ER - Christine Richter - E-Book

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Christine Richter

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Beschreibung

Wenn plötzlich eine Vogelscheuche in deinem Garten steht, renn um dein Leben, so schnell du kannst! Ein Serienkiller verbreitet Angst und Schrecken in einer finsteren, ländlichen Gegend. Eine gespenstische Vogelscheuche ist sein Markenzeichen. Der Mörder setzt seine Opfer einer massiven psychischen Folter aus, bevor sie auf grausame Art und Weise sterben. Der psychisch labile Kommissar Joe Malek, der die Todesfälle aufklären muss, steht vor der Herausforderung seines Lebens. Noch hat ER keine Ahnung, welch seelische Qualen auch ihn erwarten.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, März 2020

Autorin: Christine Richter

Cover/Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Titelbild Cover: Adobe Stock | Michaela Bock

Lektorat: Heike Funke

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-322-6

ISBN E-Book: 978-3-95716-303-5

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Christine Richter

ER

Im Schatten der Vogelscheuche

Dieses Buch widme ich Ferdinand Graf von Spreti – einem ganz besonderen Menschen

Wenn plötzlich eine Vogelscheuche in deinem Garten steht, fang zu laufen an. Renn um dein Leben, so schnell wie du kannst!

Folgende Geschichte beruht nicht auf wahre Begebenheiten. Sämtliche Personen, Namen, Orte und Handlungen sind frei erfunden.

„Los, los, ab ins Bettchen, du kleiner Racker. Husch, husch“, säuselte Lea liebevoll, die in gebückter Haltung in die Hände klatschte, als wolle sie eine Schar Gänse vor sich hertreiben.

Zwei nackte Beinchen flitzten durch das Kinderzimmer und verschwanden hurtig in den Daunen.

„Hat sich der kleine Mann auch schön die Zähne geputzt?“

Pascal zog langsam die Bettdecke vom Gesicht und zeigte ganz stolz die blendend weißen Milchzähnchen.

„Hast du gut gemacht, mein Schätzchen“, raunte seine Mami zärtlich und drückte ihm einen Schmatz auf die Stirn.

„Sag mal, wonach riechst du?“, fragte Lea, da ihr Sohn verdächtig nach Parfüm duftete. Mit einem verschmitzten Lächeln kam auch prompt die Antwort:

„Ich habe mit Papas Rasierwasser mein Gesicht eingerieben, damit der Bart besser wachsen kann“, sagte Pascal ganz stolz. Lea wusste, dass ihr fünfjähriger Sohn zurzeit sehr experimentierfreudig war, aber mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Nach der gelungenen Aussage musste Lea so herzhaft lachen, dass es ihr die Tränen aus den Augen trieb.

„Was hast du gemacht?“, fragte sie, immer noch laut lachend. „Hab’ ich dir doch schon gesagt“, meinte Pascal sichtlich genervt, da er überhaupt nicht verstand, warum seine Mutter so lachte.

„Glaubst du nicht, dass der strenge Duft zu viel für dein kleines Stupsnäschen ist und dir vielleicht übel wird?“

„Nein, Mami, da kann ich gut schlafen“, sagte Pascal überzeugt.

„Na, dann mach die Äuglein zu, es ist schon spät.“

Pascal schlang die Ärmchen um Leas Hals und strahlte sie mit seinen grünbraunen Augen zärtlich an.

„Bitte, bitte. Noch eine gaaaanz kurze Gute-Nacht-Geschichte, Mami“, bettelte er und sah Lea erwartungsvoll an.

„Na gut, aber dann wird geschlafen!“

„Versprochen, Mami“, sagte Pascal gähnend.

„Was soll ich dir denn vorlesen?“

Der Junge dachte nach, was man an den Stirnfalten des zarten Gesichtchens erkennen konnte.

„Hm, bitte noch eine Geschichte der Elfe Kiki. Die ist soooo schön frech. Weißt du, Mami, die möchte ich heiraten, wenn ich groß bin, weil sie keine Angst hat und sehr gescheit ist.“

„Pascal, du Dummerchen, Elfen kann man nicht heiraten, die gibt es nur im Märchen.“

„Nein, Mami, Kiki gibt es“, widersprach Pascal etwas pampig. „Wenn ich ganz fest an sie denke, wird sie schnell zu mir kommen. Sie hat immer gleich gemerkt, wenn Daniel an sie dachte, und zack, war Kiki da.“

„Also gut, dann fange ich an“, sagte Lea und griff nach dem Märchenbuch „Es war einmal in Irland“, das sich auf Pascals Bücherregal über dem roten Bettchen, das die Form eines Autos hatte, befand. Lea schlug das Buch auf, blätterte ein paar Seiten und las an der Stelle weiter, wo sie letztes Mal unterbrochen hatte, da Pascal eingeschlafen war.

„So, mein Schätzchen, jetzt gut aufgepasst.“

Seine Teddybärchen fest umklammert, hörte der gewiefte Bub mit leuchtenden Augen zu.

