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Roddy Docktet ist nicht nur leitender Angestellter im Rechnungswesen "seiner" Firma, nein, er fühlt sich zu weit mehr berufen. Zu einer Karriere in der Welt der Literatur etwa. Oder als erfolgreicher Detektiv. Oder beides. Aber letztendlich will es das Schicksal anders ... Schuld daran ist sein Schöpfer, der gnadenlose Rohard Gerbert. Sein Werk ist zwar irgendwie ein Krimi, da recht viele Gewalttaten vorkommen, aber man kann das Ganze nicht als Thriller bezeichnen. Zudem hat der Verfasser noch allerlei hineingepackt, was nicht unbedingt die Handlung vorantreibt, Textfragmente etwa oder kurze Gedichte, Sachen (gerne auch geklaut), die er lustig fand - zum Beispiel zahlreiche seiner tausendfach an unschuldigen Opfern erprobten Sprüche und Witzchen aus den letzten Jahrzehnten.
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Seitenzahl: 439
Veröffentlichungsjahr: 2018
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...für U. ...
Einige Vorbemerkungen
Das vorliegende Buch ist durch Print-on-Demand entstanden und wird nur an ausgesuchte charakterfeste Personen ausgehändigt. Menschen, von denen der Autor erwartet, dass sie genügend Pflichtbewusstsein oder selbstquälerische Veranlagung aufweisen, um die Lektüre bis zum letzten Satz durchzustehen.
Das Ganze ist zwar irgendwie ein Krimi, da recht viele Gewalttaten vorkommen, aber man kann das Buch nicht als Thriller bezeichnen – es wird sich niemand beim Lesen fürchten müssen.
Formal handelt es sich um vier abgeschlossene Geschichten, die jedoch inhaltlich miteinander verbunden sind. Aber der Autor hat noch allerlei hineingepackt, was nicht unbedingt die Handlung vorantreibt, Textfragmente etwa oder kurze Gedichte, Sachen (gerne auch geklaut), die er lustig fand – zum Beispiel zahlreiche seiner tausendfach an unschuldigen Opfern erprobten Sprüche und Witzchen aus den letzten Jahrzehnten.
Und nein: Er hat sich nicht in seiner Figur des „witzigen Willi“ selbst porträtiert – ebenso wenig wie im Protagonisten Roddy oder in der Figur des „Gestörten“. Und auch nicht in Kurt Erich oder Jacques oder Olli. Und gewiss nicht im „schleimigen Clemens“ oder im „bösen Bo“ oder gar in Klausi … Natürlich konnte der Autor nicht verhindern, dass sich gewisse Begebenheiten aus seiner eigenen Lebensgeschichte inspirierend auf die Gestaltung von Szenen und Figuren ausgewirkt haben. Aber es sollte nichts Autobiografisches werden, alle auftretenden Personen sind frei erfunden (mehr oder weniger).
Vorsicht: Dieses Buch enthält diverse Fehler unterschiedlicher Machart.
Teil 1: Er und die Toten in der Firma
oder:
Wo Hinterbacken tonangebend, verdrängt der Furz den noblen Hauch
Teil 2: Er und die Toten kurz vor der Glückseligkeit
oder:
Menschen lügen, Steine fliegen
Teil 3: Er und der Tote vor der Klinik
oder:
Der natürliche Feind des Menschen ist der Arzt
Nachtrag: Klausi und seine Leichen – ein Perspektivenwechsel
oder:
Schicksalsknoten führen zu Toten
„Meine letzten Tage gehörten unbestreitbar zu den schönsten meines Lebens. Ich lachte viel und brachte andere zum Lachen. Dann, an jenem Freitagabend, betrat ich den Balkon meiner Wohnung im siebten Stock eines hässlichen Hochhauses, kletterte auf die Brüstung und sprang in die Tiefe. In Höhe des dritten Stockes traf ich auf eine quer gespannte Stromleitung, die meinen Körper in zwei Teile zerriss. Ich war schon tot, als diese auf dem Pflaster aufschlugen …“
Er lächelte zufrieden. Was für ein fulminanter Abgang! Hoffentlich war noch kein anderer Autor auf diese brillante Idee gekommen. Allerdings (es war typisch für ihn, dass sich dieser Gedanke sofort dazwischendrängte): Ist es angesichts der vielen Milliarden von Menschen, die gerade leben oder bereits gelebt haben, nicht sehr unwahrscheinlich, dass es überhaupt noch wirklich neue Ideen gibt? Alles Denkbare ist doch gewiss schon einmal irgendwie gedacht worden. Wer weiß denn, ob das, was einem gerade durch den Kopf geht, nicht einzig und allein durch die unbewusste Erinnerung an etwas angestoßen wird, das einem bereits irgendwann begegnet ist? Ja, ist nicht die ganze eigene Gedankenwelt im Grunde ein Plagiat?
Er zwang sich, diese blöden und kontraproduktiven Grübeleien zu beenden, und wandte sich wieder seinem wunderbaren Text zu. Einen Moment überlegte er, ob er den zweiten Satz nicht abändern sollte: „Ich weinte viel und brachte andere zum Weinen.“ Er verwarf diesen Einfall, obwohl auch das irgendwie gepasst hätte. In geradezu euphorischer Stimmung stand er vom Schreibtisch auf, schaltete den PC aus und federte hinüber zu seinem Lieblingssessel. Er ließ sich hineinfallen, rekelte sich genießerisch und furzte geschmeidig in die Kissen. Es war Sonntagabend.
Die neue Arbeitswoche begann wie immer damit, dass er gegen drei Uhr in der Nacht aufwachte und sich (wie er es zu beschreiben pflegte) „augenblicklich scheiße fühlte“. Nicht nur, dass er am gerade vergangenen Wochenende wieder viel zu wenig geschlafen hatte, nein, es packte ihn nun zudem die Angst, jetzt, wo er die restliche Nachtruhe so nötig brauchte, nicht mehr richtig einschlafen zu können – was natürlich haargenau so eintrat.
Nachdem er sich gefühlte drei Stunden (wahrscheinlich war es noch keine halbe) im Bett ruhelos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte (leider alleine, denn er war seit langem wieder Single und hauste einsam in seinem kleinen Appartement), erwachte auch seine vorgefallene Bandscheibe zu neuem Leben und wünschte ihm mit dem gewohnten stechenden Schmerz einen guten Morgen. Er revanchierte sich mit einem Tablettengruß, für den das Material stets in Griffweite neben seiner Lagerstatt bereitlag, und der wiederum stimulierte seinen Magen zu lästiger Betriebsamkeit. Verdauungssäfte wurden reichlich produziert und auf den Weg nach oben geschickt. „Grausam schmeckt der Sodgebrannte auf der Zungenoberkante!“, murmelte er seinen Sinnspruch für solche Situationen, um dann einen Notrülpser zu versuchen, der jedoch nicht recht gelingen wollte.
Passend zu seiner körperlichen Befindlichkeit hatten sich negative Gedanken eingestellt, waren hin und her gesprungen und mittlerweile bei der Firma angekommen – genauer gesagt bei Guntram Futtermittel, seinem obersten Vorgesetzten, der dummerweise zugleich Ziel seiner zutiefst empfundenen Geringschätzung war.
Das Leben war aber wirklich ungerecht: Er selbst war auch mit vierzig immer noch ein kleiner kaufmännischer Angestellter; irgendwie schien seine Karriere an ihm vorbei gezogen zu sein. Guntram Futtermittel aber war in all den Jahren, die er ihn kannte, stetig weiter aufgestiegen – ohne dass jemand hätte sagen können, wofür und weshalb. Man behauptete von Guntram, er sei Vorbild gewesen für den Spruch: „Das ist unser Chef – aber keine Angst, der tut nichts!“, was sicherlich falsch war, denn Guntram Futtermittel tat stets das Entscheidende – zwar nicht für die Firma, aber für sich und sein persönliches Fortkommen. Intellektuell nicht gerade ein Überflieger, hatte dieser Mensch jedoch die Gabe, Situationen für sich auszunutzen. Eigene Visionen entwickelte er keine; fremde Projekte hingegen – insbesondere solche, die von seinen Konkurrenten zu verantworten waren – pflegte er äußerst kritisch zu begleiten, auftretende Fehler nach Kräften aufzubauschen und den Hinweis darauf in möglichst vielen Gesprächen zu platzieren. Als Konkurrenten wurden hierbei betrachtet alle anderen Funktionsträger im Dunstkreis der Firma mit Ausnahme des jeweiligen Geschäftsführers und anderer Repräsentanten der Konzernzentrale.
