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Ein abgelegenes Haus. Eine verzweifelte Frau. Ein unglaubliches Geheimnis. Ein abgelegenes Haus. Eine verzweifelte Frau. Ein unglaubliches Geheimnis. Lauren kann es kaum erwarten, London zu verlassen und mit ihrem neuen Partner Paul und seinen beiden kleinen Kindern einen Neuanfang auf dem Land zu wagen. Sie hätte nie gedacht, dass sie so viel Glück haben würde: ein absolutes Traumhaus, umgeben von Wäldern und Wiesen, eine perfekte kleine Familie, eine zweite Chance. Doch in der Abgeschiedenheit fühlt sich Lauren isoliert, und Paul wird zunehmend kontrollierender. Stück für Stück weicht die anfängliche Freude einer nagenden Unsicherheit. Was verbirgt sich wirklich hinter der Fassade ihres vermeintlich perfekten neuen Lebens? Ein Traummann wie aus dem Bilderbuch. Das perfekte Leben. Und ein perfides Spiel. Freuen Sie sich auf den besten Twist seit »Gone Girl«! Emily Freud spielt in ihrem Domestic Thriller »Er kennt deine Angst« mit dem empfindlichsten Gut, das wir Menschen haben: dem eigenen Verstand. Perfekt für alle Fans von Nervenkitzel und überraschenden Wendungen! »Diese wendungsreiche, eindringliche Geschichte habe ich in kürzester Zeit verschlungen. Brillant geschrieben und mit einem schaurigen, isolierten Schauplatz – einfach genial!« Lia Middleton »Mit allen Zutaten für einen packenden TV-Thriller – machen Sie sich bereit für eine unheimliche, wendungsreiche Fahrt.« Heat »Ein nervenaufreibender Thriller. Diese Autorin weiß, wie man Thriller-Lesern das ganze Buch hindurch die richtigen Brotkrumen hinwirft!« Peterborough Telegraph Ist es wirklich das Leben, das sie immer erträumt hat – oder ihr schlimmster Albtraum? »Es ist seltsam, wenn man keinerlei Zeitgefühl mehr hat. Momente der Angst gehen in Zeitspannen völliger Verzweiflung über. Gedanken drehen sich unablässig im Kreis, wie eine Waschmaschine, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausspült. Dabei ist es völlig klar: Ich wurde hier eingeschlossen. Von dem Mann, der behauptet, er würde mich lieben. Wie bin ich an diesen Punkt gelangt? Wie kam es dazu, dass es auch nur einen Moment lang völlig in Ordnung für mich war, mich freiwillig von jemandem einschließen zu lassen? Denn ich hatte die Wahl, nicht wahr?«
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Übersetzt aus dem Englischen von Sonja Rebernik-Heidegger
© Emily Freud 2022
Titel der englischen Originalausgabe:
»What She Left Behind«, Quercus, London 2022
© Piper Verlag GmbH, München 2025
Covergestaltung: www.buerosued.de, München
Covermotiv: www.buerosued.de
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Cover & Impressum
Widmung
TEIL EINS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
TEIL ZWEI
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
TEIL DREI
Kapitel 34
Lauren
Kapitel 35
Eliza
Kapitel 36
Lauren
Kapitel 37
Eliza
Kapitel 38
Lauren
Kapitel 39
Eliza
Kapitel 40
Lauren
Kapitel 41
Eliza
Kapitel 42
Lauren
Kapitel 43
Eliza
Kapitel 44
Lauren
Kapitel 45
Eliza
Kapitel 46
Lauren
Kapitel 47
Eliza
TEIL VIER
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
EPILOG
Ein Jahr später
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Jude
»Und schon wieder sagt sie uns, wo es langgeht.« Paul löst einen Moment lang den Blick von der Straße, um meine Reaktion zu genießen. Seine Augen funkeln. Dann wendet er sich grinsend nach hinten. »Ich meine, stellt euch mal vor, Lauren wäre nicht hier, um uns zu erleuchten. Vielleicht würden wir ab und zu auch mal die richtige Abzweigung erwischen?«
Ein Kichern steigt in mir hoch, und ich boxe ihm freundschaftlich in die Schulter. Er presst übertrieben schmerzverzerrt die Hand darauf.
»Paul, also wirklich. Sei nicht so ein Ar…« Ich schlage mir erschrocken die Hand vor den Mund. »Entschuldige«, hauche ich und suche in seinem Gesicht nach Anzeichen dafür, dass ich ihn verärgert habe. Doch seine heitere Stimmung gerät nicht ins Wanken, und ich stoße erleichtert die Luft aus. Wenigstens konnte ich mich rechtzeitig bremsen. Es passiert mir immer wieder, dass mir etwas herausrutscht. Worte, die wie kleine rote Fähnchen sind, die mich verraten.
Von der Rückbank dringt leises Schnarchen, und ich sehe durch den Spalt zwischen Kopfstütze und Rückenlehne nach hinten. Die beiden Kinder haben nichts von unserem Wortwechsel mitbekommen. Margo, die nachmittags immer noch gerne ein Nickerchen einlegt, schläft tief und fest. Und Jesse starrt aus dem Fenster und scheint meilenweit fort. Er ist ungewöhnlich nachdenklich für einen Vierjährigen. Ich drehe mich zufrieden um und lehne mich zurück. Die Landschaft schießt in verschwommenem Grün an uns vorbei, und seit wir die Autobahn verlassen haben, habe ich kein einziges anderes Fahrzeug mehr gesehen. Der Unterschied zur Stadt, wo man sich – wenn überhaupt – oft nur im Schritttempo vorwärtsbewegt, ist überdeutlich. Wir kommen an einer Tankstelle vorbei, und ich drehe den Kopf, um sie mir näher anzusehen. Sie ist winzig, es gibt bloß zwei rostige Zapfsäulen. Die Anlage scheint verlassen, aber dann erkenne ich doch noch den Umriss eines Mannes hinter dem schmutzigen Fenster.
Ich frage mich zum millionsten Mal, ob der Umzug aufs Land wirklich die richtige Entscheidung war. Es ist ein riesiger Schritt. Wir kennen einander seit einem knappen Jahr, und die Hälfte davon waren wir nicht wirklich zusammen. Meine Tante nannte es »einen großen Vertrauensvorschuss«. Wobei sie einräumen musste, dass sie meinen Onkel vor der Hochzeit gerade einmal drei Monate lang gekannt hatte und sie trotzdem eine sehr glückliche Ehe führen. Ich schätze, sie versteht mich.
Paul greift nach meiner Hand, und ich schenke ihm ein Lächeln. Da ist wieder dieses tiefe Gefühl, das mir in den letzten zwölf Monaten immer vertrauter geworden ist. Es war die richtige Entscheidung. Ich bin genau dort, wo ich sein soll. Hier, bei meiner neuen Familie. Sie sind das Zentrum meines Universums. Ich kann nicht anders, ich muss mich noch einmal zu den Kids umdrehen. Mein Blick fällt auf meinen Ruhepol. Margo. Der süßeste Schatz der Welt. Dunkle Haare, grüne Augen, stämmige Ärmchen und runde, rosige Wangen. Ich könnte stundenlang Küsse auf ihrem kleinen, rundlichen Bauch verteilen. Unter ihrem Ellbogen steckt ihre graue Spielzeugkatze, die immer in ihrer Nähe ist. Das Glück sprudelt in mir hoch wie eine dieser Brausetabletten, wenn man sie in ein Glas Wasser wirft. Seit ich ein Teil von Pauls Familie bin, habe ich das Gefühl, als würde das Blubbern gar nicht mehr aufhören. Nach allem, was mir zugestoßen ist, fällt es mir schwer, noch einmal etwas als selbstverständlich anzusehen, und das würde wohl jedem so gehen. Man muss das, was man will, mit beiden Händen festhalten und damit davonlaufen, so schnell man kann. Das hat Paul mir beigebracht.
Ich drehe mich wieder nach vorne und stelle die Lüftung ein, sodass der kalte Strahl aus der Klimaanlage direkt auf mein Gesicht trifft. Die Luft über der Motorhaube flirrt. Es ist erst Ende Mai, bis zum Sommerbeginn dauert es noch ein paar Wochen, und es fühlt sich falsch an, dass es so heiß ist. Als würden wir ein Geschenk genießen, für das wir später bezahlen werden. Ähnlich wie bei einem Saufgelage am Sonntagabend.