„Kiki war nach diesem Abenteuer etwas erschöpft. Sie verordnete sich selbst ein paar Tage Stubenarrest, damit sie Zeit hatte, sich zu erholen und ihr wohliges Heim wieder auf Vordermann zu bringen. Die Tage vergingen und der Frost hatte die Nächte in Beschlag genommen. Der Winter war ins Land gezogen. Eine weiße Schneedecke lag auf den Bäumen und Weiden. Tausende Kristalle funkelten in sämtlichen Farben, wie das Glitzern von Diamanten.“

Lea hörte gleichmäßiges Atmen. Leise schloss sie das Buch. Pascal war bereits eingeschlafen. Vorsichtig zog Lea die Bettdecke über die Schultern ihres Sohnes und betrachtete mit einer Wärme, die das Herz überflutete, sein hübsches Gesicht. Mit der rechten Hand streichelte sie noch ganz vorsichtig den braunen Haarschopf und schlich auf Zehenspitzen Richtung Ausgang des Kinderzimmers. Im Türrahmen blieb Lea stehen, drehte sich um und warf einen letzten Blick auf Pascal, der friedlich schlummerte. Sie löschte das Licht, schloss vorsichtig die Tür und verschwand, nachdem sie leise die Treppe hinuntergegangen war, im Wohnzimmer der großen, exklusiven Villa. Müde, da sie stundenlang im großen Garten gearbeitet hatte, versank Lea auf der bequemen Elementgruppe, die mittig im Raum stand. Auf dem schwarzen Marmortisch stand eine Flasche Merlot, den sie vorsichtig in ein daneben stehendes Weinglas goss. Nachdem sie genüsslich einen Schluck daraus getrunken hatte, wanderten ihre grünen Augen, die dezent mit Kajal und Mascara geschminkt waren, durch das im Kolonialstil eingerichtete Wohnzimmer. Rechts, neben der Couch auf einem Highboard, stand ein goldgerahmtes Bild, mit Ehemann Alexander und Sohn Pascal, das sie nachdenklich betrachtete. Während sie ihren Gedanken nachhing, kam sie zur Einsicht, dass sie eigentlich ein angenehmes Leben hätte, wenn Alexander mehr Zeit für die Familie aufbringen könnte, was bei dem Beruf schier unmöglich war. Nach einer Weile löste sie die verschränkten Arme und griff nach der Fernbedienung für das Fernsehgerät, die ebenfalls auf dem Tisch lag. Lea räusperte sich kurz, da sie ein leichtes Kratzen im Hals hatte, und drückte mit ausgestrecktem Arm die An-Taste. Bei den Tagesnachrichten blieb sie nach einiger Suche hängen. Lea nippte ein weiteres Mal an dem Drink, stellte das Glas zurück auf den Tisch und streckte sich auf dem großen Sofa gemütlich aus. Da die Heizung des Fliesenbodens heute irgendwie nicht sonderlich funktionierte und Lea schon wieder sehr kalte Füße hatte, zog die vierzigjährige, attraktive, schlanke, langhaarige Blondine ihre Wollsocken an, die immer griffbereit unter einem der sechs Sofakissen deponiert waren. Die Dämmerung war bereits der nächtlichen Dunkelheit gewichen. Lea knipste die Stehlampe, die links am Kopfende der Couch stand, an und löschte die große Beleuchtung per Klick an einer dafür vorgesehenen Fernbedienung, die ebenfalls auf dem Tisch lag. Aus der linken Ecke schlug die antike Standuhr zehnmal. Lea schüttelte den Kopf und blickte enttäuscht auf das Zifferblatt.

„Wo bleibt er denn? Wenn ich mich recht entsinne, wollte Alexander heute ausnahmsweise früher nach Hause kommen. Jeden Tag das gleiche Prozedere“, schimpfte sie enttäuscht und griff nach dem Glas, aus dem sie einen großzügigen Schluck nahm. Langsam, aber steigend, verwandelte sich die Enttäuschung in Wut. Lea langte frustriet nach dem Getränk und kippte den Rest in die Kehle. Sie füllte das Glas erneut. Dieses Mal voll!

„An unserem Hochzeitstag hätte er sich ausnahmsweise ein wenig Zeit für mich nehmen können. Arbeit hin, Arbeit her. Was habe ich von dem ganzen Luxus, wenn ich ständig allein bin?“

Ihr Blick fiel auf die gekippte Terrassentür. Lea erhob sich mühsam, da sie hundemüde war, und trottete langsam mit nachdenklicher Miene auf sie zu. Sie hatte bereits die Hände am Griff, um die Tür zu schließen, als sie erschrocken innehielt. Am Ende des großen, gepflegten Gartens, genau an der Hecke zur Straßenseite, sah sie ein winziges Licht, das langsam näher kam. Misstrauisch verfolgte Lea die Bewegung des Leuchtkörpers.