Hätte Guntram ein wenig Selbstironie besessen, er hätte seine gewohnheitsmäßigen Attacken jeweils mit dem guten alten Marcus Porcius Cato, dem Großmeister der Machtpolitik, beginnen können: „Ceterum censeo …“. Denn dies war Guntram Futtermittels Nummer eins seiner Goldenen Regeln des Managertums: „Behaupte ruhig etwas Falsches, aber sage es so oft und so lange, bis alle anderen die Tatsachen vergessen haben und deine Version als die einzig wahre gilt!“ Die zweite Regel lautete schlicht: „Wer mich einmal ärgert, den ärgere ich dreimal!“ – was Guntram selbst eigentlich nicht korrekt befolgte: Er rächte sich meist viel öfter.
Rief jemand im Büro: „Vorsicht, Gefahr im Anzug!“, bedeutete das, dass Guntram im obligatorischen Businessdreiteiler mit schiefem Blick auf Feindfahrt um die Ecke kam. Zu Recht galt der als tückisch und selbstsüchtig; sein Hang dazu, Firmenbesitz als den seinen zu betrachten und Mitarbeiter für private Belange einzusetzen, mitunter tagelang und natürlich in der regulären Arbeitszeit, war sprichwörtlich. Alle bisherigen Geschäftsführer hatten indessen dagegen nie etwas unternommen, was in Guntram die Überzeugung hatte wachsen lassen, er komme mit allem durch.
Mit diesem Rüstzeug hatte Guntram Futtermittel inzwischen seinen beruflichen Zenit erreicht, war Senior General Manager, Herrscher über alles, was mit Finanzen und Personal zu tun hatte, kam direkt nach dem Geschäftsführer.
Er selbst aber, Roddy Dockter, Sachbearbeiter im Controlling, war somit im firmeninternen Gefüge der Macht nur Guntrams kleiner Mitarbeiter. Schon von Anfang an hatte dieser zu ihm ein seltsam ambivalentes Verhältnis entwickelt, hatte einerseits den Kontakt gesucht und andererseits die sich immer stärker entwickelnde hierarchische Distanz betont. Bereits die Nennung seines Nachnamens schien Guntram zu irritieren; musste der ihn vorstellen, geschah dies meist mit den Worten: „Und das ist unser Herr Dockter – aber mit ‚ck‘ und hinten mit ‚e‘! Oder haben Sie …“ – an dieser Stelle pflegte sich Guntram ihm als Betroffenem zuzuwenden – „… inzwischen etwa heimlich während Ihrer Arbeitszeit promoviert?“ Das sollte dann wie ein Scherz klingen. In Wirklichkeit hatte Guntram Futtermittel ihm bezeichnenderweise schon vor Jahren den Gebrauch des „Dr.“ als Namenskürzel hochoffiziell verboten. Außerdem wurde in der Firma gemunkelt, dass Guntram alles andere als unschuldig am Ausbleiben des beruflichen Erfolges „unseres Herrn Dockter“ gewesen sei.
Irgendwie schlief er doch wieder ein.
Mit einem Mal war es Morgen. Er war mit Guntram in dessen Firmenwagen unterwegs. Es war eine unangenehme Situation: er am Steuer, den Mercedes durch das Chaos der überfüllten Autobahn jagend, daneben ein schlecht gelaunter Guntram, der vor sich hin brabbelte. Zu hören war Guntrams übliche Stammtischhetze gegen kinderlose Singles, deren Fortpflanzungsverweigerung doch gemeinschaftsschädlich sei. Er, Guntram, habe dagegen als Vater zweier Kinder seine Pflicht zur Reproduktion erfüllt, was ihn viel Geld und Ärger sowie den Spaß in der Ehe gekostet habe. „Die Gesellschaft sollte jemanden wie Sie, Herr Dockter, zu spürbaren Abgaben zwingen, die unsereinem zugutekommen müssten! Ich und meinesgleichen, wir als Elite sorgen für den Fortbestand unseres Volkes mit – darf man ja gar nicht aussprechen – hochwertigen
Erbanlagen und müssen auch noch die Kosten tragen, während Sie, Herr Dockter, …“ Guntrams Stimme klang ekelhaft bösartig „… sich nur amüsieren!“
Blöderweise fiel er auf diese Provokation herein und so entfuhr es ihm: „Auch der tasmanische Beutelteufel zeugt gerne immer mal wieder Nachwuchs, um seinen doch recht fragwürdigen Genbesatz weiter zu geben, ohne dass es den Teufel als solchen bisher evolutionsmäßig in puncto Umgangsformen und Körpergeruch nach vorne gebracht hätte!“ Das nahm Guntram offenkundig persönlich – überraschenderweise schien ihm der Beutelteufel und dessen Habitus nicht ganz unbekannt zu sein. „Das geht zu weit, Herr Dockter, das wird Konsequenzen haben, hören Sie?!“ Da fühlte er, wie eine ungeheure gnadenlose Wut sich blitzschnell seiner bemächtigte. Konsequenzen? Ja, dann aber sofort und ein für alle Mal!
Das Folgende lief ab wie ein Automatismus, wie tausendfach geübt. Vor ihnen auf der rechten Spur fuhr gerade ein Langholztransporter, er selbst hatte bereits vor dem Höhepunkt des Streites den Überholvorgang eingeleitet. Nun trat er auf das Gaspedal, dass die Maschine aufheulte, und gleichzeitig löste er mit flinkem Griff Guntrams Gurt, um dann die stark beschleunigte Limousine dergestalt in die überhängenden Stämme zu lenken, dass bei unversehrter Fahrerseite die Person auf dem Beifahrersitz zwangsläufig im wahrsten Sinne des Wortes wegradiert werden würde.
Doch bevor es wirklich krachte, wurde er aus seinem Traum gerissen.
Wie üblich hatten auch in dieser Nacht solche um Guntrams Aufstieg und Eigenschaften kreisenden Gedanken seinen Magen dazu veranlasst, immer neue Mengen Säure per Expresslieferung an den Rachenraum zu überstellen, wo nun eine Weiterverteilung an die benachbarten Körperöffnungen unmittelbar bevorstand. In letzter Sekunde konnte er diese unappetitliche Entwicklung abwenden; tapfer schluckte er alles wieder herunter, so wie er auch in der Firma so vieles runtergeschluckt hatte. Dabei war er eigentlich kein Duckmäuser – ganz im Gegensatz zu Guntram Futtermittel, der erkennbar bei jedem Geschäftsführerwechsel Höllenqualen der Angst durchlitt. Denn die Firma war Ableger eines „Global Player“; der neue Statthalter wurde von der Konzernmutter geschickt, von Übersee, von Japan – dort saß die Macht. Guntram schien zu wissen, dass er alles war durch diese Macht, dass er dieser ebenso fremden wie fernen Macht alles verdankte, was sein jetziges Leben ausmachte: seinen überraschenden Aufstieg, sein damit verbundenes Ansehen, den Respekt, den man ihm entgegen brachte, die Vergünstigungen, die er genoss, wenn er zum Beispiel privat bei einem Lieferanten der Firma einkaufte, und nicht zuletzt das viele Geld, das er zwar, wie ihm wohl durchaus bewusst war, nicht wirklich verdiente, aber dennoch jeden Monat überwiesen bekam; Guntram verehrte diese Macht und fürchtete sie.
Während er wie schon so oft Guntram charakterisierte, durchfuhr ihn ein plötzlicher Einfall: Guntram Futtermittel war ein zweiter Diederich Heßling, war der „Untertan“, so wie ihn Heinrich Mann in seinem grandiosen Roman schon vor hundert Jahren beschrieben hatte! Ja, so war es – warum war ihm das bislang nicht aufgefallen? Und sollte sich damit nicht etwas anfangen lassen? Aber natürlich! Denn dadurch tat sich nun die einzigartige Möglichkeit auf, selbst ganz speziell Rache zu nehmen, subtil, aber dennoch vernichtend.
Er wusste, dass er in der Firma bestimmt nicht der Einzige war, der solche niederen Gelüste verspürte; selbst Mordabsichten waren wiederholt lauthals und nur notdürftig als Scherz getarnt geäußert worden. Da würde sich seine Methode gewiss als die elegantere erweisen: Er würde ein Buch über Guntram Futtermittel schreiben, quasi eine Fortsetzung des „Untertan“, aber in der Gegenwart spielend mit dem realen Guntram in der Rolle von Diederich. Er würde sogar Heinrich Manns ersten Satz aufgreifen und genauso beginnen: „Guntram Futtermittel war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.“ Und dann würde er erbarmungslos aufzeigen, wie sich aus dem kindlichen bösartigen Angstbeißer der noch bösartigere erwachsene Angstbeißer entwickelte, der Guntram nun einmal war. Keine Frage, diese Art von Rache war nicht gerade neu; nur die wenigsten solcher literarischen Befreiungsschläge hatten bislang ein dankbares Publikum finden und überzeugen können. Doch das sollte ihn nicht davon abhalten, ein wortgewaltiges Fanal zu setzen gegen all die bösen Diederichs und Guntrams dieser Welt! Spontane Euphorie verjagte die Zweifel. Er hatte ja schon vor geraumer Zeit damit begonnen, kleine Texte zu verfassen – nun bekam das alles einen Sinn!