»Glaubst du, dass es im Haus sehr warm sein wird?«, frage ich. »Immerhin ist alles aus Glas.«
Paul schüttelt den Kopf. »Es liegt mitten im Wald. Die Bäume schützen es vor der Sonne.« Er legt die Hand auf meinen Oberschenkel und drückt ihn. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Klar ist es eine große Veränderung, aber wie schon Heraklit sagte …«
Ich verdrehe die Augen und beende den Satz mit ihm gemeinsam: »Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.«
Er grinst. »Die griechischen Philosophen wussten eben, wovon sie reden.«
Ich lehne mich zurück. Er hat recht. Natürlich. Ich mache mir zu viele Gedanken. Paul meint, dass Sorgen vergleichbar sind mit einer Fahrt auf dem Ergometer. Sie bringen mich nicht weiter. Er versteht es hervorragend, mich wieder in die Gegenwart zurückzuholen, in der alles perfekt ist. Ich habe solches Glück, dass ich sie gefunden habe. Mein Herz schwillt an vor Zufriedenheit. Vor ihnen war mein Leben leer, und ich sehnte mich verzweifelt nach etwas, woran ich mich festhalten konnte.
Ich kann keine Kinder bekommen, und ich habe meine Eltern schon sehr früh verloren. Es schien mein Schicksal, dass es weder vor mir noch nach mir etwas gibt.
Bis Paul in mein Leben trat. Meine Freundinnen behaupten, Beziehungen seien noch nie meine Stärke gewesen. Aber ich war noch nie richtig verliebt. Ich könnte mich sicher an etwas erinnern, das so intensiv und alles verzehrend war wie das hier.
Paul setzt den Blinker, und wir biegen um eine scharfe Kurve. »Endlich. Wir haben’s geschafft«, meint er erleichtert. Der glatte Asphalt weicht einem holprigen Kiesuntergrund. Der Richtungswechsel hat dazu geführt, dass die Sonne direkt durch die Windschutzscheibe fällt, und ich hebe die Hand, um mein Gesicht zu beschatten, bevor ich die Sonnenblende nach unten klappe und mit zusammengekniffenen Augen nach dem Haus Ausschau halte.
Meine »Freundinnen« waren schockiert, als sie hörten, dass ich London mit Paul verlassen wollte. Er war ihnen von Anfang an ein Dorn im Auge, denn sie sind der Meinung, dass er die Situation aufgrund der Umstände, unter denen wir uns kennengelernt haben, ausgenutzt hat. Aber sie verstehen das nicht. Manchmal muss man um den, den man liebt, kämpfen und dafür auch die Regeln brechen. Am Ende haben sie sich gegen mich verschworen und mir ein Ultimatum gestellt. Allerdings reden sie irgendwie trotzdem noch mit mir. Gerade mal so. Paul findet sie unglaublich unreif. Und er hat natürlich recht. Sie waren nicht für mich da, als ich sie dringend gebraucht hätte. Ehrlich gesagt, sind mir ihre Mätzchen inzwischen ziemlich egal – meine neue Familie ist alles, was ich brauche, und ich bin mir sicher, dass sie vorbeikommen werden, wenn ich sie irgendwann einmal auf ein Wochenende in unser unglaubliches neues Zuhause einlade.
Wir fahren langsam die über einen Kilometer lange Zufahrtsstraße zum Haus entlang. Unkraut sprießt aus dem unebenen Boden, und die Büsche zu beiden Seiten sehen zerzaust und ungepflegt aus, was dem ganzen Anwesen eine etwas heruntergekommene Atmosphäre verleiht. Dem beeindruckenden Gebäude vor uns tut das allerdings keinen Abbruch.
Ich war vor etwa einem Monat schon mal hier, bevor wir uns endgültig dazu entschlossen, aufs Land zu ziehen. Der Anblick des Hauses hat heute denselben Effekt auf mich wie damals. Seine schiere Pracht und Größe treffen mich mit voller Wucht. Es wurde in den 1950ern von einem bekannten Architekten gebaut und würde eher in die Catskills im US-Bundesstaat New York passen als hierher ins ländliche England. Schwarze Holzplanken bilden den Rahmen des Hauses, das ansonsten vor allem aus klaren Glasscheiben besteht, die das gesamte Untergeschoss umschließen und sich zwischen den Planken weiter ins Obergeschoss erstrecken. Hier wird eine Seite des Hauses von dem großen Schlafzimmer eingenommen, während die andere praktisch eine Erweiterung des Wohnbereiches im Untergeschoss darstellt, der sich mit seiner schier endlos hohen Decke über zwei Stockwerke erstreckt. Im Dunkeln fühlt man sich wie in einem Raumschiff, das durch das Sternenmeer gleitet.
Es raubt mir den Atem. Kann ich wirklich in einem solchen Haus wohnen? Kann ich ihm gerecht werden?
Innerhalb kurzer Zeit wurde aus der einsamen, gebrochenen jungen Frau, die ich früher war, eine zweifache Mutter, die in einem frei stehenden Haus auf dem Land lebt. In einem Haus, bei dem Leser von Designmagazinen und Liebhaber der Moderne große Augen bekommen. Wie konnte ich bloß solches Glück haben?, frage ich mich selbst zum wiederholten Mal, und mein Körper kribbelt vor Aufregung, wenn ich an dieses neue Kapitel in meinem Leben denke.
Es zeigt mal wieder, dass das Leben voller Überraschungen ist – vor allem, wenn man es am wenigsten erwartet. Ich schlucke, als mir die enorme Verantwortung bewusst wird, und meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Als wir anhalten, wird ein Sonnenstrahl von der Glasfassade zurückgeworfen und dringt direkt in mein Auge, sodass ein dunkler Fleck auf meiner Linse entsteht. Ich blinzle ihn fort. Es dauert, bis er verschwindet, und ich frage mich kurz, ob er sich zu einem Kopfschmerz auswachsen wird. Oder zu Schlimmerem. Aber zu meiner Erleichterung geschieht nichts dergleichen.
Paul macht den Motor aus, und wir sitzen einen Moment lang schweigend im Auto. Die gespannte Erwartung ist beinahe greifbar. Als wären wir zu nervös, um auszusteigen. »Sind wir wirklich zu Hause?«, flüstere ich und strecke die Hand aus, die er sofort in seine nimmt.
»Ja. Zumindest für eine Weile.«
Ich öffne die Autotür, und die kühle Luft entweicht, als die feuchte Hitze von draußen ins Auto strömt. Ich will aussteigen, doch Paul ruft: »Warte!«
Er eilt um den Wagen herum, greift nach meiner Tür und öffnet sie vollständig. Dann lehnt er sich nach vorne und streckt mir die Hand entgegen. Die Geste ist unheimlich süß. Romantisch. Und mir wird unwillkürlich klar, wie attraktiv er ist. Der Bart, den er sich neuerdings wachsen lässt, verleiht ihm etwas Hartes, Raues, und ich nenne es liebevoll den »Holzfällerlook«. Er steht in ziemlichem Gegensatz zu seinem normalerweise sehr gepflegten, modebewussten Stil, aber er passt zu ihm. Dank der freundlichen Augen und der dicken, dunklen Haare wirkt er weitaus weniger verbraucht und zermürbt, als man es aufgrund der Umstände annehmen würde. Dabei hätte es ihm jeder nachgesehen, wenn er sich hätte gehen lassen. Immerhin hat er die letzten Jahre praktisch im Alleingang zwei kleine Kinder großgezogen.
Ich nehme seine Hand und steige aus. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass sie uns hier wohnen lassen.«
Paul lacht. »Jack ist ein alter Freund. Er schuldet mir noch etwas.«
»Ich hoffe, wir machen nichts kaputt«, meine ich nervös und mehr zu mir selbst.
Er zieht mich an sich, um mich zu drücken. »Diese Unsicherheit sieht dir gar nicht ähnlich …«, scherzt er und streichelt liebevoll meine Wange. »Ich habe dir doch gesagt, dass sie das alles ziemlich entspannt sehen.«
Pauls Freunde lassen uns ein Jahr lang hier wohnen, während sie beruflich in Amerika sind. Es ist perfekt: Wir können das Landleben testen, bevor wir uns selbst etwas kaufen, und sie haben jemanden, der kostenlos alles im Auge behält.