„Was, zum Teufel, ist das?“

Sie rannte zur Couch, wo ihre bequemen Clogs standen, schlüpfte schnell hinein, spurtete die lange Diele entlang und schnappte sich die Taschenlampe aus der Kommode. Ein flüchtiger Blick in den Garderobenspiegel zeigte Lea hektische, rote Flecken in dem sonst so ebenmäßigen Gesicht. Da sie etwas abseits des Dorfes wohnten, in dem vor einiger Zeit abscheuliche Frauenmorde geschehen waren, hatte Lea berechtigte Bedenken. Hektisch holte sie aus dem Hochschrank einen Baseballschläger, der seit Jahren dort griffbereit stand. Normalerweise war Lea keine ängstliche Person. Es war sehr ungewöhnlich, dass sie so impulsiv reagierte. Ihr Atem ging schwer. Verstört huschte sie ins Wohnzimmer zurück, schaltete das Licht der Stehlampe aus und schlich mit zusammengepresstem Mund zur Terrassentür. Die gottverdammte Funzel befand sich definitiv immer noch auf einem Streifzug durch den mit Blumen und Sträuchern üppig angelegten Garten, in dem sich auch ein exklusiver Pool befand. Lea runzelte besorgt die Stirn. Es war mehr als eindeutig, dass hier jemand das Grundstück ausspähte. Um Gewissheit zu haben, öffnete sie vorsichtig die Terrassentür. Es herrschte eine bedrohliche Stille. Die Straße vor dem Haus wirkte wie ausgestorben. Angst stieg in ihrem Körper auf. Nachdem der Lichtkegel immer näher kam, schlich Lea mutig auf die Veranda. Die linke Hand zitterte enorm, als sie die Taschenlampe anknipste. Mit der rechten umschloss sie krampfhaft den Schläger, atmete noch einmal tief durch und machte sich mit bleiernen Füßen auf den Weg. Monoton ging sie auf die Lichtquelle zu. Schritt für Schritt.

„Wer ist da? Verlassen Sie sofort das Grundstück, sonst rufe ich die Polizei!“, rief sie.

Das Licht stand augenblicklich still.

„Ich bin bewaffnet“, schrie Lea wagemutig. „Falls Sie näher kommen, schlage ich Ihnen den Schädel ein!“

Der Lichtschein erlosch. Leas Puls stieg und stieg. Sie hatte fürchterliche Angst. Ein Rascheln, das wohl von der Hecke zur Straßenseite kam, beendete den Spuk. Nach einigen Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, war Ruhe. Gespenstische Ruhe.

„Verdammte Scheiße, was mache ich jetzt? Zurückgehen oder das Grundstück absuchen?“ Lea überlegte.

Noch einige Minuten stand sie wie angewurzelt im nachtfeuchten Rasen. Mit aufsteigender Gänsehaut schlich sie, ohne sich nochmals umzudrehen, zurück auf die Terrasse und verschwand blitzschnell im Wohnzimmer. Panisch schloss sie die offene Tür hinter sich, nachdem der Baseballschläger aus ihrer Hand rutschte und krachend auf dem Fliesenboden landete. Sofort aktivierte Lea per Knopfdruck die elektrischen Jalousien. Nach kurzem Surren war das dreihundert Quadratmeter große Haus verdunkelt. Im Licht der Taschenlampe fand sie den Lichtschalter, den sie zaghaft drückte. Die ausgeknipste Leuchte legte sie behutsam auf den Wohnzimmertisch. Stirnrunzelnd und mit beklommenem Gefühl ließ sie sich auf einen der zwei wuchtigen Ohrensessel, die neben dem Sideboard standen, fallen. Da Lea noch sehr aufgewühlt war, griff sie mit der rechten Hand, die immer noch erheblich zitterte, nach der Cognacflasche, die auch auf dem Tisch stand, und füllte sich das bereits benutzte Glas halb voll. Nachdenklich schüttete Lea einen großen Schluck in den ausgetrockneten Mund. Ihr frustrierter Blick glitt zum Handy, das auf dem Marmortisch lag. Mittlerweile war es fast Mitternacht und Alexander bis dato immer noch nicht zu Hause. Angesäuert sprang sie aus dem bequemen Sessel und griff nach dem Handy. Lea biss sich verlegen auf die Unterlippe. Sie war sich noch nicht ganz sicher, ob sie ihren Mann anrufen sollte oder nicht. Da Alexanders Rufnummer eingespeichert war, musste sie nur eine Taste drücken und die Verbindung war hergestellt. Lea drückte. Anscheinend war er immer noch in seiner kleinen, aber sehr angesehenen Klinik, in der er als Schönheitschirurg sehr viel Geld verdiente.

* * *

Alexander saß gerade über einer Patientenakte, als das Telefon pausenlos klingelte. Müde sah er auf die graue Wanduhr, die laut über dem Schreibtisch tickte. Voller Entsetzen stellte er fest, dass es schon sehr spät war. Mit schlechtem Gewissen griff er nach dem Hörer.

„Hallo, Schätzchen“, raunte er verdattert ins Telefon. Das Display zeigte ihm, dass seine Frau am anderen Ende der Leitung war.

„Bitte, sei mir nicht böse. Ich habe über der vielen Schreibarbeit total die Zeit vergessen.“

Lea fiel ihm zornig ins Wort:

„Deine Argumente sind mir scheißegal. Es war unser Hochzeitstag und selbst das ist dir nicht wichtig“, fauchte Lea zornig ins Telefon.

„Stundenlang habe ich umsonst auf dich gewartet. Du hast mich weder informiert, dass es wieder später wird, nein, du gehst auch ewig nicht ans Telefon!“

Ihre Stimme überschlug sich, als sie weiter ins Telefon brüllte:

„Was ist das für eine Ehe, wenn der Mann nur noch die Arbeit im Kopf hat. Dein Sohn hat dich seit Tagen nicht mehr gesehen. Die Unterhaltung zwischen uns beiden besteht nur noch aus guten Morgen und, wenn ich Glück habe, gute Nacht. Was meinst du, wie lange ich den Zustand noch ertragen werde?“

„Mein Schätzchen, so lass dir doch erklären“, versuchte Alexander den Wortschwall zu unterbrechen. Keine Chance!