Mit diesen erlösenden Gedanken schlief er wieder ein, tief und fest wie lange nicht mehr, überhörte den Wecker und kam eine Dreiviertelstunde zu spät zur Arbeit.
Für einen Montagmorgen befremdend gut gelaunt betrat er sein Großraumbüro, eilte unter Absonderung der ortsüblichen Grußformeln an seinen Arbeitsplatz und begann sein Tagwerk. Bereits nach wenigen Minuten läutete das Telefon. Guntram Futtermittel verlangte nach ihm: „Ja, wo waren Sie denn? Ich habe ein kleines Problem, hören Sie?! Kommen Sie doch mal kurz zu mir hoch. Kommen Sie schnellstens – und schnellstens heißt: auf der Stelle und nicht mit Ihrer üblichen Verspätung!“ Der Senior General Manager schien schlecht gelaunt zu sein; wahrscheinlich hatte die ihm vorgesetzte Gattin schon in der Frühe disziplinarisch auf ihn eingewirkt.
Natürlich sagte er sogleich zu – und natürlich verfluchte er sich sofort danach für sein Lakaientum, denn er hatte wirklich Wichtiges für den kurz bevorstehenden Monatsabschluss fertigzustellen. Guntram hingegen hatte ein „kleines Problem“ – dieser hatte stets nur ein „kleines Problem“, meistens ein privates, alle anderen hatten „massive Probleme“.
Wenig später betrat er Guntram Futtermittels Büro. Wie immer galt sein erster Blick dessen Schreibtisch, und wie immer war die Ordnung fantastisch. Die Schriftstücke prangten in Reih’ und Glied – da, wo es nötig war, mit Vierfünftel-Teilüberdeckung. Alles war an seinem Platz. Er wusste, dass dieses Stillleben am Ende eines jeden Arbeitstages abgeräumt und weggeschlossen und am Anfang des nächsten wieder neu dekoriert wurde. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing prächtig drapiert ein Kodachi, ein historisches Samuraischwert. Jedem General Manager war vom Geschäftsführer unlängst in einer Feierstunde ein solches überreicht worden; diesem wiederum war das Seinige zuvor von höchster Stelle in der Zentrale in Japan verliehen worden. Alle waren angehalten, dieses Symbol der Macht in ihrem Büro zur Schau zu stellen.
„Ich habe ein kleines Problem, hören Sie?!“, begann Guntram Futtermittel, zog ein Papier aus der Aktentasche und ging zu der repräsentativen Sitzgruppe in der Nähe des Fensters, wo er sonst Zeitung zu lesen pflegte – eine Verrichtung, die er bekanntermaßen mit großer Sorgfalt und Ausdauer erledigte. Heute jedoch hatte es Guntram eilig: „Setzen Sie sich!“
Es stellte sich heraus, dass Guntrams zweiter Sohn (mehr als zehn Jahre jünger als der Erstgeborene und vom Erzeuger gerne als „Betriebsunfall“ bezeichnet) eine schwierige Hausaufgabe in Mathematik bekommen hatte, womit weder Junior noch Senior klarkamen, die aber am nächsten Tag abzugeben war. In seiner Not war Vater Futtermittel nun auf seinen Mitarbeiter im Rechnungswesen gekommen: „Sie können doch helfen, Herr Dockter – oder?!“
Er las die Aufgabenstellung auf dem Blatt und gab Guntram einige Hinweise. Dieser aber, jetzt ganz Manager, wollte keine Hinweise, er wollte Lösungen! Als die dann endlich vorlagen, empfahl es sich, den Mitarbeiter zu loben: „Sehen Sie, da haben Sie es ja doch noch hingekriegt – obwohl Sie am Anfang massive Probleme hatten!“ Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, nickte dankend und trat den geordneten Rückzug an. Beim Hinausgehen drehte er sich um und blickte zurück. Guntram war dabei, den Rechenweg zu studieren, und er konnte am Gesichtsausdruck feststellen, dass dieser nichts, aber auch gar nichts davon verstanden hatte. Völlig deprimiert kehrte er an seinen Arbeitsplatz zurück. An seinem Schreibtisch aber erwartete ihn sein treuer Apfel.
Was ihn außerdem erwartete, das war ein Berg von Arbeit. Seine Abteilung war in den letzten Jahren personell ziemlich geschrumpft, für die Anforderungen galt allerdings das Gegenteil. Sein direkter Vorgesetzter war seit seinem Eintritt in die Firma jeweils ein Japaner gewesen, dessen Tätigkeit sich weitgehend auf die Kommunikation mit der Konzernmutter beschränkte. Diese Stelle war zwar mittlerweile formal dem Senior General Manager G. Futtermittel untergeordnet, der sie innehabende Japaner aber im betrieblichen Ablauf Guntrams Kontrolle tatsächlich entzogen. Vielleicht war das sogar auf ausdrückliche Weisung des Geschäftsführers so – für die deutschen Mitarbeiter stand es allerdings außer Frage, dass sich Guntram auch sonst nie und nimmer getraut hätte, seinen diesbezüglichen Leitungsaufgaben nachzukommen. Wie oft hatte er sich von Guntram anhören müssen: „Herr Dockter, seien Sie still, hinterfragen Sie nichts, machen Sie immer, was der Mann will, der hat die Zentrale hinter sich!“
Aber er war eigentlich mit allen Japanern gut zurechtgekommen. Er schien in einer Zeit angefangen zu haben, als sich bei denen schon ein Wandel vollzogen hatte. Deutsche Mitarbeiter der ersten Stunde erzählten gerne und immer wieder die Geschichten von „ganz früher“, als die japanischen Kollegen meist Junggesellen waren, die zum ersten Mal im Ausland eingesetzt wurden. „Die kamen im neuen Anzug, das waren drahtige Gestalten mit kurz geschnittenen Haaren. Wenn die am Arbeitsplatz einen Anruf vom Geschäftsführer bekamen, sprangen die sofort auf und nahmen Haltung an, als stünde der persönlich im Büro. Wenn die durch die Gänge schlurften, sah das aus, als liefen sie in der Loipe.“ Nach einem Jahr Kantinenessen und manchem abendlichen Bier gegen das Heimweh seien die Silhouetten schon weniger kantig gewesen, habe der Anzug schon strammer gesessen. Spätestens im Jahr darauf hätten die sich entweder neu eingekleidet oder mit der Gefahr gelebt, dass es bei einer unvorsichtigen Bewegung hinten in der Hose „ratsch“ machte und man den Rest des Arbeitstages in einem geliehenen Kittel im Büro hocken musste, was gar nicht so selten geschehen sei. Aber heute, betonten die Firmenveteranen immer, sei eine ganz andere Generation von Japanern vor Ort: westlich geprägt, ja verweichlicht – solche, die sogar vor achtzehn Uhr Feierabend machen und bei Krankheit einen gelben Schein abgeben, statt Urlaub zu nehmen! Außerdem waren es viel weniger als früher, ein Umstand, der insbesondere vom SGM Futtermittel sehr begrüßt wurde.
Endlich war Mittagspause. Er reihte sich ein in die Karawane betriebsamer Menschen, die, einander unentwegt „Mahlzeit!“ zurufend, der Kantine entgegen strebten. Am üblichen Tisch trafen sich die üblichen Kollegen und das seit Jahren. Auch Guntram Futtermittel gehörte zur Stammbesetzung, daneben weitere Manager sowie er selbst, Roddy Dockter, quasi als Vertreter der einfachen Büroarbeiter.
Aus unerfindlichem Grund war heute mal wieder Schmutzige-Witze-Tag. Das passierte alle paar Wochen. Einer fing unvermittelt an und dann gaben alle anderen nach und nach auch etwas Geeignetes zum Besten – jeder auf seine gewohnte Art. Auch bei Guntram Futtermittel war es immer das Gleiche: Sein Trick war, eine Zote nie als seine eigene Nummer vorzutragen, sondern er zitierte stets seinen Schwager, der ihm „neulich folgenden Witz erzählt“ habe. Meistens ging es dabei um Schwänze. Die innige Verbindung zu seinem Schwager hinderte Guntram indessen nicht daran, diesen in schöner Regelmäßigkeit verbal in die Pfanne zu hauen: „Hab ich schon erzählt, dass mein Schwager, der Dr. Bodendecker, hier in der Stadt in der Uniklinik Oberarzt ist? Der Bursche kommt da aber seit Jahren nicht richtig weiter, zum Chefarzt reicht es wohl nicht …“
Unterbrochen wurden die Beiträge durch ein allgemeines „Hohohoho…“, das auf seltsame Weise halblaut gebellt wurde. Das setzte in der Vorbereitungsphase der Pointe ein, um dann, nach Erreichen derselben, in eine Art Chorgebell zu münden, das aber sofort abgebrochen wurde, sobald sich am Nebentisch jemand neugierig umdrehte.
