Equinox – Zwischen Tag und Nacht - Lea Sonek - E-Book

Equinox – Zwischen Tag und Nacht E-Book

Lea Sonek

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Beschreibung

Für wen würdest du alles opfern? In meinem Leben gibt es eine einfache Antwort auf diese Frage: Mein Bruder Lugh muss leben. Um dieses Ziel zu erreichen, ging ich einen Götterpakt mit dem gefährlichsten Mann des Sonnenreiches ein – dem Sonnenkönig höchstpersönlich. Von da an ist meine Freiheit der Preis für Lughs unbeschwertes Leben. Meine verbotene Liebe gegenüber dem Sonnenprinz ist aufrichtig. Mein Hass gebührt unserem ärgsten Feind, dem Mondkönig. Seine Quecksilberaugen bringen etwas in Gefahr, um das ich mich nie gesorgt habe: Mein eigenes Leben.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Lea Sonek

Equinox – Zwischen Tag und Nacht

Für Paul-Louis. Egal wie alt du bist – du wirst immer mein kleiner Bruder sein.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Teil II

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Teil III

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Danke

Impressum

Töten ist einfach.

So einfach, dass ich in meinem kurzen Leben auf dieser Erde bereits dreiunddreißig Menschen das Leben genommen habe. Ein glatter Schnitt durch die Hauptschlagader, die schleichende Wirkung eines starken Gifts, ein gezielter Stich ins Herz. Das Leben eines anderen auszulöschen, ist irrwitziger Weise kinderleicht. Und doch gehen die Menschen mit einer Selbstverständlichkeit durch die Welt, als sei ihnen ein langes Leben garantiert. Dass die Menschen, die ich töte, eine Familie haben. Dass sie vielleicht einen kleinen Bruder haben, so wie ich. Daran darf ich nicht denken. Denn um Lugh zu schützen, muss ich ihre Leben nehmen. Um ihn zu schützen, würde ich jedes Leben opfern. Meines eingeschlossen. Deshalb habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, dass mein eigenes Leben vielleicht genauso fragil ist, wie das der Opfer, die ich im Namen meines Königs getötet habe.

Während andere Kinder zum zwölften Geburtstag Spielzeug oder Süßigkeiten geschenkt bekamen, reichte man mir einen Dolch. Und wenn ich sage Dolch, dann meine ich das nicht metaphorisch. Ich meine eine rasiermesserscharfe, milchig-weiße Klinge, eingefasst in einen silbernen Griff mit geschwungenen Verzierungen. Sie stellten ein Nest aus Schlangen dar, die sich gegenseitig verschlingen. Es war damals Bos Art mir zu sagen, dass er meine Arbeit schätzte.

Gerade weil er sie schätzte, schickte er mich an meinem zwölften Geburtstag zu einem Auftrag, der mein Leben verändern könnte, wenn ich nur erfolgreich wäre. Dass für ihn eine nicht unerhebliche Geldsumme auf dem Spiel stand, betonte er mehr als einmal. Er war kein Mann, der sich in Zurückhaltung üben konnte.

„2500 Glinn“, raunte er, während er mir die lederne Scheide entgegenhielt.

Als ich danach griff, zog er sie mir vor der Nase weg.

„Das ist ein Haufen Geld, kleine Lady. Mit dem Geld kann ich von hier verschwinden.“

„Und was wird dann aus uns?“

Ich schielte zu Lugh, der auf dem schäbigen Strohballen schlief, den wir unser Bett nannten. Selbst unter der dünnen Decke erkannte ich das Gerippe seines Brustkorbs zu deutlich. Ich griff abermals nach dem Leder, doch aus der Perspektive eines Kindes war Bos mächtiger Körper eine nahezu unüberwindbare Mauer. Selbst für jemanden wie mich.

„Wenn du Glück hast, findet mein Auftraggeber Gefallen an dir. Ich habe dich angepriesen wie saures Bier, also verbock’ es nicht.“

Beim dritten Versuch gelang es mir endlich, ihm den Dolch aus seinen wurstigen Fingern zu fischen. Ich zog die Klinge aus der Scheide. Von der polierten, weißlichen Oberfläche starrten mir meine eigenen moosgrünen Augen entgegen, die zu tief in meinem fahlen Gesicht saßen.

„Wann habe ich es jemals verbockt?“, fragte ich leise.

Es war keine Eitelkeit, sondern das Wissen um meine Fähigkeiten. Ich war zum Töten geboren. Zumindest fühlte es sich damals danach an. Er legte seine riesige Pranke auf meinen Scheitel und erwiderte: „Es liegt nicht in deiner Natur zu versagen.“

Bos Worte hallten noch immer durch meinen Kopf, als ich durch die ausladende Eingangshalle des Windpalasts schritt. Zur Tarnung gab ich mich als die Tochter eines hochrangigen Lords aus, die ihren geliebten Pápá in der allgemeinen Aufregung um den heutigen Ball verloren hatte.

Bo hatte eine befreundete Schneiderin um Hilfe gebeten. Das Kleid, das sie angefertigt hatte, war schöner als alles, was ich je im Leben getragen hatte. Rauschende Stoffe in einem zarten violett, die die Waffen darunter geschickt zu verstecken wussten. Zuletzt hatte ich also doch ein Geburtstagsgeschenk bekommen, das es würdig war, diesen Namen zu tragen. Nur wenn man zu genau hinsah, erkannte man den billigen Stoff und die schlampig verarbeiteten Nähte.

Für mich sollte es keine Rolle spielen. Schon die erste Wache ließ sich von den dicken Krokodilstränen täuschen und führte mich geradewegs in die Höhle des Löwen. Es war lächerlich einfach.

Die mächtigen Schritte des Mannes klangen zu schwer auf dem Schachbrettmuster aus Marmorfliesen. Aus Westen blies ein zarter Frühsommerwind durch das luftige Gewölbe. Er hob die leichten Stoffe meines Kleides an, spielte mit meinem haselnussbraunen Haar. Ein leises Flüstern, das mir viel Glück wünschte, dabei hatte ich nie Glück im Leben. Ich hatte nur mich selbst und Lugh. Das musste reichen.

Kaum hatte ich den Festsaal betreten, war ich bloß eine Illusion. Eine flüchtige Erscheinung, die niemals ruhen durfte. Würde ich zu lange verweilen, würden sie meine eingefallenen Wangen und meine dürren Arme erkennen. Ich verschmolz mit dem Hintergrundrauschen aus teuren Gewändern, geflüsterten Geheimnissen und duftenden Speisen. Ich war unsichtbar. Und doch spürte ich ein paar Augen auf mir, die mir auf Schritt und Tritt folgten, während ich durch die Gesellschaft glitt wie ein Fisch durchs Wasser.

Konzentration, mahnte ich mich.

Paranoia würde mich nicht zum Erfolg bringen. Ich rief mir die Beschreibung meines Opfers ins Gedächtnis. Männlich, schwarze Haare, blasse Haut, circa 1,70 m groß, schlank. Seine Augen sollten so schwarz sein wie die Nacht.

„Unheimliche Augen“, hatte Bo gesagt.

Zu diesem Zeitpunkt spürte ich den Blick meines Beobachters nahezu physisch auf meinen Schultern lasten. Als ich dem Drang schließlich nachgab und mich umdrehte, entdeckte ich ausgerechnet das Augenpaar, nachdem ich gesucht hatte. Unheimliche Augen hatte Bo sie genannt. Er hatte gelogen.

In dem Moment, in dem sich unsere Blicke trafen, zog er mich in seinen Bann. Das Schwarz dieser Iris war so tief, dass es kein Ende erahnen ließ, so finster, dass es kein Licht kannte und so erdrückend, dass mir das Atmen schwerfiel. Der Moment zog vorbei.

Er war bloß ein Kind, kaum älter als ich. Doch mit meinem Erstaunen konnte ich recht wenig anfangen. Denn wie immer blieb nur die Gewissheit, dass ich ihn töten würde. In einer Welt, in der nur er oder Lugh überleben konnte, würde ich mich für Lugh entscheiden.

Meine Füße tänzelten leichtfüßig durch den Saal. Sie kannten ihr Ziel, genau wie meine Klinge. Es sollte so einfach sein wie immer. Ein tödlicher Schnitt im Vorbeigehen. Nicht mehr als eine präzise Bewegung, wie ich sie schon viel zu oft verübt hatte. Doch als ich endlich bei ihm war und mein neuer Dolch aus dem Leder glitt, wich er mir geschickt aus, als hätte er es bereits kommen sehen. Überrascht sog ich die Luft ein.

Wie kann er schneller sein als ich?

Plötzlich umschloss seine Hand mein Handgelenk. Er zog mich einfach mit sich, weiter und weiter und weiter, ungeachtet des Messers, das in seinem Rücken lauerte. Ich war so perplex, dass ich nichts tun konnte, als ihm zu folgen.

Was hat er vor?

Wenn er so schnell reagieren konnte, dann musste er tatsächlich gesehen haben, was ich plante. Und doch schreckte er nicht vor mir zurück. Als er schließlich innehielt, pumpte mein kleines Herz viel zu schnell.