Lea war in Fahrt und zeterte weiter wie ein Kesselflicker:

„Ich sitze in einem goldenen Käfig und das Leben bleibt auf der Strecke!“

Sie fing zu schluchzen an. Es wurde ihr sichtlich alles zu viel.

Nach einer Weile verstummte sie. Nur noch leises Schniefen war zu hören.

„Mäuschen, verzeih mir bitte. Nicht weinen, meine Schönheit. Ich verspreche dir, nein, ich schwöre es, ab heute jeden Tag bis spätestens zweiundzwanzig Uhr zu Hause zu sein. Ab nächsten Monat werde ich mir einen Tag pro Woche für euch beide freihalten.“

Lea, die sich mittlerweile die Tränen verkniff, schrie erneut ins Telefon:

„Lass die leeren Versprechungen, die du sowieso nicht einhältst! Wir sind dir doch nur ein Klotz am Bein.“

„Nein, mein Mäuschen, das stimmt doch nicht. Ich mach das alles nur für euch, damit ihr ein angenehmes Leben habt.“

Lea reichte es endgültig. Wütend schrie sie aufs Neue:

„Was soll die dämliche Aussage? Du bist inzwischen so reich, dass das viele Geld bis an unser Lebensende reichen würde, und du kriegst trotzdem den Hals nicht voll.

Dich kümmert es einen feuchten Dreck, wie es Pascal und mir geht. Heute Abend befand sich eine fremde Person auf unserem Grundstück. Was die Gestalt vorhatte, möchte ich gar nicht wissen. Du hast keine Ahnung, was für eine Angst ich ausgestanden habe.“

Da Lea eine Atempause einlegte, nutzte Alexander die Gelegenheit, um die Tirade seiner Frau zu unterbrechen.

„Was sagst du da?“, fragte er fassungslos und mit sehr schlechtem Gewissen. „Hast du nicht sofort die Polizei verständigt? Das ist Hausfriedensbruch“, kam es unbedacht aus seinem Mund.

Bevor Alexander weitersprechen konnte, legte die frustrierte Frau gnadenlos nach.

„Sonst geht es dir gut, oder? Was interessiert mich dein dämlicher Hausfriedensbruch? Pascal und ich könnten bereits tot im Haus liegen, bis du endlich nach Hause kommst.“

„Lea, Lea, so lass mich doch auch zu Wort kommen, verdammt noch mal!“

„Erspar mir die ewigen Ausreden! Dein unverantwortliches Handeln nimmt immer mehr Ausmaße an. Es reicht! Pascal und ich werden dich verlassen! Scher dich zum Teufel mit all deinem Reichtum. Ich will dich nicht mehr sehen. Der heutige Vorfall war zu viel des Guten. Bleib in der scheiß Klinik und

ersticke an deiner Geldgier!“

Es klickte in der Leitung. Lea hatte das Gespräch blitzschnell beendet.

Der achtundfünfzigjährige Professor Alexander Haubit sank erschüttert im Bürostuhl zusammen. Er legte das blasse Gesicht in die Hände und jammerte:

„Was habe ich nur getan? Warum ist mir nie aufgefallen, wie sehr meine Familie unter dem Job leidet? Was bin ich für ein Egoist.“

Völlig frustriert und angewidert von sich selbst erhob er sich, zog mit hängendem Kopf den weißen Kittel aus, fuhr den PC herunter, löschte das Licht und verließ ziemlich angeschlagen das Büro. Mit schweren Schritten schlurfte er den langen Gang der Klinik entlang, Richtung Ausgang.

* * *

Lea saß immer noch auf der Couch. Die angezogenen Beine umklammerte sie mit beiden Händen. Ihr Kopf lag bleiern auf den Knien. Der zierliche Körper bebte vor Aufregung. Traurig und mächtig angeschlagen hing sie ihren Gedanken nach. Noch nie in der zehnjährigen Beziehung war sie derart ausgerastet. Voller Wut griff Lea nach dem Handy, das sie nach dem Telefonat zornig auf den Tisch gedonnert hatte, und pfefferte es auf den Boden. Die schlichte Bodenvase neben der Wohnwand, die mit circa fünfzig langstieligen, roten Baccara-Rosen gefüllt war, stoppte die Rutschpartie des Handys. Lea ließ es achtlos liegen. Nach einem weiteren Schluck Cognac schien ihr Adrenalinschub abzusinken.

Mit nachdenklicher Miene hing sie erneut ihren Gedanken nach.

„Wie konnte die Auseinandersetzung nur so eskalieren?“

Lea schüttelte fassungslos den Kopf. Mit zittrigen Händen strich sie die blondierten Haare aus dem Gesicht.

„Verdammt noch mal, was ist nur los mit mir? Seit der Kindheit wollte ich einen reichen Mann. Ich habe wirklich alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Was ist nur in mich gefahren?“

Leas linkes Augenlied begann plötzlich zu zucken. Instinktiv rieb sie mit der Hand an der lästigen Stelle. Der unangenehme Wutausbruch warf sie völlig aus der Bahn. Sie saß immer noch wie angewurzelt auf der kuscheligen Elementgruppe und sinnierte weiter vor sich hin.