Eigentlich wollte er sich selbst nie daran beteiligen, konnte sich indessen nur selten dem Sog dieser Männerverschwörung entziehen. Ob jung oder alt, Manager oder Mitarbeiter: Alle Männer am Tisch (und es waren in einem solchen Moment immer ausnahmslos Männer am Tisch) fanden dann plötzlich zu einer Art postpubertärer Pimmelkumpanei. Man sah sich vielsagend an, gab mit kurzem Einzelgebell („Hohoho!“) oder einem prägnanten Einwurf zu erkennen, dass man nicht nur verstanden, sondern auch selbst so seine einschlägigen Erfahrungen hatte. Insbesondere Guntram Futtermittel konnte es sich dann nicht verkneifen, Andeutungen über langjährige regelmäßige Puffbesuche zu machen – und das schon in damals noch jugendlichem Alter. Sofort anschließend pflegte Guntram dann zu betonen, dass seit seiner Familiengründung so etwas selbstredend für ihn kein Thema mehr sei. Einmal war ihm allerdings herausgerutscht, dass er hin und wieder von den Japanern dorthin mitgenommen werde, „aber nur als Vermittler“.
Der Auftakt war diesmal vergleichsweise harmlos: „Warum gibt es auf dem Land soviel Inzucht? Ganz einfach: Was der Bauer nicht kennt, das fickt er nicht!“ Und sofort als Zugabe: „Warum stellen die Bauern hier aus der Gegend im Puff immer am Anfang die Frage nach dem Kamasutra?“ – „Welche Frage?“ – „Hehhh! Kamasutra, orermussmasischerstwasche?“ – „Hallo?“ – „Kann man so dran, oder muss man sich erst waschen?“ „Hohoho!“ Bisher also zwei Klassiker, aber zumindest nicht die schlechtesten. Der Nächste bitte: Witz, Chorgebell, und so weiter, und so weiter … Während das Niveau immer tiefer sank, stieg der Stimmungspegel.
Wie erfrischend wäre es, wenn jetzt von einem der Nebentische einmal ein paar Frauen diese Chauvi-Kacke ein wenig aufmischen würden. Er stellte sich eine Szene vor wie aus einer Oper, eine Szene, in der sich zwei walkürenhafte Kolleginnen zu Ehrfurcht gebietender Größe aufrichten; sie zeigen auf Guntram, und sie beginnen zu singen mit unfassbar fetten Stimmen, ein Duett von Alt und Sopran, und sie singen auf eine wunderschöne Melodie immer wieder dieselben Verse:
„Ich quetsche dir die Nudel und mache dich zum Pudel! Aahaahaahaaha-hahahaha!“
Leider geschah wie immer nichts dergleichen. Zu allem Überfluss war er jetzt dran. Schon beim letzten Mal war ihm dieses beknackte Ritual dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er sich damals vorgenommen hatte, den anderen in Zukunft den Spaß daran zu verderben. Folglich hatte er sich in der Zwischenzeit einige wirklich blöde, humorfreie, aber hinreichend obszöne Sprüche überlegt, die er nun rasch hintereinander aufsagte: „Was singt der Volksmusikant beim Koitus Interruptus? – ‚Muss i denn, muss i denn ausm Mädele hinaus.‘“ Und weiter: „Wie spricht der trunksüchtige Sodomist? – ‚Erst sauf ich zehn, zwölf Bierchen, dann ficke ich ein Tierchen.‘“ Und noch ein Gedicht: „Blondine nach dem missglückten Oralsex: ‚Ich seh dich so verschwommen – du bist wohl grad gekommen.‘“ Zum Abschluss noch den Schlechtesten: „Was sind die letzten Worte eines deutschen Jünglings, seiner muslimischen Freundin beischlafend? ‚Grad lieg ich auf der Fatima, da ist auch schon ihr Vati da …‘ – peng!“ Am Tisch herrschte Verunsicherung. War das jetzt als Witz ernst gemeint oder war das etwa Verarschung? Das im Anschluss vorgesehene Chorgebell fiel demzufolge mehr als verhalten aus. Allgemeines Stühlerücken im Saal, das jetzt einsetzte, zeigte nun sowieso das Ende der Mittagspause an. Er war froh, auch diese hier überstanden zu haben.
Nach der Arbeit fuhr er sofort nach Hause. Die literarische Entscheidung der vergangenen Nacht musste direkt in die künstlerische Tat umgesetzt werden: Guntram Futtermittel als Diederich Heßling, der „Senior General Manager“ als der „Untertan“. Wenn einige andere vom mittäglichen Kantinenstammtisch Guntrams Wirken auf dieser Welt am liebsten „ein Ende setzen“ würden (gerne auch „eigenhändig“, wie sie bisweilen auf Firmenevents nach Alkoholgenuss in ausgesuchter Runde sagten; nüchtern waren sie vorsichtiger, da sollten sich jeweils andere die Hände schmutzig machen) – alles nur Geschwätz! Er, Roddy Dockter, wollte jetzt endlich handeln!
Und er begann zu schreiben: Handlungsentwürfe, Gliederungen, … dann Textpassagen, Stichworte, … Aber es wollte nicht recht gelingen. Heinrich Mann ließ sich nun mal nicht kopieren. Zu kühn war der Griff nach den dichterischen Sternen. Da musste umgehend umdisponiert werden. Wenn es denn für das große Bildnis nicht reichte, dann würden es eben kleine Skizzen werden! Und so löschte er das bisher gespeicherte Material, zerriss seine Merkzettel und fing ganz neu an, wobei er sich vornahm, insbesondere der dunklen Seite seiner Seele freie Entfaltung zu gewähren. Wie von Geisterhand erzeugt, erschienen erste Sätze auf dem Bildschirm:
„Igor erwachte am linken Daumen lutschend. Er streckte sich, und dann, mit einem plötzlichen Schwung, schleuderte er den Finger weit von sich. Der mächtige Molosser grunzte missmutig. Langsam erhob sich das Tier und trottete in die Ecke seines Zwingers, wo die Überreste seines neuen Besitzers lagen, dem nicht nur er, sondern auch der Daumen gehört hatte …“
Ah, das tat richtig gut. Hastig schrieb er weiter:
„Was war geschehen? Erst gestern war Igor in sein neues Zuhause gekommen, hatte den Mann kennengelernt, dem er von Stund an dienen sollte. Kein anderer als Guntram Futtermittel suchte nämlich Schutz für sich und sein Anwesen. Dieser Hund sollte ihn gewährleisten. Igor stammte aus gutem Hause, hatte in der Hundeschule mehrere Klassen übersprungen, und (als einer der jüngsten überhaupt) die Schutzhundeprüfungen mit Bravour bestanden. Sein Verkäufer hatte ihn beschrieben als in sich ruhend und feinsinnig, dabei diszipliniert und geprägt von hohem Arbeitsethos. Kurz: Igor war ein aristokratischer Rassehund mit Manieren, ein ‚Original English Mastiff‘, kein Proletenbeißer – das alles stand zumindest in den Papieren. Nur der Name ‚Igor‘ hatte Guntram zuerst etwas stutzig gemacht; aber wenn man ihn ‚Aidschör‘ aussprach, klang das schon wieder richtig nobel. Der immens hohe Preis konnte nur bedeuten, dass es sich um eine Rarität handeln musste, um eine Premiummarke, eine Anschaffung also, die zu Guntrams Edel-Geländewagen passte. Und direkt neben dessen Edel-Carport hatte Guntram einen Edel-Zwinger errichten lassen, der jeden hergelaufenen Schäferhund samt Besitzer vor Neid erblassen lassen sollte.
Leider hatte sich ihre erste Begegnung gestern dann zunehmend unschön gestaltet. Guntram hatte Igor sofort in den Zwinger geführt. Als sie dann alleine waren, hatte er damit begonnen, Igors Ausbildung den letzten Schliff zu verleihen – leider in der Sprache und mit den Mitteln, die er auch in der Firma seinen Leuten gegenüber gebrauchte. ‚Aidschör‘ hingegen ‚was not amused‘ über all die unklaren und widersprüchlichen Kommandos, und als Guntram schließlich rief: ‚Das akzeptiere ich nicht‘, und Igor ‚massive Probleme‘ androhte, da war es mit dessen Contenance zu Ende. Sekundenschnell verwandelte er sich in ein mordgieriges Monster, ein Monster, das zudem einem Rottweiler-Doggen-Mischling erstaunlich ähnlich sah. Guntram jedoch sah sich nach wenigen Minuten gar nicht mehr ähnlich …“
Bis hierhin war ihm der Text quasi nur so zugeflogen. Literarische Rache hat bekanntlich den Vorteil, dass sie einerseits dem Ausübenden ungemein viel Genuss bereitet, andererseits kaum anstrengend ist und nicht schmutzig macht. Jetzt noch ein Wortspiel mit „Daumen“ und „Gaumen“, und die Sache wäre rund. Dummerweise fiel ihm kein gutes ein. Trotzdem hochzufrieden vertagte er das Problem auf morgen und ging zu Bett.
