Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext -  - E-Book

Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext E-Book

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Beschreibung

Dieser Sammelband, der Beiträge von Expert:innen aus dem Bereich Dolmetschen umfasst, präsentiert Entwicklungslinien des Dolmetschens in einem gesellschaftlichen und behördlichen Umfeld im DACH-Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz). Es handelt sich dabei um die erste Publikation, die die Entwicklung eines lange vernachlässigten Bereichs des Dolmetschens umfassend für den deutschsprachigen Raum skizziert. Damit bietet diese Publikation sich auch als Referenzwerk an, das einen breiten Überblick über zentrale Entwicklungen und Themen des Felds liefert.

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Sonja Pöllabauer / Mira Kadrić

Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext

Translationskultur(en) im DACH-Raum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

www.narr.de · eMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-8233-8352-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0263-6 (ePub)

Inhalt

Einleitung: Berufssoziologische Dimensionen einer TranslationskulturDieser Sammelband, zu dem ...1 Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten2 Tradition der Sprachmittlung3 Modellierung des sozialen Raums4 Translationskultur und Superdiversität5 Dolmetschen aus professionssoziologischer Warte6 Zu den Beiträgen in diesem BandLiteraturTranslationspolitik und barrierefreie KommunikationVon Kommunikationsprothesen zu Wegbereitern der Mehrsprachigkeit1 Umbruch der Arbeitswelt2 Wandel durch Technologie3 Automatisierung4 Folgewirkungen5 Erweiterung der Anforderungsprofile6 AusblickLiteraturSpracherleben, Verständigung und Kommunikationsbedarf in multilingualen Kontexten1 Spracherleben und mehrsprachige Sprecher:innen2 Mehrsprachige Kontexte3 Kommunikationsbedarf in diversen Gesellschaften – Beispiele aus der Praxis4 Vier Kontexte, viel Kommunikationsbedarf5 Verständigung in mehrsprachigen GesellschaftenLiteraturZur technikgestützten Translationskultur im DACH-Raum1 Vielfalt durch Technik2 Grundsätze der technikgestützten Dolmetschung3 DACH-Länderüberblick nach Einsatzbereichen4 FazitLiteraturBarrierefreie Kommunikation – Aspekte der Professionalisierung im DACH-Raum1 Grundlagen und Elemente der Bestandsaufnahme zur Professionalisierung2 Barrierefreie Kommunikationsformen – rechtliche Grundlagen und Definitionen3 Vergleichende Zusammenschau barrierefreier TranslationLiteraturEntwicklungslinien der ForschungEntwicklungslinien der deutschen Forschung zum Dolmetschen im soziokulturellen Kontext1 Einleitung2 Sozial- und sprachwissenschaftliche Untersuchungen3 Translationswissenschaftliche Untersuchungen4 ZusammenfassungLiteraturEntwicklungslinien der Forschung in Österreich1 Einleitung2 Genese3 Entwicklungsstränge4 SchlusswortLiteraturPerspektiven zum Gebärden- und Lautsprachendolmetschen aus der Deutschschweiz1 Dolmetschen im Justiz- und im Gesundheitswesen: Ausgangslage2 Forschungsstand zum Gebärdensprachdolmetschen in der Deutschschweiz3 Unterschiede und GemeinsamkeitenLiteraturEntwicklungslinien der AusbildungDolmetschen für Gleichbehandlung und Teilhabe – aber bitte möglichst umsonst!1 Dolmetscherinnen als Erfüllungsgehilfinnen des neoliberalen Bürgerschaftsstaats oder Garantinnen der (post)migrantischen Gesellschaft?2 Die große Verheißung oder die große Illusion: Von Engagement über Qualifizierung zu Professionalität3 Bürgerschaftliches Engagement der Gut-Integrierten oder die (Un)Heiligkeit des Ehrenamts4 Drei SchlusspunkteLiteratur„Ich weiß nicht, was es noch gibt, das ich nicht weiß“ – Entwicklungslinien der Ausbildung in Österreich im Bereich Dolmetschen für öffentliche Einrichtungen und Gerichtsdolmetschen1 „Ich weiß nicht, was es noch gibt, das ich nicht weiß“2 Dieselben Befunde wie eh und je?3 Von „Zwei- oder Mehrsprachigen“ über „bereits Tätige“ bis hin zu künftigen „Expert:innen“ – Zielgruppen und Zielsetzungen4 Ob minimal oder maximal – stets modular: Lehrgangsinhalte und Kursstruktur5 Alte, alte neue und geplante Lehrgänge6 „Danke, dass du mir das sagen konntest“ – Einbeziehung der Auftraggeber7 Woher wissen Lai:innen, was Lai:innen wissen?8 Vorwärts an den StartLiteraturProfessionalisierung des Dolmetschens im öffentlichen Bereich am Beispiel der Schweiz1 Interkulturelles Dolmetschen2 Wer dolmetscht?3 Das Schweizerische zweistufige Qualifizierungssystem im Überblick4 Bezug des „Gesamtsystems Interkulturelles Dolmetschen“ zu internationalen Standards5 Standardisierung und FinanzierungLiteraturEntwicklungslinien der BerufspraxisDolmetschen im Gemeinwesen1 Begriffsverwirrung2 Rechtliche Rahmenbedingungen3 Wirtschaftliche Rahmenbedingungen4 Organisatorische Rahmenbedingungen5 ConclusioLiteraturDer österreichische Kommunaldolmetschmarkt1 Einleitung2 Untersuchungsgrundlagen3 Wirkungsbereiche von Kommunaldolmetscher:innen in Österreich4 ConclusioLiteraturDie Praxis des interkulturellen Dolmetschens in der Schweiz1 Einleitung2 Organisation des interkulturellen Dolmetschens in der Schweiz3 Arbeits- und Lebensbedingungen der interkulturell DolmetschendenLiteraturTranslationskultur verortetVon der Theorie zur Praxis1 Rahmenbedingungen der Untersuchung2 Praxisprojekte3 Länderübergreifender VergleichLiteraturFormung einer Translationskultur im DACH-Raum: Handlungen, Strukturen und ein Ausblick1 Translationspolitik im gesellschaftlichen Kontext2 Handlungen und Strukturen im Zusammenwirken3 Dolmetschen in Funktion4 Fazit: Mitgestaltung einer Translationskultur als gesellschaftliches ZusammenspielLiteraturBeiträger:innenRegister

Einleitung: Berufssoziologische Dimensionen einer Translationskultur

Sonja Pöllabauer

Dieser Sammelband, zu dem verschiedene Expert:innen aus dem DACH1-Raum beigetragen haben, zeigt vor dem Hintergrund des Konzepts der „Translationskultur“ (Prunč 1997, 2008) sowie professionssoziologischer Überlegungen „Entwicklungslinien“ (Prunč 2012a) des Dolmetschens in einem gesellschaftlichen und behördlichen Umfeld im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) auf.2

1Verständigung in verschiedenen Lebensrealitäten

Der Ausgangspunkt für dolmetscherisches Handeln ist das Erfordernis aufseiten von Bedarfsträger:innen in verschiedenen Lebensrealitäten Verständigung zu ermöglichen, was manchmal nur unter Beiziehung von Dolmetscher:innen realisierbar ist. Derartiger „Kommunikationsbedarf“ (Pöchhacker 2000:13f.) bestand seit jeher in verschiedenen internationalen oder innergesellschaftlichen Zusammenhängen. Ein Blick auf translatorisches Handeln aus gegenwärtiger Perspektive vernachlässigt häufig die Tatsache, dass die Tätigkeit von Dolmetscher:innen eine alte ist und sich über ein weites zeitliches Kontinuum erstreckt, und dass jene Faktoren, die für Dolmetscher:innen heute maßgebende Kriterien für ihr Handeln sind, Dolmetscher:innen wohl auch schon vor Jahrtausenden beschäftigten. Abseits der Aufarbeitung dieses Feldes in der Fachliteratur belegen etwa geschichtliche Quellen die jahrhundertelange Tätigkeit von Dolmetscher:innen in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (z.B. Woodsworth & Delisle 2012, Cáceres Würsig 2017).

Seit der innerstaatlichen Krise in Syrien, die ab 2015 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und darüber hinaus zu massiven Fluchtbewegungen in Richtung Europa führte, waren Dolmetscher:innen und ihr Handeln zunehmend sowohl durch Medienberichte als auch infolge persönlicher Begegnungen in Kontexten präsent, in denen dies zuvor nicht der Fall gewesen war. Im deutschsprachigen Raum waren v.a. Deutschland und Österreich mit einem plötzlich angestiegenen KommunikationsbedarfDolmetschbedarfmigrationsbedingt konfrontiert, der nicht immer ausreichend gedeckt werden konnte. Dringlichkeit und Ausmaß an Kommunikationsbedarf führten dazu, dass die Notwendigkeit des Einbezugs von Dolmetscher:innen verstärkt erkannt wurde.