Ihre Kindheit war nicht gerade rosig. Das sehr strenge und ärmliche Elternhaus setzte ihr immer noch zu. Der Vater war ein Tyrann, mit ständigen Wutausbrüchen, die fast immer in brutaler Gewalt ausarteten. Die Mutter war eine Versagerin auf jeder Ebene. Sie tat immer das, was von ihr verlangt wurde. Die Frau hatte keinen eigenen Willen. Freundschaften wurden Lea generell verboten. Vermutlich, damit niemand merkte, was zu Hause abging. Die schulischen Leistungen waren natürlich alles andere als gut.

„Es ist ausreichend, wenn du lesen und schreiben kannst“, war die lapidare Meinung des Erzeugers. „Eine gute Hausfrau musst du werden, alles andere ist unwichtig“, bekam sie ständig zu hören.

Lea war schon immer eine Träumerin. Wenn sie nach der Zukunft gefragt wurde, kam stets die Antwort:

„Ich will reich werden!“

Die Vorstellung war fest in dem hübschen Köpfchen verankert. Als sie fünfzehn Jahre alt war, bekam Lea einen Job als Hausangestellte bei sehr betuchten Leuten. Dort musste sie putzen, waschen, kochen – und das von früh bis spät. Den mickrigen, schwer verdienten Lohn kassierte, wie konnte es auch anders sein, sofort nach Erhalt der strenge Vater. Zu Hause wurde weiter gestritten, gesoffen und geprügelt. Lea wusste schon als Kind, dass sie so nie leben wollte. Mit achtzehn Jahren konnte sie endlich das abscheuliche Elternhaus verlassen. Sie jobbte in Bars und angesehenen In-Clubs. Da Lea betörend schön war, hatte sie keinerlei Probleme bei gut situierten Männern. Das Leben war ein Auf und Ab. Erst im Alter von dreißig Jahren lernte sie Alexander Haubit in einem sehr vornehmen Nachtclub kennen. Alexander war fasziniert von Lea. Sie war an Schönheit und einer natürlichen Naivität nicht zu überbieten. Bereits nach vier Wochen zog sie in sein prachtvolles Anwesen. Für Lea war sofort klar, dass Alexander genau das verkörperte, was sie sich immer erträumt hatte. Er verwöhnte Lea mit schwindelerregend teuren Geschenken. Endlich durfte sie sich im sogenannten Jetset bewegen. Ihre Obsession wurde erfüllt, als Alexander bereits nach vier Monaten zur Hochzeit drängte. Lea war angekommen. Die Krönung der Beziehung war die Geburt von Pascal. Das Glück war perfekt.

Lea blickte auf das Zifferblatt der teuren Uhr, die das rechte Handgelenk zierte.

„Ich fasse es nicht. Mag sein, dass ich zu sehr ausgeteilt habe, aber deswegen in der Klinik zu bleiben, ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Großartig, wieder eine schlaflose Nacht“, sagte sie enttäuscht.

Räuspernd, da ihr Hals vom lauten Geplärre etwas gereizt war, erhob sie sich sichtlich angeschlagen von der Couch, löschte das Licht und durchquerte das Wohnzimmer. Mit leisen Schritten, um Pascal nicht zu wecken, stieg Lea mit hängendem Kopf die Marmortreppe hoch, wo sie im noblen Bad, das sich am Ende des sieben Meter langen Ganges befand, verschwand. Nachdem Lea ihren Overall und die schwarzen Spitzendessous abgestreift hatte, stieg sie in die große Duschkabine und machte die Brause an. Das lauwarme Wasser rieselte wohlig über ihren perfekten Körper. Wer ein Auge dafür hatte, konnte ihren von 75 B auf 75 C vergrößerten Silikonbusen sofort erkennen. Alexander hatte hier wirklich exzellente Arbeit geleistet. Auch ein schönes Stupsnäschen hatte er in Leas sonst makelloses Gesicht gezaubert. Sie war wirklich eine Augenweide. Nach der zehnminütigen Dusche wurde der Luxuskörper in ein kuscheliges, weißes Frotteehandtuch gewickelt. Vor dem Granitwaschtisch trocknete Lea mit einem Handtuch durch eifriges Rubbeln ihre lange, blonde Mähne föhnfertig. Ihr Blick fiel in den schönen Kristallspiegel, der den Waschtisch umrandete. Mit Sorgfalt betrachtete sie ein paar neue Fältchen.

„Was soll’s, ich bin vierzig.“

Hektisch klopfte sie mit der rechten Hand die Antifaltencreme akribisch in das ebenmäßige Gesicht. Anschließend föhnte sie die Haare trocken, nahm die abgelegte Kleidung aus der Badewanne und warf sie in die Wäschetruhe links neben dem Waschtisch. Bekleidet mit einem hellblauen Negligé und gleichfarbigen Pantoffeln verließ sie nach circa vierzig Minuten das Badezimmer, um endlich schlafen zu gehen. Sie hatte gerade den Griff der Schlafzimmertür, das schräg gegenüber dem Bad war, in der Hand, als sie das laute Zufallen der Eingangstür hörte.

„Aha, der gnädige Herr hat sich doch noch nach Hause gewagt.“

Nach der heftigen Auseinandersetzung hatte Lea definitiv nicht mehr mit seinem Erscheinen gerechnet.