Wie immer war er beim Aufstehen knapp dran. Als er endlich im Auto saß, wusste er, dass jetzt nichts mehr dazwischenkommen durfte – da war es angesagt, quasi Ideallinie zu fahren! Hurtig und unter großzügiger Auslegung der einschlägigen Verkehrsschilder näherte er sich der Firma. Doch dann, an der letzten Ampel, an der er in eine durch ein Feuchtgebiet führende Straße abbiegen musste, sah er frisch aufgestellte Schilder: „Gesperrt wegen Krötenwanderung“! Wäre er doch den anderen Weg gefahren! Jetzt hieß es umzukehren, in Eilmärschen zurück bis zur Gabelung und dann auf der Parallelstrecke weiter Richtung Firma. Doch so geschwind ging das nicht: Jede mögliche Ampel sprang auf „Rot“, sobald er sich ihr näherte, jeder LKW, der in der Nähe gelauert hatte, warf sich vor ihm auf die Straße. Aus Rache hatte er inzwischen damit begonnen, Reim für Reim ein böses Gedicht über die Kröte als solche und ihr Liebesleben zu entwickeln, und als er mit zehnminütiger Verspätung auf dem Firmenparkplatz einschlug, war das Werk abgeschlossen. Auf dem Fußweg zum Hauptgebäude sagte er es sich noch einmal vor:
„Kröterich und Kröte
haben schwer was an der Tröte!
Sie poppen gern auf Straßen –
da, wo die Autos rasen.
Ihr dummen geilen Tierchen,
schon hört man Reifen knirschen!
Das Platzen unter schwerem Pneu
bringt euch die Krötentöne bei.
Wo grad noch Krötengruppensex,
da geht es nur noch plopp und ex!
So mancher Krötenkoitus
der endet da in Krötenmus.
Das Unheil ist nicht mehr zu stoppen –
was müsst ihr auch auf Straßen poppen!
Und die Moral von der Geschicht:
Dem keuchen Lurch passiert das nicht!“
Erschöpft von Fahrt und hochgeistiger schöpferischer Anstrengung erreichte er seinen Schreibtisch. Doch niemand erwartete ihn, zumindest nicht sein treuer Apfel, denn den hatte er gestern Nachmittag dann doch noch gegessen …
Der heutige Morgen war angefüllt mit Sitzungsterminen. Während er zu einer der Besprechungen eilte, wurde er im Gang von einem Kollegen, dem Leiter der Fertigungsplanung, angesprochen: „Sind Sie gleich auch beim Kick-off-Meeting für das neue Projekt dabei?“ Bedeutende neue Projekte wurden immer durch ein so genanntes „Kick-off-Meeting“ eingeläutet, bei dem Dutzende von Organigramm-(oder, wie er das nannte: „Onaniegramm“-) Leuten sowie Fach- und Hilfskräfte wie er selbst zusammenkamen, um in schicksalsschwangerer Atmosphäre über Sinn und Zweck des Ganzen aufgeklärt zu werden. Gleichzeitig wurden dann erste Aufgabenpakete verteilt, wobei er noch nie leer ausgegangen war. Deshalb beeilte er sich, den Kollegen zu verbessern: „Sie meinen das Kick-in-the-Ass-Meeting!“ „Ach ja, so hieß das“, pflichtete der ihm ohne nachzudenken bei und wollte gestresst entweichen. Er allerdings erkannte, dass er diese just gesäte Irrlehre unverzüglich im Keime ersticken musste, bevor sie unerwünschte Verbreitung fand („Der Dockter aus dem Controlling hat aber gesagt …“). Mit Nachdruck wies er den Kollegen darauf hin, dass das nur ein Scherz gewesen sei, denn das US-englische umgangssprachliche „Ass“ bedeute auf Deutsch nun mal „Arsch“ …
Der so Aufgeklärte lächelte pikiert und versuchte, seinerseits zu punkten: „Komisch ist er schon, der Termin heute, unser Geschäftsführer ist doch noch auf Dienstreise in Japan. Irgendwas tut sich da! Man hört ja allerhand in letzter Zeit. Heute ist ja nichts und niemand mehr sicher! Wer sagt denn, dass wir immer dasselbe bauen müssen?!“ Was sollte denn das? Er hatte nichts Besonderes gehört! Und außerdem war er gar nicht eingeladen worden. Was für ein Projekt denn? Jetzt war er der Dumme. Man trennte sich ohne Abschiedsschmerz.
Der ganz normale Wahnsinn des restlichen Vormittages brachte ihn rasch auf andere Gedanken. Die Zeit verging im Wechselspiel von Sitzungen und Telefonaten, wobei Letztere durch die Bank mit einem „Alles klar, bis dann!“ endeten, ohne dass jemals wirklich etwas klar gewesen wäre. Irgendwie erinnerte ihn das Treiben in der Firma an Alfred Wunsiedels Fabrik aus Heinrich Bölls feiner Satire „Es wird etwas geschehen. Eine handlungsstarke Geschichte“, wobei sich die Realität in seinen Augen in subtiler Weise als noch aberwitziger darstellte.
Schon lange stellte er Überlegungen an, wie man sich gewissen Phänomenen und Verhaltensformen des Büroalltages mit wissenschaftlicher Betrachtungsweise nähern könne. Bisher war er über den Versuch einer Schematisierung und Typisierung nicht hinausgekommen.
Auf quantitativ erhöhte Aufgabenbelastung zum Beispiel schien der Büromensch reflexhaft mit erhöhter Mitteilungsbedürftigkeit zu reagieren, die sich in stundenlangen Telefonaten manifestierte, bei denen Art und Umfang der unzumutbaren Überbelastung detailliert kommuniziert wurden. Der daraus für den Rest des Arbeitstages resultierende noch höhere Zeitdruck erzeugte wiederum am Folgetag eine nochmalige Steigerung der Telefoniertätigkeit. Ergebnis: noch weniger Zeit für die anstehenden Aufgaben. Bei manchen Kollegen führte das zu einer verhängnisvollen Lawinenwirkung. Andere erkannten die Gefahr instinktiv und reagierten im Vorfeld mit Vermeidungsverhalten. Als hierbei gerne gewählte Strategie hatte er die „Arbeitsverweigerung durch Dummstellen“ ausgemacht. Mehr Raffinesse zeigten diejenigen, die regelmäßig dann ihr Maximum an intellektueller Leistungsfähigkeit erreichten, wenn es darum ging, tausend Gründe dafür zu finden, warum man eine übertragene Aufgabe gerade jetzt besser doch nicht erledigte. Überaus hilfreich war zudem die Fähigkeit zur „selbstschützenden Amnesie“: „Was, ich sollte das tun? Davon weiß ich nichts. Steht das denn im Protokoll?“ Was immer sehr genau erinnert wurde, war der Umstand, dass sich für das Führen des Protokolls damals mal wieder niemand gefunden hatte. Unerreicht jedoch war die geradezu genialisch anmutende Einlassung eines für seine Faulheit berüchtigten Abteilungsleiters: „Sie wissen, ich bin immer für praktische Lösungen – und für mich ist es nun mal am praktischsten, wenn das hier jemand anders macht!“
Wenn Guntram Futtermittel bei einem Treffen dabei war, galten per se eigene Regeln; offizielle Protokolle etwa waren faktisch verboten, denn Guntram hasste schriftliche Beweise. Auch lenkte er die Gespräche gerne thematisch weg vom Detailproblem zu eher globalen Fragestellungen. Guntram sah sich eben mehr als Generalist denn als Experte. Hätte man ihn gefragt: „Wie komme ich von hier am besten nach Oberammergau?“, er hätte mit dunkler, wissender Stimme geantwortet: „Fahren Sie auf der Straße, halten Sie sich an die Verkehrsregeln und folgen Sie der Karte!“ So sprach der Manager in ihm, so sagte er nie etwas Falsches – aber leider auch nie etwas Hilfreiches. Insbesondere bei Sitzungen mit externen Beratern war Guntrams Anwesenheit wenig beliebt, da der dann unbedingt seine Weltläufigkeit unter Beweis stellen wollte und zu ausschweifenden Erzählungen über seinen elitären Lebensstil neigte, welchen ganzheitlich auszuleben ihm gewissen Andeutungen zufolge aber von seiner Gattin verwehrt wurde.
