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Maurice Renard

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Beschreibung

In Maurice Renards Buch "Er??" geht es um die fantastische Geschichte eines Mannes, der sich eines Tages in einen Gorilla verwandelt. Der Roman, der erstmals 1925 veröffentlicht wurde, besticht durch seinen einzigartigen Mix aus wissenschaftlichem Phantastik und psychologischer Tiefe. Renards einfühlsamer Schreibstil und seine Fähigkeit, komplexe Charaktere zu entwickeln, machen "Er??" zu einem faszinierenden Werk, das die Grenzen zwischen Mensch und Tier in Frage stellt. Der Autor, Maurice Renard, war ein bedeutender französischer Science-Fiction-Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts. Seine Neugier für wissenschaftliche Entwicklungen und seine Faszination für das Unheimliche spiegeln sich deutlich in seinen Werken wider, darunter "Er??". Das Buch bietet nicht nur Lesevergnügen, sondern regt auch zum Nachdenken über Identität und Menschlichkeit an. Fans von unkonventioneller Science-Fiction-Literatur und psychologischen Romanen werden von Maurice Renards "Er??" begeistert sein. Dieses Buch ist ein Meisterwerk des genreübergreifenden Schreibens und wird Leser mit seiner originellen Handlung, seinen tiefgründigen Charakteren und seinen philosophischen Themen fesseln.

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Maurice Renard

Er?

The Ultimate Gothic Romance Mystery and One of the First Locked-Room Crime Mysteries
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Inhaltsverzeichnis
Vorspiel
Kapitel I Eine Heirat, die nicht allen Leuten genehm ist
Kapitel II Herr Feuillard erzählt, was er weiß
Kapitel III Aubry und seine Herrschaft
Kapitel IV Gilbertes Wahnidee
Kapitel V Die Gräfin von Prase baut Luftschlösser
Kapitel VI Das Geheimnis der Avenue du Bois
Kapitel VII Das verräterische Album
Kapitel VIII Fräulein Java
Kapitel IX Die Bar
Kapitel X Beim Herrn Polizeipräfekten
Kapitel XI Die Enthüllung der Marie Lefebre
Kapitel XII Die Tätowierung des Jean Mareuil
Kapitel XIII Ein listiger Plan
Kapitel XIV Im Odeon
Kapitel XV Der Schutzengel Fourcade
Kapitel XVI Lionel verfolgt seine Idee
Kapitel XVII Gilberte in Luvercy
Kapitel XVIII Suggestion
Kapitel XIX Die Falle
Kapitel XX Offene Karte
Kapitel XXI Die Mörderschlange von Luvercy

Vorspiel

Inhaltsverzeichnis

Zwei Uhr morgens.

Bei der eisigen Kälte, die heute nacht herrschte, lag die Straße – ein verrufenes Seitengäßchen des Spielhöhlenviertels – verlassen und totenstill da.

Jemand bog um die Ecke; der Silhouette nach ein eleganter Herr; Zylinder, weißes Halstuch, schwarzer »Mac-Farlane«, Lackschuhe. Die Hände in den Taschen vergraben und den Spazierstock geschultert, daß der Griff die Schulter überragte, ging er elastisch und energisch wie ein Kavalier der großen Welt dahin, ohne den Schritt auch nur ein wenig zu verlangsamen, wenn er das Dunkel, das ihm zwischen den Lichtkegeln der Straßenlaternen wie ein finsteres Loch entgegengähnte, betrat. Seine Gesichtszüge konnte man nicht erkennen.

»Bitte um Feuer, mein Prinz!«

Der typische Anruf!

Der Kavalier blieb sofort stehen. Aus irgendeinem nachtschwarzen Winkel tauchte ein Apache auf, der hier gelauert, und versperrte den Weg.

»Pack dich!« befahl der Herr seelenruhig.

Eine heisere Stimme krächzte:

»Keine faulen Witze! Säcke ausgeleert!«

Mangels eines Revolvers, dessen er sich zur Verteidigung hätte bedienen können, leuchtete der Herr, ohne erst lang über die etwaigen Folgen seines Tuns nachzudenken, dem Strolche blitzschnell mit der elektrischen Taschenlampe mitten in das Gesicht und – stieß einen Ruf des Erstaunens aus.