„Offensichtlich hat er sich doch ein paar Gedanken gemacht.“ Sie stand immer noch wie angewurzelt vor der Schlafzimmertür. Gleich würde er die Treppe hochschleichen. Nachdem jedoch keinerlei Geräusche zu hören waren, verzog sie unsicher das Gesicht.

„Habe ich mich geirrt?“

Sie schüttelte ungläubig und nachdenklich den Kopf. Lea löste die Hand vom Griff der Schlafzimmertür, trat zwei Schritte zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Seinen Namen rufen oder vorsichtig die Treppe hinuntergehen, um nachzusehen?

„Merkwürdig“, flüsterte sie.

Lea schlüpfte zaghaft aus den Pantoffeln. Mit einem unangenehmen Gefühl setzten sich ihre Beine in Bewegung. Es herrschte eine gespenstische Stille im Haus. Der inzwischen ängstliche Blick streifte den Lichtschalter. Behutsam berührte sie den Dimmer, um den grellen Lichtstrahl zu reduzieren. Nach kurzem Zögern schlich Lea geräuschlos und mit zunehmender Panik den langen, grau gefliesten Gang entlang. Ihr Herz klopfte mittlerweile bis zum Hals. Irgendetwas stimmte hier nicht, davon war sie felsenfest überzeugt. Alexander konnte es nicht sein, denn er wäre sofort nach oben gegangen, hätte ihren Namen gerufen oder im Schlafzimmer nachgesehen.

„Wer, zum Teufel, ist in unserem Haus?“

Am Treppenabgang blieb Lea stehen. Im Erdgeschoss war alles dunkel und auch ruhig. Misstrauisch ging sie leise Stufe für Stufe hinab. Es kostete sie viel Selbstbeherrschung, nicht zu stolpern. Als sie im Erdgeschoss angekommen war, griff Lea zum Lichtschalter, der an der linken Wand neben dem Aufgang leicht zu finden war. Sie drückte den Dimmer zweimal. Die zarte Helligkeit ließ den riesigen Vorraum endlos erscheinen. Lea rannte von Zimmer zu Zimmer und flutete das gesamte Erdgeschoss mit Licht. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch, holte die Stricksocken hinter einem der Kissen hervor und zog sie über die eiskalten Füße.

„Ich verstehe es nicht.“

Im ganzen Haus wurden die Jalousien aktiviert! Sie überlegte und grübelte eine ganze Weile. Ruckartig sprang sie hoch und flüsterte: „Oh mein Gott, die Haustür!“

Panisch stürmte sie zum Eingang. Nach zweimaligem Drücken der Türklinke wurde Lea sichtlich ruhiger. Es war abgesperrt und der Hausschlüssel hing am beschrifteten Brett, an dem auch alle anderen Schlüssel deponiert waren. Mit einem Seufzer der Erleichterung ging sie langsam und nachdenklich ins Wohnzimmer zurück. Vor der Terrassentür blieb Lea stehen. Ihr Gehirn rotierte erneut. „Was war das? Ich habe klar und deutlich das Zuschlagen der Eingangstür gehört. Vielleicht hat mir die Fantasie einen bösen Streich gespielt.“ Grübelnd ging sie zum Sofa und setzte sich. Sie trank einen Schluck aus dem Glas, das noch halb voll auf dem Marmortisch stand. Etwas ruppig strich sie die langen Haare aus dem Gesicht, die sichtlich nervten. Merkwürdigerweise beschlich sie abermals ein seltsames Gefühl. Zweifellos stimmte hier einiges nicht. Lea saß zusammengekauert auf der Couch und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.

„Ruhig, ganz ruhig“, flüsterte sie.

„Ich muss gedanklich noch mal alle Räume durchgehen. Oben ist alles in Ordnung, denke ich. Hier habe ich bereits alle Zimmer kontrolliert. Bleiben also noch die Kellerräume.“ Ihr Gesicht wurde aschfahl. Wie ein Blitz fuhr es in ihren Kopf. Die Außentür, die zu sämtlichen Räumen im Keller führte, war nicht verschlossen und somit der Zugang zum gesamten Haus frei. Eiskalte Schauer überzogen den ganzen Körper.

„Wie konnte ich das vergessen?“, faselte sie, völlig am Ende mit den Nerven. Ihr ganzer Körper bebte, als sie sich erhob und wie ein gesteuerter Roboter zur Kellertür ging, die sich gegenüber der Eingangstür befand. Der Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie völlig geräuschlos die Türklinke nach unten drückte. Der leicht offene Spalt zeigte Lea, dass Licht in den unteren Gemächern brannte.

Panik schnürte ihr den Hals zu. Jetzt wusste sie mit Sicherheit, dass sich irgendjemand im Haus befand. Blankes Entsetzen spiegelte sich in Leas Gesicht, als sie blitzschnell die Tür zumachte und den Schlüssel, der immer steckte, zweimal herumdrehte. Sämtliche Horrorszenarien schossen durch das Gehirn.