Infolge dessen und zur weiteren Bewältigung dieser veränderten gesellschaftspolitischen Gesamtsituation wurden verschiedene (Ad-hoc-)Maßnahmen zur Bewältigung dieses Kommunikationsbedarfs ergriffen, u.a. die Bestellung von Dolmetscher:innen für bislang wenig benötigte Sprachkombinationen, für die auch keine Ausbildungen existieren, neue Verzeichnisse („DolmetscherlistenDolmetschliste“) und Zusammenschlüsse („PoolsDolmetschpool“) von Dolmetscher:innen, Entwicklung neuer Schulungsmaßnahmen oder die Reaktivierung bereits bestehender Qualifizierungsangebote. „Qualität“ stand dabei nicht immer im Zentrum; vielmehr wurde und wird – wie die Beiträge in diesem Band in teilweise ernüchternder Form belegen – der Dolmetschbedarf häufig unter der nach wie vor tradierten Devise „Sprachkompetenz = Dolmetschkompetenz“ gedeckt. Die aus fachlicher Sicht grundsätzlich positiv zu wertende Sichtbarmachung von Dolmetscher:innen ist also gleichzeitig teilweise negativ gekoppelt an eine gewisse Gefahr einer Institutionalisierung von „Ad-hoc-Lösungen“.

Zu beobachten war in den letzten Jahrzehnten des Weiteren ein Neuaufflammen der Diskussion um die Benennung der Tätigkeit von Dolmetscher:innen in einem derartigen innergesellschaftlichen Lebenszusammenhang, wie sie bereits Ende der 1990er-Jahre (z.B. Bahadır 2000, Pöchhacker 2000:34ff., Pöllabauer 2002) und auf ähnliche Weise noch früher in den sogenannten Pionierländern des Community InterpretingCommunity Interpreting (z.B. Roberts 1997, Gentile 1993) stattgefunden hatte. Augenscheinlich war diese Diskussion etwa im Rahmen einer Fachtagung 2018 am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, die der Qualifizierung von Sprachmittler:innen in der sozialen Arbeit gewidmet war (vgl. ZwischenSprachen 2018) und in teilweise heftige Kontroversen zu den Möglichkeiten, Sinnhaftigkeiten und Widersinnigkeiten verschiedener Benennungen mündete.

2Tradition der Sprachmittlung

Der subjektive Eindruck, der vor diesem Hintergrund entstehen könnte, wonach das Dolmetschen in einem innergesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum erst in den letzten Jahren vermehrt notwendig geworden ist, trügt allerdings. Dieses spezifische Handlungsfeld von Dolmetscher:innen findet bereits seit mehr als 20 Jahren unter dem Stichwort Community InterpretingCommunity Interpretingoder anderen dafür gebräuchlichen Benennungen Eingang in die einschlägige (auch deutschsprachige) Literatur, anfangs eher in Form von Darstellungen subjektiven Charakters, später mit einer Entwicklung hin zu einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Themas (vgl. Grbić & Pöllabauer 2008).

Mit Bezug auf Deutschland thematisierten etwa bereits Mitte der 1980er-Jahre Rehbein (1985) „Verfahren der Sprachmittlung“ sowie Knapp (1986) und Knapp & Knapp-Potthoff (1985, 1986, 1987) verschiedene Aspekte der „Sprachmittlung“, die sie als „nicht professionelle, alltagspraktische Tätigkeit“ in „face-to-face-Interaktionen“ (Knapp & Knapp-Potthoff 1985:451) definierten und so vom (professionellen) „Dolmetschen“ abgrenzten.

Insgesamt ist die Literatur zur Thematik durch eine interdisziplinäre Perspektive gekennzeichnet. Frühe Publikationen, v.a. aus Deutschland und der Schweiz, gehen v.a. auf Autor:innen aus den Bereichen der Psychiatrie und Psychotherapie (Knoll & Roeder 1988, Leyer 1988, Haenel 1997, Westermeyer 1990, Grube 1993, Steiner 1997) bzw. der Medizin (Flubacher 1994, Eytan, Bischoff & Loutan 1999, Bischoff et al. 1999) zurück. Der allgemeine Paradigmenwechsel in der Dolmetschwissenschaft hin zu einer „sozialen Wende“ (Pöchhacker 2006) und einem intensivierten Blick auf dialogische bzw. „triadische“ (Wadensjö 1998, Mason 2001) Interaktionskonstellationen ab den 1990er-Jahren zeigt sich auch im DACH-Raum, wo ab 2000 ein Anstieg an Publikationen zum Thema zu beobachten war (Grbić & Pöllabauer 2008).

In der Schweiz befassten sich etwa Kälin (1986) und Monnier (1995) früh mit dem Dolmetschen im Asylverfahren. Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Publikationen aus dem medizinischen und therapeutischen Bereich erwiesen sich hier v.a. die Universitätskliniken in Basel und Genf (HUG, Hôpitaux universitaires de Genève) als Zentren der Forschung zum Medizindolmetschen. Bereits 1999 wurde auch der Schweizer Berufsverband INTERPRET gegründet, der bis dato im DACH-Raum immer noch einzige spezifische Berufsverband für Dolmetschen in einem sozialen Kontext (siehe dazu auch Müller in diesem Band). Gar noch früher wurden erste Dolmetschdienste an Kliniken (1987 Basel, 1990 Bern) sowie von gemeinnützigen oder kirchlichen Organisationen eingerichtet (z.B. Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz HEKS, Schweizer-Arbeiter-Hilfswerk SAH, Caritas, Rotes Kreuz) (vgl. Flubacher 2013:128, siehe dazu auch Grenko & Strebel in diesem Band). Maßgebend, auch für die Benennung dieses Feldes in der Schweiz (Interkulturelles Übersetzen bzw. Interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln), scheint ein Sammelband von Weiss & Stuker (1998) mit dem Titel Übersetzung und Interkulturelle Mediation.

In Deutschland leisteten ein Team von Forscher:innen am UKE Hamburg (Albrecht 1999, 2002) und das Ethnomedizinische Zentrum in Hamburg (Salman & Tuna 1997), das bereits 1989 gegründet wurde, Pionierarbeit. Ab Mitte der 1990er-Jahre war im Bereich Medizindolmetschen auch das Team des Sonderforschungsbereichs Mehrsprachigkeit der Universität Hamburg präsent (Bührig & Meyer 1998, Meyer 2000) (siehe dazu auch Meyer in diesem Band).

In Österreich war das Thema ab 1989 vor dem Hintergrund eines WHO-Projekts zur Gesundheitsversorgung von Migrant:innen präsent (Pöchhacker 1997a). Federführend in der Lancierung dieses Feldes sowohl in der Forschung als auch im Rahmen eines ersten Praxisprojekts (Pilotkurs Dolmetschen im Krankenhaus) war Franz Pöchhacker von der Universität Wien (Pöchhacker 1997b, 2000). Das Gerichtsdolmetschen wurde 2001 von Kadrić erstmals umfassend thematisiert. Ab 2000 wurde das Thema auch im Forschungsprofil des Instituts für Translationswissenschaft der Universität Graz verankert (Pöllabauer 2000, Pöllabauer & Prunč 2003, Pöllabauer 2005), wo seit 2001 niederschwellige Universitätslehrgänge zum Thema angeboten werden (Prunč 2012b) (siehe dazu auch Pöchhacker in diesem Band). Seit 2016 werden an der Universität Wien auch postgraduale Universitätslehrgänge, seit 2018 auch als Masterprogramme für Behörden- und Gerichtsdolmetschen (Postgraduate Center 2019) wie auch Lehrgänge für Schriftdolmetschen und Dolmetschen mit Neuen Medien angeboten.

Damit lässt sich feststellen, dass diese Domäne des Dolmetschens im deutschsprachigen Raum seit mehr als 30 Jahren von unterschiedlichen Interessensträger:innen (Praxis, Lehre, Forschung) und in unterschiedlichem Ausmaß wahrgenommen, lanciert und vorangetrieben wurde. Von einem anfangs stark vernachlässigten Bereich, mit suboptimalen Bedingungen und geprägt vom Nimbus der Minderwertigkeit, war in den letzten Jahren eine gewisse Konsolidierung zu erkennen, mit einem wachsenden Angebot an extrauniversitären Ausbildungs- und Qualifizierungsangeboten, einer stärkeren Einbindung auch in das curriculare Angebot an traditionellen Ausbildungseinrichtungen für Übersetzen und Dolmetschen, einer zunehmenden Akzeptanz derartiger „sozialer“ Themen in der Translationswissenschaft und einem gewissen Maß an Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Dolmetscher:innen vonseiten der Bedarfsträger:innen und daran gekoppelt mehr Austausch und Synergien zwischen den verschiedenen Interessensgruppen. Und dennoch wird das Community Interpreting weiterhin auf dem C-Markt des Dolmetschens (Kutz 2010:82) angesiedelt und auch noch in jüngerer Zeit als wenig professionalisiert wahrgenommen (Neff 2015:220).