Gerade fand er noch Zeit, rasch zur Seite zu springen, sonst wäre ihm die Lampe mit der Faust aus der Hand geschlagen worden.

»Einen Moment!« rief er. »Keine Dummheiten! Steck' das Messer ein in drei Teufels Namen!«

Und den Scheinwerfer der Taschenlampe gegen sich selbst kehrend, beleuchtete er jetzt grell das eigene Antlitz.

Mit ordinärem Fluche wich der Apache entsetzt zurück.

»Soso, Freundchen, du erkennst dieses Gesicht?«

Ohne ein Wort der Erwiderung machte der andere auf den Absätzen kehrt und ergriff die Flucht, als säße ihm der Leibhaftige im Nacken.

Augenblicklich nahm »der Herr der Gesellschaft« die Verfolgung auf. Leichtfüßig lief er hinter dem Kerl her und rief, indem er versuchte, seine Stimme möglichst zu dämpfen:

»Halt! Bleib' stehen! Ich werde nichts ausplaudern! Ich schwör' dir's! Himmeldonnerwetter, so bleibe doch stehn!... Laß uns miteinander reden... ich muß dich sprechen!«

Aber der Apache spielte den Tauben. Stumm und flink rannte er, so schnell ihn seine Beine trugen, weiter. Offenbar beseelte ihn nur der eine Wunsch, sich nicht erwischen lassen.

Das gelang ihm denn auch. Der Kavalier blieb immer weiter zurück und gab schließlich die aussichtslose Hetzjagd auf.

»Zu toll!« knurrte er, sich die schweißnasse Stirn abtupfend. »Aber ich kriege ihn schon noch... oder es müßte mit dem Henker zugehn! Ich muß die Geschichte in Ordnung bringen ... diesen Unglücklichen retten!«

Vag lächelnd und noch immer mit sich selbst weiterredend, trat er den Rückweg an. Er konnte sich von seiner Überraschung kaum erholen.

»Zum Teufel, wie hätte man etwas derart Lächerliches, etwas derart Groteskes erwarten können? Stehe ich da plötzlich diesem – Straßenräuber gegenüber! ... Ich muß Schluß machen ... der Skandal wäre zu peinlich! Vielleicht wird man mich töricht schelten, aber die Sache geht mir tatsächlich furchtbar nahe! ... Warte, Junge, ab morgen ...«

Die weiteren Worte verklangen in der Finsternis. Um die unliebsame Verzögerung wieder hereinzubringen, beflügelte der Kavalier seine Schritte.

Kapitel I Eine Heirat, die nicht allen Leuten genehm ist

Inhaltsverzeichnis

Elisabeth, Gräfin vonl Prase, saß vor einem großen Empireschreibtisch und prüfte einen Kontoauszug.

Da schnarrte ein paarmal leise der Telephonsummer. Die Gräfin ergriff den Hörer ihres Tischapparates. Genau zu derselben Sekunde beginnt das Abenteuer.

»Tante, bist du's?«

Der Hörer vibrierte unter den Schallwellen einer jungen frischen Stimme.

»Gewiß, liebes Kind!«

Die Pendeluhr schlug die achte Frühstunde.

»Gut geschlafen, Tante? Schon bei der Arbeit? ... Kann ich dich sprechen?«

Das junge Mädchen telephonierte so temperamentvoll, daß die Gräfin deutlich den Klang der Worte vernahm, die in dem Zimmer, das über ihrem Arbeitskabinette lag, gesprochen wurden.

»Du willst mich sprechen?« erwiderte sie. »Soll ich zu dir hinaufkommen?«

»Nein, Tante, nein! Das würde sich doch wohl nicht schicken. Ich werde vielmehr zu dir kommen, wenn du erlaubst?«

»Bitte!« – Etwas beunruhigt hängte die Gräfin wieder den Hörer ein.

Sie war ganz im Schwarz gekleidet und eine kleine dürre Frau. Bei ihren Augen schien der Schöpfer die Farbe gespart zu haben. Die nahenden Fünfziger bleichten bereits ihr mattblondes Haar, das sie nach der Mode ihrer Jugendjahre zu einem Knoten aufgesteckt trug. Ihrem Profile fehlte die markante Linie. Aber auf den an und für sich nichtssagenden Zügen lagerte ein Hauch düsterer Schwermut, den nicht einmal ihre besten Photographien richtig wiedergaben.

