieser Trottel! Der erste Vampir, der an einem Bleistift draufging.

Pauline drückte Bleistift und Zeitung an ihre Brust, als wären sie ein Strauß Blumen.

»Danke«, hauchte sie. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu Gaylord hinauf, der überrascht einen Schritt zurückwich. Oh, nicht mit ihr! Er entkam ihr nicht. Wenn er sie auf offener Straße gegen ihren Willen küssen konnte, konnte sie ihn auch mit ihrer Nähe belästigen!

Sie trat vor und schlang ihm kurzerhand die Arme um den Hals. Er versteifte sich in ihrer Umarmung.

»Du bist doch kein so grausamer Entführer, wie ich dachte«, flüsterte ihm Pauline ins Ohr und schmiegte ihre Stirn gegen seine Wange.

Er zuckte, aber er stieß sie nicht von sich. Sachte lockerte sie den Griff um seinen Hals, ließ die Zeitung fallen und strich über seine Brust. Okay, wo war noch mal das verflixte Herz? Auf der linken Seite und eher mittig, aber wo genau? Verflucht, warum hatte sie in Biologie immer geschlafen? Ja, warum wohl? Weil es immer die ersten beiden Stunden am Montag gewesen waren. Absolut niemand bekam was in den ersten beiden Schulstunden am Montag mit!

Dieser Mistkerl besaß auch keinen Herzschlag, an dem sie sich orientieren konnte. Er atmete, sogar recht schnell, aber sie spürte nicht das Pochen unter ihren Fingern. Er war genauso ein komischer Typ wie ihr Vater. Vampire, und ihre beste Freundin war seit ein paar Tagen auch einer. Wenigstens wusste Pauline, wie man Vampiren wehtun konnte. Sie packte den Bleistift fest und rammte ihn mit der Spitze in Gaylords Brust.

Der Kerl stöhnte, taumelte gegen den Wannenrand, und Pauline gab ihm einen letzten Stoß. Er krachte in die Wanne und starrte fassungslos auf den Stift, der in seiner Brust steckte. Genauso wie sie. Himmel, sie hatte es wirklich getan! Das Ding steckte zur Hälfte drin, aber er lebte immer noch. Mist, warum lebte der noch? Er hob den Blick, und Pauline schrak zurück. Seine hellen Augen glühten scharlachrot. Merde.

Pauline wich zurück. Erst Zentimeter für Zentimeter, doch als er den Stift aus seiner Brust zog, gab es für sie kein Halten mehr. Sie fuhr herum, riss die Tür auf und rannte aus dem Zimmer. Diesmal war der Weg zur Treppe länger, aber es gab niemanden, der sich ihr in den Weg stellte.

Sie stolperte die Stufen nach unten und raste zur Tür. Immer noch niemand.

Pauline riss die Tür auf, nur noch ein winziger Schritt in die Freiheit. Sie warf einen kurzen Blick zurück und stürmte nach draußen. Doch da prallte sie gegen eine Frau. Plötzlich bestand Paulines Sichtfeld aus blonden Haaren. Sie schienen überall zu sein.

Pauline packte die Blondine auf der Suche nach Halt am Hals. Kreischend gingen sie zu Boden. Spitze Steine bohrten sich in Paulines Handflächen. Ihr Ellenbogen schmerzte, und neben ihr stöhnte eine weibliche Stimme.

»Tschuldigung«, nuschelte Pauline.

Pauline zog die Knie an und stemmte sich nach oben. Im nächsten Moment fühlte sie sich um die Taille gepackt und hochgezerrt. Gaylord starrte auf sie herab, und seine Mundwinkel zuckten. Aber er hatte keine Mühe, sein Lachen zu verbergen, er sah eher aus, als würde er zu gern die Zähne fletschen. Nur seine Augen waren nicht mehr rot. Sie waren grau.

Er grub seine Finger in Paulines Haare und ballte die Faust. Mist, wenn sie sich nicht selbst skalpieren wollte, musste sie sich wohl oder übel fügen. Er hätte ruhig an diesem verblödeten Stift draufgehen können!