Derartige Negativbefunde ebenso wie persönliche Beobachtungen zu aktuellen Entwicklungen im Feld sind die Triebfedern für diese Publikation, die auf einer Makroebene Dimensionen der „Translationskultur“ (Prunč 1997 und später) in diesem Feld zu skizzieren und diese auf einer Mikroebene mithilfe professionssoziologischer Faktoren zu verorten sucht.

Bevor eine Darstellung des Konstrukts der Translationskultur und des professionssoziologischen Grundgerüsts, die die im Rahmen dieser Publikation vorgenommenen Darstellungen der Situation im DACH-Raum speisen, vorgenommen wird, scheint eine Modellierung des sozialen Raums, in dem derartige innergesellschaftliche Dolmetschhandlungen stattfinden, zweckmäßig.

3Modellierung des sozialen Raums

Dolmetschen in einem nationalen gesellschaftlichen Umfeld wird im Fall von Lautsprachen oft mit den Begriffspaaren „Flucht“ und/oder „Migration“ in Verbindung gebracht, im Fall von Gebärdensprachen mit innergesellschaftlichen sprachlichen Minderheiten. In beiden Kontexten ist (erfolgreiche, transparente, faire) Kommunikation ein bestimmender Faktor für individuelle Bedürfnisse und Befindlichkeiten auf der Subjektebene ebenso wie für das soziale Miteinander in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen. Sprachbarrieren ebenso wie divergierende Wissensbestände erschweren oder verhindern den Zugang zu Informationen und Anschlussmöglichkeiten. Dolmetscher:innen können in diesem Gefüge eine Schlüsselfunktion übernehmen, als gatekeeper fungieren, indem sie Türen zur Verständigung zwischen Menschen mit oft sehr unterschiedlichen lebensbiografischen und soziokulturellen Hintergründen öffnen. Der Objektbereich dieses Feldes, das, wie oben erwähnt, nach wie vor – und in jüngster Zeit wieder verstärkt – unter verschiedenen Benennungen beschrieben wird1, lässt sich wie folgt weiter bestimmen:

Dolmetschen in

einem bestimmten innergesellschaftlichen Umfeld (z.B. behördliche, medizinische, therapeutische Settings),

zwischen professionellen Bedarfsträger:innen und privaten Klient:innen,

häufig in dialogischen Situationen von unmittelbarer und zentraler Relevanz für die persönliche Befindlichkeit und die Bedürfnisse der Klient:innen,

in denen die unmittelbare Präsenz und Angreifbarkeit von Dolmetscher:innen stärker als in anderen, etwa monologisch geprägten Settings, sich auch auf das Handeln und Rollenverständnis der dolmetschenden Personen auswirken.

Vor diesem Hintergrund schreibt Prunč (2017:23) mit Bezugnahme auf das Begriffsinstrumentarium von Bourdieu dem Feld des Community InterpretingCommunity Interpreting im Gegensatz zum Konferenzdolmetschen, das meist mit einem höheren symbolischen Kapital ausgestattet ist, ein „niedriges bis negatives symbolisches Kapital“ zu, was sich v.a. daraus erklärt, dass die Klientel von Dolmetscher:innen in diesem Feld Randgruppen wie Flüchtlinge, Minderheiten und Migrant:innen oder „andere Verlierer der Globalisierung“ (ibid.) sind, die oft weder über entsprechendes ökonomisches Kapital, noch über soziale Handlungsressourcen (z.B. umfassende Einbindung in ein soziales Netzwerk und die damit einhergehende Anerkennung), noch über kulturelles Kapital (z.B. Bildungstitel) verfügen.

Mit Bezug auf die Dolmetscher:innen lässt sich diese Negativspirale in bestimmten Fällen auch auf diese selbst übertragen, zumal sie unter Umständen ebenso wenig über das nötig Sozial- oder Kulturkapital verfügen, etwa wenn das „Kommunikationsproblem“ durch die Bestellung von nicht ausgebildeten und für dieses Feld qualifizierten Dolmetscher:innen erfolgt. Hier handelt es sich um eine Vorgehensweise, die nach wie vor vielerorts gängig und in der weiterhin tradierten Annahme begründet ist, dass SprachkompetenzKompetenzenSprachkompetenz, die oft nur unzureichend gegeben ist, für derart „einfache“ Kommunikationssituationen ausreicht und dass derartige Situationen auch von Begleitpersonen oder zufällig Anwesenden gut bewältigt werden können. Für Dolmetscher:innen bieten derartige Handlungsgefüge daher oft wenig Handlungsspielraum: „Durch den Umgang mit diesen Randgruppen geraten die Dolmetscher selbst in den Bannkreis der Ohnmacht“ (Prunč 2017:25).

In diesem Band wird vor diesem Hintergrund der soziale RaumDolmetschenim soziokulturellen Kontext des Dolmetschens in derartigen nationalen innergesellschaftlichen Gefügen mit Fokus auf den DACH-Raum ausgeleuchtet. Erfasst werden dialogische gedolmetschte Interaktionen abseits des Konferenz- und Verhandlungsdolmetschens: Dolmetschen in verschiedenen gesellschaftlichen Kontaktsituationen, einschließlich des Gerichtsdolmetschens. Auch auf aktuelle technologische und gesellschaftliche Entwicklungen (Ferndolmetschen, Formen der barrierefreien Kommunikation) wird eingegangen.

4Translationskultur und Superdiversität

Als Rahmen für die Darstellung dient, wie erwähnt, Prunčs Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur (u.a. 1997, 2008, 2017). Prunčs Überzeugung, dass Translation auch immer eine „gesellschaftssteuernde und ideologische Funktion“ (2000:20) hat, spiegelt sich in seiner Modellierung von „Translationskultur“, die definitorisch wie folgt erfasst werden kann:

[…] das historisch gewachsene System einer Kultur […], das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und das aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuerbaren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner besteht. (Prunč 1997:107)

TranslationskulturenTranslationskultur sind nicht ahistorisch, sondern zeitlich geprägte, gewachsene Konstrukte, die dem in einem gesellschaftlichen Rahmen vorherrschenden Wertegefüge unterliegen (Prunč 2017:33). Translator:innen sind in diesem System „selbstverantwortliche Handlungspartner“ (ibid.:111), die auch an der Aushandlung der das System steuernden Normen und Konventionen beteiligt sein können/sollten. Neben den Translator:innen werden auch die anderen Akteur:innen in die Pflicht genommen: Im Rahmen einer „demokratischen Translationskultur“ (Prunč 2017:33), in deren Zentrum das Prinzip der „Egalität“ verankert ist, sind alle Handlungsbeteiligten gleichermaßen für die Gestaltung der Rahmenbedingungen verantwortlich.

Aufgabe der Ausbildungsstätten wäre es, durch eine Verschränkung von Theorie und Praxiswissen Translator:innen auf ein „reflektiertes“ translatorisches Handeln vorzubereiten und für in diesem Feld tätige Dolmetscher:innen das nötige Kulturkapital im Sinne von Zertifizierung und Graden/Titeln bereitzustellen. Aufgabe der Translationswissenschaft wäre das analytische Aufzeigen von Interessenskonstellationen und Entwicklungspotenzialen, das Translator:innen damit die argumentative Basis für die Aushandlung der aus ihrer Sicht erforderlichen Geltungsprozesse und damit eine Optimierung des Systems erlaubt (ibid. 107; 2017:33). Dieses Zusammenspiel von Forschung und Lehre ergänzt Prunč später (2017:35) noch um die Kategorien „Öffentlichkeitsarbeit“ und „Solidarität“. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit kann erst symbolisches Kapitel für die Dolmetschenden generiert werden. Die Kategorie Solidarität kann als Voraussetzung für das Zusammenspiel dieser Faktoren betrachtet werden. Im Zentrum sieht Prunč (2017:35) hier den Abbau von Standesdünkeln vonseiten professioneller Dolmetscher:innen gegenüber den oft als minderwertig betrachteten Laien, der nötig erscheint, damit alle in dem Feld tätigen Akteur:innen mit Hinblick auf eine Optimierung der Handlungsbedingungen an einem Strang ziehen, da sich „Fehlleistungen negativ auf das Image de(s) gesamten Berufsstandes auswirken“ (2017:35) (s. dazu weiter unten auch das Konstrukt der „berufsständischen Solidarität“).

Als „Konstruktionsprinzipien“ (Prunč 2017:33) für eine konkrete Mitgestaltung der Translationskultur durch die Translator:innen definiert Prunč die folgenden:

Kooperativität als kooperative Arbeitsteilung ist „ökologisch“ und „ressourcensparend“, wenn sie auf einem klar vereinbarten Handlungsrahmen basiert (2017:33).