Die heutige Mittagspause lockte wieder an den üblichen Tisch, und siehe: Alle waren sie erschienen – bis auf Guntram Futtermittel! Natürlich wurde dieser nebst seinen jüngsten Untaten sofort zum alleinigen Thema. Fast alle hatten etwas beizusteuern. Selbst Guntrams Adlatus, der Leiter der Einmannabteilung Budgetierung, der mit seinem Chef jahrelang nur als Duo aufgetreten war, erwies sich unter diesen Umständen mal wieder als scharfer Kritiker. Nach einigen Minuten hatten sich die Gemüter so erhitzt, dass die gewohnten Vorschläge zum Erreichen einer endgültigen Lösung zu hören waren: „Wenn wir alle zusammenlegen …“, „Die machen für Geld alles …“ und so weiter und so fort.
Doch urplötzlich kam der Redefluss zum Erliegen; Guntram Futtermittel war doch noch in der Kantine erschienen. Er stand am Eingang und wechselte mit einem dort tätigen Mitarbeiter einer Fremdfirma einige kurze, anscheinend unfreundliche Worte. Als er sich zum Gehen umdrehte, erschien ein breites Grinsen in seinem Gesicht – ganz offenkundig war er mit sich selbst wieder einmal sehr zufrieden. Kaum hatte Guntram jedoch bemerkt, dass man ihn beobachtete, da wurde seine Miene ernst und streng. Als er am Tisch angekommen war, setzte er sich mit den Worten: „Das akzeptiere ich nicht!“ Nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Dem Kerlchen zeig ich’s!“ Und dann noch einmal: „Das akzeptiere ich nicht!“ Erklärend führte er dann aus, dass dieser Mensch ihn, Guntram Futtermittel, Senior General Manager, nicht gekannt und ihm den unabdingbaren Respekt verweigert habe – und er ihn deshalb in dieser seiner Firma nicht mehr sehen wolle, was er ihm auch direkt mitgeteilt habe. Unisono gaben ihm die anderen recht. Was störte sie ihr Geschwätz von eben!
Wie selbstverständlich übernahm Guntram nun die Gesprächsleitung. Es ging um seine wertvolle Modelleisenbahn, für die er ein spezielles Sammlerstück („… eine optimale Geldanlage, hören Sie?! …“) erwerben wollte. Allerdings müsse er sich das Budget dafür erst zu Hause genehmigen lassen. Es war bekannt, dass Frau Futtermittel daheim die Kassenführung innehatte. Guntram rächte sich dafür, indem er jetzt anschließend über die Eigenheiten seiner Gattin herzog. Einmal in Stimmung ging er zum Thema: „Unser gehobenes Management in der Einzelkritik“ über und schonte keinen – außer sich selbst. Die einzige dazugehörige Frau bedachte er wie immer mit einigen ausgesucht niederträchtigen Bemerkungen. Ganz offenkundig war es Guntrams persönliches Anliegen, sein Umfeld jeden Tag aufs Neue von der Gesäßhaftigkeit seines Wesens zu überzeugen, und dies war ihm bisher jeweils glänzend gelungen.
Gerade war Guntram in seinem Element, da läutete dessen Handy. Guntram griff danach, sah die Nummer im Display, rief: „Mist, der Tsatsiki aus Japan, was will der denn?“, fand dann aber in seiner sofort einsetzenden Panik die richtigen Tasten nicht. Das Klingeln endete und Guntram hatte die Annahme versäumt! Dabei war „Tsatsiki“ kein anderer als sein Geschäftsführer Tasaki! Die Macht hatte ihn gerufen und er hatte sich ihr scheinbar verweigert! In seiner Wut und Verzweiflung schmetterte er das Gerät auf den Tisch. Kleinteile schwirrten durch die Gegend. Während die anderen betreten vor sich hinstarrten, sprach Guntram mit zitternder Stimme: „Miese Qualität! Ich werde für unsere Firma den Anbieter wechseln!“ Die Stimmung war danach irgendwie gedrückt, und man war froh, als man auseinandergehen konnte.
Für den Nachmittag stand ein Termin außer Haus auf dem Programm – laut seinem Oberchef Guntram „typisch für unseren Herrn Dockter, immer was Besonderes!“ Sein alter Freund und Kumpel Jacques, seines Zeichens Lehrer an einer hiesigen Gesamtschule, hatte ihn gebeten, die ihm (also Jacques) anvertrauten halbwüchsigen Schutzbefohlenen im Rahmen einer aktuellen Themenwoche über Schönheit und Chancen des kaufmännischen Berufsstandes zu informieren, und er hatte leichtfertig zugesagt. Guntram Futtermittel, dem uneigennützige Eigeninitiative wesensfremd und die von Mitarbeitern daher verdächtig war, hatte nur sehr widerstrebend die Erlaubnis erteilt. Als er sich nun abmeldete, konnte es sich dieser nicht verkneifen, einige hämische Bemerkungen über die „Lustreise“ zu machen, um ihm wenn möglich noch den Spaß daran zu verderben. „Guntram, Guntram“, dachte er, während er innerlich vor Wut bebte, „wenn du aufgeblasener Sack zu allen so bist, …“ – und er wusste, dass das der Fall war – „… dann wundert es mich wirklich, dass dir noch keiner die Luft rausgelassen hat!“
An der Schule angekommen, erwartete ihn eine andere, völlig neuartige Welt. Es war gerade Pause und in Schulhof und Fluren präsentierte sich ihm ein wundersam bunt gemischtes Völkchen. Es schien, als sei heute gleichzeitig Halloween, Karneval sowie das große „Intergalaktische Treffen humanoider Lebensformen“. Dabei war die „Verkleidung“ der Mädchen, insbesondere der älteren Jahrgangsstufen, ebenso fantasievoll wie textilarm. Nicht wenige wirkten wie Mitte zwanzig, was eigentlich nur drei Gründe haben konnte. Erstens: Sie sahen erheblich älter aus, als sie wirklich waren. Zweitens: Sie waren gerade in der Endphase ihrer G8mal2 Schullaufbahn. Oder drittens: Es waren gar keine Schülerinnen, sondern aufsichtführende Lehrerinnen. Wie auch immer, es war ein Outfit, das sehr wohl geeignet war, einem männlichen Wesen ein erhebliches Maß an Körperbeherrschung in Bezug auf die vordere Leibesmitte abzuverlangen. „Jetzt bloß nicht übel auf-phallen!“, geistreichelte er. Dazu herrschte ein infernalisches Lärmen und Brüllen. Der größte Teil der von männlicher Seite so kommunizierten Vokabeln war – wie kaum anders zu erwarten – durchaus einschlägigen Charakters, und die Liste der ihm bisher bekannten Synonyme für das Ausüben sexueller Handlungen wurde in kürzester Zeit umfassend erweitert. Er war sich sicher, hätte er irgendeinen dieser Schreihälse gefragt, ob er denn wisse, was Liebe ist, die Antwort wäre gewesen: „Liebe, äh, also ficken, ja also ficken ist wie wichsen, nur viel anstrengender!“
Unter solchen kulturpessimistischen Überlegungen erreichte er den ihm genannten Unterrichtsraum. Jacques war bereits vor Ort. Sie begrüßten sich, während die anwesenden Schüler sowohl den Lehrer als auch den Festredner ignorierten. Trotzdem begann er rasch mit seiner PowerPoint-Präsentation. Es zeichnete sich eine Dreiteilung des Publikums ab. Ein Drittel verfolgte (zwar sichtlich genervt, aber immerhin) seine lichtvollen Ausführungen, ein Drittel war anderweitig beschäftigt, und der Rest war schlichtweg gegangen oder nie da gewesen. Die im Anschluss geplante Diskussions- und Fragerunde sah dann so aus, dass sich jetzt auch das erste Drittel anderweitig beschäftigte.
Aus irgendeiner Ecke ertönte sogar Musik: „Underneath Your Clothes“ von Shakira. Als es hieß: „Underneath your clothes / There’s an endless story / There's the man I chose / There’s my territory”, versuchte er automatisch, simultan zu übersetzen: „Unter deinen Kleidern, da ist eine unendliche Geschichte, da ist der Mann, den ich auserwählte, da ist mein Territorium“. Der Aberwitz seines Ergebnisses ließ ihn an seinen Fähigkeiten als „Translator“ zweifeln; gewiss war die Vokabelrestbevölkerung in seinem Hirn längst in eine abgelegene Cortexwüste deportiert worden. Andererseits konnte er es auch nicht ausschließen, dass er den Blödsinn korrekt ins Deutsche übertragen hatte. Da fand er es wiederum beruhigend, dass höchstwahrscheinlich niemand von den Jugendlichen hier im Raum anderen englischen Vokabeln als „Fuck“ und Konsorten erlaubt hatte, die Lernstoff-Hirn-Schranke zu überwinden, und deshalb wohl kaum jemand in der Lage war, dem englischen Text zu folgen. Diese Art von Schwachsinn konnte den Kids also nicht auch noch gefährlich werden.