Die Blondine rappelte sich auf und strich sich die Strähnen aus dem Gesicht. Ihr Blick schweifte verwirrt von Pauline zu Gaylord. Dieser blöde Mistkerl ballte seine Faust noch fester. Fuck, wollte er ihr die Haare herausreißen?

Pauline stöhnte und ging in die Knie. Au, tat das weh. Gaylord ließ ihr nicht die Zeit, sich schmerzerfüllt auf dem Boden zu wälzen.

Unbarmherzig zog er sie an den Haaren wieder nach oben. »Wie praktisch, dass ihr euch bereits kennengelernt habt.«

 

 

Regel Nr. 3 - Auch erfundene Familie kann man sich nicht aussuchen

Es fiel Gaylord schwer, ruhig zu bleiben. Er stand kurz vorm Ausrasten, Himmel, verflucht nochmal! Am liebsten würde er seine Stirn gegen die Mauer schlagen. Nein, besser, er nahm dafür Paulines Stirn! Aber dann lief er nur Gefahr, die Ruine, die sich sein Haus schimpfte, vollends zum Einsturz zu bringen, und wo sollte er dann Pauline einsperren? Diese Frau machte ihn fertig. Was war so schwer daran, sich wie ein verängstigtes Entführungsopfer zu verhalten? Dann könnte er ihr beruhigend zureden. Das würde Pauline zwar nur noch mehr in Panik versetzen, denn Psychopathen taten gern nett, aber es ersparte ihm auch die ständigen Hetzjagden durch sein Haus.

Allerdings hatte alles seinen Preis, und er war bereit ihn zu zahlen. Er würde alles dafür geben. Sein Haus, seinen Butler, Pauline, nur sein Leben nicht. Denn das wollte er ja zurückhaben. Um mit der Frau zusammen sein zu können, die er über alles liebte und unter deren Rocksaum gerade ein schmales Rinnsal Blut ihr Bein entlanglief. Und bei der er sich fragte, was zur Hölle sie hier zu suchen hatte.

Aber alles der Reihe nach. Ein guter Anfang war, Pauline nicht zu erwürgen, auch wenn es sehr schwerfiel, dieser Versuchung zu widerstehen. Pauline jammerte unter seinem festen Griff in ihren Haaren, aber Herrgott, sie konnte froh sein, dass er nicht ihre Kehle gepackt hielt. Pauline brachte selbst den sanftmütigsten Menschen auf die Palme.

Während Pauline ihm die Krallen ins Handgelenk trieb, hielt er Louanne die Hand hin. Louanne hatte sie kaum ergriffen, da passierte etwas Erstaunliches mit ihm. Eine einzige Berührung von Louanne, ein einziger Blick reichte aus, um seine Welt wieder ein wenig in die Fugen zurückzuschieben, aus denen es in den letzten Stunden geraten war. Der Herr möge ihm beistehen, was liebte er sie.

Trotz der kühlen Temperaturen trug Louanne wie immer einen Rock und eine Bluse. Die feine Strumpfhose war zerrissen, und die blonden Locken fielen ihr unordentlich ins Gesicht. Wenn das Licht richtig fiel, leuchteten sie wie ein Heiligenschein.

Gaylord beugte sich ein wenig hinunter, um einen zarten Kuss auf Louannes Hand zu platzieren. Ein übertriebenes Würgen erklang neben ihm. Er ignorierte es. Neben Louanne verblasste jede andere Frau, erst recht eine Pauline. Wer hatte sie nur so dermaßen verzogen?

Louannes zaghaftes Lächeln hingegen ließ sein Herz hüpfen, und es gab kaum etwas Schöneres auf dieser Welt, als es zu erwidern. Louanne streichelte zart über seine Finger und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen. Ihr Duft umschmeichelte ihn. Sie roch nach frischem Brot. Kein Wunder, sie war auch Bäckerin.