In Gedanken versunken, stützte sich die Gräfin auf der Klappe des Klappschreibtisches auf. Sorgenvoll kniff sie die blutleeren Lippen zusammen, die noch um eine Nuance bleicher wurden.

Gedämpft durch die Gobelinportiere erscholl jetzt der Lärm rasch die Stiege herabeilender Schritte, und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen, und ein ebenso entzückendes wie übermütiges junges Mädchen stürmte herein.

An den Füßen seidene Pantöffelchen, war sie in einen duftigen Morgenschlafrock wie in eine rosa Wolke eingehüllt. Dieses reizende »Déshabillé« paßte allerdings eher zu einer jungen Frau als für dieses lachende, kaum zur Jungfrau erblühte Kind.

»Guten Morgen, kleine Gilberte«, sagte die Gräfin, und ein Lächeln umflog ihre Mundwinkel.

»Guten Morgen, Tantchen!« echote die junge Dame.

Und ohne viel Geschichten zu machen, fiel sie ihrer Tante um den Hals und gab ihr zwei schallende Küsse auf die herben Wangen. Die Gräfin wußte gar nicht, wie ihr geschah. Sie erstickte fast unter dieser stürmischen Umarmung.

»Kind, du erwürgst mich!« keuchte sie.

»Macht nichts, Tantchen!« lachte der Wildfang. »Das spielt gar keine Rolle!«

Mit rosigen Wangen und lachendem Munde schmiegte Gilberte Laval ihre braunen Locken an das fahle Antlitz der alten Frau an, die das Haupt ein wenig zur Seite wandte, und blickte, fröhlichen Gedanken nachträumend, zu dem lichtdurchfluteten Fenster hin. Gar seltsam stach gegen die schönen, schelmischen Augen des jungen Mädchens und ihr glückverklärtes Wesen der trauerumflorte Blick und das alternde Gesicht der Gräfin ab.

»Tante, Tante!« rief Fräulein Laval.

»Nun, was denn? Drück' mich nicht so stark! Was ist denn los, daß du gar so freudenärrisch bist?«

»Ich bin so glücklich, Tantchen, so glücklich!«

»Zunächst laß mich mal los, kleine Teufelin!«

»Nein, nein, du darfst mich noch nicht anschauen, noch nicht!«

Die Kirschenlippen Gilbertes näherten sich dem wächsernen Ohre der Gräfin, als wollte sie ihr etwas heimlich zuflüstern. Dann erklärte sie jedoch mit Stentorstimme: »Ich heirate! ... Es ist dir doch recht, nicht wahr?«

War es Rührung? ... Die Gräfin preßte jäh ihre Wange gegen die ihrer Nichte.

»Du willst heiraten? ... wen? ...«

Diesmal hauchte ihr Gilberte in das Ohr: »Jean Mareuil.«

»Wer ist das? Kenne ihn nicht.«

»Freilich kennst du ihn, Tante. Er wurde dir ja bei den Paullacs vorgestellt! ... was hast du, Tante? ...«

Die Gräfin hatte sich aus den Armen ihrer Nichte gelöst. Ihre Miene verriet äußerste Bestürzung. Sprachlos starrte Gilberte ihre Tante betroffen an.

»Mir ist nichts, mein Kind«, lächelte die Gräfin gezwungen. »Daß mich die Sache etwas bewegt, ist wohl nur höchst natürlich?«

Gilberte erschrak. Sie fühlte, wie sich zwischen ihr und ihrer Tante jäh eine frostige Kluft auftat. Die Gräfin nahm es wahr. Sie trat auf das junge Mädchen zu und ergriff es bei der Hand.

»Schau', Gilberte, ich liebe dich, als sei ich deine arme Mama. Daher sorge ich mich, du könntest vielleicht einen vorschnellen Entschluß gefaßt haben. Eben erst feiertest du deinen achtzehnten Geburtstag. Was weißt du, mein Schatz, vom Leben? Bist du sicher, daß dieser Herr Mareuil der Mann ist, der dich glücklich machen wird?«

Gilberte runzelte, plötzlich verändert, die Brauen. Als die Gräfin das sah, zog sie das junge Mädchen zärtlich an sich und streichelte ihren Bubikopf, dessen tolle Löckchen sich von Natur so entzückend kräuselten.