„Sag’ mir nur eins“, seine Stimme war gleichzeitig die eines Kindes und eines Herrschers. „Wieso willst du mich töten?“

Ich blinzelte irritiert. Es war nicht so, dass ich ihn umbringen wollte. Es machte mir keinen Spaß, Leben zu nehmen. Doch wann immer ich an den Punkt kam, mir diese Frage stellen zu müssen, kannte ich die Antwort. Ich durfte nicht länger zögern. Also trieb ich ihm meine Klinge in seine Kehle und floh, bevor der erste Blutstropfen die polierten Marmorfliesen besudelte.

Vierunddreißig.

Mit dem Gedanken an fremde Augen betrat ich das Zimmer, das Bo für uns angemietet hatte. Es war nicht viel. Ein Strohballen, ein klappriger Tisch und ein Stuhl mit drei Beinen. Auf diesem Stuhl hockte Bos lebloser Körper. Er sah aus wie eine groteske Puppe. Nur die purpurne Lache auf seinem schmutzigen Hemd erinnerte daran, dass er wirklich aus Fleisch und Blut war. Aber der wirklich grausige Anblick bot sich mir erst, als mein Blick der Blutspur bis zum Strohbett folgte. Dort kauerte Lugh. Die mageren Arme um den zitternden Körper geschlungen, sah er so furchtbar verletzlich aus. Eine Klinge blitzte bedrohlich an seinem Hals.

Der Fremde an seiner Seite lüftete seine Kapuze. Dabei entblößte er nicht nur seine goldblonde Haarpracht, die zu einem dicken Zopf am Hinterkopf gebunden war, sondern eine Präsenz, die zu mächtig für den schäbigen Raum war. In seiner Gegenwart verblasste jegliches Licht zu einem tristen Grau. Er fraß es in sich hinein und hinterließ keinen Zweifel, dass er nicht mehr als dieses Licht in seinem Inneren bräuchte, um uns alle bis zur Unkenntlichkeit zu verbrennen. Zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern war ich starr vor Angst.

„Du weißt, wer ich bin. Du weißt, warum er sterben musste.“

Ich nickte stumm.

Bo wusste, wen er hatte ermorden lassen. Und er wusste, welches Risiko er damit eingegangen war. Jetzt wo er nicht mehr da war, waren wir frei. Aber was sollten wir mit Freiheit, wenn wir uns selbst kaum ernähren konnten? Bo war der einzige Verwandte, der uns Geschwistern geblieben war. Er hatte uns aufgenommen, weil es für ihn profitabel war. Doch es war ein Pakt gewesen, von dem wir alle profitiert hatten.

„Nenne mir einen Grund, warum ich euch nicht auch töten sollte.“

Eine einzige Schweißperle rann von meinem Nacken meinen Rücken hinunter. Seine Stimme war wie Honig. Zäh und süß. Ich wollte ihr zuhören und doch war ich nicht leichtsinnig genug, den fordernden Unterton darin zu ignorieren. Eine Disharmonie, wie ich sie schon einmal an diesem Abend vernommen hatte.

Wieso willst du mich töten?

Mir fiel es sonst nicht schwer, die Toten gehen zu lassen. Ich hatte keinerlei Verbindung zu ihnen oder ihrem Leben. Deswegen verstand ich nicht, weshalb mich diese Frage bis ins Innerste aufrüttelte. Ich erschauderte, als sich seine Worte abermals durch meine Hirnwindungen fraßen und sich dort mit den unzähligen Melodien seiner Stimme zu einer höhnenden Kakofonie vermischten.

Tatsächlich war ich mir nicht sicher, ob ich nicht den Verstand verlor, wenn ich eine Sekunde länger nachdachte. Eigentlich konnte ich es mir nicht erlauben, schwach zu sein. Also schluckte ich herunter, was ich glaubte zu spüren und betäubte meinen Kummer mit der Erinnerung an den Sinn meiner Existenz.

Ich muss Lugh beschützen.

Mir musste eine Antwort einfallen. Und zwar schnell.

„Solange mein Bruder lebt, gehört mein Leben dir“, hörte ich mich sagen.

„Was soll ich mit deinem Leben? Was hast du mir schon zu bieten?“

Kräftige Finger gruben sich in mein Haar und zogen meinen Kopf nach oben, bis ich gezwungen war, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich verbot mir jeden Laut, auch wenn mich mit seinen Händen der blanke Horror packte.

„Antworte, wenn ich mit dir spreche.“

„Ich…“

Was habe ich schon zu bieten?

Ich schluckte hart.

„Nichts!“, hätte ich am liebsten geschrien.

Für diese Welt waren wir wertlos. Das Einzige, was mich von den anderen Waisen auf der Straße unterschied, war mein Talent zu töten. Diesbezüglich war ich schon immer anders als die anderen Kinder – robuster und zäher. Obwohl mir mein Schicksal übel mitspielte, wollte ich einfach nicht sterben. Ich konnte nicht sterben. Der Grund war ein hübscher Junge von vier Jahren mit riesigen, blauen Augen, die die Welt noch nicht in all ihrer Grausamkeit begriffen.

Ich muss ihn beschützen.

„Du bist nicht besonders clever. Und wirklich hübsch bist du auch nicht, Junge“, stellte mein Gegenüber jetzt fest.

„Ich bin kein Junge.“

Seine linke Augenbraue wanderte in Richtung Haaransatz, wo sie verharrte. Sein Blick bohrte sich tief in mich hinein, als könne er allein mit diesen goldenen Augen prüfen, ob ich seiner würdig war.

„Ach so? Für Mädchen habe ich erst recht keine Verwendung. Tötet sie.“

Der Befehl rüttelte mich aus meiner Lethargie. Ich musste wirklich abgedriftet sein, wenn ich die Wachen an der Tür nicht bemerkt hatte. Bevor sie einen Schritt getan hatten, war meine Hand am Dolch. Schnell war ich schon immer gewesen. Außerdem unterschätzten sie mich. Das war mein Vorteil. Dem Ersten durchtrennte ich mit einem glatten Schnitt die Achillesverse, noch bevor er Bos Leiche passierte.

Der Zweite packte mich am Arm – ein Fehler. Ich flippte meinen nagelneuen Dolch mühelos in meiner Linken und rammte ihm die Klinge geradewegs in den Unterarm. Der Geruch von Blut versetzte mich in einen Zustand des Rausches. Sein Gesicht verriet seinen Schmerz, doch zu meiner Überraschung ließ er nicht von mir ab.

„Kayleigh“, Lughs japsende Stimme hallte zu laut in dem winzigen Wohnraum.

Ich habe es gleich geschafft.

Ich zog die Klinge aus seinem Fleisch und war im Begriff abermals zuzustechen, als mir die Honig-Stimme Einhalt gebot: „Genug.“

Er hatte Lugh im Genick gepackt wie einen räudigen Straßenköter. Sein Mundwinkel zuckte amüsiert, als er über den Mann am Boden hinweg stieg. Diese goldenen Augen musterten mich mit neuem, unverhohlenem Interesse.

„Er hat also von dir gesprochen.“

Der Fremde nickte zu Bos Leiche.

„Du sagtest, solange der Junge lebt, gehörst du mir.“

Mein Kopf wippte in der Andeutung von Zustimmung nach vorne.

„Dann haben wir einen Pakt.“

Ich fragte mich oft, was aus uns geworden wäre, wenn unsere Eltern nie gestorben wären. Ob es dann leichter gewesen wäre. Ob ich dann niemals diese Verbrechen begangen hätte. Ob ich niemals dem Sonnenkönig begegnet wäre. Doch all diese Gedanken waren hinfällig, denn das Leben hatte andere Pläne für uns. Und für mich hatte es eben vorgesehen, dass ich im Namen anderer Leute tötete.

„Ein Pakt besiegelt mit Worten.

Ein Pakt besiegelt mit Blut.

Ein Pakt uns zu zwingen.

Ein Pakt uns zu binden.

Ein Pakt uns zu trauen.

Vereint im Worte.

Vereint unter der Haut.“

Der Schwur der Götter. Damals wusste ich nicht, was diese Worte bedeuteten.

Jetzt weiß ich es.

Teil I

Eines Tages wachst du auf und stellst fest, dass du einmal kurz – nur ganz, ganz kurz – geblinzelt hast und deine Kindheit ist vorüber. Obwohl du jeden Tag in diesem Zimmer aufwachst, ist dir das große Bett mit den ausladenden Federkissen fremd. Genau wie die schweren Leinenvorhänge vor den Fenstern, die die niemals untergehende Sonne des Sonnenreichs aussperren. Du starrst auf den Baldachin aus azurblauem Stoff über dir. Jeden Morgen der gleiche Ausblick. Aber alles ist dir fremd.

Das ist meine Strafe, denke ich verbittert und strecke meine Hand nach dem dünnen Sonnenstrahl aus, der sich durch den Stoff geschlichen hat.

Das goldene Paktmal auf meinem rechten Unterarm glitzert im einfallenden Licht wie eine böse Erinnerung daran, dass ich dem König gehöre. Ein gerader Strich, der den Horizont darstellt, und eine Sonne in der Mitte.

Ich bin verdammt in diesem goldenen Käfig zu leben, von dem jeder andere Mensch träumen würde. Nur dass mein Leben nicht aus Luxus und rauschenden Festen besteht, sondern aus Erpressung und Mord. Als Schoßhund des Sonnenkönigs bleiben die unangenehmen Aufgaben eben an mir hängen. Ich seufze leise und schiebe meine Beine über die Bettkante.