„Mein Kind! Mein Kind! Bitte, bitte nicht!“, schrie Lea hysterisch und rannte zum Treppenaufgang. Kopflos stolperte sie die Stufen hoch. Mit letzter Kraft, da die Beine zu versagen drohten, rannte Lea zu Pascals Zimmer und riss die Tür auf. Ihre zittrige rechte Hand drückte den Lichtschalter. Die grausamen Ängste wurden zur Realität. Pascals Bettchen war leer! Lea, die kraftlos den Türrahmen umklammerte, schrie aus Leibeskräften:

„Pascal! Pascal, wo bist du?“

Völlig verwirrt und mit lähmender Angst durchsuchte sie verzweifelt das gesamte Kinderzimmer. Sie riss die Schranktür auf, warf sich auf den blauen Teppichboden, um unter dem Bett nachzusehen, doch der liebevoll eingerichtete Raum war leer. Ein beißender Geruch lag in der Luft. Lea konnte kaum atmen. Hysterisch rannte sie von Zimmer zu Zimmer.

„Pascal, Pascal, wo bist du?“

Keine Antwort! Bäche von Tränen überschwemmten das blasse Gesicht. Der Kopf drohte zu zerplatzen. Im Gehirn herrschte Stillstand. Der Magen rebellierte so sehr, dass sie sich beinahe übergeben musste. Kraftlos sank sie zu Boden, den Kopf in beiden Händen versunken, und jammerte:

„Ich muss mich konzentrieren. Lea, bleib ruhig! Bleib ruhig! Es ist alles gut. Du wirst jetzt im gesamten Haus nachsehen. Auch die Kellerräume. Jeden Winkel der verdammten Bude. Irgendwo ist dein Kind.“

Komplett ferngesteuert und nicht mehr Herr der Sinne durchsuchte Lea das große Haus. Mittlerweile war sie vor der Waschküche im Keller angelangt. Ein laues Lüftchen streifte ihr Gesicht. Mit leerem Blick, der an tote Augen erinnerte, starrte sie auf die weit geöffnete Außentür. Innerlich war Lea bereits gestorben. Ein letztes Mal schrie sie wie von Sinnen nach ihrem Kind. Definitiv umsonst! Der Sohn war spurlos verschwunden. Apathisch, ausgebrannt und am Ende der Kräfte stand Lea nun völlig hilflos, wie angewurzelt, an der offenen Tür. Eine Brise des warmen Windes streifte das starre Gesicht. Ein heftiger Ruck riss ihren zarten Körper nach hinten. Ein Tuch, mit übel riechender Flüssigkeit getränkt, das jemand gewaltsam auf die Nase und den Mund drückte, raubte Lea augenblicklich die Sinne. Die Augenlider begannen zu flattern. Sie sank in sich zusammen und die Beine kippten kraftlos weg. Im Garten herrschte eine friedliche Idylle. Die Grillen zirpten und einige Kröten quakten munter durch die Stille der lauen Vollmondnacht. Das einzige, das nicht ins Bild passte, war eine bizarre, gruselige Vogelscheuche mit drohendem Gesichtsausdruck, die genau an der Stelle, wo Lea vor einigen Stunden im feuchten Gras stand, offensichtlich mit großer Wucht in die Erde gerammt wurde. Innerhalb eines Wimpernschlages änderte sich die Idylle. Einige Wolken schoben sich nun vor das grelle Mondlicht. Das laue Lüftchen verwandelte sich in Sekundenschnelle in pulsierende, heftige Windstöße. Die höllische Fratze der Vogelscheuche ließ bei genauerer Betrachtung ein provokantes, beklemmendes Grinsen erahnen. Der Hauch des Todes lag in der Luft.

* * *

Es war ein Uhr dreißig. Joe Malek saß im alten Omega und fuhr ziellos durch die Nacht. Sein Gesicht glich einer starren Maske. Im rechten Mundwinkel hing eine Kippe. Der Rauch stieg unaufhörlich in die Augen, was natürlich den Tränenfluss anregte. Joe spürte es nicht. Der Alkoholpegel war wieder einmal enorm. Wenn er jetzt in eine Polizeikontrolle geraten würde, wäre er erledigt. Beruflich wie auch privat. Joe war das egal. Es war wieder einer der Momente, wo ihn alles ankotzte und er das Leben nur im Suff ertragen konnte. Die Nacht war lau und wolkenlos. Der glasige Blick des Kommissars streifte den sternenbehangenen Himmel und blieb beim Mond hängen, der voll war. Vollmond! Jetzt wusste Joe, warum er wieder keinen Schlaf finden konnte. Mittlerweile war Joe Malek in dem Waldstück angelangt, wo sich vor einiger Zeit grausame Morde ereignet hatten. In dieser Zeit hatte er sich einigermaßen gefangen, da sein Arbeitskollege, Kommissar Fabian Geher, bei ihm logierte, um ein eventuelles Opfer in Eigenregie zu überwachen. Damals war die Weihnachtszeit angebrochen. Joe erlebte seit dem Tod seiner kleinen Familie, die er abgöttisch liebte, wieder einmal ein richtig schönes Weihnachtsfest. Das vermeintliche Opfer, Mia Zeltig, hatte die zwei ungleichen Kommissare eingeladen, was natürlich super passte. Joe und Fabian konnten die Frau beschützen und der Heilige Abend war auch in trockenen Tüchern. Mia Zeltig! Obwohl er immer der Meinung war, seine Frau könne niemals durch eine andere ersetzt werden, ertappte Joe sich sehr oft dabei, an Mia zu denken. Joe verlangsamte die Fahrt auf der holprigen, spärlich beleuchteten Landstraße und steuerte den alten Karren in den kleinen Waldweg, der rechts neben der Fahrbahn lag. Er machte den Motor aus und blieb noch eine Weile im Auto sitzen, bevor er den Zündschlüssel abzog, ausstieg und den alten Wagen verriegelte. Nachdem er sich kurz umgeblickt hatte, zog er den Reißverschluss der ständig getragenen Lederjacke zu, zündete sich erneut eine Fluppe an, steckte die linke Hand in die Hosentasche und verschwand mit hängenden Schultern, den Kopf nach unten geneigt, in der gespenstischen Stille des unheimlichen Waldstückes. Wenn er nach einigen Kilometern Fußweg bei sich zu Hause ankommen würde, wäre er wohl wieder etwas ausgenüchtert und der Kopf von den ständig marternden Gedanken ein wenig befreit. Ein schauriges Heulen riss Joe aus seiner Lethargie.