Er bedauerte es wahrlich, Louanne nicht jeden Tag in ihrem Laden aufsuchen zu können. Aber sie würde ihn lediglich dazu nötigen, dort zu essen, und wie feste Nahrung auf Vampire wirkte, hatte er am eigenen Leib erlebt. Dieses eine Mal reichte völlig aus. Er hatte sich zu Leb- und Todzeiten noch niemals so übergeben. Als peinigten ihn ein Dutzend Magen-Darm-Grippen gleichzeitig. Nur der Teufel wusste, warum Vampire tranken wie bodenlose Fässer, aber keine feste Nahrung zu sich nehmen konnten. Vielleicht war der Erschaffer der Vampire ein Diät-Fan und Alkoholiker gewesen.

Aber er schweifte ab. Bei einer solchen Frau wartete er gern auf ihren Feierabend, um sie zu umwerben. Und Louanne war eine der Frauen, die tatsächlich noch in der Lage waren, das Werben eines Mannes zu akzeptieren.

Louanne überspielte ihre Unsicherheit nicht mit dummen Sprüchen. Im Gegenteil. Es gab kaum einen schmeichelhafteren Anblick für einen Mann, als wenn eine Frau den Blick senkte, um ihn dann doch verstohlen von der Seite zu mustern.

Wie lange kannte er sie nun? Es musste inzwischen fast ein Jahr sein. Wunderbare Monate, in denen er so viele Nachmittage wie möglich mit ihr verbracht hatte. Sie waren redend meilenweit durch Paris gelaufen, mit …

»Könntet ihr vielleicht aufhören, euch anzuschmachten«, maulte Pauline dazwischen und zerstörte diesen Moment. Warum zur Hölle hatte er nur diesen verfluchten Knebel vergessen?

Louannes Blick huschte unstet und verwirrt über Gaylord, über Pauline, über Albert und über den Eingang seines Heims.

»Komme ich ungelegen?«, fragte Louanne zaghaft.

Ja! Aber das konnte er ihr kaum sagen. Louanne wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass er Pauline gewaltsam hier festhielt. Aber sie wäre auch entsetzt, wenn sie wüsste, welches Monster sie liebte.

Was ihn wieder zu der Frage brachte, warum sie sich ausgerechnet jetzt in seinem Haus blicken ließ.

»Nur überraschend«, gab Gaylord zu.

»Ich finde nicht, dass sie ungelegen kommt«, knurrte Pauline.

Louanne schlug die Lider nieder und senkte den Kopf. »Ich möchte nicht stören. Ich gehe wieder. Ich dachte nur, dass wir ein paar Tage zusammen verbringen könnten.« Himmel, ihre Stimme war so warm und sanft wie eine Frühlingsbrise. Eine Stimme, die ihn einlullte, als könnte er bei ihr Erlösung finden, und sie sagte ausgerechnet das, was er sich schon seit den ersten Treffen mit ihr wünschte. Sie kam in sein Haus, um dort zu bleiben. Erst für ein paar Tage, irgendwann für immer. Nur hatte sie sich dafür einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht. Aber was sollte er tun? Wenn er sie wieder nach Hause schickte, mochte sie ihn vielleicht nie wiedersehen. Er würde sich lieber selbst in Weihwasser ertränken, als sie vor den Kopf zu stoßen und ihr das Herz zu brechen.

Gaylord räusperte sich. »Louanne, darf ich dir meine Schwester vorstellen?«

»Schwester?«, echote seine Gefangene. »Ich bin mit diesem Spinner garantiert nicht verwandt!«

Louanne zog die Augenbrauen hoch, und Gaylord beeilte sich hinzuzufügen: »Meine Halbschwester. Väterlicherseits. Leider hat sie auch den mürben Verstand meines Vaters geerbt.«

»MÜRBER VERSTAND? Ich geb dir gleich mürber Verstand, du Bastard. Erst betäubst du mich, dann entführst du mich, und dann habe ich den mürben Verstand?«

Gaylord ließ Paulines Haare los und legte die Hand auf ihren Mund. Die kleine Furie schlug um sich, und Louanne wich zurück.