Noch bevor meine nackten Füße den Boden berühren, zuckt eine Reflexion am Rand meines Sichtfelds. Sofort bin ich in Alarmbereitschaft. Lugh schläft um diese Zeit noch. Außerdem sind die Jahre längst vorbei, in denen er sich heimlich in mein Bett verkrochen hat.

Ich taste nach dem Dolch unter meinem Kopfkissen. Wer auch immer sich in mein Zimmer geschlichen hat, wird es bereuen. Die Klinge schießt wie ein Blitz durch die Luft und trifft letztendlich ihr Ziel.

Die Vorhangstange bricht entzwei. Sonnenstrahlen fluten den Raum. Winzige Staubpartikel stieben auseinander und tanzen aufgescheucht im gleißenden Morgenlicht. Und schließlich kommt auch der Eindringling zum Vorschein, zu dessen Füßen sich der fließende Stoff auftürmt.

„Kirian“, stelle ich überrascht fest. „Was tust du hier?“

Das spitzbübische Grinsen kenne ich nur zu gut. Er schlendert zu meinem Bett, als hätte er alle Zeit der Welt, und lässt sich rücklings hinter mich auf die weiche Matratze fallen. Er schließt die Augen, was mir genug Zeit gibt, ihn zu mustern. Im Alltag wäre es unangebracht, den Thronfolger so anzustarren, aber hier...

Das einfallende Licht spielt mit seinen goldenen Locken, die denen seines Vaters so ähnlich sind. Sie umfassen sein kantiges Gesicht wie ein weicher Rahmen. Ich beuge mich über ihn und fahre mit dem Zeigefinger die harten Linien seines Unterkiefers entlang. Sofort öffnet er die Augen wieder.

Oh diese Augen…

Seine Iris ist so violettblau wie der Himmel zur blauen Stunde kurz vor Sonnenaufgang, gesprenkelt mit dem Gold der immer scheinenden Sonne. Wie die Reflexionen des Lichts auf den Wellen der türkisblauen See. Ein Meisterwerk gemeißelt aus Lapislazuli.

„Was tust du hier?“, wiederhole ich, diesmal eindringlicher. „Wenn dich jemand hier findet…“

„Mhhh.“

Er rollt sich auf die Seite und stützt sich dabei auf seinen Unterarm. Plötzlich ist sein Gesicht so nahe, dass sein heißer Atem auf meiner Nasenspitze kitzelt. Seine Augen mustern mich eindringlich. Sein Blick wandert immer tiefer, tiefer, tiefer, bis er schließlich auf meinem Dekolleté hängen bleibt.

„Kirian“, tadele ich halbherzig.

Sein Grinsen wird breiter, entblößt eine Reihe strahlend weißer Zähne, während er mich unter dichten Wimpern ansieht.

„Wenn du diese Spitzengewänder trägst, könnte man fast vergessen, dass du eine Assassine bist“, raunt er.

Er schiebt den dünnen Träger meines Nachthemds von meiner rechten Schulter und küsst sanft die nackte Haut darunter.

„Ich wünschte, du könntest es auch vergessen.“

Noch ein Kuss. Und noch einer. Er bahnt sich einen glühenden Weg aus zarten Berührungen, bis seine weichen Lippen spielerisch mein Ohr necken. Als er spricht, ist seine Stimme so nah. Sie vibriert durch meinen Körper. Ich höre sie selbst mit meinen Zehenspitzen.

„Vergiss es nur für diesen Moment, Kayleigh“, bittet er.

Ich kann ihm schwer widerstehen. Also vergesse ich für den Moment wer ich bin und wer er ist und dass es uns zusammen eigentlich gar nicht geben darf.

„Kayleigh?“

Das hämmernde Klopfen an der Tür ist das Zeichen dafür, dass die Zeit mit Kirian vorüber ist. Ich bedeute ihm mit der Hand, ein Versteck zu suchen. Seine Augenbraue hebt sich amüsiert und auch das spitzbübische Grinsen ist zurück. Seine Mimik sagt: Seit wann gibst du die Befehle?

Aber selbst ihm sollte bewusst sein, dass es mit den Späßen vorbei ist, sollte es Yaris endgültig leid sein, auf mich zu warten.

„Kayleigh.“

In seiner Stimme ist jetzt keine Frage mehr, sondern lediglich die leise Drohung, die Türe aus ihren Angeln zu heben, wenn es denn sein müsste. Yaris war schon immer ungeduldig. Daran hat sich in den acht Jahren, die ich nun am Sonnenhof lebe, nichts geändert.

„Ich komme“, rufe ich, während ich mich abmühe, den seidenen Morgenmantel umzuwickeln.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Kirian gemächlich aus dem Bett steigt und seine Kleider notdürftig zusammensucht.

Ich habe mich schon oft gefragt, woher er diese Ruhe nimmt. Ist sie ihm in seine goldene Wiege gelegt worden? Lebt es sich entspannter, wenn man der Thronfolger ist? Eigentlich bin ich davon überzeugt, dass er es alles andere als einfach hatte. Auf eine ganz andere Art und Weise als ich, dennoch…

Es muss eine schwere Bürde sein, der zweitwichtigste Mann im Reich zu sein. Doch er lässt es so einfach aussehen. Oder aber er lässt mich einfach nicht hinter die Fassade des unvernünftigen Kronprinzen sehen.

Was auch immer es ist…

„KAY-LEIGH.“

Oh oh, huscht es mir durch den Kopf, zu langsam.

Die Tür kracht auf und Yaris, Koloss eines Mannes der er nun mal ist, füllt den Rahmen komplett aus. Sein Kopf ist knallrot. Die Pulsader an seinem Hals pocht gefährlich unter dem dichten Bart. Einige braune Strähnen haben sich aus dem Knoten an seinem Hinterkopf gelöst. Zuletzt habe ich ihn so zornig gesehen, als ich bei den morgendlichen Übungen eine Kerbe in sein liebstes Schwert gehauen habe. Ich schließe die Augen und lasse die Luft in einem langen Atemzug aus meinen Lungen entweichen.

Gar nicht gut.

„Was hast du da an?“

Ich blicke an mir herunter. Meine nackten Beine enden knapp über dem Knie in den fließenden Stoff. Da Yaris uns überrascht hat, hatte ich keine Gelegenheit mehr, mich adäquat anzukleiden.

„Einen Morgenmantel“, erwidere ich unbeeindruckt.

Dabei male ich mir jetzt schon aus, wie ich Estia das unordentliche Bett, die kaputte Vorhangstange und das Türschloss erklären soll.

„Es ist fünf nach acht. Du solltest längst umgezogen sein.“

„Wir waren um halb neun auf dem Übungsplatz verabredet. Es ist noch genug Zeit.“

Yaris schnaubt.

„Es gibt eine Planänderung. Zieh’ dich um, wir haben eine…“

Er stoppt mitten im Satz. Seine braunen Augen bleiben an etwas hängen, das sich in meinem Rücken befindet. In diesem Moment kostet es mich all meine Beherrschung, seinem Blick nicht zu folgen.

„Wir haben eine…?“, frage ich, doch der Versuch seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen, scheitert kläglich.

Yaris macht einen weiteren Schritt in den Raum hinein. Was auch immer er sieht, ich hoffe, nein, ich bete zu den Göttern, dass es nicht Kirian ist. Die Vorhangstange kommt mir in den Sinn. Jetzt drehe ich mich doch um.

Die wortlose Tortur geht weiter. Yaris’ Blick wandert von dem Stoffhaufen am Boden zu mir und schleichend langsam wieder zurück. Seine Kiefer mahlen. Ich wette, sein Gehirn matert gerade angestrengt. Wäre er nicht so angespannt, wäre es vielleicht sogar lustig. So ist es einfach nur beängstigend. Mein Puls rast. Wenn er Kirian entdeckt, sind wir geliefert.

Eine dicke, weiße Wolke schiebt sich vor die Sonne. Gemächlich, als hätte sie alle Zeit der Welt. Ihr rundlicher Schatten schleicht sich bis in meine Gemächer. Neben mir zieht mein Freund und Lehrer scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.

„Yaris?“

Und da sehe ich sie. Die königlichen Zehen, die unter dem verbleibenden Vorhang herauslugen. Ich könnte schwören, dass sie eben noch nicht dort gewesen sind. Meine Gesichtszüge entgleisen im selben Augenblick, in dem Yaris Kirian hinter der Stoffbahn entdeckt.

Er ist ein herausragender Kämpfer und Stratege, aber das soll sein Versteck gewesen sein?

„Yaris, ich…“, stammele ich.

Seine Nasenflügel beben bereits.

„Sag’ mir, dass das nicht Kirian ist.“

„Aber…“

„Sag’ mir“, knurrt er, „Dass das nicht der götterverdammte Kronprinz ist, der sich wie ein Kleinkind hinter dem Vorhang versteckt.“

„Es…“

Endlich tritt Kirian hinter dem Vorhang hervor. Er ist mit nichts bekleidet als dem Kleiderbündel, das er vor seinen Leisten hält. Seine Miene ist unlesbar, sodass ich mich unwillkürlich frage, was in ihm vorgeht. Schämt er sich so wie ich? Oder ist ihm das alles gleichgültig? Wieso ist er überhaupt heute morgen hierhergekommen?