»Komm, sei vernünftig!« meinte sie. »Ich muß doch den jungen Mann erst kennenlernen. Erkundigungen über ihn einziehen. Das ist unumgänglich notwendig. Und wenn er wirklich so ist, wie du glaubst...«

»O, das ist er! Darauf kannst du Gift nehmen, Tante.«

Die Gräfin zuckte leicht zusammen.

»Nun gut«, sagte sie. »Zieh dich jetzt an, Liebling. Dann wollen wir die Sache besprechen. Du gibst mir keinen Kuß, Gilberte?...«

Sichtlich kühl drückte das verwöhnte Kind einen flüchtigen Kuß auf die Stirn der Tante. Weit weniger fröhlich, als Gilberte gekommen, verließ sie hierauf das Zimmer.

Die Gräfin war wieder allein. Aus ihrem verstörten Blick sprach abgrundtiefe Seelenqual.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkend, ging sie ein paarmal auf und ab.

Totenstille herrschte ringsum. In schwarzen Gedanken durchwanderte sie immer wieder den schlicht möblierten Raum, der ihr als Arbeitszimmer diente und gleichsam das Boudoir dieser geschäftstüchtigen Frau bildete, und dessen Haupteinrichtungsstücke aus einem riesigen Geldschranke gegenüber einem geräumigen Aktenregal und dem Schreibtische bestanden.

Etwas jedoch verlieh dem Kabinett eine eigene Note. Das waren an den Wänden Trophäen von Waffen afrikanischer Völkerschaften: Schilde aus Leder oder stierhautüberzogenem Holz, Pfeilköcher und Bogen, und dazwischen Negerlanzen und Assagaien, deren breite, scharfe Stoßeisen unheimlich funkelten.

Die Gräfin hob die Lider und überflog träumenden Blickes den ganzen barbarischen Zauber. Schmerzliche Erinnerungen stiegen in ihr auf. Mit mutloser Gebärde blieb sie stehen. Dann raffte sie sich auf und murmelte: »Nun, wir werden ja sehen!«

Zum Apparate gehend, drückte sie auf einen Knopf, der die Überschrift trug: »Herr Graf«, und nahm den Hörer zur Hand.

»Hallo!... Lionel!«

Sie rief leise an, indem sie die hohle Hand als Schalldämpfer über Mund und Hörer muschelte.

»Lionel!«

Endlich antwortete ihr eine Art von Geknurr.

»Hallo!... Lionel!«

»Hm... ja... Mama?«

»Liegst du noch zu Bett?« '

»Sag' lieber, bist du schon wach!«

»Spat nach Hause gekommen, was?«

»Ja, weiß nicht, um wieviel Uhr.«

»Gut, Ich komme zu dir.«

Vorsichtig öffnete die Gräfin die Tür, durchschritt auf den Fußspitzen die Vorhalle und stieg lautlos die Treppe zum ersten Stocke empor.

Das Schlafzimmer ihres Sohnes bot den Anblick wüsten Nachhausekommens. Der Frackanzug lag auf der Erde, der Chapeau-claque war einer Standuhr schief aufgestülpt, die verknitterte weiße Weste leistete auf einem Sessel einem einzelnen Lackschuh Gesellschaft, und da und dort sah man verschiedene Beutestücke einer durchschwärmten Nacht herumliegen: eine Laterne mit roten Gläsern, wie sie nachts aufgerissene Straßenstellen markieren, das Aushängeschild eines Grünzeughändlers, die emaillierte Tafel, die den freundlichen Leser darauf aufmerksam machte, daß »der Autobus auf der Rückfahrt die Rue-de-Provence« passiere usw.

»Großer Gott, ich war wieder eingeschlafen, Mama!« sagte ein großer Bursche und richtete sich in den Kissen auf.

»Wie alt bist du denn, Lionel?« meinte die Gräfin, auf den bunten Kram deutend, der eine durchbummelte Nacht verriet.

»Dreiundzwanzig!« schmunzelte der junge Graf.

»Schlechter Kerl!«

Sie küßte ihn voll Bewunderung.

»Und wo bist du? ... bei wem wohnst du?«

Auf dem Bettrand Platz nehmend, versenkt sie den glanzlosen Blick in die unsteten Augen ihres Sohnes.