Er drückt mir einen schnellen Kuss auf die Lippen. »Mach es dir nicht selbst kaputt, Darling.«
Ich nicke lächelnd. Ich werde es versuchen.
Ein Krähenschwarm zieht laut krächzend über uns hinweg, und ich drehe mich, um den Krähen nachzusehen, bevor sie im dichten Wald hinter dem Haus verschwinden.
»Lauren!«, ruft Margo, und ich fahre eilig zum Auto herum. Sie sieht mich mit diesem schroffen Blick an, den sie immer aufsetzt, wenn ich etwas vergessen habe, und ihre Unterlippe schiebt sich geringschätzig nach vorne. Meine Unerfahrenheit bringt sie zur Verzweiflung. Ich öffne die Autotür und den Sicherheitsgurt und helfe ihr aus dem Wagen. Die graue Katze fällt zu Boden, und ich hebe sie auf. Jesse hat seinen Gurt selbst geöffnet und steht bereits neben seinem Vater, der gerade an seinem Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel sucht. »Das ist unser neues Haus«, erklärt Margo herrschaftlich. Sie lispelt ein wenig, und es klingt unglaublich süß.
»Ja, für ein paar Monate.« Ich trete hinter sie und ziehe den Haargummi aus ihren Haaren, der sich während der Fahrt gelockert hat. Sie legt den Kopf in den Nacken, und ihre grünen Augen mustern mich. Das macht sie oft. Als müsste sie nachsehen, ob ich noch da bin.
»Bekomme ich ein eigenes Zimmer?«, fragt sie.
»Ja, das habe ich dir doch schon erzählt.« Ich wische ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie lächelt vergnügt. Ich liebe es, sie glücklich zu machen.
Du meine Güte, habe ich den Verstand verloren? Das dachte ich mir, als Paul mir zum ersten Mal von der bald vierjährigen Margo und dem bald fünfjährigen Jesse erzählte. Aber als ich sie zum ersten Mal sah, traf mich die Liebe wie ein Blitz. Und als Margo schließlich ihre stämmigen, weichen Arme um meinen Hals schlang, wollte ich sie nie wieder loslassen. Das war meine Chance, Mutter zu werden. Und ich würde nicht zulassen, dass das, was die Leute über mich – oder über uns – dachten, sich zwischen uns drängte. Jesse war nicht so leicht zu überzeugen. Aber das ist einfach ein Teil seiner Persönlichkeit. Er ist nicht so arglos wie seine Schwester, und das ist okay. Er braucht Zeit, was unter den gegebenen Umständen vollkommen verständlich ist.
Immerhin bin ich bloß Plan B.
Ich nehme Margos Hand, und wir gehen zu den beiden Männern. Als wir vier schließlich in einer Reihe stehen und unser neues Zuhause betrachten, spüre ich ein aufgeregtes Flattern in der Brust. Welche Erinnerungen werden wir hier für uns erschaffen?
Paul hat den richtigen Schlüssel gefunden. »Hurra!«, ruft er, steckt ihn ins Schloss und tritt ins Haus.
Unser gemeinsamer Neuanfang – und der erste Tag meines Lebens als Mutter. »Okay, legen wir los!« Ich drücke Margos Hand, und wir folgen Paul ins Haus, während ich versuche, das Bild zu ignorieren, das mir folgt wie ein Schatten und sich weigert zu verschwinden.
Das Bild von ihr.
Ihre Augen, die mich beobachten. Ihr Blick, der über mich urteilt. Da ist dieses Gefühl in mir, dass ich mich schuldig fühlen müsste, weil mein Wunsch, Mutter zu sein, so groß war. Ich bin eine Kranke, die ein Spenderorgan erhalten hat. Denn ich bin nur hier, weil sie tot ist. Und ich werde ihr als Mutter niemals das Wasser reichen können.
Ich schüttle den Gedanken ab. Ich werde nicht zulassen, dass sie mir das hier ruiniert. Also setze ich ein Lächeln auf und versichere mir, dass mein Herz nicht vor Angst, sondern vor Aufregung so schnell schlägt.
Jesse sitzt im Schneidersitz neben mir auf dem Küchenboden, zieht einen Kaffeebecher aus dem Pappkarton und streckt ihn mir entgegen. Zerknülltes Zeitungspapier fällt zu Boden, und ich nehme ihm den Becher eilig ab. Ich bin mir nicht sicher, ob der Inhalt des Kartons Jesses unbeholfene kleine Hände überleben wird. Aber er hat so viel Spaß, dass ich das Risiko gerne eingehe. Es kommt nicht oft vor, dass wir eine Möglichkeit finden, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Normalerweise steht er zwei Schritte entfernt und überlegt bereits, wie er unauffällig noch weiter zurückweichen kann. Heute scheint es ihm allerdings Freude zu bereiten, mir einen Becher nach dem anderen zu geben, damit ich ihn auswaschen und auf die Arbeitsplatte aus Edelstahl stellen kann.
Außerdem wären ein paar zerbrochene IKEA-Becher ein geringer Preis dafür, dass sich die Unruhe, die schon die ganze Zeit wie eine Wolke über ihm schwebt, endlich auflöst. Die einfache Tätigkeit scheint ihn von der Tragweite dessen abzulenken, was gerade in seinem Leben vorgeht.
»Ich dachte, wir hätten vier von denen hier«, sage ich und zeige ihm einen blauen Becher. Er sieht das Geschirr durch, das noch in Zeitungspapier verpackt im Karton wartet.
»Hier, bitte sehr, Lauren«, erwidert er und streckt mir den vierten blauen Becher entgegen.
»Danke. Du bist eine große Hilfe«, lobe ich ihn, während ich ihm den Becher aus der Hand nehme, und zwinkere ihm zu. Seine Wangen beginnen zu glühen, aber ich weiß, dass er sich über das Kompliment freut. Jesse ist ein schüchterner Junge, der nicht gut mit Veränderungen klarkommt. Paul und ich haben oft und lange darüber gesprochen, wie er damit umgehen wird, dass wir London verlassen. Paul glaubt, dass er einige Zeit brauchen wird, um sich daran zu gewöhnen, und dann wird alles gut sein. Es ist eine Reise, auf der wir ihn bestmöglich unterstützen werden. Wir – ich liebe es, wenn Paul so etwas sagt. Es bedeutet mir unglaublich viel, dass er mich als Teil der Familie sieht.
Ich blicke zu Margo, die ich an den Esszimmertisch gesetzt habe. Ihre Stifte liegen überall verstreut, und sie malt begeistert in ihrem Malbuch. Ein Ellbogen hält die Seite fest, und sie stützt den Kopf mit der Hand ab, während sie ein Kinderlied summt und ihr Filzstift über das Papier kratzt. Sie wirkt zufrieden und vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie gerade das einzige Zuhause verlassen hat, das sie kannte. Die beiden sind wie Tag und Nacht. Aber das hat seinen Grund. Als älterer Bruder hat Jesse viel mehr davon mitbekommen, was zu Hause passiert ist.
Mein Blick wandert über die Kücheninsel hinweg in den offenen Wohnbereich, der dank der doppelt so hohen Decke und den riesigen Glastüren, die auf die Terrasse und schließlich auf einen weitläufigen, von hohen Kiefern gesäumten Rasen hinausführen, beinahe unendlich wirkt. Der Himmel ist noch blau, auch wenn der Abend langsam näher rückt. Ich freue mich auf später, wenn es stockdunkel ist und ich mich auf das Sofa legen und zu den Sternen hochblicken kann.
Ich vermag immer noch nicht zu glauben, dass ich in einem solchen Haus wohnen werde. Das Erdgeschoss wird von einem modernen Kaminofen zweigeteilt, der wie ein riesiger schwarzer Hammer von der Decke hängt. Die Möbel sind in gedämpftem Braun, Beige und Schwarz gehalten. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Esstisch für zwölf Personen mit den dazu passenden Wishbone-Stühlen (den Namen hat mir Paul verraten), die sehr teuer aussehen. Wie alles hier. Die Kissen, die Teppiche, die Bilder an den Wänden.
Auf der anderen Seite des Kamins befindet sich der Flur, der zu den Kinderzimmern, dem Badezimmer, Pauls Arbeitszimmer und zur Treppe ins Obergeschoss und damit ins Elternschlafzimmer führt. Es gibt kein Geländer, sondern nur eine Glaswand, die entlang der Stufen verläuft.