Loyalität umfasst die „Fähigkeit und Bereitschaft, die Interessen der Handlungspartner zur Kenntnis zu nehmen, zu reflektieren und angemessen darauf zu reagieren“ (ibid.) und impliziert eine vierfache reziproke Loyalität der Translator:innen gegenüber den 1) Autor:innen der zu übertragenden Redebeiträge, 2) den Initiator:innen der Interaktion, 3) den Adressat:innen und 4) gegenüber sich selbst in Hinblick auf persönliche ethische Werte und berufsethische Prinzipien (2017:34).

Transparenz bedingt die Offenlegung von Handlungsrollen und die Verpflichtung, Abweichungen von bestehenden translatorischen Handlungsnormen transparent zu machen und wirkt damit vertrauensbildend.

Ökologizität soll einen „sparsamen Umgang mit Ressourcen“ sichern (2017:34), indem translatorische Entscheidungen abhängig von den Zielvorgaben und der Translatfunktion, aber auch von Kriterien wie der „Nachhaltigkeit“, d.h. der längerfristigen Auswirkung des translatorischen Handelns, getroffen werden.

Stark verknüpft mit diesen Ausführungen ist auch die persönliche, moralische Verpflichtung von Translator:innen bei Missständen zu intervenieren:

In einem solchen ethischen Konzept strebt Translation als trialogischer Beitrag zur Enttarnung von Hegemonialisierungsstrategien, zur Konfliktminimierung, zur Wahrung der Menschenrechte und der persönlichen physischen und geistigen Integrität des Individuums sowie zur Friedenssicherung als bewusste Alternative zum Krieg der Worte […]. Das ist das Gewebe, aus dem Aschenbrödels Schuh gefertigt ist, mit dem sie sich als ebenbürtige Prinzessin neben die Prinzessin Konferenzdolmetschen stellen kann. (Prunč 2017:35)

Mit dem Konstrukt der TranslationskulturTranslationskultur lassen sich veränderte Rahmenbedingungen gut abbilden. Eine generelle Veränderung, die nicht nur Translation, sondern verschiedenste Bereiche des gegenwärtigen Lebens prägt, ist (neben den Auswirkungen der Globalisierung und wachsenden Technologisierung unserer Lebensrealität) auch die zunehmende gesellschaftliche TranskulturalitätTranskulturalität. 2007 wurde von Vertovec mit Fokus auf die damalige Situation in Großbritannien der Überbegriff „super-diversity“ eingeführt. „Super-diversity“ dient als Umschreibung für durch veränderte Migrationsprozesse (mehr und unterschiedliche Ethnien, Sprachen, Religionen, Herkunftsländer, Migrationsverläufe) bewirkte vielschichtige Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft, die sich auf verschiedene Dimensionen des Zusammenlebens auswirken (neue Formen von Ungleichheit, Vorurteilen, Rassismus, Segregation, räumlicher Präsenz, Kontakt, Creolisierung, etc.), von verschiedenen Faktoren (Alter, Geschlecht, Rechtsstatus, Arbeits- und soziale Bedingungen, etc.) geprägt sind und zu einer Neudefinition von sozialem Status, Identitäten und Schichten führen können (vgl. auch Meissner & Vertovec 2015). Das Konzept der SuperdiversitätSuperdiversität wurde in Bezug auf verändertes Sprachverhalten und damit für Dolmetscher:innen einhergehende Herausforderungen u.a. von Jacquemet (2011) aufgegriffen.

Derart veränderte Rahmenbedingungen gelten auch für das Dolmetschen in einem gesellschaftlichen Kontext im DACH-Raum, der besonders in den letzten Jahren von migrationsbedingten Veränderungsprozessen geprägt war. Die auf zunehmende Mobilität, aber auch auf Migration und Flucht zurückzuführende ethnische Vielfalt im DACH-Raum werden ebenso wie neue Entwicklungen infolge der zunehmenden Technologisierung einleitend dargestellt. Auch wenn der Fokus der vorliegenden Publikation auf Entwicklungen im Bereich des Lautsprachendolmetschens liegt, wird in einem Beitrag von Haug & Hofer in diesem Band ein Brückenschlag zur Forschung und Praxis im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens vorgenommen.

5Dolmetschen aus professionssoziologischer Warte

Für eine detailliertere Analyse von Dolmetschsituationen in einem derart hybriden gesellschaftlichen Gefüge, die den Blick auf die im Rahmen der Translationskultur umrissenen Bereiche Forschung, Ausbildung und Praxis auf einer Mikroebene erlaubt, erweisen sich des Weiteren professionstheoretische Ansätze als fruchtbar.

Ab den 1990er-Jahren wurden professionstheoretische Erklärungsmodelle zu Prozessen der ProfessionalisierungProfessionalisierung auch in der Dolmetschwissenschaft zur Analyse und Skizzierung der „Professionalisierung“ dolmetscherischen Handelns und der Ausgestaltungen von „Professionalität“ herangezogen (für einen Überblick siehe z.B. Grbić 2015). Untersucht wird dabei, inwieweit Dolmetschen als spezifisches Handlungsfeld sich durch die zunehmende „Verberuflichung1“ und „Wissenssystematisierung“ (Schmidt 2008:836) hin zu einer „Profession“ entwickelt. Struktur-funktionalistische Professionstheorien beschreiben Professionen, oft in Abgrenzung zu oder am Beispiel klassischer Professionen (etwa Medizin, Recht, Theologie), unter Bezugnahme auf deren spezifische prototypische Merkmale. Als eine Weiterentwicklung dieser funktionalistischen Ansätze können Modelle betrachtet werden, die ProfessionalisierungProfessionalisierung als Prozess auf einem Kontinuum beschreiben, der verschiedene Phasen durchläuft und auf dessen Basis berufliches Handeln als nicht-professionell, semiprofessionell oder professionell beschrieben werden kann. Anwendung in der Dolmetschwissenschaft fand hier v.a. Tsengs (1992) Phasenmodell, das Ausgangspunkt für die Darstellung von ProfessionalisierungsprozessenProfessionalisierungProfessionalisierungsprozess in verschiedenen Feldern des Dolmetschens war und ist (vgl. Grbić 2015).

Ab den 1980er-Jahren steht infolge eines Paradigmenwechsels hin zu handlungstheoretischen Ansätzen (Schmidt 2008:840ff.) verstärkt das konkret beobachtbare professionelle Handeln als dynamischer Aushandlungsprozess im Zentrum der Professionsforschung. Im Fokus stehen die interne professionelle „Handlungslogik“ (Schmidt 2008:843) professionellen Handelns und die dafür typischen widersprüchlichen Handlungsanforderungen und -muster an Professionsvertreter:innen in der Interaktion mit Klient:innen oder anderen Professionen. Exemplarisch für die Dolmetschwissenschaft sind hier etwa Arbeiten zu Formen von „boundary work“ durch Dolmetscher:innen (Grbić 2010, Grbić & Kujamäki 2019), zu interprofessionellen Beziehungen (Tipton 2016), Prozessen der Deprofessionalisierung (García-Beyart 2015) und der Ausbildung hybrider Professionen (vgl. Colley& Guery 2015 für eine Anwendung auf das Public Service Interpreting). Im Zentrum derartiger Darstellungen steht, was professionelles Handeln in konkreten, von bestimmten Strukturen geprägten Handlungsfeldern ausmacht und wie Professionalität durch das Handeln der Professionsangehörigen „reproduziert“ wird (vgl. Schmidt 2008:843). Professionen werden von Schmidt (2008:846) vor diesem Hintergrund als „Strukturorte der verwissenschaftlichten Krisenbewältigung resp. der Vermittlung von Theorie und Praxis“ definiert, die von der „Dialektik universalisierter Regelanwendung und hermeneutischem Fallbezug“ bestimmt sind.

Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Ansätze zur Modellierung von ProfessionalisierungsprozessenProfessionalisierungProfessionalisierungsprozess können unter Bezugnahme auf das Begriffssystem von Schmidt (2008) für die vorliegende Publikation verschiedene Dimensionen der professionellen Handlungslogik beschrieben werden, die sich für das Dolmetschen im innergesellschaftlichen Bereich im DACH-Raum beobachten lassen. Dabei wird versucht, sowohl Strukturelemente des Feldes als auch Elemente der inneren Handlungslogik zu beschreiben.