»Antworte mir, Lionel!«

»Was willst du eigentlich?« fragte er. »Was geht dir im Kopfe um? Etwas Neues? Du siehst blaß aus, Mama!«

»Was sagte ich dir, Lionel, als dein Onkel Laval vor drei Jahren starb?«

»Du sagtest mir, dein höchstes Glück wäre es, wenn ich Gilberte heiratete, und daß ich trachten solle, ihre Liebe zu gewinnen. Nicht?«

»So ist's. Es war mein Traum. Und wie weit bist du jetzt?«

»Ich? ...« .

Lionel runzelte die Stirne und verstummte.

»Ich will es dir sagen«, entgegnete die Gräfin bekümmert, »Die Sache steht so. Gilberte vergaffte sich in einen gewissen Jean Mareuil und will ihn heiraten.«

Bei dieser Mitteilung verzerrte sich Lionels hübsches Gesicht zu einer teuflischen Fratze, und er stieß einen wüsten Fluch aus.

»Hat sie es dir gesagt?«

»Vorhin.«

»Und was hast du ihr geantwortet?«

»Nichts Bestimmtes ... sie ist ja frei, kann tun: und lassen, was ihr beliebt.«

»Wieso? Das wäre noch schöner! Ich hoffe, du wirst deine Rechte wahren und deine Machtmittel gebrauchen.«

»Welche Rechte, welche Machtmittel besitze ich denn?« seufzte die Gräfin. »Überlege dir doch, großes Kind. Ich bin doch schließlich und endlich nur ihre Sachwalterin. Wir wohnen bei ihr. Was wäre damit gewonnen, Wollte ich mich ohne triftige Begründung den Wünschen meiner minderjährigem Nichte widersetzen? Auf Grund der Gesetzesparagraphen würde sie sich meiner rasch entledigen und dann Rechnungslegung von mir fordern ... nun weißt du sehr genau ... deine Spielschulden ... und ...«

»Halt, Mama! ... ich verstehe ... stimmt, stimmt ...«

Mit Tränen kämpfend, fuhr die Gräfin fort:

»Bei meiner Geschäftsgebarung leitete mich immer der Gedanke und die Hoffnung, daß du Gilberte heimführen, als ihr Gatte dann die Angelegenheit regeln und mir in der Vermögensverwaltung Generalquittung erteilen würdest.«

»Schon gut!« unterbrach sie Lionel ungeduldig. »Aber noch ist nicht alles verloren. Ich war blöd, gestehe es ein. Schon längst hätte ich trachten sollen, ihr zu gefallen. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Noch wäre es nicht zu spät, falls es dir gelingen sollte, an der Hand einwandfreier Gründe Mareuil abzudrängen. Dann brauche ich meine Nachlässigkeit nur wieder gutzumachen. Aber das Pech ist ... wir werden damit bei Mareuil wenig Glück haben, denn der Bursch ist ein fabelhafter Kerl, ein Musterknabe, wie heute keine mehr wachsen.«

»Du kennst ihn also?«

»Hm ... ich kenne ihn, wie ein Mensch einen Menschen nur kennen kann.«

Lionel lächelte etwas verlegen.

»Er ist ernst, arbeitsam und ein Künstler aus Liebhaberei. Man trifft ihn weder in einer Bar noch in einem Tanzlokal, während ich, nicht wahr ...«

»Ist er reich?«

»Und ob! ... Palais in der Avenue-du-Bois, Pferde, Autos, aber keine – Fehler, weder eine Herzdame, noch eine Pikdame im Spiel ... kurzum ein Musterknabe.«

Die Gräfin schüttelte ungläubig den Kopf.

»Immerhin kann man sich über ihn erkundigen. Einen Mann, dem man nichts nachsagen kann, gibt es nicht.«

»Stimmt, Mama. Versuchen kostet nichts. Kommen wir damit nicht zum Ziele, hat es immer noch Zeit, andere Mittel und Wege zu finden, damit uns das Vermögen der Lavals nicht entwischt.«

»Nur an das Vermögen der Lavals denkst du? Deine Kusine ist doch so reizend!«

»Pah!«

»Ich möchte dich nicht nur reich, sondern auch glücklich wissen, Liebling –«

»Wenn man reich ist, ist man auch glücklich. Noch heute werde ich darangehn, Mareuil scharf ausspionieren zu lassen. Mindestens werden wir feststellen, ob er wirklich so ein Tugendbold ist.«

Und nach einer Weile fuhr Lionel zynisch fort: »Schließlich wäre uns die gegenwärtige Lage erspart geblieben, hätte letztes Jahr Gilbertes Grippe einen schlechten Ausgang genommen. Du würdest sie ja beerbt haben, wenn ich nicht irre.«

Seine Mutter blickte ihn starr an. In ihren grauen, glanzlosen Augen las man das Entsetzen.