„Es ist ja unglaublich. Jetzt sind die Wölfe auch schon in unseren Wäldern angekommen“, meinte er kopfschüttelnd, drehte sich noch mal um und ging dann weiter. Einige Meter vor ihm überquerte plötzlich eine Wildschweinrotte den düsteren Weg. Joe blieb wie angewurzelt stehen und sagte ziemlich laut:

„Ist das ein Verkehr heute Nacht.“

Sein Gesichtsausdruck nahm langsam wieder menschliche Züge an.

„Alter, jetzt wird es aber Zeit, dass du nach Hause kommst. Die Nacht wird immer kürzer. In einigen Stunden sitzt du wieder in dem Scheißladen und kannst dich erneut mit den verblödeten Zweibeinern auseinandersetzen.“

Zurzeit war ihm einfach alles zuwider. Das eintönige Leben und der nervenaufreibende Job bei der Kripo. Der einzige Mensch, mit dem Joe einigermaßen zurechtkam, war sein Kollege Fabian Geher. Wobei es aber auch hier einige gravierende Startschwierigkeiten zu Beginn ihrer Zusammenarbeit gegeben hatte. Joe Malek war eben Joe Malek. Ein menschenverachtender, ungehobelter Stinkstiefel.

* * *

Professor Alexander Haubit fuhr langsam die Auffahrt zur Garage hoch, die sich nach einem Klick auf der Fernbedienung automatisch öffnete. Nachdem er das Gefährt abgestellt hatte, stieg er mit lautem Räuspern, da er sehr nervös war, aus der Edelkarosse aus. Nach einem Seelenstriptease während der Heimfahrt und einem beschissenen Tag, an dem alles nicht so lief, wie es sollte, hatte Alexander die lähmende Angst, sich erneut Leas Vorwürfen stellen zu müssen. Geplagt von Schuldgefühlen schlich er mit hängendem Kopf stirnrunzelnd zur Tür, die von der Garage direkt ins Hausinnere führte. Der leere Magen knurrte laut, als er die Klinke nach unten drückte und leise die Diele betrat. Im Erdgeschoss war alles dunkel und still. Hastig drückte er auf den beleuchteten Lichtschalter, schlüpfte aus dem dunkelblauen Seidenblouson und hing es an den Garderobenhaken. Auf dem Weg ins Wohnzimmer fiel der angespannte Blick zur Kellertür. Sie war sperrangelweit offen und unten brannte das Licht.

„Seltsam, Lea hat noch nie vergessen, die Tür abzuschließen. Warum ist um diese Zeit das Licht an?“ Er streckte den Kopf in die Tür und rief ihren Namen. Es kam keine Antwort. Kopfschüttelnd blieb er stehen und grübelte, was das alles zu bedeuten hatte. Erst jetzt bemerkte er den unangenehmen, beißenden Geruch, der in seine Nase stieg. Als langjähriger Arzt erkannte er den übel riechenden Gestank sofort. Chloroform, Chloroform! In wirren Gedanken versunken, stieg Alexander mit ungutem Gefühl wie ferngesteuert die Stufen der Kellertreppe hinunter. Der Geruch wurde immer intensiver. Eine unbeschreibliche Angst fuhr in seinen Körper. Am Treppenende angelangt, bemerkte er sofort die weit offen stehende Außentür. Was war hier los? Vorsichtig und mit stark ansteigendem Herzschlag schlich er mit zittrigen Beinen hinaus in den großen Garten. Alles war dunkel und ruhig. Nur ein unangenehmer Wind blies in sein Gesicht. Vom Mondlicht konnte man nicht mehr viel erkennen, da es mittlerweile sehr bewölkt war. Alexander blickte hektisch in sämtliche Richtungen. Nach einigen Schritten, die ihn zur Terrasse führten, blieb er abrupt und erschrocken stehen, da ihm die Umrisse einer Gestalt fast die Luft zum Atmen raubten.

„Hallo, wer sind Sie? Was haben Sie auf meinem Grundstück zu suchen?“

Keine Antwort! Etwas besorgt, da er keine Abwehrwaffe bei sich hatte, ging Alexander fest entschlossen auf die unheimliche Gestalt zu. Genau in dem Augenblick riss die Wolkendecke auf und gab das Licht des Mondes für einen kurzen Moment frei.

„Meine Güte, bin ich blöd! Das ist ja eine Vogelscheuche. Was hat die in unserem Garten zu suchen?“