Das Ende der Schulstunde befreite ihn von weiteren pädagogischen Pflichten. Er sagte Jacques, der sich während der ganzen Zeit wie angekündigt „völlig zurückgenommen“ hatte (was, wie er nun wusste, bedeutete, dass sich dieser auch anderweitig beschäftigen wollte), kurz „Adieu“ und beeilte sich, in seine Welt zurückzukehren. Er hatte nämlich vor, noch heute zu einem Kostenbericht ein brisantes Fazit zu verfassen, einen Brandbrief, der seiner Einschätzung nach das Zeug dazu haben würde, in der Firma eine Zeitenwende hinsichtlich der Firmenwagen einzuleiten – oder von Guntram sofort aus dem Verkehr gezogen zu werden (was wahrscheinlicher war).
Kaum an seinem Platz bekam er auch schon Besuch, und das ebenso unerwartet wie unerwünscht. Es erschien ein wegen seiner penetranten Geschwätzigkeit gefürchteter Mitarbeiter der Personalabteilung, der zwar keine Leitungsbefugnis hatte, aber überall, wo es unangenehm werden konnte, vom gemeinsamen Obervorgesetzten Guntram Futtermittel als treu ergebener Gehilfe mit an den Verhandlungstisch gerufen wurde. Davon hatten beide etwas: der Mitarbeiter, weil zur Belohnung geduldet wurde, dass er sich selbst den schönen Titel eines „HR-Referenten“ zugelegt hatte, und Guntram, weil dieser einerseits nicht gerne alleine seinen Bereich vertrat, andererseits aber Widerworte aus den eigenen Reihen verabscheute und deshalb den eigentlichen Personalchef erst kürzlich aus der Firma weggebissen hatte.
Dieser Gast also trat heran und ließ sich mit den Worten: „Herr Dockter, Herr Dockter, ich glaub, ich brauch nen gelben Schein!“ in den Besuchersessel fallen. Er blickte nur flüchtig auf, aber der andere ließ sich nicht abwimmeln, sondern sprudelte los: „Noch so ne Veranstaltung, und ich bin ein Pflegefall!“ Er komme gerade von einer Krisensitzung mit Futtermittel und dem Betriebsrat. Thema sei der Fall eines ausländischen Kollegen gewesen, dem zum wiederholten Mal „Busengrapscherei“ vorgeworfen worden sei. Diese Causa war allerdings dank der gewohnheitsmäßigen Indiskretion aller Mitglieder des Gremiums längst firmenweit bekannt. Betroffen war jedes Mal eine üppige Blondine, die intern nur „Frollein Möppesjen“ genannt wurde. Seit Langem waren deren körperliche Merkmale Gegenstand von zahllosen meist bösartigen Bemerkungen, auch und besonders am mittäglichen Kantinenstammtisch (O-Ton SGM Guntram F.: „Die soll einen Afrikaner als Freund haben, die kann ja auch beckenmäßig so einiges wegstecken, also mein Schwager würde sagen: ‚Da kann unsereins nur beten, hoffentlich wächst mein Kleiner mit der Aufgabe!‘“).
Der mutmaßliche Täter wiederum entstammte einer weitverzweigten Familie, deren erwachsene Mitglieder zum größten Teil bei der Firma angestellt waren. Und dies war Guntrams Problem: „Das sind viele Leute aus einem wilden Land, die sprechen eine fremde Sprache und die haben noch ganz andere Sitten, ich sage nur ‚Blutrache‘, hören Sie?! Und die kennen mein Auto und wissen bestimmt, wo ich wohne …“ Nur deshalb sei Guntram wohl dagegen gewesen, die Sache, wie dieser es genannt habe, „aufzubauschen und voreilige übertriebene Konsequenzen zu ziehen“. Nachdem die Vertreter des Betriebsrates überzeugt worden seien (Guntram: „Dann komme ich Ihnen bei der Genehmigung Ihrer neuen Tablets auch entgegen …“), habe man den Beschluss gefasst, es noch einmal bei einem scharfen Verweis (Guntram: „Das soll der Vorarbeiter machen!“) zu belassen und „Frollein Möppesjen“ die Versetzung in eine andere Abteilung anzubieten. Dennoch habe Guntram irgendwie verunsichert gewirkt, als man sich dann soeben trennte, und daher lautete das Fazit des wackeren HR-Referenten: „Also ich hätte da ordentlich dazwischen gehauen. Aber unser Oberchef ist eben nun mal ein Angstscheißer und Flachwichser!“
Jetzt wurden eine ähnliche Diagnose und ein kerniger Therapievorschlag von „unserem Herrn Dockter“ erwartet. Da er wusste, dass jedes seiner Worte sofort dem nächsten Gesprächsopfer des Kollegen weitergegeben würde, flüchtete er sich in Gemeinplätze, was wiederum den anderen nach kurzer Zeit enttäuscht das Weite suchen ließ: „Ach du liebe Zeit, so spät schon! Ich muss weg, Termin!“ Er hingegen wunderte sich, dass dieser Mensch so offen seine Geringschätzung Guntrams betonte. Welche Intrige lief denn da schon wieder? Er wusste nur eines: Er hasste den Spruch: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“! Und für den Rest des Tages hatte er ein Thema, über das er intensiv nachdenken sollte.
Hatte er nicht gestern noch in seinem kleinen Text vom Scheitern Guntrams als Hundeflüsterer dessen Angst um Leib, Leben und Eigentum als Aufhänger genommen? Und dann Guntrams Haltung Ausländern gegenüber. Dieser gehörte ja zur Fraktion derer, die eine besonders perfide Art von Fremdenfeindlichkeit pflegen. Was dem flüchtigen Beobachter eher wie eine überzogene Toleranz erschien, ja, wie eine bis zur Selbstverleugnung getriebene Duldsamkeit, hatte sich bei näherem Hinsehen bislang jeweils schlicht als Feigheit erwiesen. Insgeheim wartete Guntram (wie er manchmal in geeigneter Runde ausgeplaudert hatte) auf „bessere Zeiten“. Einmal, spät auf einer Weihnachtsfeier, waren sogar wirklich deutliche Worte gefallen: Dass sich endlich jemand finden müsse, der „dem frechen Treiben dieses ganzen Ausländerpacks ein Ende setzt“, dass man endlich wieder Herr im eigenen Haus werden müsse. Kurzum, der Senior General Manager G. Futtermittel hoffte (genau wie so viele andere Nadelstreifen tragende Kreidefresser auch) sehnsüchtig auf die Wiederkehr von Pogromen, bei denen ein von dieser selbst ernannten Elite natürlich gleichermaßen verachteter einheimischer Mob die nötige Hierarchie in ihrem Sinne wieder herstellen sollte.
Überraschenderweise war er heute Morgen nicht knapp dran, er erinnerte sich sogar an die gesperrte Straße – aber auch daran, dass ihm in der Firma später erzählt worden war, die Sperrung sei ein „Sabotageakt von irgendwelchen Spinnern“ gewesen. Ob er denn das Schild in der zweiten Reihe nicht gesehen habe? „Global Player: Gewinn-Kröten wandern ab in Steueroase!“ Ob er denn den darunter angeprangerten Namen seines Arbeitgebers nicht gelesen habe? Und außerdem: Ob er denn nicht gewusst habe, dass die Zeit der Krötenwanderung längst vorbei sei? Nun war es in der Tat so, dass die Biologie der heimischen Bufonidae nicht gerade zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörte. Und im Nachhinein musste er sich eingestehen, dass ihm zudem hätte auffallen können, dass solche Schilder zum ersten Mal an dieser Stelle standen. Er hatte in der Eile nur das erste gelesen und war dann umgekehrt. Alle Kollegen hatten natürlich die Sperre ignoriert und waren wie gewohnt weiter gefahren (was sie aber wohl auch getan hätten, wenn wirklich Kröten auf der Straße unterwegs gewesen wären).