»Na«, meinte Lionel, »ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun, wenn einem aber die Umstände günstig sind, das Schicksal selbst für einen Partei ergreift, muß man sich eben einen Vers darüber machen.«

»Du liebst sie also nicht einmal ein bißchen?«

Der junge Graf schüttelte verneinend den Kopf.

Nachdenklich senkte die Gräfin den Blick. Dann sagte sie: »Und doch ist Gilberte liebenswert, und ich hätte gern ihr Glück begründet.«

»Dann verheirate sie doch mit Mareuil!«

»Laß die unangebrachten Spaße! Du weißt sehr gut, großer Junge, daß nur du auf der ganzen Welt meinem Herzen nahestehst. Nur du existierst für mich, seit du lebst.«

»Und was war mit Papa?«

»Meine Liebe zu dir ist größer.«

»Und mit meinem Onkel?«

»Nur, um dich reich zu wissen, hätte ich ihn geheiratet.«

»Du bist eine brave Frau, Mama. Nachdem wir das festgenagelt haben, möchte ich dich fragen, ob du etwas dahinter fändest, wenn ich mit deinem ehemaligen Haushofmeister Aubry einen Beobachtungsplan entwerfen würde?«

»Ganz im Gegenteil. Aubry ist ein treu ergebener Diener.«

»Er ist jetzt Hausbesorger auf Nr. 47 der Rue de Tournon, nicht? Soviel ich mich besinne, mag er Gilberte nicht besonders leiden?«

»Kein Wunder. Sie war es doch, die seine Entlassung wünschte.«

»Stimmt.«

In diesem Moment durchflutete der Klang einer wundervollen Mezzosopranstimme das Haus. Gilberte sang in ihrer Wohnung.

»Sie ist noch in ihrem Zimmer«, bemerkte die Gräfin. »Desto besser. Ich möchte nicht, daß sie von meinem Besuche bei dir etwas weiß.«

Und hager und düster verließ die Gräfin wieder das Zimmer ihres Sohnes und kehrte in ihr Arbeitskabinett zurück.

Eine Weile grübelte die Gräfin Elisabeth von Prase über alles nach, was ihre Hoffnungspläne zu durchkreuzen drohte. Dann nahm sie aus ihrer Korsage einen kleinen Schlüssel, den sie stets bei sich trug, und trat vor den eisernen Kassenschrank.

Unter ihrer Hand klinkten die vier Geheimschlösser, eines nach dem andern, auf, und die schwere Panzertür drehte sich in ihren Zapfen.

Von oben bis unten waren die Fächer des Tresors mit Wertpapieren vollgestopft. Die Gräfin begann einige Pakete hervorzuziehen. Die Berührung derselben schien in ihr ein wollüstiges Gefühl auszulösen. Eben streckte sie den Arm aus, um abermals in die dunkle Tiefe des Wertheimers zu greifen, als plötzlich Gilbertes Stimme verstummte, wie das Lied einer Lerche, die sich aus dem blauen Äther zur Erde niederläßt.

Sofort legte die Gräfin alles an Ort und Stelle, ordnete die Stöße Wertpapiere, schloß den Panzerschrank und steckte den, kleinen Schlüssel wieder ein.

Kapitel II Herr Feuillard erzählt, was er weiß

Inhaltsverzeichnis

Jean Mareuil hatte sich, bei seinem Freunde Feuillard, dem weltmännischen Anwalte der vornehmen Pariser Gesellschaft, telephonisch angemeldet. Gegen sieben Uhr abends läutete er in seiner Wohnung an. Ausnahmsweise wollte er mit Feuillard der Erstaufführung eines lyrischen Dramas beiwohnen. Da Mareuil das Bedürfnis hegte, mit dem Gentleman-Notar etwas zu besprechen, hatten sie ausgemacht, miteinander nach der Vorstellung in einem Kabarett zu soupieren.