6Zu den Beiträgen in diesem Band

Vor dem Hintergrund der oben angerissenen Themen ist der Sammelband in fünf Teile gegliedert. Unter der Rubrik „Translationspolitik und barrierefreie Kommunikation“ stecken einleitende Beiträge zunächst den gesamtgesellschaftlichen Rahmen und die durch Migration und Flucht bedingte ethnische Vielfalt (Super-Diversität) im DACH-Raum ebenso wie Entwicklungen infolge der zunehmenden Technologisierung ab. Das Dolmetschen in diesem Feld ist durch eine Ausdifferenzierung verschiedener Wissensvorräte (Alltagswissen, Expert:innenwissen) und Handlungsformen gekennzeichnet (vgl. Schmidt 2008:837). Im Hauptteil der Publikation werden daher unter dem Überthema „Translationskultur(en) im DACH-Raum“ Entwicklungen und der Status quo in Deutschland, Österreich und der Schweiz für die folgenden drei Ebenen dargestellt: „Wissenshervorbringung“ (Forschung), „Wissensvermittlung“ (Ausbildung) und „Wissensanwendung“ (Praxis). Vor der Folie dieser Darstellung werden im Weiteren ausgewählte innovative Praxisprojekte dargestellt und abschließend eine vergleichende Zusammenschau präsentiert.

Gerahmt und eingeleitet werden die diesen drei Abschnitten zugeordneten Ausführungen von Beiträgen, die sich aus translations- und sprachpolitischer Sicht und unter Einbezug des stetig zunehmenden Bedarfs an barrierefreier Kommunikation dem Feld nähern. So skizziert Peter Sandrini vor dem Hintergrund der zunehmenden Automatisierung und Digitalisierung der Berufswelt unseren Umgang mit Mehrsprachigkeit und damit verbundene Herausforderungen und Zukunftsaussichten für die Sprachmittlung. Judith Purkarthofer beschreibt aus soziolinguistischer Perspektive Spracherleben, Verständigung, sprachliche Identität und Kommunikationsbedarfe in multilingualen und von Diversität geprägten Gesellschaften. Vor dem Hintergrund der technischen Errungenschaften moderner Informations- und Kommunikationstechnologien beschreibt Ivana Havelka die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die interpersonale Kommunikation sowie die Konturen und den Handlungsrahmen einer technikgestützten Translationskultur für das video- und audiobasierte Dialogdolmetschen. Dem Abbau von Kommunikationsbarrieren in unterschiedlichen Bereichen und Möglichkeiten der barrierefreien Kommunikation zur Inklusion und Integration von Menschen mit unterschiedlichen Sinnes- oder kognitiven Beeinträchtigungen und Sprachkenntnissen widmet sich Judith Platter.

Dem Feld der Wissenshervorbringung sind drei Beiträge gewidmet. Die Bezugnahme auf wissenschaftsbasiertes Theoriewissen, die zunehmende Spezialisierung und einschlägige Fachwissensbestände sowie das Vermögen zur praktischen Anwendung von Theoriewissen sind Merkmale der Professionalisierung einer Tätigkeit (Schmidt 2008:840). Im Abschnitt Entwicklungslinien der Forschung skizzieren Bernd Meyer, Franz Pöchhacker und Tobias Haug & Gertrud Hofer vor diesem Hintergrund die Entwicklung und zentrale Themen der Forschung zum Community Interpreting und Gerichtsdolmetschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Meyer resümiert sozial-, sprach- und translationswissenschaftliche Forschung der letzten drei Jahrzehnte mit Fokus auf Deutschland zu diesem Themenfeld. Pöchhacker thematisiert die Entstehungsbedingungen und konzeptuellen Grundlagen der Forschung zum Kommunaldolmetschen in Österreich und Haug & Hofer gehen neben Untersuchungen zum Lautsprachendolmetschen im Gesundheits- und Sozialbereich in der deutschsprachigen Schweiz auch auf Entwicklungen im Bereich des Gebärdensprachdolmetschens ein.

Die Sektion Entwicklungslinien der Ausbildung schlägt die Brücke zum Themenkreis der Wissensvermittlung: Werden bzw. in welcher Weise werden Wissensbestände an die handelnden Personen weitervermittelt (formalisierte Ausbildungssysteme, teil-formalisierte Strukturen zur Wissensvermittlung vs. informell-„naturwüchsige“ Ausbildung und Anwendung von Wissen)? Erwerben die professionell Tätigen einen „sachgebundenen“ Habitus (Schmidt 2008:842), der die sachliche Bearbeitung von Problemen ohne Berücksichtigung subjektiver Interessen erlaubt? Werden die wissensvermittelnden Akteur:innen („Ausbildner:innen“) ebenfalls in Bezug auf die Weitergabe und Anwendung dieser spezifischen Wissensbestände geschult (etwa in Form von „Train-the-trainer“-Angeboten)? Ist die Tätigkeit an staatliche Lizensierung und Qualifikation (Berechtigung zur BerufsausübungTranslation) bzw. an Exklusivität (Monopolstellung) gebunden, die mit einem gewissen Berufsprestige einhergehen? Die zuletzt genannten Kriterien sind auf einer „vertikalen Ebene“ der Einbettung von Professionen in gesellschaftliche Strukturen (Schmidt 2008:840f.) Strukturmerkmale, die die Abgrenzung zu „einfacheren“ Berufen erlauben. Den oben genannten Themen nähern sich Şebnem Bahadır, Vera Ahamer und Michael Müller. Bahadır verortet die in Deutschland gegenwärtige Lage der Ausbildung und Praxis kritisch in einem migrations- und translationspolitischen Kontext. Mit Aspekten der Ausbildung und Professionaliserung des Community Interpreting in Österreich befasst sich Ahamer, und Müller skizziert das vergleichsweise wesentlich ausgereiftere System der Qualifizierung für interkulturell Dolmetschende in der Schweiz.

In Bezug auf die berufspraktische Wissensanwendung in konkreten Handlungssituationen lassen sich ebenfalls verschiedene Dimensionen skizzieren: Steht in der Ausübung der Tätigkeit das Wohl der Klient:innen und die Orientierung an der Sache im Zentrum („Kollektivorientierung“ als auf das Gemeinwohl hin abzielende Orientierung, vgl. Schmidt 2008:840)? Der sogenannte „Zentralwertbezug“ kann beispielsweise (Schmidt 2008:840) als Merkmal einer Profession definiert werden, das beschreibt, ob Professionen als gesellschaftlich relevant erachtete Leistungen erbringen, die an universelle gesellschaftliche Zentralwerte gebunden sind (etwa Recht auf Information und Zugang zu Leistungen)1. Ist die Ausübung der Tätigkeit durch eine „doppelte Autonomie“ gekennzeichnet (d.h. sind Professionelle nicht direkt staatsabhängig oder weisungsgebunden und können Entscheidungen damit sachgebunden treffen, und haben die Klient:innen das Recht auf autonome Wahl der Professionist:innen)? Diese Begriffe können auf einer Ebene der „horizontalen“ Einbettung von Professionist:innen in gesellschaftliche Strukturen verortet werden (Schmidt 2008:840). Als professionsinterne Strukturdimension kann auch noch beschrieben werden, ob Professionen „korporativ organisiert“ (Schmidt 2008:841) sind und Ausübende damit in ihrer beruflichen Autonomie an gewisse berufsständische Normen gebunden sind (etwa Vorhandensein von Berufsverbänden und (verpflichtende oder freiwillige) interne Kontrolle durch diese, Kodifizierung der Tätigkeit durch berufsethische Standards, Berufs- und Standesethos („Eid“), berufsständische Solidarität). Als ein weiteres Merkmal auf einer Handlungs- und Habitusebene formuliert Schmidt (2008:842) eine „Wissensasymmetrie“ zwischen Professionellen und Klient:innen, die die Schaffung und Akzeptanz einer „temporären Vertrauensbeziehung“ erforderlich macht, in der Klient:innen sich darauf verlassen müssen, dass sachorientiert und zu ihrem Wohle gehandelt wird. „Verschleiert“ (Schmidt 2008:848) wird bei dieser Orientierung am Klient:innenwohl die Tatsache, dass Professionist:innen sehr wohl auch von Eigeninteressen (Verdienst, berufliches Fortkommen) motiviert sind. Marktverbundene „Gefahren“ (Schmidt 2008:848) auf einer Praxisebene sind des Weiteren eine mögliche Instrumentalisierung der Professionellen sowie Bürokratisierung und „Technologisierung“ in Form von routinisierten, „eingefahrenen“ und nicht mehr hinterfragten Handlungsmustern (Schmidt 2008:849). Fragen wie den oben genannten gehen Elvira Iannone, Alexandra Marics & Aleksandra Nuč und Nives Grenko Curjuric & Barbara Strebel nach.

Iannone umreißt den Status quo des Dolmetschens im Gemeinwesen in Deutschland und geht vor allem auf rechtliche Rahmenbedingungen und finanzielle, strukturelle und organisatorische Aspekte ein. Marics & Nuč beschreiben die österreichische Marktlage und den daraus ableitbaren Grad an Professionalisierung des Kommunaldolmetschens. Und Grenko Curjuric & Strebel skizzieren die Praxis des interkulturellen Dolmetschens in der Schweiz, die sie als vergleichsweise gut aufgestellt verorten, und umreißen dabei auch die Tätigkeit der etablierten und professionell agierenden regionalen Vermittlungsstellen sowie das Wirken von INTERPRET, der Interessensgemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln.