»Louanne, es tut mir leid, dass du das miterleben musst«, übertönte Gaylord das protestierende Quietschen von Pauline. »Sie leidet unter Schizophrenie und krankhaftem Verfolgungswahn. Manchmal glaubt sie, sie wird nachts von Außerirdischen entführt und jeden Morgen wieder zurückgebracht.«

Er knurrte, als ihm Pauline in die Hand biss und lockerte seinen Griff. Ein schwacher Moment, den diese Furie nutzte, um lautstark über die Wiese zu brüllen: »Du bist kein Außerirdischer, sondern ein verdammter Vampir! Warte, bis ich einen Pflock gefunden habe.«

Merde. Dieses kleine Biest brüllte ungeniert sein Geheimnis heraus. Aber Louanne wich nicht panisch vor ihm zurück, sie starrte lediglich Pauline schockiert an. Wunderbar, seine Lüge wirkte.

»Albert, kümmere dich bitte um Louanne.« Gaylord warf sich Pauline über die Schulter und marschierte geradewegs die Treppen hinauf.

Pauline strampelte, aber er verstärkte seinen Griff nur. Ihre Stimme überschlug sich vor Wut. »Lass mich los, du Hurensohn! Ich werde dir den Pflock so tief in deinen Hintern rammen …«

Gaylord stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und ließ Pauline auf das Bett fallen. Sie stöhnte, aber vermutlich könnte sie noch nicht einmal der Teufel davon abhalten, ihren Satz zu beenden. Sie schnappte nach Luft und presste die Worte heraus: »… dass er an deinem Gaumen wieder rauskommt!«

Gaylord beugte sich über sie, packte Paulines Handgelenke und drückte sie weit auseinander auf die Matratze. Sie keuchte, und als sie begann, nach ihm zu treten, schob er sein Bein über ihre. Aber ihre Wehrlosigkeit ließ sie nicht weniger zappeln. Er spürte, wie sie ihn mit aller Kraft herunterstoßen wollte. Die Mauern des Hauses mochten einsturzgefährdet sein, er war es gewiss nicht.

Gaylord nagelte sie auf dem Bett fest und beugte sich noch näher zu ihr, bis er ihren hektischen Atem an seiner Wange spürte und das Klopfen ihres Herzens in seinen Ohren dröhnte. Mit jeder Sekunde wurde es schneller. Was denn? Bekam das aufmüpfige Ding plötzlich Angst? Entwickelte sie Respekt vor seiner Überlegenheit, oder befürchtete sie, er könnte sie beißen?

Oh, das würde er nicht tun. Er wollte nur vermeiden, dass Louanne womöglich seine Worte verstand.

»Ich wünsche dir«, knurrte Gaylord. »… dass dich eines Tages ein Mann ebenso lieben wird, wie ich Louanne. Ich würde sterben für sie. Aber sie würde niemals akzeptieren, dass ich ein Vampir bin, oder verstehen, dass ich gezwungen bin zu töten, um zu überleben. Der Teufel soll mich holen, wenn ich zulasse, dass ich sie deswegen verliere. Also wirst du mich wieder zu einem Menschen machen.«

Pauline zog die Augenbrauen zusammen, und ihre Iris leuchtete plötzlich heller als zuvor. Hatte er bisher geglaubt, niemals blauere Augen als die von Louanne gesehen zu haben, wurde er nun eines Besseren belehrt. Die von Pauline strahlten wie das Blau eines arktischen Gletschers. Rein, jahrhundertealt und noch nicht von Menschenhand entweiht.

Ein harter Kontrast zu Paulines restlichem Wesen. Er könnte schwören, dass sie bereits einen garstigen Kommentar auf den Lippen hatte, aber zu seiner Überraschung kniff sie diese lediglich zusammen.

»Und wie soll ich das machen?«, stieß sie gepresst hervor.