„Geh’ dich umziehen, Kayleigh“, Yaris’ eisige Stimme passt nicht zum gleißenden Sonnenlicht, das mit dem Vorbeiziehen der Wolke abermals den Raum einnimmt. „Wir haben eine Audienz beim König.“

„Beim König?“

„Es gibt einen Auftrag für dich.“

Solange der Junge lebt, gehörst du mir.

Ich nicke stumm.

Bevor ich mich ins angrenzende Badezimmer begebe, erhasche ich noch einen letzten Blick auf Kirian. Ausnahmsweise steht es ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Er wusste von der Audienz.

„Du bist wütend“, stelle ich fest.

„Ohhh junge Dame, ich bin mehr als nur wütend.“

Junge Dame, denke ich und schnalze tadelnd mit der Zunge.

Yaris ist nur sechs Jahre älter als ich. Aber weil er mich im Schwert- und Nahkampf ausgebildet hat, behandelt er mich wie ein Kind.

„Was, wenn euch jemand erwischt?“

„Das wird schon nicht passieren“, erwidere ich leichtfertig, aber das Ziehen in meinem Magen widerspricht mir.

Yaris seufzt leise.

„Ich habe euch bereits erwischt.“

„Du hast die Tür eingetreten.“

„Das könnte auch jeder andere.“

Meine linke Augenbraue wölbt sich skeptisch.

„Quatsch.“

„Das ist nicht der Punkt, Kayleigh.“

Yaris ist stehengeblieben. Die Kombination aus der Resignation in seiner Stimme und den tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn lassen mich ebenfalls innehalten.

„Er ist der Thronfolger. Es gibt Gesetze. Richtige Gesetze in einem dicken, verstaubten Buch, die das verbieten, was ihr beide da treibt. Was, wenn du schwanger wirst?“

„Yaris“, zische ich.

Es ist sonst nicht meine Art, aber jetzt spüre ich die heiße Röte des Schams in meine Wangen kriechen. Mit ihm über Sex zu reden, ist ungefähr so unangenehm wie auf dem Übungsplatz von seinem Knauf in der Kniekehle erwischt zu werden. Was sage ich da? Es ist schlimmer. Er legt mir seine Pranken auf meine Schultern. Für einen winzigen Moment huscht das vage Bild von Bo durch meinen Kopf. Ebenso schnell ist es wieder verschwunden.

„Du tust ohnehin, was du willst. Aber lass’ mich ausnahmsweise die Stimme der Vernunft sein“, raunt er. „Der Königssohn verheißt nichts Gutes. Nicht für Menschen wie dich und mich. Und wenn dich das nicht überzeugt, dann denke an Lugh.“

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich schiebe seine Hände bestimmt von meinen Schultern. Selbst durch den Stoff verbrennen sie mir die Haut.

„Was hat Lugh damit zu tun?“, antworte ich zu schroff.

Yaris’ Blick wird weicher. Erst da bemerke ich, dass wieder einmal die überfürsorgliche Schwester zum Vorschein gekommen ist.

„Wer mit der königlichen Familie verkehrt, ohne selbst reinen Blutes zu sein, dem droht der Tod. Allen Kindern, die aus der Affäre hervorgehen, ebenfalls“, zitiert Yaris.

Ich kenne die Zeilen. Ich habe sie selbst gelesen und mich dazu entschieden, sie zu ignorieren. Das Gesetz ist uralt. Wie Yaris sagt, es steht bloß in irgendeinem dicken, verstaubten Buch geschrieben. Außerdem würde Kirian das niemals zulassen.

„Wenn du denkst, dass er dich vor dem Gesetz schützen kann, dann irrst du dich.“

Er tippt mir mit dem Zeigefinger auf meine Stirn.

„Krieg’ das in deinen Dickschädel. Lugh hat niemanden außer dir. Du bist klüger als das.“

Er setzt sich wieder in Bewegung. Ich folge ihm mit etwas Abstand.

Lugh hat niemanden außer dir.

Ich ziehe meine Augenbrauen nachdenklich zusammen. Als ob ich das nicht wüsste. Als ob es nicht verdammt nochmal genau das wäre, was mir jeden Tag Sorgen bereitet.

Er hat dich, denke ich, aber sage es nicht laut, denn es ist auch nur Teil eines Paktes.

Wir sind inzwischen im Ostflügel angekommen. Die ausladende Doppeltür, die in das private Audienzzimmer des Sonnenkönigs führt, wirkt noch immer so erdrückend wie bei meinem allerersten Besuch hier. Damals war ich ein Kind. Aber auch heute – acht Jahre älter und zwanzig Zentimeter größer ­– wirken die kunstvollen Verzierungen auf der enormen Tür einschüchternd. Sie zeigen eine riesige Sonne mit Krone, die alles Leben unter sich mit ihren heißen Strahlen verbrennt.

Ich schlucke hart.

Die Szenerie beschreibt bildlich, wie es sich anfühlt, dem mächtigsten Mann des Reiches gegenüber zu treten. Auch Yaris wirkt angespannt. Seine Miene ist neutral, aber ich erkenne die Härte in seinem Nacken.

Wenn mich mein König zu sich rufen lässt, dann muss es wichtig sein. Meistens lässt er mir meine Aufträge über einen Boten zukommen. Nur wenn ich einen seiner Widersacher auskundschaften oder einen seiner Feinde töten soll, beordert er mich zu einer privaten Audienz. Anscheinend hat er auch jetzt etwas Dringendes zu erledigen, dessen ich mich annehmen soll. Dabei bin ich erst vor drei Tagen von einer Mission heimgekehrt.

Ich will mich nicht beschweren. Seit dieser Nacht habe ich mehr von unserem Pakt profitiert, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Lugh und ich haben nicht nur ein Dach über dem Kopf und Essen im Überfluss. Wir genießen beide eine gute Ausbildung. So schlau wie er ist, werden ihm einmal viele Türen als Gelehrter offenstehen. Und im Gegensatz zu mir ist er nicht an den Sonnenhof gekettet.

„Kayleigh“, ermahnt mich Yaris und ich korrigiere automatisch meine Haltung.

In diesem Moment öffnet sich die gewaltige Tür mit einem gruseligen Knarzen und lässt uns ein.

Im Inneren zählt das Audienzzimmer des Königs wohl zu den schönsten im Sonnenpalast. Riesige Rundbogenfenster geben den Blick auf die Schiffe frei, die in der türkisblauen Bucht von Illios ankern. Auf einem sonnigen Balkon ranken die pastellfarbenen Blütentrauben des Blauregens die Mauern aus weißem Marmor empor. Orangenbäume strecken ihre Zweige gen Himmel. Der Duft der reifen Zitrusfrüchte breitet sich durch die geöffneten Türen im ganzen Raum aus. Die Mitte des Zimmers wird von einem massiven Holzschreibtisch beherrscht, dessen dunkles Holz vor dem Hintergrund des azurblauen Himmels nahezu schwarz wirkt. Hinter exakt diesem Schreibtisch sitzt der Sonnenkönig.

Sein goldblondes Haar liegt geflochten in seinem Nacken. Er hebt den Kopf. Seine goldenen Augen registrieren unsere Anwesenheit mit minderem Interesse und sein Mund verzieht sich zu einem verärgerten Haken in seinem sonst stattlichen Gesicht. Wann immer ich ihn ansehe, kann ich die Ähnlichkeit zu seinem Sohn nicht verkennen und doch gefriert mir das Blut in den Adern, sobald mich sein Blick trifft. Schnell tue ich es Yaris gleich und verstecke meine versteinerte Miene hinter einer steifen Verbeugung.

„Da seid ihr ja endlich.“

Augenblicklich stellen sich meine Nackenhaare auf. Seine Stimme hat sich in all den Jahren nicht geändert. Mit jedem Wort, das er sagt, höre ich gleichzeitig die Frage, die sich in meinen Kopf eingebrannt hat: Was hast du mir schon zu bieten? Und jedes götterverdammte Mal habe ich das Gefühl, dass er eine bessere Antwort erwartet.

Meine Gesichtszüge habe ich in der Zwischenzeit wieder unter Kontrolle gebracht, also richte ich mich auf. Es ist mir nicht gestattet, den König direkt anzusprechen. Stattdessen warte ich in der angespannten Hoffnung, dass er meine Aufgabe schnell verkündet.

„Was wisst ihr über die Apokalypse?“

Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. Meint er etwa „Apokalypse“ wie in „Weltuntergang“? Ich habe gelernt, dass es in solchen Situationen besser ist, den Mund zu halten, wenngleich es mir schwerfällt. Auch Yaris schweigt. Ich habe also richtig entschieden. Der Sonnenkönig fährt indes unbeirrt fort.

„Es gibt eine Waffe, die selbst der Apokalypse standhalten soll. Ich will, dass Kayleigh sie für mich findet.“

Die Falte zwischen meinen Augenbrauen wächst zu einem Krater. Ich wage einen Seitenblick auf Yaris, dessen Gesicht eine unlesbare Marmorfassade darstellt. Was auch immer er denkt, bleibt darunter verborgen.

„Mit Verlaub, Eure Majestät, wenn ich eine Frage stellen dürfte?“

Ich hasse es, dass meine Stimme in seiner Gegenwart so unterwürfig klingt. Eigentlich habe ich von ihm nichts zu befürchten. Uns verbindet der Götterpakt und doch lässt mich in seiner Gegenwart nie der Gedanke los, dass es nur eines Fingerschnippens bedürfte, um sich meiner zu entledigen.