Der Notar erwartete bereits »in der Löwenhaut« seinen Freund. Sie trugen beide den nämlichen Abendanzug, dazu den schwarzen »Mac-Farlane«, ebenso die gleichen Seidenzylinder und das weiße Halstuch. Selbst was den Spazierstock aus schwarzem Ebenholz anbetraf, suchte es der Notar dem Dandy gleichzutun. Dennoch herrschte zwischen der natürlichen Vornehmheit Jean Mareuils und dem etwas banalen Schick des Juristen ein bedeutender Unterschied. Immerhin konnte man nachts, noch dazu in einer schlecht erhellten Straße, nur schwer den Klubmann vom andern unterscheiden.

»Da bist du ja, hübscher Bengel!» begrüßte Feuillard Mareuil.

Und als Mareuil mit komisch-gekränkter Geste abwehrte, fügte der Notar bei: »Doch, doch, Prinz. Scharmant! Du weißt sehr gut, Kanaille, wie entzückend du bist. Schaut mir einmal diesen jungen Antinous an! Bitte, geh einen Schritt vor, Jean, daß ich dich mit Muße betrachten kann. Einen zweiten solchen Gang gibt es nicht. Wo hast du, zum Teufel, diese Grazie und Geschmeidigkeit her? ... Du willst es mir nicht verraten? ... Dann nicht! ... So erzähle mir, was du auf dem Herzen hast. Um was dreht es sich? Um eine hypothekarische Vermögensanlage? Oder den Ankauf einer Liegenschaft? ... Gehn wir hinunter. Unterwegs kannst du mir den Fall erzählen.«

»Es handelt sich um etwas ganz anderes«, erwiderte Mareuil.

»Heirat?«

»Ja.«

»Wer ist die Glückliche?«

»Gilberte, die Tochter des verstorbenen Afrikaforschers Laval. Warum schmunzelst du?«

Sie nahmen einen Wagen.

»Ich schmunzle, mein lieber Alter, weil ich mit deiner Wahl zufrieden bin, sehr zufrieden. Fräulein Gilberte ist ein anbetungswürdiges junges Mädchen, dem man nur das Allerschönste nachsagen kann. Vielleicht ist die junge Dame etwas verzogen – du verzeihst doch? –, aber ansonsten besitzt sie, wie es allgemein heißt, einen aufrechten, geraden Charakter.«

»Ich hätte dich nicht für so unterrichtet gehalten!«

»Nun, du hast Glück, wie immer. Ich bin nämlich der Rechtsfreund der Familie«, entgegnete der Notar. »Ferner schmunzelte ich, weil mir ihre Tante, die Gräfin Prase, und deren Nichtsnutz von Sohn einfielen.«

»Wieso?«

»Wieso?« Weißt du nicht, daß du ihre schönsten Hoffnungen zunichte machst?«

»Mein Gott!« Mareuil zuckte unbefangen die Schultern. »Ich muß dir gestehn, daß ich von der Familie der Lavals so gut wie nichts weiß.«

Der Notar blinzelte ihn ungläubig an. Jean Mareuil senkte den Blick und spielte geistesabwesend mit seinen Handschuhen.

»Na, höre mal, du hältst mich wohl zum besten?« meinte Feuillard. »Mit dir weiß man nie, wie man daran ist.«

»Aber ich versichere dir, liebster Freund,« – und Mareuil richtete den klaren Blick seiner stahlgrauen Augen, die Güte, Klugheit und Willensstärke bekundeten, auf den Notar – »ich weiß nichts von den Lavals, und wenn du mir etwas über sie und die Prases mitteilen kannst, tue es, ohne Rücksicht darauf, daß ich Gilberte liebe und sie zu heiraten gedenke. Bisher lag es mir vollkommen fern, in die Zukunftspläne der Gräfin und ihres Sohnes eindringen zu wollen. Die alte Dame lernte ich übrigens erst vor ganz kurzer Zeit kennen, während ich ihren Sohn ab und zu treffe. Er ist mir nicht sehr sympathisch, jedenfalls völlig gleichgültig. Beifügen möchte ich noch, daß ich dich nicht aufsuchte, um Erkundigungen über die Leute einzuziehen, sondern damit du mir erklärst, was eigentlich ein ›Ehekontrakt‹ ist.«