»Ich werde mir schon was einfallen lassen, und solange bist du mein Gast. Fügst du dich, gebe ich dir Freiraum. Wehrst du dich, lasse ich dich nicht mal aufs Klo, sondern Albert wird dir einen hübschen kleinen Nachttopf bringen.«

Sie schnaubte, aber sie schien sich seinen Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. Es ratterte sichtlich hinter ihrer Stirn. Ihr Blick ging durch ihn hindurch, und es würde ihn nicht wundern, wenn sie bereits den nächsten Fluchtversuch ausheckte. Sie brauchte sich nicht einbilden, cleverer zu sein als er. Mit Louanne hatte er nicht gerechnet, und er gab gerne zu, dass ihre Anwesenheit alles erschwerte. Aber sie war hier und erinnerte ihn daran, warum er sich und Pauline das alles zumutete.

Pauline krauste die Nase und verzog das Gesicht, als sie eine bequemere Position suchte. Ein Stück weit lockerte er seinen Griff. Er wollte nicht wissen, wie nörglig sie mit einem verrenkten Arm wurde.

Sie hob den Kopf. Verwirrt ließ er zu, dass sie ihre Wange gegen seine schmiegte. Was hatte sie nun schon wieder vor?

»Ich denke …«, hauchte Pauline leise. »… deine Louanne würde ganz gut daran tun, dich zu verachten. Denn du bist der größte Drecksack aller Zeiten.«

Bitte was? Was bildete sich dieses Weibsstück überhaupt ein? Ja, er war ein Mistkerl, weil er Pauline festhielt, aber er tat es, weil er Louanne liebte. Das war eine beschissene Entschuldigung, aber es war eine.

Wütend verkrampften sich seine Finger um ihre Gelenke, und sie stöhnte unter seinem festen Griff. Sie bog den Kopf zurück, um mehr Kraft in ihr Winden legen zu können. Ihre Haare lagen wie ein Fächer ausgebreitet über den Kissen, und an ihrem Hals konnte er das Leben in ihren Adern pulsieren sehen.

»Du bist es nicht wert, geliebt zu werden«, fauchte sie.

Womöglich hatte sie recht. Vielleicht war er das auch nicht. Er war ein Mörder. Er tötete, um sein eigenes wertloses Leben zu bewahren. Wenn es seinem Ziel diente, würde er Pauline ebenso töten. Was sollte ihn davon abhalten? Ihr reizendes Wesen gewiss nicht. Im Gegenteil. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte er einen Menschen nicht nur beißen, um seinen Hunger zu stillen. Zum ersten Mal erfüllte ihn der Gedanke daran nicht mit Abscheu über sich selbst. Er wollte seine Zähne in ihrem Hals versenken, dort, wo der Saft des Lebens durch ihre Vene floss. Er könnte ihr jeden Tropfen des köstlichen Blutes nehmen und ihre Lebensenergie in sich aufsaugen. Aber könnte er ihr damit das Geheimnis ihrer Abstammung entreißen?

Pauline bäumte sich auf und warf den Kopf herum. Ihr bloßer Hals bog sich ihm entgegen. Bevor er selbst so recht wusste, was ihm geschah, legte Gaylord die Lippen auf die Stelle an ihrem Hals, wo der Geruch ihres Blutes am stärksten war. Sie erstarrte. Immer schneller pumpte ihr Herz das Blut durch ihren Körper. Ihr Geruch intensivierte sich. Er umhüllte ihn und gab ihm einen Vorgeschmack auf den Rausch, der auf ihn wartete.

Mühelos durchstießen seine Zähne Paulines weiche Haut. Er hörte, er roch, er schmeckte sie. Ihr Aroma umschmeichelte seine Sinne und drohte, ihn in den Strudel völliger Hemmungslosigkeit zu reißen. Er wollte mehr, mehr von ihr schmecken, aber er brauchte sie noch. Er durfte sie nicht töten.

Gaylord löste sich von ihr und leckte den letzten Blutstropfen, der aus den beiden winzigen Wunden trat, fort. Ein letzter Hauch ihrer Köstlichkeit.

Schreckerstarrt lag sie unter ihm und rührte sich auch nicht, als er sie losließ.

»Sieh es als Warnung«, sagte er streng und wandte sich ab. Er schlug die Tür hinter sich zu und schloss ab, bevor er die Stirn gegen das Holz lehnte.