„Sprich.“

„Was für eine Art Waffe soll das sein?“

Aus seiner Kehle entweicht ein abwertendes Schnauben. Ich habe ihn mit einer einzigen Frage verärgert. Das ist ein neuer Rekord. Doch zu meiner grenzenlosen Überraschung antwortet er bloß: „Ich weiß es nicht.“

„Ihr wisst es nicht?“

Für einen Augenblick ist meine Stimme allein im Raum und ich befürchte, dass ich eine Frage zu viel gestellt habe. Etwas, das in der Vergangenheit zu oft geschehen ist. Und nicht immer konnte mich Yaris vor den Konsequenzen bewahren.

Früher habe ich weggesehen, wenn er mich mit seinem Blick durchbohrte, als könne er mich damit ausweiden. Jetzt starre ich in die Iriden aus bernsteinfarbenem Honig und kann mich nicht dazu bringen, wegzusehen, auch wenn es die kluge Entscheidung wäre. Etwas in seinen Gesichtszügen verrutscht. Ist es Missgunst? Wut? Ich kann es nicht benennen. Seine Mimik ist schwerer zu lesen als die Texte in Alt-Solar, einer Sprache, die längst tot ist. Schließlich seufzt er und mit ihm mein ganzer Körper. Ich atme in einem langen, flachen Zug aus. Mir war nicht bewusst, dass ich die Luft angehalten hatte.

„In den alten Schriften ist vom Äquinoktium die Rede. Einer Waffe, die die mächtigsten Kräfte des Kontinents vereint. Gerüchten zufolge soll es im Wasserreich einen Tempel geben, der das Geheimnis dieser Waffe birgt. Ich will, dass du aufbrichst und ihn ausfindig machst.“

„Eure Majestät“, interveniert Yaris. „Kayleigh allein ins Wasserreich zu schicken…“

Er unterbricht sich. Es kommt selten vor, dass Yaris die Etikette missachtet. Ich bin offensichtlich unfähig zu lernen, wie man sich Autoritätspersonen gegenüber verhalten sollte. Yaris hingegen… Wenn er so besorgt ist, sollte ich mir dann auch Sorgen machen?

„Ich bin die Einzige, die fließend Mizugo, die Zunge des Wasserreiches, spricht“, erkläre ich lauter als nötig, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. „Es wird mir eine Ehre sein in Eurem Namen nach dieser Waffe zu suchen.“

Meine Füße gehen den Weg zum Bücherturm wie von selbst. Doch als ich schließlich wieder vor einer Holztüre stehe, zögere ich. Diesmal ist es nicht der König, der mich innehalten lässt. Diesmal ist es Lugh.

Eigentlich will ich ihm nicht sagen müssen, dass ich schon wieder abreise. Seine wachen, blauen Augen strafen mich jedes Mal mit dem traurigsten Blick, den man sich nur ausmalen kann. Aber es muss sein. Und sich davor zu drücken, wird nichts daran ändern, also trete ich ein.

Sofort empfängt mich der heimelige Geruch von altem Papier. Bunte Buchrücken winden sich hier im Bücherturm in einer Spirale bis unter den Himmel. Ein Mosaik aus heldenhaften Geschichten, veralteter Fachliteratur und fremden Welten.

Ich liebe diesen Ort.

„Ach du bist es, c’hoaz.“

C’hoaz. Schwester.

Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.

Lughs blonder Schopf lugt über das Geländer der zweiten Ebene. Um ihn herum liegen so viele offene Bücher verteilt, dass man meinen könnte, eines der Regale sei umgestürzt. Wie immer kann er sich nicht entscheiden und studiert sie alle gleichzeitig.

„Keine besonders nette Art, seine Schwester zu begrüßen.“

„Wenn du um diese Uhrzeit hier bist, hast du doch immer nur schlechte Nachrichten.“

Erwischt.

Er ist so verdammt schlau. Manchmal vergesse ich, dass er mich binnen Sekunden durchschaut, als hätte er eine Formel, mit der er meine Gedanken ausliest.

Ich steige die erste Leiter empor und umrunde die Galerie. Dabei fahre ich mit dem Zeigefinger über die verstaubten Einfassungen und hinterlasse eine Spur. Außer Lugh und mir ist selten jemand hier. Sein Unterricht findet in den Gemächern der Zwillinge statt. Die Gelehrten nutzen die neue Bibliothek im Ostflügel, wo es die modernen Karten und aktuelle Fachliteratur zu finden gibt. Dieser Ort hingegen gehört nur Lugh und mir. Er ist unser Refugium.

Ich nehme die nächste Leiter und komme schließlich vor ihm zum Stehen. Im Gegensatz zu mir steckt er seine Stupsnase nicht in kitschige Abenteuerromane über große Heldinnen, sondern in astronomische Zeichnungen und Ausführungen über die Axiome der Physik.

Als ich mich im Schneidersitz neben ihn setze, hüllt uns eine feine Staubwolke in ihren Dunst. Staubpartikel tanzen ihren fröhlichen Walzer im Licht der Mittagssonne, deren Licht durch die Glaskuppel aus Buntglas an der Decke fällt. Rote und blaue und grüne Sprenkel zeichnen ein farbenfrohes Muster auf die Dielen unter meinen Füßen. Ich spiele mit den Seiten eines schweren Wälzers, dessen dickes Pergament mit seitenlangen Formeln gefüllt ist. Wenn ich könnte, würde ich den Rest meines Lebens hier verbringen und mit Lugh jedes einzelne dieser Bücher verschlingen. Doch leider bin ich zu gut in dem, was ich tue.

„Du siehst traurig aus“, stellt Lugh fest, ohne von seinem Text aufzusehen.

„Ich muss morgen zu einem neuen Auftrag aufbrechen.“

Sein Kopf ruckt abrupt nach oben. Jetzt sieht er mich doch an. Mit diesen riesigen, blauen Augen, die voller Enttäuschung überquellen. In meinem Magen setzt sich ein Stein fest, der mit jeder Sekunde wächst.

„Du bist gerade erst wiedergekommen“, tadelt er.

„Ich weiß.“

„Wieso schicken sie dich schon wieder weg?“

„Weil ich die Einzige bin, die diesen Auftrag erledigen kann.“

„Was kannst du, was sie nicht können?“

Er verschränkt die Arme abwehrend vor der Brust. Ich zwicke ihn in die Seite. Auch wenn unsere Kindheit in Armut viele Jahre zurückliegt, bin ich auch heute froh, dass ich Fleisch und Blut zwischen meinen Fingern spüre und nicht seine Rippen.

„Was soll das denn heißen? Ich kann Vieles, was die anderen nicht können.“

„Zum Beispiel?“

Er sieht mich von unten heraus an, die linke Augenbraue leicht gewölbt, so wie ich es manchmal mache. In diesem Moment ist er ein kleiner Erwachsener. Aber selbst die größten Erwachsenen zucken zusammen, wenn ich ihnen erzähle, wie kinderleicht mir das Töten fällt. Ich kann ihm nicht sagen, dass sie mich wählen, weil ich zäher und tödlicher als alle anderen, aber zu sonst nichts zu gebrauchen bin.

„Zum Beeeeispiel spreche ich Mizugo“, antworte ich gedehnt.

Theoretisch ist es keine Lüge. Die anderen Spione des Königs sind längst nicht so sprachgewandt wie ich, um auf solche Erkundungsmissionen zu gehen.

„Die Sprache des Wasserreichs“, stellt er nachdenklich fest und nickt erstmals in etwas, das mit viel Phantasie an Zustimmung grenzt. „Was hast du dort zu erledigen?“

Lugh steckt immer voller Fragen. Auf eine Antwort kommen ihm tausend neue in den Sinn. Ich seufze leise und lasse mich rücklings in den Staub fallen.

„Der König will, dass ich etwas für ihn finde.“

„Und was?“

Noch eine Frage. Natürlich.

Eine Waffe, antworte ich in Gedanken. Zu ihm sage ich: „Etwas, dass er Äquinoktium genannt hat.“

„Was soll das sein?“

„Genug jetzt mit dem Kreuzverhör“, scherze ich, aber es geht mir nicht so locker über die Zunge, wie beabsichtigt. Wenn er weiter bohrt, verrate ich ihm doch noch, was mich wirklich ins Wasserreich zieht.

„Eine letzte Frage noch.“

Ich winke mit der Hand.

„Na los.“

„Wird es gefährlich?“

Als ich mich aufrichte, ist Lughs Gesicht wieder auf die Buchseiten geheftet. So als könnten sie vertuschen, was meinen kleinen Bruder quält. Ich packe ihn, ziehe ihn auf meinen Schoß und vergrabe mein Gesicht in der weichen Haut seiner Halsbeuge. Auch wenn wir schon so viele Jahre hier sind, riecht er immer noch wie ein frischer Herbstwind, wie Heimat.

„Du kannst es mir sagen. Ich bin kein kleiner Junge mehr, Kayleigh.“

Bist du doch.

Meine Lippen bleiben versiegelt. Stattdessen wuschele ich ihm durch das unbändige, goldblonde Haar. Das Haar unserer Mutter. Dabei kommt eine einzige weiße Strähne hinter seinem linken Ohr zum Vorschein. Wir haben sie unsere Glückssträhne getauft. Ich küsse sie. Auch wenn ich nicht an so etwas wie Glück glaube, glaube ich an Lugh.