Im abschließenden Abschnitt Translationskultur verortet stellt zunächst Katia Iacono die Ergebnisse einer Analyse ausgewählter Praxisprojekte im DACH-Raum vor und beleuchtet organisatorische und strukturelle Unterschiede wie auch Ähnlichkeiten. Eine abschließende Zusammenschau der im Rahmen der Beiträge dargestellten Entwicklungslinien nimmt Mira Kadrić vor, die die Strukturen der sich in diesem Band abzeichnenden Translationskultur und besonders die gesellschaftliche Verantwortung von Dolmetscher:innen ins Zentrum rückt. Dabei legt sie dar, dass translatorisches Handeln idealiter die Kommunikationsbedürfnisse aller Beteiligten wahren sollte, aber auch zum „Empowerment schwächerer Gesprächsbeteiligter“ beitragen kann.

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Translationspolitik und barrierefreie Kommunikation

Von Kommunikationsprothesen zu Wegbereitern der Mehrsprachigkeit

Peter Sandrini

Abstract: Digitalisierung, Automatisierung und Berufswelt bringen für die Sprachmittlung große Veränderungen, die nicht durch Verhinderungs- und Umgehungsstrategien bewältigt werden können, sondern grundlegender Reflexion bedürfen, damit sie als Chance begriffen werden können. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Zukunftsaussichten und den daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Translation im Allgemeinen sowie der unerlässlichen Anpassung und Umgestaltung von Beruf und Ausbildung im Besonderen.

Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. (Chinesisches Sprichwort)

1Umbruch der Arbeitswelt

Im Zusammenhang mit Veränderung wird oft der Gemeinplatz der Globalisierung genannt, die durch wirtschaftliche, soziale und vor allem technologische Entwicklungen zu einem „Global Village“ geführt habe. Intensiver Kontakt und Austausch zwischen unterschiedlichen Kulturen und Sprachen mit einhergehender Hybridisierung, Homogenisierung und Monopolisierung führe zu einer Verdichtung von Raum und Zeit, von Globalisierungstheoretikern auch „compression of the world“ genannt (Robertson 1995:40). Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann teilweise eine gegenläufige Entwicklung bzw. eine Art Deglobalisierung beobachtet werden, die ausgelöst durch nationalistische und protektionistische Tendenzen ein Einbremsen und Verringern der globalen Verflechtung und Integration nach sich zieht.

Von GlobalisierungGlobalisierung und DeglobalisierungDeglobalisierung gleichermaßen betroffen ist vornehmlich die Translation, deren Hauptgegenstand Sprach- und Kulturmittlung zur Unterstützung von Kommunikation darstellt (vgl. Prunč 2012), und die dabei auch insbesondere den Veränderungen durch technologische Entwicklungen ausgesetzt ist. Datenflut, zeit- und ortsunabhängige Erreichbarkeit, weitgehende Automatisierung sind Folgen einer zunehmenden Digitalisierung von Umwelt und Arbeitswelt, denen das Individuum oft machtlos gegenübersteht.

Denn in der Praxis fühlen sich viele Menschen, unabhängig von ihrer Führungsstufe, ihrem Alter oder Geschlecht, übergeordneten Paradigmenveränderungen ausgesetzt, die sie als Einzelne nicht initiiert und, hätte man sie gefragt, vielleicht auch nicht gewollt hätten (Wörwag & Cloots 2018:6).

Ein unbestimmtes Unwohlsein und häufig auch die Furcht vor einem Verlust des Arbeitsplatzes kennzeichnen die Reaktion auf den Wandel, und dies trotz der Tatsache, dass empirische Studien das Gegenteil belegen: So spricht beispielsweise die Weltbank in einer Studie zur Veränderung der Arbeitswelt von einer weltweiten Zunahme der Arbeitsplätze: „Total labor force has been increasing across the globe“ (Weltbank 2019:7). Belegt wird dies anhand empirischer Statistiken, wonach sich die Arbeitsplätze weltweit im Zeitraum 1993 bis 2017 trotz DigitalisierungDigitalisierungArbeitsplatz beinahe verdoppelt haben.

Untersuchungen zur Lage im Bereich der Sprachmittlung bestätigen diesen Trend: Eine etwas ältere Studie der Generaldirektion Übersetzen der Europäischen Kommission sah für diese Branche bereits 2009 ein Mindestwachstum von 10 % pro Jahr voraus: „Annual compounded growth rate was estimated at 10 % minimum over the next few years“ (EU2009:iv), wodurch die Sprachmittlung eine der höchsten Wachstumsraten aufweisen konnte: „Research shows that the language industry has the highest growth rate of all European industries in Europe“ (EU2009:iv). Rückblickend konnte den statistischen Erhebungen zufolge ein stetiger Anstieg der in diesem Bereich arbeitenden Personen in den Jahren 2003–2008 verzeichnet werden. Dieser positive Trend wird durch neuere Untersuchungen bestätigt: Gemäß der jährlichen Studie des Marktforschungsunternehmens Common Sense Advisory (CSA2018) zu SprachdienstleistungenTranslationals Sprachdienstleistung („market for outsourced language services and technology“) wuchs dieser Bereich in den letzten Jahren kontinuierlich auf 46,52 Mrd. Dollar weltweit im Jahr 2018, für das Jahr 2021 wird gar ein globales Volumen von 56,18 Mrd. Dollar vorausgesehen (CSA2018). Für den regionalen Markt der USA sieht das United States Bureau of Labor Statistics sogar einen Anstieg der Nachfrage nach Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen von 29 % bis zum Jahr 2024 voraus (Toolbox 2019).

Angesichts dieser Zahlen steht fest, dass Sprachmittlung ein Beruf mit guten Zukunftsaussichten bleibt. Es gibt zwar eine erhöhte Nachfrage und mehr Arbeit, doch unterliegt diese großen Veränderungen. Die Wirtschaftsdaten belegen etwa eine erhöhte Konzentration des Marktes: Der Anteil kleiner Sprachmittlungsunternehmen mit einem Umsatz unter 250000 € fiel von 34 % im Jahr 2018 auf 25 % im Jahr 2019 (ELIA2019:5), wobei 2019 nur mehr 56 % aller Sprachdienstleister:innen gegenüber noch 60 % im Jahr 2018 weniger als 10 Angestellte aufwiesen. Hierbei treten aber starke geografische Unterschiede auf, so dass der Anteil kleiner Unternehmen in Westeuropa nur 13 % beträgt, während in Nord-, Süd- und Osteuropa diese Zahl bis zu 40 % ausmacht. Zugleich stieg der Anteil großer Unternehmen mit einem Umsatz über 1 Mio. € von 30 % auf 43 % an (ELIA2019:5).

Andere Kennzahlen der Sprachmittlungsbranche bleiben hingegen unverändert: Zu beobachten ist nach wie vor ein starker Gender-Gap: Bei einem insgesamt sehr hohen Frauenanteil ist dieser in Übersetzungsabteilungen, Ausbildungsinstitutionen und Einzelunternehmen übermäßig hoch, in größeren Unternehmen mit mehreren Angestellten aber einigermaßen ausgeglichen. Bestätigt wird dies durch die statistische Einkommensverteilung: Je höher das individuelle Einkommen, desto geringer der Frauenanteil (ELIA2019:4). Aus derselben Studie geht hervor, dass Unternehmen einen erheblichen Ausbau der Bereiche Maschinelles Übersetzen, Projektablaufautomatisierung und Telearbeit planen (ELIA2019:10) und dafür auch entsprechende Investitionen vorsehen (ELIA2019:21). Insgesamt bleibt eine positive Erwartungshaltung: „Investment sentiment remains convincingly positive throughout Europe and other indicators such as hiring expectations also point to strong confidence in the industry“ (ELIA2019:39).

Wirtschaftszahlen und individuelle Befindlichkeit divergieren jedoch häufig: Trotz allgemein guter Aussichten können Wandel und notwendige Anpassung beim Einzelnen zu Entfremdung und Furcht führen und den Beruf obsolet erscheinen lassen. Nach Karl Marx (1844/2017) hat Entfremdung vier Ursachen: EntfremdungDigitalisierungEntfremdung vom Produkt, Entfremdung von der eigenen Tätigkeit, Entfremdung von anderen Menschen, Entfremdung vom menschlichen Gattungswesen; alles Themen, die durch die digitale Veränderung neue Aktualität erlangen.