Die Besitzer haben einiges zurückgelassen – vermutlich Dinge, die sie lieber in ihrem neuen Wohnort kaufen, anstatt sie verschiffen zu lassen. Schon kurz nach dem Eintreffen sind die Kinder auf eine Puppenküche im Shaker-Stil gestoßen, die im Wohnzimmer in der Ecke steht. Ich musste sie allerdings erst säubern und die roten Töpfe und Pfannen ausspülen. Alles hier ist von einer dünnen Staubschicht bedeckt, und es ist weit mehr, als ich nach einer sechsmonatigen Abwesenheit vermutet hätte. Ich muss also nicht nur alles auspacken, sondern gleichzeitig auch sauber machen, und es wird eine Weile dauern, bis wir uns so richtig wohlfühlen können. Ich ermahne mich, es nicht zu übertreiben. Aber ich bin mehr als bereit für das alles, und es ist immerhin mein Job, dafür zu sorgen, dass sich die Familie hier zu Hause fühlt.
Draußen hüpft ein Vogel über den Rasen und pickt mit seinem Schnabel im Gras. Ich frage mich, wie wir uns je wieder daran gewöhnen sollen, von Steinwänden umgeben zu sein. Unser Aufenthalt in diesem Haus wird uns so sehr verwöhnen, dass es uns schwerfallen wird, später in ein Haus zu ziehen, das wir uns auch leisten können. Als ich in Pauls Mietwohnung in London zog, hatte er gerade das Haus verkauft, in dem er mit Emma gelebt hatte. Er hat also genug Geld, um etwas Neues zu kaufen, aber ich will nicht neugierig sein und ihn fragen, wie viel es ist, denn womöglich würde ich damit eine Grenze überschreiten. Manche Leute sind seltsam, wenn es um ihre privaten Finanzen geht, und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich in dieser Hinsicht nichts beitragen kann und mich völlig auf ihn verlassen muss. Wie auch in jeder anderen Hinsicht. Hoffentlich wird es nicht für immer so bleiben, und ich kann ihm seine Liebenswürdigkeit eines Tages vergelten. Vorerst darf ich nicht zu viel darüber nachdenken, sonst fühle ich mich nutzlos. Noch so eine Sache, über die ich lieber nicht spreche.
»Mummy …«, beginnt Jesse, doch dann wird ihm sein Fehler bewusst, und er bricht ab. Er wirkt beschämt. »Ich meine, Lauren …«, murmelt er mit gesenktem Kopf und starrt zu Boden. Seine Hände zittern.
Ich gehe neben ihm in die Hocke und drücke ihn an mich. »Ist schon okay«, sage ich sanft. Er hat Emma auf unendlich tragische Weise verloren. Krebs. Sie ist innerhalb weniger Monate vor den Augen ihrer Familie verwelkt und schließlich gestorben. Er war so jung – ist es noch immer. Aber sie existiert für ihn nur noch in Form von bruchstückhaften Erinnerungen. In Form von Momenten, die er nicht versteht. Es war unglaublich beängstigend und grauenvoll für ihn, und jetzt kann er sich kaum an sie erinnern. Paul spricht selten über seine verstorbene Frau – zumindest nicht in meiner Gegenwart. Sein eigener Schmerz ist zu frisch und der Schmerz seiner Kinder kaum zu ertragen. Margo war erst ein Jahr alt, als es passierte. Sie hat keine Ahnung, dass etwas fehlt. Aber Jesse schon. Das Gewicht, das er mit sich herumschleppt, ist für mich nicht zu übersehen. Die Trauer darüber, sich nicht mehr richtig an jemanden zu erinnern, und die Erkenntnis, dass andere viel mehr über diese Person wissen als man selbst.
Ich war noch sehr klein, als meine Eltern starben. Ich wuchs bei meiner Tante und meinem Onkel auf, die kurz nach meinem Schulabschluss nach Australien ausgewandert sind. Ich mache ihnen keine Vorwürfe deswegen. Sie waren über sechzig, als sie sich damit abfinden mussten, dass ich ab jetzt auch noch da war. Ich hatte vor, nach Sydney zu fliegen, doch dann kam es zu dem Überfall, und natürlich fiel dadurch alles ins Wasser. Mein Onkel ist inzwischen zu alt, um zurück nach Großbritannien zu reisen, und meine Tante würde ihn nie alleine lassen. Wir schreiben einander E-Mails, und ab und zu bekomme ich eine Postkarte, was wirklich süß von ihnen ist. Ich bin sehr dankbar für alles, was sie für mich getan haben. Sie hätten es verdient gehabt, sich zu entspannen und das Leben zu genießen, doch dann tauchte ich plötzlich auf. Ich will ihnen auf keinen Fall noch einmal zur Last fallen. Vielleicht können wir sie eines Tages besuchen, wenn die Kinder älter sind. Nach allem, was ich durchgemacht habe, würde ich sie gerne noch einmal persönlich sehen. Paul findet die Idee gut, aber der Gedanke, mit zwei Kindern vierundzwanzig Stunden lang in einem Flugzeug zu sitzen, ist einfach grauenhaft. Glücklicherweise gibt es iPads.
»Sorry«, meint Jesse, der es noch immer nicht schafft, den Blick zu heben.
Ich drücke ihn erneut und küsse seinen Scheitel. »Ist schon gut, Jesse.« Um ehrlich zu sein, würde es mich freuen, wenn seine Schwester und er mich eines Tages Mummy nennen würden. Aber ich weiß, dass bis dahin noch einige Zeit und Arbeit notwendig sind. Und ich habe keine Ahnung, wie Paul darauf reagieren würde. Es wäre auf jeden Fall ein großer, bedeutungsvoller Schritt. Ich will sie nicht ersetzen. Aber das ist etwas, das die Kinder irgendwann entscheiden können. Paul hat noch nicht einmal um meine Hand angehalten.
Wir setzen unsere gemeinsame Arbeit fort, Jesse packt das Geschirr aus, während ich es abspüle.
»Tut mir leid, dass es heute so langweilig zugeht«, sage ich.
Er zuckt mit den Schultern. »Nur Langweilern wird langweilig.«
Ich lächle. »Das war gerade sehr schlau, Jesse.«
Das Auspacken und Verstauen dauert viel länger als erhofft. Vor allem, weil ich nichts von den Küchenutensilien von Pauls Freunden verwenden will, um nichts kaputt zu machen. Lieber reinige ich sie, sortiere sie in die leeren Kartons und trage sie in die Garage.
Paul hält im Vorbeigehen inne und betrachtet mich mit einem verwirrten Lächeln. »Sie meinten doch, dass es ihnen nichts ausmacht, wenn wir ihre Sachen verwenden.«
»Kinder machen immer alles kaputt, Paul. Es ist mir lieber so.« Er zuckt mit den Schultern und lässt mich weitermachen. Er hält mich für übervorsichtig, aber nach allem, was er mir über seine Freunde erzählt hat, könnte ich mir vorstellen, dass sie meine Umsicht zu schätzen wissen. Außerdem halte ich es nicht aus, wenn ich mir ein Jahr lang Sorgen machen muss, dass etwas zu Bruch geht. Ich wette, Emma hätte dasselbe getan. Nein, das stimmt nicht. Emma hätte gar nicht erst darüber nachgedacht. Sie hätte die Situation von Anfang an unter Kontrolle gehabt.
»Es ist echt heiß hier drin«, erkläre ich, gehe zu den Terrassentüren und öffne eine davon. Es macht keinen Unterschied. Tatsächlich habe ich gerade noch mehr warme Luft ins Haus gelassen. Sehnsüchtig blicke ich in den Garten hinaus. Er ist genauso verwachsen und ungepflegt wie die Zufahrtsstraße. Trotzdem freue ich mich darauf, das Auspacken morgen für ein paar Stunden zu unterbrechen, um mit den Kindern hinaus in die Sonne zu gehen. Ich glaube, Paul hat einen Rasensprenger in der Garage entdeckt. Jetzt, da wir einen Garten haben, muss ich unbedingt ein Planschbecken besorgen. Ich stelle mir den Garten vor, wenn er sorgfältig gepflegt ist und das Gras gemäht wurde. Ich sehe mich in einem fließenden Baumwollkleid, wie ich Wassermelonenstücke an Jesse und Margo verteile, damit sie etwas zum Knabbern haben. Der klebrige rosafarbene Saft rinnt über ihre Unterarme, dann laufen sie kreischend zurück unter den Sprenger. Das Bild lässt mich innehalten. Einen Moment lang weiß ich nicht mehr, was ich gerade tun wollte.