Wie immer kommt der Morgen meiner Abreise schneller als mir lieb ist. Als mir Estia meine dicken Locken zu zwei Strängen flicht und sie an meinem Hinterkopf zu einem Knoten eindreht, strahlt die Sonne hinter den hohen Fenstern wie immer unerbittlich. Im richtigen Winkel zaubern ihre Strahlen dunkelblonde Strähnen in mein haselnussbraunes Haar. Nach dem gestrigen Vorfall gibt es nicht mehr genug Vorhänge, die sie fernhalten könnten. Ein weiterer perfekter Tag im Sonnenreich. Ich seufze leise.

„Du solltest einen Hut tragen.“

„Danke Estia, aber das ist wirklich nicht nötig.“

„Sicher?“

„Ganz sicher.“

Ich lächele ihr im Spiegel aufrichtig zu. Sie erwidert das Lächeln mit ihren vollen Lippen und nickt.

Estia war eine der ersten Personen, die ich im Sonnenpalast kennengelernt habe. Sie ist warm, fürsorglich, herzlich und manchmal ein bisschen schroff, so wie man es den Menschen im Sonnenreich nachsagt. Dabei kommt sie gar nicht von hier, genau wie ich. Es sind die dicken schwarzen Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern fallen, die sie als Zuwanderin zu erkennen geben.

Und obwohl ich alles andere bin als eine Lady, behandelt sie mich immer noch so. Sie sorgt sich um meine Haare und darum, dass meine Haut nicht zu viel Sonne abbekommt. Dabei werde ich in den nächsten Tagen im Dreck schlafen und mit meinen Händen essen wie eine Wilde. Auch ein Hut kann meine wahre Natur nicht verbergen.

Ungefragt bringt sie mir einen weit ausgestellten Hut, der wahrlich toll zu der neusten Sommermode aussehen würde, die die anderen Frauen im Schloss gerade zur Schau stellen – aber eben nicht zu der Kombination aus Leinentunika und Lederhose die ich trage.

Unter dem leichten Stoff der Tunika hält ein Lederkorsett verstärkt mit Eisenstäben alles an Ort und Stelle. Das robuste Material mindert Hiebe und Tritte ab. Die Verstärkung aus Metall soll meine lebenserhaltenden Organe vor tödlich platzierten Stichwunden oder Bissen schützen. Nicht zuletzt schnürt das enge Korsett meine Brüste so sehr ab, dass meine Brust mehr flach als prall wirkt. Junge Männer haben andere Sorgen in den sechs Reichen als junge Frauen. Sorgen mit denen ich besser umgehen kann, als mit den Gedanken an Vergewaltigung. Nichts an meinem Auftreten ist modisch. Alles daran ist praktisch, robust, effektiv.

Wir mustern gleichzeitig meine Garderobe. Als wir den Kopf heben und sich unsere Blicke treffen, müssen wir beide lachen.

„Im Wasserreich ist es um diese Jahreszeit nicht so sonnig wie hier. Ich werde ohnehin eine Kapuze tragen müssen, damit ich nicht als Frau erkannt werde.

Eigentlich wollte ich sie nur beruhigen. Stattdessen huscht ein dunkler Schatten über ihr Gesicht. Ich kenne ihn von den Menschen, die mir lieb sind. Yaris und Kirian und Lugh setzen die gleiche Miene auf, wenn ihnen bewusst wird, dass ich mit jedem weiteren Auftrag mein Leben aufs Spiel setze. Ich weiß ihre Fürsorge zu schätzen und bin froh, Freunde zu haben, die sich um mich sorgen. Gleichzeitig schmerzt ihr mangelndes Vertrauen in meine Fähigkeiten.

„Ich werde zurückkehren“, schiebe ich halbherzig hinterher, doch Estias Lächeln kehrt nicht zurück.

Ich verabschiede mich zuerst von Lugh und dann von Yaris. Er ist wortkarg an diesem Morgen. Vielleicht hat er mir die Sache mit Kirian noch immer nicht verziehen. Trotzdem stattet er mich mit einem Kurzschwert und einem langen Dolch aus, den er ungefragt in meinem Stiefel versenkt.

„Es ist immer gut etwas in der Hinterhand zu haben“, erklärt er. „Aber bring’ ihn mir bloß wieder. Der Händler hat ihn mir vollkommen überteuert verkauft.“

Ich schiele skeptisch zu der Beule in meinem Stiefel. Der Dolch hat eine rötliche Färbung. Die Klinge ist von goldbraunen Adern durchzogen, als sei er aus der Sonne selbst geschmiedet. Auf dem Griffstück steigen fröhliche Delfine aus goldenen Wellen empor. Ein hübsches Teil, aber ich fürchte, dass er ansonsten wenig taugt.

Mit Sicherheit warst du nur wieder betrunken und hast dich bequatschen lassen.

Zusätzlich zu Yaris’ Waffen baumelt Bos Dolch an meiner Hüfte. Ich berühre ihn rückversichernd.

Es liegt nicht in deiner Natur zu versagen.

„Kayleigh.“

Yaris’ rauchige Stimme holt mich aus meinen Gedanken. Plötzlich zieht er mich an sich. Seine massigen Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und drücken mich an seine Brust. Es ist nur ein einziger Satz, geflüstert mit Hast und Vorsicht.

„Kirian wartet vor den Toren im Olivenhain.“

Dann lässt er mich abrupt los.

„Pass auf dich auf, Eichhörnchen.“

Ich weiß nicht, ob er sich auf meine Reise oder auf den Prinzen bezieht.

Der Olivenhain erstreckt sich von den Pallastmauern bis hinunter in die Stadt. Alte, erhabene Olivenbäume trotzen dem azurblauen Himmel. Auch wenn alles andere unter der ständigen Sonne verbrennt, halten ihr die Olivenbäume stand. Die reifen Früchte hängen das ganze Jahr über an den knorrigen Ästen, bereit geerntet und verspeist zu werden. Ich reiße eine ab und betrachte sie in meiner Hand. Die Einheimischen legen sie in Öl und Kräutern ein, tischen sie mit Schafskäse und Fladenbrot auf. Auch im Palast werden sie häufig serviert.

Ich hasse Oliven.

Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht von hier komme oder daran, dass sie schmecken wie eingeschlafene Füße. Mir wird regelrecht schlecht davon. Trotzdem bringt mir Estia jeden Abend eine Schale ans Bett und behauptet, sie seien gut für die Gesundheit. Ich lasse die ovale Frucht fallen und zertrete sie mit der Schuhspitze.

Sie meint es gut, aber was so schmeckt, kann nicht gesund sein.

Ich folge einem schmalen Pfad, der mich tief in den Hain führt, bis um mich herum weder die Stadtmauer, noch die azurblauen Kuppeldächer von Illios erkennbar sind. Die Luft flimmert. Die Erde ist staubtrocken, bekommt sie doch niemals Ruhe vor ihrer Peinigerin. Die Hitze der Vormittagssonne bohrt sich durch meine Kleider. Unter dem dicken Mantel und der Lederkluft schwitze ich bereits. Sie kleben an mir wie eine zweite Haut.

Kirians Hand kommt wie aus dem Nichts. Sie packt mein Handgelenk und zieht mich in den Schatten eines dicken Stammes. Sein symmetrisches Gesicht ist perfekt wie immer. Die Olivenzweige wiegen sich im Wind und zeichnen asymmetrische Sonnenflecken auf seine bronzene Haut, die fröhlich über seine Züge wandern.

„Wie schaffst du es nur immer dich so an mich heranzu…“

Bevor ich den Satz beenden kann, versiegelt er meine Lippen mit seinen. Er packt den Stoff meines Mantels, zieht mich noch dichter an sich. Mir wird heiß, aber es ist nicht die Art Hitze, die vom Himmel auf mich herab scheint. Es ist die Art versengende, lodernde Hitze, die von meinen Wangen in meine Brust und von dort nach unten wandert. Seine Zunge streift zärtlich über meine Unterlippe. Sie bittet um Einlass, den ich ihr gewähre.

Doch ich spüre, dass heute etwas anders ist. In diesem Kuss steckt so viel mehr als seine Zuneigung. Ich kann seine Sorge förmlich schmecken. Also drücke ich ihn sanft von mir. Als ich seinen Blick suche, weicht er mir aus.

„Kirian“, hauche ich.

Ich erlaube mir sein Kinn sanft zwischen meine Finger zu nehmen und es zu mir zu drehen. Was ich zu sehen bekomme, raubt mir fast den Atem. In seinen violettblauen Augen wütet ein Sturm, den ich bis eben nicht bemerkt habe. Wie konnte es mir entgehen?

„Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“

„Was soll das heißen?“

Er packt mich erneut an den Oberarmen, diesmal ist seine Berührung gröber. Seine Finger bohren sich in den dicken Stoff meines Umhangs, bis das Weiß seiner Knöchel hervortritt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn zuletzt so angespannt gesehen habe.

Sonst ist Kirian die Ruhe selbst. Manchmal erinnert er mich an die Wolken im endlosen Himmel, die sich vom Wind treiben lassen. Er verliert selten die Fassung und ist dafür schnell gelangweilt. Was bewegt ihn ausgerechnet heute dazu? Er reckt seinen Kopf der Sonne entgegen. Erst da fallen mir die dunklen Ringe unter seinen Augen auf.