2WandelTechnologieWandel durch Technologie

Im Globalen Innovationsindex finden sich die deutschsprachigen Länder der DACH-Region auf den ersten Rängen wieder: Schweiz Rang 1, Deutschland Rang 7, Österreich Rang 13 (Global Innovation Index Report 2019:35) und im Allgemeinen wird Technologie überaus positiv wahrgenommen (vgl. Weltbank 2019:2). Trotzdem herrscht angesichts der zunehmenden Digitalisierung häufig Verunsicherung, insbesondere unter älteren Kollegen, was zu dem falschen Schluss führen könnte, Digitalisierung sei ein Generationenproblem. Die Fähigkeit, neue Technologien zu erlernen, sie kritisch zu hinterfragen und allenfalls erfolgreich einzusetzen, ist keine Frage des Alters. Sie darf nicht älteren Sprachdienstleistern, den sogenannten ‚digital migrants‘ pauschal abgesprochen werden und gleichzeitig den jüngeren Generationen, den mit digitalen Medien aufgewachsenen ‚digital natives‘, pauschal zugesprochen werden. Vielmehr liegt die Voraussetzung dafür in der Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen und die entsprechenden Kenntnisse jeweils zu erarbeiten.

Geeigneter erscheint daher das DiffusionsmodellDigitalisierungDiffusionsmodell (Rogers 2003:247), das nach dem Zeitpunkt der Anwendung zwischen Innovator:innen, frühen Anwender:innen (‚early adopters‘), der Mehrheit (‚early and late majority‘) und Nachzügler:innen (‚laggards‘‚ ‚late adopters‘) unterscheidet. Innovator:innen bilden zunächst die kleinste Gruppe der Anwender:innen: Sie suchen Neues und sind bereit es auszuprobieren. Die frühen Anwender:innen entscheiden sich für einen Einsatz, sobald die Technologie Vorteile bringt, während die Mehrheit erst bei einem entsprechenden Erfolg der ‚early adoptors‘ zur Anwendung schreitet. Zeitpunkt und Ausmaß der Anwendung unterliegen verschiedenen subjektiven Kriterien: Die wahrgenommene Verbesserung gegenüber dem Bisherigen, die Vereinbarkeit mit den eigenen Erfahrungen und Anforderungen, die Komplexität der anzuwendenden Technologien, die Erprobbarkeit sowie die mediale Präsenz der Technologie (Rogers 2003:248).

Abb. 1:

Diffusionsmodell nach Rogers 2003:247

Vertikal gesehen sind die weltweit agierenden großen Sprachdienstleistungsunternehmen zu den Innovatoren bzw. zu den frühen Anwender:innen zu zählen. Oft sind sie auch zugleich die erfolgreichsten Softwareanbieter im Bereich der Translationstechnologie (zum Beispiel Lionbridge, SDL, Star-Group, u.a.). Mittelgroße und mittlere Anbieter:innen können der großen Mehrheit der Pragmatiker und Konservativen zugerechnet werden, während Nachzügler:innen und Skeptiker:innen eher unter den Einzelübersetzer:innen zu finden sind.

DigitalisierungDigitalisierungArbeitsplatz und Unterstützung durch den Computer haben sich historisch gesehen zuerst für das Übersetzen etabliert: Professionelles Übersetzen, Web- und Softwarelokalisieurng, Untertitelung sowie viele andere Bereiche des Übersetzens sind heute ohne digitale Werkzeuge nicht mehr denkbar (Biau-Gil & Pym 2006, Bowker & Corpas Pastor 2015, Cronin 2013, Sandrini 2017). Erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung haben sich auch für das Dolmetschen entsprechende Werkzeuge durchgesetzt, die den Menschen während und insbesondere vor der eigentlichen Dolmetschleistung unterstützen. Das computergestützte Dolmetschen (Computer Aided Interpreting CAI) (vgl. Ziegler 2019:310) wird von Fantinuoli (2018:5) in prozessorientierte TechnologieTechnologieprozessorientierte Technologie („designed to assist human interpreters in their work“), die direkten Einfluss auf das Dolmetschen hat, sowie in die sogenannte ‚settings-oriented technologyTechnologiesettingorientierte Technologie‘ unterteilt, die indirekt die Arbeit von Dolmetscher:innen beeinflusst („designed to change the way they deliver their service“), wie beispielsweise Telefon- oder Videodolmetschen.

Letztere hatte durch den Einsatz einfacher Technologie wie Mikrophon, Kopfhörer und Tonübertragung bereits sehr früh das professionelle Konferenzdolmetschen ermöglicht. Das ortsunabhängige Remote Interpreting (RI), durch Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglichte Dolmetschleistungen, definiert als „interpreter mediated communication delivered by means of information and communication technology“ (Fantinuoli 2018:4), begann mit Hilfe des TelefonsTelefondolmetschen als ‚Over-the-Phone Interpreting (OPI)‘. In einer Studie zum US-amerikanischen Markt verwendeten 68 % der befragten Dolmetschunternehmen solche Systeme (CSA2018). Eine etwas geringere Verbreitung verzeichnete in derselben Studie das Video Remote Interpreting (VRI), das 58 % der Befragten benutzten. Technologischer Fortschritt in der Video- und Tonübertragung über das Web nach der Jahrtausendwende führte dazu, dass eine neue Qualität des RI erreicht werden konnte, das Remote Simultaneous InterpretingRemote Simultaneous Interpreting (RSI). Darunter versteht man eine virtuelle Dolmetschkabine mit geographisch unabhängigen Dolmetscher:innen, die Gespräche und Konferenzen in Echtzeit dolmetschen können. Ermöglicht werden dadurch virtuelle Konferenzen, bei denen sich neben Dolmetscher:innen Vortragende und Teilnehmer:innen räumlich unabhängig voneinander zu Konferenzen und Diskussionen zusammenfinden können. In der bereits zitierten US-Umfrage verwendeten 2018 lediglich 23 % diese Form der Unterstützung. Bis vor kurzem wurde noch darüber gestritten, ob diese Form des RI überhaupt zugelassen werden darf. Heute hingegen diskutieren Berufsverbände (zum Beispiel AIIC2019) darüber, welche Standards dabei eingefordert bzw. wieweit bestehende Standards angepasst werden müssen (vgl. Fantinuoli 2018:5).

Auch in diesem Bereich sind die Innovator:innen bzw. die frühen Anwender:innen unter den großen Technologiekonzernen aus Kalifornien zu finden. So wurden RSI-Plattformen an Entwicklerkonferenzen dieser Unternehmen zum ersten Mal mediengerecht zur Anwendung gebracht: 2018 vom Dienstleistungsanbieter Interprefy.com, 2019 durch das Unternehmen KUDO an der Facebook Entwicklerkonferenz F8.

3Automatisierung

Nach diesem ersten Schritt der Unterstützung des Menschen durch Technologie scheint nun die nächste Stufe der Entwicklung vor der Tür zu stehen: Die Maschine nicht mehr als Hilfsmittel, sondern als vollständiger Ersatz des Menschen in zentralen Aufgabenfeldern. Das als technologische Singularität bezeichnete Phänomen markiert den Zeitpunkt, an dem die Maschine die Intelligenz des Menschen erreicht und in der Folge übertrifft (vgl. Kurzweil 2001; TAUS2016).

Erste Versuche, den Menschen in der Sprachmittlung zu ersetzen, gehen zurück auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der darauffolgenden Ära des Kalten Krieges, einer Zeit des Misstrauens zwischen den großen Mächten, das man u.a. auch durch maschinelle ÜbersetzungssystemeDigitalisierungMaschinelles Übersetzen zu überbrücken versuchte. Die ersten Systeme, die auf einfachen lexikalischen und syntaktischen Regeln beruhten, erfüllten aber nicht die hohen Erwartungen. Auch die stetige Weiterentwicklung brachte nicht den erhofften Durchbruch, bis Anfang der 1990er-Jahre IBM einen grundlegenden Wandel von linguistischen Regeln hin zu datenbasierten statistischen Grundlagen wagte und damit den Weg für eine breitenwirksame webbasierte Maschinenübersetzung bereitete (1997 Altavista, 2006 Google Translate).

Für Lai:innen und für berufliche Übersetzer:innen unterscheidet sich die Zeitkurve der Anwendung maschineller Übersetzungssysteme erheblich: Lai:innen haben sich rasch an die Leichtigkeit von Google Translate und Microsoft Translator gewöhnt, da diese kostenlosen Online-Systeme sehr schnell mühelos große Mengen an Text übersetzen können, auch wenn die Qualität nur zum groben Verständnis reichte. Frühe Anwender:innen dieser Form von MÜ lassen sich etwa gegen Ende des zweiten Jahrtausends ansiedeln, eine allgemeine und breite Durchsetzung fand ungefähr zehn Jahre später statt. So wurde für das Jahr 2010 angenommen, dass ab diesem Zeitpunkt ein größeres Volumen an Text durch die Maschine übersetzt wurde als durch menschliche Übersetzer (TAUS2016:18).