»Lauren?« Ich fahre überrascht herum. Paul steht neben mir. »Ist alles okay?«, fragt er stirnrunzelnd.
»Ja klar.« Ich schenke ihm ein breites Lächeln, das seine Sorgen hoffentlich zerstreut.
»Mach doch zwischendurch mal eine Pause«, schlägt er vor. »Das System, das du dir überlegt hast, bedeutet doppelte Arbeit für dich. Sag mir, was ich tun soll. Ich helfe dir.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, mir geht es gut. Ehrlich. Ich bin voller Tatendrang. Und ich habe den besten Assistenten überhaupt.« Ich sehe lächelnd auf Jesse hinunter, der stolz nickt.
»Okay, na gut. Um Jacks Büro musst du dich nicht kümmern, das übernehme ich. Er meinte, dass ich es gerne benutzen darf, aber dass ich seine Sachen vorher besser fortsperren soll, immerhin gehen Leute ein und aus, und er hat seine ganzen wichtigen Unterlagen in dem Zimmer.«
Ich nicke und öffne den nächsten Küchenschrank. Er ist voller bunter Trinkbecher und Teller aus Plastik, und ich sehe sogar ein paar Babyfläschchen. Ich greife nach einem der Becher und betrachte ihn. Er wurde offenbar regelmäßig benutzt. Mein Finger gleitet über die Kratzer im Plastik. Ein Becher, wie er in vielen Familien zu finden ist. Ich sehe mich in dem gediegenen Haus um. Es wirkt so unberührt und makellos. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass hier Kinder gelebt haben sollen.
»Meine Freunde haben ein kleines Mädchen in Margos Alter«, erinnert mich Paul. »Und sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir ihre Sachen benutzen. Wenn sie zurückkommen, wird sie ohnehin zu groß dafür sein. In der Garage steht ein Kindersitz, den wir nehmen können, anstatt einen neuen zu bestellen, um den beschädigten Kindersitz zu ersetzen.«
Entschieden schüttle ich wieder den Kopf. Es ärgert mich, dass er es nicht verstehen will. »Nein, Paul. Er wird bloß schmutzig, und es wäre abstoßend, wenn sie danach Essensreste darauf finden. Das möchten sie sicher nicht.« Missbilligend verziehe ich den Mund. »Ich werde versuchen, einen hierherliefern zu lassen.«
»Das Haus steht doch nicht auf dem Mars«, erwidert er lachend, ehe er meinen Unmut bemerkt.
Er tritt mit geöffneten Armen auf mich zu und schließt mich in eine Umarmung. Mein Ärger verraucht.
»Bist du dir sicher?«, murmle ich mit dem Mund an seiner Brust.
»Komm schon, ist es nicht wunderbar hier? Ich habe endlich wieder das Gefühl, frei atmen zu können.« Er drückt mich und wiegt mich sanft von einer Seite zur anderen, wie er es immer tut. Er ist begeistert, dass wir hier sind. Und ich bin es auch. Nur etwas zögerlicher. Paul besitzt die Fähigkeit, sich voller Selbstbewusstsein in eine neue Situation zu stürzen, aber ich bin dazu offenbar nicht fähig.
»Es ist atemberaubend«, erwidere ich, weil ich die Stimmung nicht verderben möchte.
Ich verstaue das Kindergeschirr in der Umzugskiste, die wir gerade ausgeräumt haben, schließe sie und fixiere den Deckel mit Klebeband, bevor ich den Karton hochhebe und zu der Tür gehe, die vom Inneren des Hauses in die Garage führt. Er ist nicht schwerer als die anderen, aber ich fühle mich ein wenig benommen. Auf dem Weg fällt mein Blick auf ein seltsames Gebilde an der Decke, und ich halte inne. Es ist eine glänzende Kugel und sieht aus wie die Sicherheitskameras in einem Einkaufszentrum, nur kleiner.
»Warte, lass mich das machen.« Paul eilt auf mich zu, um mir den Karton abzunehmen. Ich senke den Blick und bemerke, dass meine Hände zittern.
»Ist schon gut«, murmle ich, lasse aber zu, dass er die Kiste entgegennimmt. »Ist das eine Kamera?« Ich deute mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.
Paul folgt meiner Geste mit dem Blick. Er runzelt die Stirn und presst die Lippen aufeinander. »Ich bin mir nicht sicher. Wäre möglich. Aber ich weiß nicht, womit sie verbunden sein könnte.« Er stellt den Karton ab und geht zu einem elegant aussehenden Bedienfeld an der Wand. »Ich sehe hier nichts«, meint er und tippt auf das Display. Er sieht sich um, dann fügt er hinzu: »Vermutlich ist sie mit einer App verbunden und nicht aktiv.«
»Du glaubst doch nicht, dass … dass sie uns beobachten, oder?« Ich winde mich verlegen. Ich habe gerade ihre persönlichen Sachen durchgesehen.
»Nein, natürlich nicht, Lauren.« Paul lacht. »Wahrscheinlich haben sie die Kamera längst vom Netz genommen. Ich kann nachfragen, wie man sie aktiviert, wenn du willst. Dann könnten wir sie verwenden?«
Ich schüttle den Kopf. »Es ist doch seltsam, eine Sicherheitskamera im Haus zu installieren und nicht draußen, oder?«
»Meine Freunde sind wohlhabend, und wohlhabende Menschen haben viel zu verlieren.« Er kommt zu mir und muss erneut meine Sorgen zerstreuen. »Bitte mach dir keine Gedanken darüber, okay?«
Er zieht mich in eine weitere Umarmung. »Ich will auf keinen Fall, dass dich die Situation zu sehr belastet. Wir sind vor allem deshalb aus der Stadt raus, damit du zur Ruhe kommst und dich erholst.«
»Es belastet mich nicht«, flüstere ich. Versuch es doch einfach, Lauren. Warum kannst du nicht ausnahmsweise mal etwas genießen? Warum suchst du ständig nach Negativem? Ich sehe zu, wie er sich müde bückt, um den Karton wieder hochzuheben. Armer Paul. Nach allem, was er für mich getan hat. Er wird mich bald satthaben, wenn ich ständig alles schlechtmache. Ich seufze und bin wütend auf mich selbst. Als ich nach seinem Ärmel greife, stellt er den Karton wieder ab und erlaubt mir, ihn hochzuziehen, bis unsere Lippen sich beinahe berühren. »Es tut mir leid«, hauche ich.
»Bist du glücklich darüber, dass wir jetzt hier sind?«, flüstert er in meine Haare.
»Unendlich«, flüstere ich zurück. »Ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich mehr, als du jemals begreifen wirst«, sagt er, und ich schließe einen Moment lang die Augen, um seine Worte zu genießen.
Ein lautes Poltern aus der Küche lässt uns auseinanderfahren. Wir drehen uns überrascht um. Jesse steht mitten in der Küche, von seiner Hand tropft Blut.
»Tut … tut mir leid …«, stammelt er.
»Nicht bewegen«, befiehlt Paul mit fester Stimme. Er eilt zu Jesse, und ich folge ihm.
Margo richtet sich auf und beginnt zu weinen.
»Nicht bewegen, Jesse, du hast keine Schuhe an«, erinnert Paul seinen Sohn. Jesse sieht auf seine nackten Füße hinunter und weint ebenfalls los. »Schon gut. Es ist alles gut«, meint Paul streng, hebt den Jungen von den kalten, harten Fliesen und stellt ihn weiter entfernt von den Scherben wieder ab.
»Paul!«, rufe ich, denn nun steht Jesse auf einem cremefarbenen Teppich. Er wirft mir einen verärgerten Blick zu. »Tut mir leid, ich …«, murmle ich und fühle mich mies, weil meine größte Sorge der Einrichtung und nicht seinem Sohn galt.
»Es tut mir leid, Daddy. Es tut mir leid«, schluchzt Jesse und sieht nervös zu seinem Dad hoch.