Trotzdem nahm er die andere Route. Zufrieden rezitierte er sein Krötengedicht, da tauchten am Straßenrand unversehens uniformierte Polizisten auf und winkten ihm zu. Voller düsterer Vorahnung hielt er an. Die Tempo-30-Zone! Auf der anderen Strecke gab es so etwas nicht – aber hier! „Sie wissen, dass Sie zu schnell gefahren sind …“ Der Beamte lächelte siegessicher. Er selbst hingegen schwankte kurz zwischen Auflehnung und Unterwerfung. Dann ergab er sich in sein Schicksal, ließ sich verwarnen, bezahlte und fuhr betont vorschriftsmäßig weiter. Glücklicherweise war ihm gerade noch rechtzeitig wieder eingefallen, wie sein letzter Tanz mit Justitia ausgegangen war:
Damals war er in der Innenstadt mit einem anderen Pkw-Fahrer aneinandergeraten, als jeder einen gerade frei werdenden Parkplatz für sich beanspruchte. Da sie beide hinter dem Steuer saßen und die Seitenfenster geschlossen waren, geschah die Kommunikation auf nonverbalem Wege. Handzeichen wurden gegeben; die Gestik gewann zunehmend an Ausdruckskraft. Dann, dem Parkplatzvorbesitzer war es gerade endlich gelungen, die Nische zu verlassen, hatte er seine Chance gesehen: Er bremste seinen Konkurrenten aus und schoss, während er diesem mit dem rechten Mittelfinger den bekannten Gruß zukommen ließ, in die Parklücke. Erst beim Aussteigen hatte er damals bemerkt, dass auf dem Beifahrersitz seines Rivalen jemand saß und sich anscheinend etwas notierte.
Wochen später bekam er Post: Anzeige wegen Beleidigung. Die Sache ging weiter, und eines Tages stand er als Beschuldigter im Gerichtssaal. Als es dann an ihm war, seine Sicht des Verlaufes zu schildern und sich insbesondere zu dem inkriminierten Handbeziehungsweise Fingerzeichen zu äußern, da war ihm dann urplötzlich die Idee gekommen, sich doch einmal einen Scherz zu erlauben – eine Idee, die sich alsbald als ebenso dumm wie kostenträchtig erweisen sollte. Unternehmungslustig hatte er sich dem Richter, der mit professionell dargebotenem Desinteresse das Treiben verfolgte, zugewandt und losgelegt: „Also, der andere Fahrer, er schien mir zu winken, als wolle er mich vorlassen, und als ich dann an ihm vorbeifuhr, da war der in seinem Auto am Toben wie ein Berserker. Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Ich fragte mich: ‚Halluziniere ich, habe ich etwa hohes Fieber?‘, und als ich mir dann die Temperatur messen wollte …“ – bei diesen Worten hatte er wieder mit derselben Geste denselben Finger erhoben – „… da …“ Weiter kam er damals nicht! In Sekundenschnelle war mit dem Richter eine unschöne Verwandlung geschehen. Dieser war aufgesprungen, der soeben noch von gelangweilter Gelassenheit zeugende Gesichtsausdruck war zu einer bösen Fratze geworden, die elegante Bräune des Teints zu einer hässlichen Rotfärbung. „Hohes Gericht mit rohem Gesicht“ nannte er diesen Auftritt seitdem. Und mit einer Stimme, der nun der gepflegt-arrogante Tonfall von vorher jählings abhandengekommen war, hatte dieser Richter ihn dermaßen angebrüllt, dass sofort vom Gang Justizbeamte herangesprungen waren. Daraus hatte sich ein Tohuwabohu entwickelt, das sogar seinen Niederschlag in der Lokalpresse gefunden hatte. Für ihn selbst war an der Höhe der verhängten Geldstrafe unschwer ersichtlich gewesen, dass sein kleiner Scherz vor Gericht bedauerlicherweise keinen Gefallen gefunden hatte.
Noch heute ärgerte er sich regelmäßig über seine kostspielige Eingebung; daher war er froh, dass er sich diesmal beherrscht hatte. Nicht beherrschen ließ sich jedoch die kosmische Uhr, und so war er infolge dieses polizeilichen Intermezzos mal wieder zu spät. Egal, umso kürzer war jetzt die Zeit bis zum Frühstück. Und spannend sollte es auch noch werden, denn als er ins Großraumbüro kam, drängten sich schon zwei Dutzend Büromenschen, die Mehrzahl davon aus anderen Abteilungen zugelaufen, auf den knappen Freiflächen. Sogar notorische Eigenbrötler und Sonderlinge waren gekommen. Selbst „Zombie-Klaus“, ein ziemlich schräger Jüngling aus der Buchhaltung, hatte sein selbst gewähltes Dasein als unnahbarer Buchungsroboter unterbrochen und sich den anderen angeschlossen. Alle palaverten wild durcheinander, es herrschte Katastrophenstimmung: Guntram Futtermittel, Senior General Manager und daher ausgestattet mit einem Firmenwagen, hatte mit ebendiesem am frühen Morgen auf dem Wege in die Firma einen Unfall gehabt!
Natürlich war es nicht irgendein Firmenwagen, sondern ein Mercedes der E-Klasse, ausgerüstet mit allem an Ausstattungspaketen, was der Katalog hergab, ein Fahrzeug „mit jedem Furz und Feuerstein, das kann alles bis auf Kochwäsche“ (ein alter, aber geklauter Roddy-Spruch), und das natürlich sämtliche verfügbaren Sicherheitsfeatures besaß. Diesem „Warmduscher-Paket“ war es wohl auch zu verdanken, dass Guntram unverletzt geblieben war; der Wagen hatte allerdings stark gelitten. Nach dem, was sich bisher in der Firma herumgesprochen hatte, war Guntram an einer unübersichtlichen Stelle durch ein entgegenkommendes Fahrzeug von der Straße abgedrängt worden und dadurch im Gestrüpp gelandet. Zeugen habe es keine gegeben, vom Unfallverursacher fehle jede Spur. Als Beschreibung des gegnerischen Autos habe Guntram nur „irgend so eine Ausländerkutsche“ angegeben, polizeiliche Ermittlungen habe er indessen abgelehnt („Das bringt nur Ärger und ist schlecht für den Ruf der Firma, hören Sie?!“).
Wildeste Theorien waren bereits im Umlauf, denn auch die Geheimnisse der gestrigen Krisensitzung in der Causa „Möppesjen“ hatten dank des unermüdlichen HR-Referenten schon die Runde gemacht. Wenn es nun wirklich ein Racheakt gewesen wäre? Für den sonst so wenig geliebten SGM Futtermittel fanden sich nun allenthalben Worte des Mitleids, ja sogar der Anerkennung. Hatte der sich nicht, kaum aus dem Wrack geklettert, vom Fahrer des Geschäftsführers abholen und in die Firma bringen lassen, saß der nicht längst pflichtbewusst an seinem Schreibtisch als sei nichts gewesen? Genau dort saß der eben nicht: „Na, Herr Dockter, auch schon da?“, hörte er plötzlich hinter sich Guntrams Stimme, „Ich sollte mir an Ihnen mal ein Beispiel nehmen, einfach mal ne halbe Stunde oder zwei zu spät kommen, dann passiert einem nichts!“ Hier war es klüger, auf einen eigenen Wortbeitrag (etwa: „Den frühen Vogel holt die Katz!“) zu verzichten; schweigend trollte er sich in sein Eckchen, während Guntram ein Bad in der Menge nahm.
Was war dieser bloß für ein Mensch? Soviel Kaltschnäuzigkeit hätte er dem gar nicht zugetraut. Das passte auch gar nicht zu der Story, die der Kollege gestern von der Sitzung erzählt hatte – Stichwort „Angstscheißer“! Und dann heute angeblich dem Tod ins Auge schauen, einen Anschlag überleben und sofort anschließend den Mister Cool geben?! Überhaupt: „Racheakt“ – dafür gab es doch nach dem Sitzungsergebnis gar keinen Grund. Oder sollte das heute Morgen eher als Warnung gedacht gewesen sein? Und sollte das Auf-kleiner-Flamme-kochen jetzt signalisieren, dass man verstanden habe und auf ganzer Linie kapitulieren werde? Wie auch immer; er beschloss, in Guntram auf keinen Fall das tapfere Opfer zu sehen, sondern das Ereignis in der Rubrik „Unklare Geschäftsvorfälle“ abzuspeichern.
Das Arbeitspensum ließ es heute zu, mit den anderen zum Frühstück in die Kantine zu gehen. Sein Oberchef selbst, der nach all der Aufregung immer noch erstaunlich gut gelaunt und leutselig wirkte, gab das Zeichen zum Aufbruch. In Zweierreihen eilten sie durch die engen Flure. Guntram drängte. Noch gab es in der Kantine genügend von den besseren Sachen. Wenn erst das Fußvolk herangeströmt war, würde sich das schnell ändern. Trotz aller Bemühungen war es Guntram Futtermittel bisher noch bei keinem Geschäftsführer gelungen, eine eigene Lounge für das höhere Management durchzubringen. Da halfen auch keine Hinweise darauf, dass „die Elite stärker untereinander kommunizieren“ müsse. Selbst dem gutgläubigsten Geschäftsführer war nach kurzer Zeit aufgefallen, dass von Kommunikation auf dieser Ebene keine Rede sein konnte – im Gegenteil: Die Herren (nebst Dame) waren meist heillos zerstritten und fanden nur zusammen, wenn es um die neuen Firmenwagen ging.