„Kirian“, wiederhole ich eindringlich. „Was willst du mir damit sagen? Warum wolltest du mich sehen?“

Sein Ausdruck wird weicher. Sein Griff lockert sich. Er fährt mit seinem Daumen die Konturen meines Kiefers nach.

„Ich war gestern Abend im Tempel“, flüstert er und streicht mir beiläufig eine Locke aus dem Gesicht. „Die Priesterin sagte mir, ich solle gut auf meine Liebe achtgeben, sonst würden sie mir dunkle Mächte entreißen.“

„Ich fürchte mich nicht vor dunklen Mächten. Die dunklen Mächte sollten sich eher vor mir fürchten.“

„Du hast recht und trotzdem…“

Ein zartes Lächeln zeichnet sich auf Kirians vollen Lippen ab. Er schenkt mir einen weiteren Kuss, der so sanft ist, dass ich mich darin verlieren könnte.

„Trotzdem wäre es mir lieber, du könntest hierbleiben, wo ich dich beschützen kann.“

Du kannst mich nicht vor dem Pakt mit deinem Vater beschützen, denke ich.

Es dauert zehn Tage und Nächte, die Grenze zum Wasserreich zu Fuß zu erreichen. Es ist die sicherste Reisemethode, zumindest, wenn man nicht auffallen will, so wie ich. Unterwegs verschwimmen die Tageszeiten in Ermangelung einer Uhr. Wann immer ich müde bin, suche ich mir ein gemütliches Plätzchen unter dem ewigen Himmel. In den dauerwarmen Gefilden des Sonnenreichs brauche ich keine Angst vor Gestalten in der Dunkelheit zu haben. Wo die Sonne immer scheint, gibt es keine Finsternis.

Am elften Tag erreiche ich den Fluss Nichibotsu, der die Grenze zum Wasserreich markiert. Dahinter erstrecken sich weite Wälder aus Blutahorn und Bambus, unzählige, reißende Flüsse und im Osten endlose, weiße Sandstrände an den ewigen Küsten, denen das östlichste der sechs Reiche seinen Namen zu verdanken hat.

Eine zinnoberrot lackierte Brücke trotzt der reißenden Strömung vor mir. An ihrem Ein- und Ausgang markiert je ein Torii die Grenzen der Reiche. Die eigentliche Brücke dazwischen ist – rein politisch gesehen – Niemandsland.

Im Vergleich zu vielen anderen, ist dieser Grenzübergang nicht bewacht. Durch den Fluss ist das Grenzgebiet für Angriffe strategisch uninteressant. Der dichte Wald auf beiden Seiten des Wassers ist für ungeübte Wanderer tückisch. Händler und Geschäftsleute bevorzugen die besser ausgebauten Handelsrouten im Westen mit den breiten, sicheren Straßen. So ist dieser Ort in Vergessenheit geraten. Einer der Gründe, warum ich diesen Grenzposten gewählt habe.

Ich habe die Brücke zur Hälfte überquert, als ein verräterisches Glitzern im Wasser meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Meine Augen folgen der blutroten Spur, die sich mit den Wellen vermischt, bis hin zu den entflammten Baumkronen und darüber hinaus. Mein Atem stockt.

Zum ersten Mal seit drei Jahren sehe ich einen Sonnenuntergang. Dieser monströse Himmelskörper, der tagein tagaus gleißend über unseren Köpfen thront, schiebt sich wie selbstverständlich über die Grenzen des Horizonts und verglüht dabei in den strahlensten Rot- und Orange-Tönen. Für wenige kostbare Minuten steht die ganze Welt in Flammen. Und dann ist es endlich dunkel.

Mit den ersten Sternen am Himmel fällt eine unsichtbare Last von meinen Schultern. Als hätte ich in den letzten Jahren nie richtig geschlafen, nie richtig geatmet. Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass es immer hell ist. Umso beruhigender ist es, als sich über mir der schönste und weiteste Sternenhimmel aufspannt, den ich mir nur hätte ausmalen können. Für diesen winzigen Augenblick halte ich inne und nehme alles in mich auf. Die kühle Luft, die vom Fluss her weht, den schwarzen Himmel, der mit abertausenden silberweiß-strahlenden Sternen gesprenkelt ist und die Ruhe, die mit der Nacht über das Land einkehrt. Dann setze ich meine Reise fort.

Je tiefer ich ins Wasserreich eindringe, desto kälter wird es. Während es im Sonnenreich weder Tages- noch Jahreszeiten gibt, halten sich die Länder im Elementengürtel – das Feuer-, Wind-, Erd- und das Wasserreich – an andere Naturgesetze. Die Sonne wird in regelmäßigen Zyklen von den Monden abgewechselt. Die Jahreszeiten bringen Hitze und Kälte über das Land. Einen Herbst wie diesen habe ich zuletzt im Erdreich erlebt.

Ich folge einem schmalen Pfad tiefer in den Wald. Bald sind die Baumkronen so dicht, dass vom Sternenhimmel nicht mehr viel zu sehen ist. Obwohl es stockdunkel ist, ist der Wald voller Farben – leuchtend rot, senfgelb, orange und die letzten Reste eines sommerlichen Grüns – und voller Leben. Das Rascheln im Unterholz und die Rufe der Vögel, die irgendwo im Dickicht verharren, sind rückversichernd. Solange sie da sind, muss ich mir keine Sorgen machen.

Mit der Zeit habe ich gelernt, auf die kleinen Dinge zu achten. Es reicht eben nicht nur zu wissen, welche Kreaturen in diesen Wäldern hausen. Wölfe und Bären sind geschickte Jäger, nicht zu sprechen von den mystischen Gestalten, von denen niemand ernsthaft spricht. Die Mythen über menschenfressende Hexen, über Gnome und Feen und Zwerge, kennt jedes Kind. Und doch wissen die wenigsten, dass die Geschichten in Wäldern wie diesen zur Realität werden können. Ich musste die Anzeichen für ihre Anwesenheit auf die harte Tour lernen. Jetzt weiß ich, sie zu interpretieren.

Der Wald verstummt im Angesicht der scheußlichsten Jäger.

Kaum habe ich den Gedanken zu Ende geführt, ist es um mich herum still geworden. Die einzigen Geräusche, die zurückgeblieben sind, sind mein gleichmäßiger Atem und das dumpfe Klopfen meiner Stiefel auf dem staubigen Untergrund. Kein Rascheln, kein Knacken, nicht einmal das entfernte Zwitschern eines Vogels in der kalten Nachtluft.

Hier ist jemand. Oder etwas.

„Ich habe nach dir gesucht. Hast du dich verlaufen, Fräulein?“

Ich wende mich der krächzenden Stimme in meinem Rücken zu. Die alte Frau, zu der sie gehört, mustert mich fragend.

Wie konnte sie sich so an mich heranschleichen?

Meine Alarmglocken schlagen an. Auch wenn ihr krummer Körper zerbrechlich wirkt, bin ich mir sicher, dass der Buckel und die durchscheinende Pergamenthaut nur Fassade sind. Die Bewohner dieses Waldes wissen besser als jeder andere, wen sie zu fürchten haben. Und diese hier gehört sicher zu den fürchtenswerten Kreaturen.

„Das kommt darauf an“, antworte ich ruhig.

„Worauf?“

„Ob du Informationen hast.“

Ein einziger, spitzer Eckzahn blitzt zwischen ihren verschrumpelten Lippen auf.

Sie haben viele Namen. In meiner Heimat heißen sie Cailleach. Hexenartige Riesinnen, die mit ihrer Zauberkraft das Wetter beeinflussen sollen. Im Sonnenreich rufen sie sie Hekate, wie die Göttin der Magie. Und hier im Wasserreich nennt man sie Yamamba – Berghexen.

Ihr Mund reißt zu beiden Seiten auf ­und bildet einen lippenlosen Schlitz, der ihr schrumpeliges Gesicht zweiteilt. Das jetzt überproportional große Maul klappt auf und entblößt eine Reihe schiefer, gelber Zähne, die so spitz sind wie der Dolch an meiner Hüfte. Mit diesem Gebiss könnte sie mir zweifellos das Fleisch von den Knochen reißen.

Ein zischendes Geräusch kriecht aus ihrer Kehle und wird von einem widerlichen Atem begleitet, der an Fäulnis und verrottetes Fleisch erinnert. Mit ihren scharfen Fingernägeln und dem knochigen, schiefen Körper stellt sie eine schaurige, wenn nicht sogar tödliche Gefahr dar.

Zu meiner eigenen Zufriedenheit stelle ich fest, dass ich trotzdem keine Angst habe. Mein Herz pocht in einem erwartungsvollen Rhythmus. Meine Hand ruht auf der ledernen Scheide, die meinen Dolch umgibt. Solange sie nicht angreift, werde ich es auch nicht tun.

„Ich hätte da eine Frage“, höre ich mich sagen.

Sie legt den Kopf schief. Ihre gelben Katzenaugen betrachten mich mit unverhohlenem Interesse, doch es ist nicht das Interesse an einer Person, sondern an der Beute, die sie gleich fressen wird.

„Eine Frage?“, wiederholt sie mit der Stimme eines alten Mannes.