»Ist schon okay.« Paul massiert beruhigend Jesses Rücken, dann hebt er dessen Hand wie einen verletzten Vogel hoch und betrachtet die Wunde. Der Kleine wendet den Blick ab, als hätte er zu große Angst davor, was er sehen wird. »Der Schnitt ist nicht tief. Wir reinigen die Wunde und suchen dir ein Pflaster, und dann bist du wieder so gut wie neu«, versichert Paul seinem Sohn.
»Das war alleine meine Schuld, Jesse. Ich hätte dir helfen sollen«, erkläre ich.
Paul, der noch immer seinen kleinen Jungen umarmt, sieht zu mir hoch, und der Unmut in seinem Blick entgeht mir nicht. Tut mir leid, hauche ich, und er schüttelt kaum merklich den Kopf.
Margo kommt mit einem Filzstift in der Hand zu uns. »Müssen wir ins Krankenhaus?«, lispelt sie und versucht, einen Blick auf die Wunde zu erhaschen.
»Nein, dieses Mal reicht ein Pflaster«, antworte ich und lege einen Arm um sie.
»Mein Arztkoffer?« Sie sieht mich an. »Wo ist er?«
Ich lache auf. »Willst du Jesses Hand verbinden?«
»Unbedingt«, erwidert sie mit ernstem Gesicht.
»Dann komm. Ich glaube, er ist in einem der Kartons da drüben.« Ich werfe einen Blick auf Jesse und seinen Vater. Jesse ist von Paul zurückgetreten, der sein Handy herausgeholt hat. Ihre Beziehung war mir von Anfang an ein Rätsel. Paul verhält sich Jesse gegenüber manchmal so abweisend, wie er es Margo gegenüber niemals tun würde. Sind alle Väter härter zu ihren Söhnen als zu ihren Töchtern? Margo ist ein liebenswürdiges Kind, was dazu führt, dass die Leute bereitwilliger auf sie zugehen. Ich ermahne mich, dass ich mir mehr Mühe mit Jesse geben muss. Er hat genauso viel Liebe und Aufmerksamkeit verdient wie seine Schwester, auch wenn er sie nicht so bereitwillig erwidert.
Margo zieht an meiner Hand. »Jetzt komm schon«, befiehlt sie, und ich genieße das Gefühl, gebraucht zu werden. Denn auch wenn ich nicht die erste Wahl bin, bin ich trotzdem diejenige, die sie jetzt, in diesem Moment, bei sich haben möchte.
Mittlerweile sind ein paar Tage vergangen, und nachdem wir ein hektisches Wochenende damit verbracht haben, alles auszupacken und zu verstauen, fühlt sich das Haus ein wenig vertrauter an. Es war anstrengend, und das spüre ich. Es ist immer noch viel zu tun, aber wenigstens ist heute Montag, also habe ich ein paar Stunden, in denen ich mir nicht ständig Gedanken darüber machen muss, ob sich die Kinder angemessen versorgt und unterhalten fühlen. Margo beginnt heute mit dem Kindergarten und redet von nichts anderem mehr. »Gibt es dann auch Play Dates?«, fragt sie, denn offenbar ist sie versessener auf ein aktives Sozialleben, als ich es bin. Jesse hingegen schmollt. Er will nicht zur Vorschule. Er hat es bereits in London gehasst und oft Bauchschmerzen vorgetäuscht, damit er nicht gehen musste, was Paul immens unter Stress setzte.
Nun steigt er mitten im Sommersemester in die Vorschule ein, und ich kann nachvollziehen, wie unangenehm es sein muss, sich in eine Gruppe einzufügen, in der die Beziehungen und Hierarchien bereits festgelegt wurden. Das war einer der Gründe, warum wir so lange überlegt haben, ob wir hierherziehen sollen oder nicht. Am Ende gab die Tatsache den Ausschlag, dass Paul den Mietvertrag für seine Wohnung um ein Jahr hätte verlängern müssen und wir nicht so lange warten wollten. Außerdem konnte Jesse die Schule in London ohnehin nicht leiden – vielleicht fühlt er sich in einer kleineren Dorfschule sogar wohler. Und natürlich wollte Paul das Angebot seiner Freunde rasch annehmen, bevor sie es sich anders überlegten.
Darüber hinaus sagte er mir ständig, dass ich mich in der guten Landluft wesentlich besser erholen würde als in der smogverseuchten Stadt, und so beschlossen wir, es zu versuchen. Manchmal ist eine schnelle Feuertaufe der beste Weg, meinte Paul.
Es dauert ewig, bis wir an diesem Morgen das Haus verlassen. Zuerst finde ich die Wasserflaschen der beiden Kinder nirgendwo, dann suchen wir auch noch nach Jesses schwarzen Schuhen, die erst kurz vor dem Umzug geliefert wurden und die ich »an einen besonderen Ort« gepackt habe, damit wir sie nicht vergessen.
Mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Paul witzelt, dass er anfangen wird, überall im Haus Post-its zu verteilen, damit ich nichts vergesse, und ich lache darüber, aber in Wahrheit habe ich das Gefühl, auch in dieser Hinsicht zu versagen. Ich will nicht, dass er erfährt, wie unzulänglich ich mich die meiste Zeit über fühle. Deshalb versuche ich, meine schlechten Tage so gut es geht vor ihm zu verbergen.
Ich freue mich darauf, die Kinder jeden Tag in den Kindergarten und die Vorschule zu bringen, die sich beide im selben Gebäude wie die Grundschule befinden. In London war Paul durch die Arbeit derart eingespannt, dass die tägliche Autofahrt etwas war, was die Verbindung zu seinen Kindern aufrechterhielt. Aber da er jetzt hauptsächlich von zu Hause aus arbeiten wird, gibt er die Aufgabe gerne an mich ab. Dabei fühle ich mich erst seit Kurzem bereit, diese Art der Verantwortung zu übernehmen. Es ist schon schwer genug, zu Hause auf zwei kleine Kinder aufzupassen, aber außer Haus ist es eine überwältigende Erfahrung.
Aber jetzt sind wir hier, in unserem neuen Zuhause, und ich bin bereit, die anderen Eltern kennenzulernen und all die Dinge zu tun, die Mummys von Kindern in diesem Alter eben so tun. Geburtstagspartys, Elternabende, Trotzanfälle im Supermarkt – ich will alles. Das Gute, das Schlechte, das Grauenhafte. Ich verdränge das Gefühl, dass ich bloß eine Hochstaplerin bin. Als hätte mir jemand einen Universalschlüssel in die Hand gedrückt, obwohl er mir vor einiger Zeit noch erklärt hat, dass ich das Gebäude auf keinen Fall betreten darf.
Die Fahrt ins nächste Dorf führt zwanzig Minuten lang über mehr oder weniger verlassene Landstraßen. Ich sehe weit und breit kein anderes Haus. Erst jetzt wird mir klar, wie weit fort von jeglicher Zivilisation wir uns befinden, und ich bin überrascht, wie erleichtert ich bin, als wir die ersten Häuser entdecken. Ich setze den Blinker und nehme dieselbe Abzweigung wie an dem Wochenende, an dem wir uns nicht nur das Haus, sondern auch die Schule näher angesehen haben.
Das kleine Gebäude aus rotem Backstein steht am Rande einer großen Rasenfläche, und die Direktorin hat uns erzählt, dass die Väter dort am Samstagmorgen Cricket spielen. Ich stelle mir vor, wie Paul in dem typischen weißen, mit frischen Grasflecken übersäten Outfit auf dem Feld steht. Jetzt, wo wir mehr Zeit haben, geht er vielleicht auch wieder öfter unter Leute. In der Stadt war er ständig beschäftigt, und ich war nicht gerade die beste Begleitung für Dinnerpartys oder andere Veranstaltungen. Er hätte sich Jesse zuliebe gerne mehr bei diversen Schulveranstaltungen engagiert, und es tat ihm leid, dass er keine Zeit dafür hatte.
An der Hinterseite des Gebäudes befindet sich der mit Gummimatten ausgelegte Spielbereich, auf den Boden hat jemand mit bunten Farben diverse Springspiele gemalt, außerdem gibt es ein Holzgerüst zum Klettern, Schwungseile und eine Metallschaukel. Im Vergleich zu den riesigen Schulkomplexen in London wirkt alles sehr klein und rustikal.
Paul musste sich heute Morgen im Arbeitszimmer mit einem schwierigen Anruf herumschlagen und war untröstlich, dass er die Kinder nicht zu ihrem ersten Kindergarten- und Schultag begleiten konnte, während ich insgeheim froh bin und mich geehrt fühle, dass ich ein derart wichtiges Ereignis alleine bewältigen darf, denn es sagt viel über Pauls Glauben in Bezug auf mich und meine Position innerhalb seiner Familie aus.