Zunächst aber waren im Bereich des professionellen Übersetzens die Vorbehalte gegenüber der Qualität der ersten regelbasierten maschinellen ÜbersetzungssystemeDigitalisierungMaschinelles Übersetzen sehr groß, was zu einer allgemeinen Ablehnung und Abgrenzung führte. Erst nach der breiten Einführung und Durchsetzung der statistischen maschinellen Übersetzungssysteme – Google Translate stellte sein Online-System 2007 um – und der Verfügbarkeit entsprechender Software, die sich auf der Basis eines umfangreichen Korpus an Textmaterial relativ einfach zu maßgeschneiderten maschinellen Übersetzungssystemen trainieren ließen (zum Beispiel Moses), sowie einer Steigerung der Qualität wurden diese für bestimmte Zwecke auch von Übersetzungsunternehmen eingesetzt. Rund 30 % der Unternehmen sehen 2019 in einer Umfrage zu den Erwartungen und Sorgen der europäischen Sprachdienstleister:innen Maschinenübersetzung als positiv, 2018 waren es noch 15 %, während 20 % gegenüber 22 % 2018 sie als negativ einschätzen (ELIA2019:37). Wesentlich negativer werden in dieser Studie die Auswirkungen der Maschinenübersetzung von Einzelübersetzer:innen eingeschätzt, 28 % beurteilen diese negativ und nur 8 % positiv.

Eine deutliche Steigerung der Anwendungskurve kann im professionellen Umfeld nach der Optimierung der maschinellen Übersetzung durch das Einbinden Künstlicher IntelligenzDigitalisierungKünstliche Intelligenz in neuronalen maschinellen Übersetzungssystemen (zum Beispiel 2016 DeepL) beobachtet werden. Die dadurch erreichte Qualitätssteigerung ermöglichte den erfolgreichen Einsatz neuronaler Systeme in immer zahlreicheren Kontexten und brachte mit sich, dass sich kaum jemand mehr diesen Werkzeugen entziehen kann. Beigetragen hat dazu vor allem eine verringerte Erwartungshaltung gegenüber dem Output maschineller Übersetzung im Allgemeinen. Im berühmten ALPAC (American Language Processing Advisory Comitee) Bericht des Jahres 1966, der ein ernüchterndes Fazit zu den ersten maschinellen Übersetzungssystemen gezogen hatte, war noch die Rede vom erstrebenswerten Ziel der vollautomatischen hochqualitativen Übersetzung („fully automated high quality translation“, FAHQT), während dies in den letzten Jahren relativiert wurde und TAUS (2016) heute von der vollautomatischen verwendbaren Übersetzung („fully automated usable translation“, FAUT) spricht.

Neuronale MaschinenübersetzungDigitalisierungNeuronale Maschinenübersetzung bindet Künstliche Intelligenz durch das maschinelle Lernen aus zweisprachigen Textkorpora ein, was zu einer deutlichen Verbesserung der Lesbarkeit des Zieltextes führte. Je höher die Qualität der vorliegenden Übersetzungen, je konsistenter Terminologie und Übersetzungen, desto besser wird auch das Produkt solcher Systeme sein.

MT language is all retrospective, based on past language production, whereas human language use is creative and adaptable dependent on entirely different rules to those used in the algorithms that re-create past language. (Griffin-Mason 2018:76)

Die Übersetzung ist jedoch fehleranfällig, wenn ein Ausgangstext nicht durch entsprechende Beispiele im Trainingskorpus abgedeckt wird oder gegensätzliche Übersetzungen bzw. Fehler im Dateninput vorkommen.

Der Einsatz der Maschine beim Dolmetschen erweist sich als komplexer Vorgang, da in Echtzeit zuerst gesprochene Sprache anhand von Spracherkennungsalgorithmen in Text umgewandelt, dieser dann von der Maschine übersetzt und schließlich durch automatische Sprachsynthese wieder in gesprochene Sprache umgewandelt werden muss. Trotz einiger einfacher Anwendungsbeispiele konnte für den professionellen Dolmetscheinsatz bisher noch keine zufriedenstellende Anwendung entwickelt werden.

Bisher gibt es noch keine Technik, die menschliche Dolmetscher ersetzen kann, von Apps, mit denen sich Touristen und Geschäftsleute kurze Sätze übersetzen lassen können, einmal abgesehen. (Gätjens et al. 2019:363)

Neuere Forschungsanstrengungen versuchen mit Hilfe Künstlicher IntelligenzDigitalisierungKünstliche Intelligenz und neuronaler Übersetzungssysteme das maschinelle Übersetzen gesprochener Sprache („speech to speech translation“, S2ST) zu verbesseren und damit die Automatisierung des Dolmetschens voranzutreiben. Innovatoren sind dabei auch hier die großen Technologiekonzerne (Google Translate Conversation Mode, Microsoft Skype Translator, Tencent Mr. Translator-Interpreter). Als kleinere Unternehmen versuchen TranslateLive mit seinem Instant Language Assistant ILA und Wordly for Conferences, automatisierte Dolmetschdienstleistungen auf den Markt zu bringen. TranslateLive erstellt beispielsweise sogenannte ‚online rooms‘, die mit Hilfe einer spezifischen App auf dem Smartphone orts- und sprachunabhängig zur Teilnahme und Diskussion betreten werden können.

Von der technischen Funktionsweise her gesehen, nennt man diese Art der S2ST den Cascading-Ansatz, da mehrere Prozesse nacheinander ablaufen: Von der Spracherkennung über die maschinelle Übersetzung zur SprachsyntheseDigitalisierungSprachsynthese. Ein anderer Forschungsansatz besteht darin, diesen Ablauf durch den Verzicht auf die beiden Schritte der Spracherkennung und -synthese zu vereinfachen, und wiederum mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (Google AI) ein direktes Dolmetschen („end-to-end speech-to-speech translation model“) von Sprache zu Sprache zu ermöglichen. Dazu werden die aufgenommenen Sprachdaten in Form von Schallwellen („Waveform“) ohne verschriftlichten Text direkt übersetzt, d.h. in Schallwellen einer anderen Sprache transformiert, wobei zusätzlich eine gewisse Ähnlichkeit zur Ausgangsrede (Modulation, Stimmlage, Emotion) gewährleistet werden soll. Die Forschung in diesem Bereich steckt noch in den Kinderschuhen, zeigt aber bereits das darin verborgene Potential, rednerspezifische Zusatzinformationen wie emotionalen Kontext mit einzubeziehen.

Anhand dieser Entwicklungen lässt sich zumindest eine Annäherung an die technologische Singularität auch für das Dolmetschen beobachten. Insgesamt könnte der Zusammenhang zwischen Mensch und Maschine im DolmetschenDigitalisierungMaschinelles Dolmetschen sowie die entsprechende Entwicklung folgendermaßen tabellarisch skizziert werden.

Mensch

Mensch + Maschine

Maschine

Dolmetscher

ortsgebunden

Dolmetscher

über Internet

Maschine

über Internet

Maschine

zur Recherche

Maschine

zur Datenübertragung

Maschine

zum Dolmetschen

Simultan-,

Konsekutiv-

dolmetschen

RSI Remote

Simultaneous Interpreting

S2ST

Speech-to-Speech Translation

Tab. 1:

Zusammenhang Mensch-Maschine im Dolmetschen

Dies ist aber nicht zwingend als lineare Weiterentwicklung zu sehen, sondern präsentiert sich zur Zeit eher als ein Nebeneinander der verschiedenen Bereiche, die in jeweils anderen Kontexten und in jeweils unterschiedlicher Frequenz in der Praxis oder experimentell mit all den damit verbundenen Vor- und Nachteilen eingesetzt werden. Dabei gilt es aber, die Auswirkungen und Folgen dieser Entwicklungen auf die mehrsprachige Kommunikation im Allgemeinen und letztlich auf Berufsprofile und Berufschancen im Besonderen zu beachten.

4Folgewirkungen

Offensichtlich besteht ein Bedarf nach einer effizienten technologischen Lösung für das Problem der Mehrsprachigkeit, das den kostenintensiven Faktor Mensch reduziert bzw. ausklammert. Doch solange automatisierte Lösungen keine deutliche Verbesserung gegenüber dem Einsatz ausgebildeter Sprachmittler:innen aufweisen können, solange der Einsatz dieser Entwicklungen nicht nahtlos und einfach mit den Erwartungen und Anforderungen der Kommunikationsteilnehmer:innen in Einklang gebracht werden kann, bleibt menschliche Sprachmittlung unabdingbar. Die Gefahr, dass die Arbeit ausgeht, besteht zwar kurzfristig nicht, wie das die oben zitierten Statistiken und Umfragen zeigen, bleibt aber längerfristig in Hinsicht auf das Eintreten der technologischen Singularität mit all ihren sozialen Folgen bestehen.

Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein? (Hannah Arendt 1960: Vita activa oder Vom tätigen Leben)