„Ich suche nach einer Waffe.“

„Eine Waffe.“

Jetzt ist es die Stimme eines Kindes, die mir antwortet. Man sagt sich, die Yamamba kenne alle Stimmen der Opfer, die sie einmal verschlungen hat. Bei dem Gedanken zieht sich eine Gänsehaut über meine Unterarme und doch kann ich sie nicht als Monster verurteilen. Wo läge der Unterschied zwischen ihr und mir?

„Man nennt sie das Äquinoktium“, fahre ich fort. „Hier soll es einen Tempel geben, der Informationen beherbergt.“

War das gerade eben ein Blitzen in ihren wachen Augen? Sie lebt vermutlich länger in diesen Wäldern, als ein Mensch es jemals könnte. Wenn es hier Hinweise auf diese mysteriöse Waffe geben sollte, dann ist sie wohl meine beste Chance auf Informationen.

„Du weißt wo er ist“, mutmaße ich.

„Ich weiß so vieles.“

Diesmal imitiert sie meine Stimme. Eine weitere Vorwarnung gibt es nicht.

Ihr Oberkörper schießt geräuschlos auf mich zu, ohne dass sich ihr Unterleib von der Stelle rührt. Ihr riesiges Maul schnappt nur wenige Millimeter vor meiner Nasenspitze zu, sodass ich den Windhauch ihres verrotteten Mauls spüre. Sie ist schnell, ihre Angriffe präzise. Statt auf meine Brust zu zielen, um mich tödlich zu verletzen, greift sie mit ihren hässlichen Klauen nach meinen Beinen.

Wenn ich bewegungsunfähig bin, bin ich ihr ausgeliefert.

Ich weiche ihr geschickt aus und nutze den Wald zu meinem Vorteil. Auf eine Finte folgt eine weitere, doch ich verfalle nicht in ihren Rhythmus, sondern zwinge ihr meinen eigenen auf. Als ihr linker Arm peitschenartig auf mich zu schnellt, wirbele ich nach rechts. Meine Brust stößt gegen etwas Hartes – ein Baumstamm.

Chaous!

Im letzten Moment entkomme ich ihren Krallen, indem ich mich unter ihrem Arm hinweg ducke und ins Dickicht hechte.

Das war knapp.

Die Herbstnacht ist kühl, doch bereits jetzt rinnt mir der Schweiß von der Stirn. Er ist in solchen Kämpfen ein lästiger Begleiter. Ich wische ihn ungeduldig mit dem Ärmel weg, während ich mich tiefer ins Unterholz schlage.

Schließlich kauere ich mich hinter einen Busch. Ich brauche eine kurze Verschnaufpause, um mich zu sammeln. Im Gegensatz zu meinen menschlichen Gegnern ist diese hier nicht nur intelligent und kampferprobt, sondern besitzt auch einen übernatürlichen Geruchssinn. Egal wo ich mich verstecke, sie wird mich verfolgen und finden. Aber weglaufen war ohnehin nie eine Option. Ich bin mir sicher, dass sie etwas über die Waffe weiß. Meine oberste Priorität sollte es sein, ihr diese Informationen zu entlocken. Ich brauche einen Plan. Und zwar schnell.

Denk’ nach.

Eine Hexe wie diese gehorcht nicht den Naturgesetzen, denen wir Menschen verdammt sind zu folgen. Sie stirbt nicht, wenn ich ihr den Kopf abschlage. Zumindest nicht sofort. Doch wenn ich mich recht erinnere, reagiert sie empfindlich auf Tageslicht.

Ihr Blutdurst macht sie nicht nur angriffslustig, sondern auch übermütig. Das könnte die Art von Schwachstelle sein, die ich brauche, um sie zu stellen. Wenn ich sie nur für eine Weile festsetzen kann, wird das Morgengrauen den Rest übernehmen. Denn mit dem ersten Sonnenstrahl werden die Geschöpfe der Nacht träge, nahezu bewegungsunfähig.

„Ohhhh Kayleigh.“

Ich höre ihre krächzenden Rufe bis in mein Versteck. Sie säuselt meinen Namen mit fremden Stimmen, obwohl ich ihn ihr nie verraten habe. Sie sucht sich einen Weg in meinen Schädel. Denn werde ich erstmal schwach, bin ich leichte Beute.

Das ist es.

Ich muss sie an mich heranlassen. Nur ein kleines bisschen. Nur nah genug, dass ich sie erwische.

Ich springe auf. Neue Energie flutet meinen Körper im Angesicht meiner Entscheidung. Ich folge ihren Rufen mit Abstand. Mein Ziel ist es, mich nicht frontal, sondern von der Seite anzunähern.

Es ist wohl der mit Abstand banalste Trick aller Zeiten, doch manchmal braucht es nicht viel mehr. Ich trenne ein Stück Stoff von meiner Tunika und wickelte den Fetzen um einen Stein, den ich vom Boden klaube. Inzwischen bin ich ihr so nah, dass ich ihren Hals beobachten kann, der sich wie eine Schlange durch den Wald windet.

Ich hole aus. Der Stein verschwindet in der Dunkelheit und belohnt mich wenig später mit einem leisen Rascheln, das ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Meinen Geruch habe ich somit verteilt. Und tatsächlich dreht die Yamamba ihren Kopf ­– jedoch in die falsche Richtung. Ihre hässliche Fratze blickt mir nun geradewegs ins Gesicht.

„Da bist du ja.“

Ich gehe wohl besser zu Plan B über.

Als ihr gewaltiger Schädel auf mich zufliegt, stoße ich mich vom Boden ab und klammere mich an einen Ast über mir. Erst als ihr weicher Hals unter mir auftaucht, lasse ich mich fallen. Ich hefte mich an ihre klamme, schuppige Haut, die unter meinen Fingerkuppen ganz kalt ist. Bos Dolch gleitet wie von selbst aus der Scheide. Mit einem einzigen Ruck ramme ich ihn durch die gespannte Haut ihres gedehnten Halses und setze sie so am Boden fest. Ihr hässlicher Schädel schwebt körperlos vor mir. Die schmutzigen, fransigen Haare hängen ihr tief in die Stirn.

„Zu meiner Fra…“, das Wort bleibt mir im Hals stecken.

Ein breites Grinsen stielt sich auf das faltige Gesicht der Hexe. Noch bevor ich begreife, was es bedeutet, spitzt sie die spröden Lippen und pustet mir ins Gesicht. Statt ihres schalen Atems, der mir zuvor beinahe die Luft verschlagen hat, duftet ihr Hauch nach Wildblumen und aromatischen Kräutern.

Meine Augen werden groß. Ich reiße den Arm vor die Nase und versuche meine Schleimhäute durch den Stoff meines Mantels zu verdecken, doch es ist zu spät. Ich habe ihre Sporen bereits eingeatmet.

„Zu langsam“, gurrt die Yamamba voller Verzückung.

Ihre Stimme ist jetzt die einer jungen Frau: „Mein Gift wird dich lähmen, bis ich dich in aller Ruhe verspeisen kann.“

Wie aus dem Nichts erscheint ihr Unterleib. Er muss dem langen Oberkörper gefolgt sein. Mit einem einzigen, mühelosen Ruck zieht sie die Klinge wieder aus ihrem Hals, die sie eben noch an den Boden gefesselt hatte. Mein geliebter Dolch landet nutzlos im Dreck wie ein kaputtes Spielzeug, während die Hexe ihren Kopf einrenkt. Jeder einzelne Wirbel in ihrem langen Hals knackt nacheinander. Eine ganze Oktave von Knochen auf Knochen erfüllt die Stille.

Die Yamamba ist frei. Ich wurde vergiftet. Ab jetzt kämpfe ich nicht nur gegen sie, sondern auch gegen die Zeit.

Ticktack.

Diesmal bewegt sie sich so schnell, dass ich mit den bloßen Augen kaum folgen kann. Ihr Hals trifft meine Flanke wie eine Peitsche und ich wirbele durch die Luft, bis ich schmerzhaft von einem Baum in meinem Rücken gebremst werde. Mein Brustkorb knackt verräterisch, doch ich zögere keine Sekunde, als meine Füße wieder Boden unter den Füßen haben.

Sofort mache ich auf dem Absatz kehrt, sprinte, suche Schutz in den tiefen Schatten der Bäume, wo die Nacht lebt, wo es kein Licht gibt. Schmerz pulsiert durch mich hindurch. Ihr blumiges Gift kratzt in meiner Kehle. Schnell schlage ich die Hand vor meinen Mund, bevor mir ein Husten entweichen kann.

Denken. Ich muss denken.

Aber die Wirkung zeigt sich schneller als ich es für möglich gehalten hätte. Schon jetzt vernebelt sie mir den Kopf.

Denk’, denk’, denk’ Kayleigh.

Ich lehne mich gegen die Rinde der Eiche in meinem Rücken. Der Schatten des Baumes verschluckt mich fast gänzlich, doch von weit weg höre ich die Rufe der Yamamba. Sie schlängelt sich gemächlich durch den nächtlichen Wald. Sie hat keine Eile. Früher oder später wird sie mich finden, da sie sich nicht auf ihre Augen verlässt, sondern auf ihre Nase.

Ein nächtlicher Windhauch streicht wie ein sanfter Finger über meinen Wangenknochen und verfliegt dann mit einem Rascheln in den Baumkronen. Für einen Herzschlag erlaube ich es mir die Augen zu schließen, um zur Ruhe zu kommen.