Ich parke und beobachte die anderen Eltern, die ihre Kinder abliefern. Dann schließe ich einen Moment lang nervös die Augen. »Sind wir da?«, fragt Margo ungeduldig.
Wir steigen aus, und ich nehme die beiden an den Händen, bevor wir uns durch die Grüppchen von Schülern und Schülerinnen schlängeln, die sich aufgeregt unterhalten und einander voll morgendlicher Energie nachjagen. Ich fühle mich verloren und habe nicht wirklich eine Ahnung, wo wir hinmüssen. Die Glocke läutet, und alle heben aufmerksam die Köpfe. Die Lehrerinnen und Lehrer treten aus der Tür und warten geduldig, bis sich die Eltern von ihren Kindern verabschiedet haben. Ich sehe auf meinen Jungen und mein Mädchen hinunter. Sie umklammern ihre Wasserflaschen und haben noch immer Reste der Sonnencreme im Gesicht, die ich nicht vollständig verteilen konnte, bevor sie davongelaufen sind.
Was wieder einmal beweist, wie unnütz ich bin. Ich habe keine Chance gegen sie, vor allem, wenn sie wirklich überzeugt von einer Sache sind oder kurz vor einem Trotzanfall stehen. Außerdem bin ich mir nie sicher, ob ich überhaupt streng zu ihnen sein und ihnen Disziplin beibringen darf. Und natürlich will ich, dass sie mich mögen … oder, besser gesagt: dass sie mich lieben. Trotzdem ist es albern, sich von einer Dreijährigen und einem Vierjährigen auf der Nase herumtanzen zu lassen. Ich schätze, sie wissen ganz genau, dass sie mich im Griff haben. Ich seufze. Ich mache meinen Job wirklich nicht sonderlich gut.
Emma hingegen war die perfekte Mutter. Sie hat beide Kinder gestillt und sie nicht in die Kinderkrippe oder einen Kindergarten geschickt, weil sie alles alleine erledigen wollte. Sie hat jede Mahlzeit selbst gekocht und ihnen keinen raffinierten Zucker erlaubt.
Dinge, die Paul wie durch Zufall einfließen lässt, wenn ich gerade die Pastasoße aus dem Beutel umrühre oder anmerke, dass sie doch nicht jeden Abend ein Bad nehmen müssen.
Als ich zwei Lehrer entdecke, die ich von unserem ersten Besuch kenne, gehe ich in die Hocke, um den Kindern in die Augen zu sehen. »Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag, Margo«, sage ich, umarme die Kleine und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. »Den werde ich haben!«, ruft sie und läuft los. Jesse rührt sich nicht von der Stelle, und ich lege ihm die Hände auf die Schultern. »Erinnerst du dich, was Christopher Robin zu Pu dem Bär sagt?«, frage ich und wiederhole eine Zeile aus dem Buch, das ich den Kindern neulich vorgelesen habe. Es ging um Mut und hat Jesse offenbar berührt, denn wir haben danach sogar darüber gesprochen. Er senkt den Blick, dann nickt er und geht zu den anderen Vorschulkindern.
Okay, diese Weisheit hat ihr Ziel offenbar verfehlt. Angst steigt in mir hoch.
Woher soll ich wissen, ob ich etwas richtig mache oder nicht?
Mit verschränkten Armen stehe ich da und beobachte die beiden Kinder, die sich in ihre jeweilige Reihe gestellt haben. Margo lässt ihre Trinkflasche fallen, die scheppernd auf dem Boden aufkommt. Ich mache zwei Schritte auf sie zu, doch da ist schon eine junge Betreuerin zur Stelle, die die Flasche eilig aufhebt. Die Glocke läutet zum zweiten Mal, und die junge Frau führt die Kindergartenkinder in die Schule. Margo sieht zurück, um sicherzustellen, dass ich noch da bin, und ich winke ihr fröhlich zu. Sie grinst. Als Nächstes klatscht Jesses Lehrer in die Hände und bringt seine Klasse in die Schule. Ich warte darauf, dass Jesse sich umdreht, aber er tut nichts dergleichen. Also lasse ich enttäuscht die erwartungsvoll erhobene Hand sinken.
Bekommt man diesen sogenannten Mutterinstinkt, von dem alle reden, nur bei eigenen Kindern? Ich stelle mir oft vor, dass Emma mich beobachtet, wie ich mit Margo umgehe, wenn sie sich weinend auf den Boden wirft, oder mit Jesse, wenn er sich weigert, zum Abendessen aus seinem Zimmer zu kommen. Ich kann ihr missbilligendes Schnauben beinahe hören.
Manchmal schaffe ich es, ihnen Informationen über ihr früheres Leben zu entlocken – was im Grunde ziemlich masochistisch von mir ist. Ich muss immer aufpassen, dass ich Paul nicht verärgere, denn er verliert schnell die Fassung, wenn er von Emma erzählt. Und wenn ich sehe, wie er trauert und wie sehr er sie geliebt hat, erscheinen mir meine Unzulänglichkeiten noch größer. Also habe ich gelernt, nur selten und sehr überlegt nachzuhaken – nicht nur zu seinem Wohl, sondern auch zu meinem. Sonst erkennt er womöglich, wie schlecht ich mich im Vergleich zu Emma schlage. Trotzdem gibt es da etwas in mir, das mehr über sie erfahren will.
Es tut weh, aber ich brauche es.
Emma hätte den heutigen Morgen mit Bravour gemeistert. Sie hätte Margo einen französischen Zopf geflochten, was ich noch nie hinbekommen habe, obwohl ich mir schon Dutzende YouTube-Tutorials angesehen habe. Ihre Haare gleiten mir einfach durch die Finger. Außerdem hätte sie weiße Socken mit Rüschen und schwarze Mary Janes getragen und nicht Jesses alte blaue Latschen mit dem Lkw-Aufdruck, weil ich ihre Schuhe nicht finden konnte. Paul meint, ich würde mich großartig schlagen, aber ich weiß, dass er mich nur aufmuntern will. Ich spüre, wenn er einen weiteren Fehler meinerseits bemerkt hat, aber versucht, nicht zu nörgeln oder mich herablassend zu behandeln, indem er mich darauf hinweist.
»Hi.« Ich drehe mich um und sehe, dass eine Frau hinter mir steht. Sie ist etwa fünf Jahre älter als ich, hat die blonden Haare zu einem nachlässigen Knoten hochgedreht und trägt ein blau-weiß gestreiftes Oberteil und kleine goldene Ohrringe. »Du bist neu hier«, stellt sie in einem leicht anklagenden, ziemlich aufdringlichen Tonfall fest, der mir allerdings sofort gefällt.
Ich schenke ihr ein Lächeln. Genau auf diesen Moment habe ich gewartet. Ich hole Luft, bevor ich loslege. »Ja, ich bin Lauren. Wir sind am Wochenende hierhergezogen.« Ich spüre, wie sie mich mustert. Hat sie bemerkt, dass ich eigentlich nicht ans Schultor gehöre? Ich habe es ohne die üblichen Hürden so weit geschafft, hatte keine schlaflosen Nächte und keine Wehen. Ich habe das System ausgetrickst.
»Ich bin Isobel. Willkommen! Schön, mal wieder frisches Blut hier zu haben«, witzelte sie freundlich. »Welches Jahr?« Sie deutet mit dem Kopf in Richtung Schule, und ich brauche einen Moment, ehe mir klar wird, dass sie über die Kinder redet.
»Margo ist im Kindergarten, Jesse in der Vorschule.«
»Du meine Güte, ihr habt nicht lange gefackelt, was?« Ich habe keine Ahnung, ob ich ihr jetzt schon gestehen soll, dass ich nicht die leibliche Mutter der beiden bin, und sie redet weiter, bevor ich eine Entscheidung getroffen habe. »Saskia besucht ebenfalls den Kindergarten. Wir müssen uns unbedingt zu einem Play Date verabreden!«
Die Einladung freut mich so, dass ich grinsend den Blick senke. »Das wäre schön. Wohnt ihr schon lange hier?«
»Wir sind vor acht Jahren hergezogen. Wir hatten plötzlich das Bedürfnis, das versmogte Camberwell hinter uns zu lassen. Kommt ihr auch aus London?« Ich nicke, und sie fährt fort: »Das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Das Landleben gewinnt an Reiz. Wo genau wohnt ihr denn?«
»An der Layton Road. Mitten im Nirgendwo, wenn man’s genau nimmt. Aber wir haben das Haus nur gemietet, bis …«
»Das Glashaus?«, unterbricht sie mich eilig und hebt fasziniert die Augenbrauen. »Ich kenne es nur vom Hörensagen. Es ist ein ziemliches Mysterium hier im Dorf, musst du wissen. Die Leute haben sich schon gefragt, wann wieder jemand einzieht.« Sie lehnt sich näher heran und senkt die Stimme. »Die letzten Bewohner waren sehr geheimnisvoll. Niemand hat sie kennengelernt, und ehe wir uns versahen, waren sie auch schon wieder fort!«
Ich lächle höflich. Die Heftigkeit, mit der sie spricht, überrascht mich. »Sie lassen uns dort wohnen, während sie beruflich in Amerika sind«, stelle ich klar.
»Ach, so ist das also.« Sie wirkt beinahe enttäuscht von der einfachen Erklärung. Als hätte ich eine Illusion zerstört. Dann steckt sie die Hand in ihre Tasche und zieht ihr Handy heraus. »Hier.« Sie reicht es mir. »Gib mir einfach deine Nummer, dann füge ich dich zur Elterngruppe hinzu.«
Ich tippe meine Nummer und den Namen ein und übergebe ihr das Handy mit einem zufriedenen Lächeln. »Super. Ja bitte, füg mich dazu. Das wäre nett.« Sie legt amüsiert den Kopf schief. Womöglich war ich gerade zu enthusiastisch. Vielleicht sollte ich es als nervtötende Verpflichtung sehen, die meinen ohnehin schon stressigen Alltag zusätzlich belastet.
»Ich werde dich an deine Worte erinnern, wenn wir das nächste Mal frisch gebackenen Kuchen und Leute für den Verkaufsstand brauchen«, kichert sie.
Verlegen stimme ich in ihr Lachen ein.
Wir verabschieden uns, und ich gehe zurück zum Auto. Nachdem ich die Tür geschlossen und den Motor gestartet habe, packt mich die Aufregung. Es ist schon ein paar Tage her, seit Paul und ich zuletzt Zeit ohne die Kinder verbringen konnten. Ich frage mich, ob er heute viel zu tun hat. In London arbeitete er in einem Krankenhaus und hatte oft Bereitschaft, was bedeutete, dass er von einer Minute auf die andere losmusste. Ein Albtraum, wenn man zwei kleine Kinder zu Hause hat. Bevor er mich kennenlernte, hatte er zahlreiche nutzlose Nannys. Ich kann kaum glauben, dass ich ihn nun die meiste Zeit für mich allein haben werde.
Ich parke vor dem Haus, steige aus und gehe beschwingt auf den Eingang zu. Vor der Haustür hole ich den Schlüssel aus der Tasche meiner Denim-Shorts. Mein Blick fällt auf ihn, und ich erstarre. Es ist der alte Schlüssel der Londoner Wohnung. Eigentlich sollte er in der Küche neben Pauls liegen. Werde ich mein ganzes Leben lang so vergesslich bleiben? Ich schüttle tadelnd den Kopf über mich selbst und klingle. Das darauf folgende laute Ta-Da! lässt mich überrascht zusammenzucken, und ich trete näher an die Glocke heran. Es ist ein Hightechmodell mit integrierter Kamera. Ich denke an Pauls Freunde, die dank der Kamera und ihrer Handys genau wissen könnten, wo wir uns gerade aufhalten. Die Vorstellung, beobachtet zu werden, gefällt mir nicht. Es ist ein beklemmendes Gefühl.
Paul öffnet die Tür und legt einen Arm um meine Schultern, um mich ins Haus zu ziehen. »Hey. Geht es den Kindern gut? Ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen, weil ich nicht dabei sein konnte. Ich habe versucht, den Anruf abzukürzen …«
»Keine Sorge«, beruhige ich ihn. »Es war alles okay. Es gab keine Szene oder so.«
Er drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Ich danke dir. Ich weiß, dass es alles andere als einfach für dich ist. Es ist eine große Veränderung, und die beiden können eine ziemliche Herausforderung sein«, erklärt er wissend.
Ich schüttle den Kopf. »Sie sind toll. Ich liebe sie. Inklusive Trotzanfällen, Gelächter und allem.« Ich sehe zu ihm hoch, und er küsst mich auf den Mund. Der Kuss beginnt zärtlich, dann wird er immer leidenschaftlicher. Wir halten inne, um Luft zu holen, und er nimmt mein Gesicht in die Hände. »Na, war das nicht eine gute Idee? Keine Rushhour, keine lauten Nachbarn, keine Vorgesetzten, die ständig etwas von mir wollen. Wir sind frei!«
Ich nicke glücklich, und er küsst mich erneut. Als sich unsere Lippen treffen, fällt mein Blick auf die Überwachungskamera an der Decke. Seine Zunge dringt in meinen Mund, aber ich sehe nur das kleine rote Licht, das plötzlich an der Kamera aufleuchtet. Seine Hand gleitet unter mein Oberteil und in meinen BH. Mein Kopf beginnt zu pochen. Ich schiebe ihn von mir.
»Was ist denn los?«, fragt er.
Ich sehe erneut nach oben. Das rote Licht ist verschwunden. Habe ich es mir nur eingebildet?
»Nichts«, murmle ich.
Am nächsten Tag sitze ich erschöpft, aber zufrieden auf dem Sofa. Die Eiswürfel in meinem Wasserglas schlagen klirrend aneinander, als ich einen Schluck nehme. Ich habe es geschafft. Alle Kartons sind ausgepackt, und das Haus ist blitzsauber. Jetzt kann ich mir eine wohlverdiente Pause gönnen und mich ein wenig entspannen. Mein Blick wandert über den Garten, und meine Zufriedenheit ist wie weggeblasen. Die Blumenbeete sind voller Unkraut, das auch schon den ungemähten Rasen überwuchert. Der Efeu breitet sich ungehindert aus. Ich blinzle mehrere Male.
Es muss nicht alles perfekt sein, versichere ich mir. Hör auf. Ruh dich aus. Genieße den Moment.
Das Problem ist, dass es zwar nichts gibt, was ich gegen die blinden Flecken in meiner Vergangenheit unternehmen könnte – aber meine Gegenwart und Zukunft liegen in meinen Händen.
Ein paar Minuten später beschließe ich, in der Garage nach Gartenwerkzeugen Ausschau zu halten.
Es riecht feucht und nach alter Farbe. Da ich den Lichtschalter nicht finde, muss ich mich mit dem Tageslicht begnügen, das durch die Spalte im Rolltor fällt. Es ist gerade hell genug, um nicht zu stolpern. In den blau lackierten Metallregalen stehen die Kartons mit den Sachen von Pauls Freunden, und ganz unten liegt ein staubiger alter Baby-Spielbogen. Es gibt eine Werkbank mit verschiedenen Werkzeugen, und von einem Balken hängen eine Axt und ein erdverkrusteter Spaten. In der Mitte des Raumes steht Pauls Boxsack, den er benutzt, um Dampf abzulassen. Ich schiebe mich daran vorbei, denn dahinter befindet sich das, wonach ich suche. Ich bücke mich und hole eine Pflanzschaufel, eine Grabegabel und eine Gartenschere aus dem Sack. Sehr gut. Ich lege alles zurück und nehme den ganzen Sack und einen alten Eimer für das gerupfte Unkraut mit.
In diesem Moment geht das Licht an, und ich wirble herum. Es dauert einen Augenblick, bis meine Augen sich an die neue Helligkeit gewöhnt haben.
»Hier, siehst du?«, ruft Paul.
»Was meinst du?« Ich lehne mich am Boxsack vorbei, damit ich ihn sehen kann.
»Den Lichtschalter.« Er lacht. »Warum schleichst du im Dunkeln herum?«
»Ich hab ihn nicht gefunden.« Ich zucke mit den Schultern. »Ich wollte nur ein paar Gartensachen holen. Ich halte den Anblick nicht länger aus.«
»Du solltest mal Pause machen. Bis jetzt hast du rund um die Uhr geschuftet.«