»Gut«, nickte der Notar. »Verzeihe mein Zögern. Aber mir als Juristen kommt es natürlich spaßig vor, wenn sich jemand blind und taub auf etwas einläßt. Weißt du, wir vom Fach geben nicht Liebende zusammen, sondern wir vereinigen Familien, die glauben, zueinander zu passen. Deshalb war ich vorhin etwas erstaunt. Und dann, mein guter Alter ... ich kann mich absolut nicht an die Art gewöhnen, die du manchmal hast.«

»Himmlischer Vater, was hab' ich denn für eine Art?!«

»Wenn du ins Träumen gerätst, dich in dein Inneres zurückziehst, wie eine Schnecke in ihr Haus, scheinst du so fernab, so zerstreut und mit dir selbst so beschäftigt zu sein, daß man sich oft fragt: weiß er überhaupt, was er eben sagte?«

Jean Mareuil lachte.

»Wahrscheinlich beschäftigt mich in solchen Augenblicken gerade ein Problem, oder irgendeine Arbeit geht mir im Kopfe um.«

Feuillard betrachtete ihn ein Weilchen.

»Du bist eine Type für dich!« erklärte er. »Ich werde ins Grab sinken, ohne dich je verstanden zu haben, Dichter, Philosoph, Künstler. Du Inbegriff eines rätselhaften Menschen!«

»Also ich höre«, erwiderte Jean Mareuil. »Erzähle! ... Es waren ...«

»Es waren einmal zwei Schwestern, die Fräulein von Osmond. Die ältere, Elisabeth, ehelichte einen armen Offizier, den Grafen von Prase. Die jüngere und weit hübschere, Jearnie, wurde von einem sehr bedeutenden und sehr reichen Manne, dem Erforscher von Zentralafrika, Guy Laval, als Gattin heimgeführt. Etwa zehn Jahre nach ihrer Hochzeit wurde die ältere Witwe. Hauptmann Graf Prase starb den schönsten Tod, den es für einen Soldaten gibt. Er fiel auf dem Felde der Ehre. Der Graf hinterließ einen Sohn, Lionel ... Du folgst doch meiner Erzählung, Jean?«

»Aber gewiß, mein Alter!«

»Du siehst nämlich aus, als weiltest du in Gedanken auf dem Monde. Ich fahre also fort. Seine Witwe saß ohne Geld da. Aber ihre Schwester, Frau Laval – die entzückende Frau Laval –, war ja mehrfache Millionärin. Sie bewohnte am Saume des ›Bois‹ in Neuilly ein großes Palais, und den Sommer verbrachte sie auf ihrer Herrschaft Luvercy, einem wahren Juwel von Besitz, das im Tale von Chevreuse liegt. All das stammte vom Vater Laval, der Industrieller war. Guy Laval und seine Frau beschlossen nun, die Gräfin Prase und deren Sohn aufzufordern, ganz zu ihnen überzusiedeln und ihr luxuriöses Leben zu teilen, was von den Prases mit Begeisterung angenommen wurde.

Du mußt auch wissen, daß Guy Laval und seine Gemahlin das reizendste Paar waren, das man sich denken kann. Sie lebten in glücklichster Ehe miteinander. Heute wären sie deine Schwiegereltern, und du hättest sie sehr lieb, hätte nicht ein widriges Schicksal sie von hinnen genommen. Beide vergötterten ihr Töchterchen, die entzückende, bildhübsche, kleine Gilberte. Allein Herrn Laval zog es mit unwiderstehlicher Gewalt zu seinem Berufe hin. Die Leidenschaft und Vorliebe für Gefahren, Reisen und Expeditionen in ferne Länder überwog seine Liebe zu Frau und Kind. Von den zwölf Monaten des Jahres weilte er kaum die Hälfte daheim. So ist es verständlich, daß er mit Freude die Gelegenheit ergriff, Schwägerin und Neffen aufzunehmen, damit seine Gattin ihre heißgeliebte Schwester zur Gesellschaft habe, womit er gleichzeitig ein gutes Werk tat. Dieses gute Werk verwandelte sich alsbald auch in ein gutes Geschäft, denn die Gräfin war ebenso ordentlich und sparsam, wie Frau Laval, die berückende Jeanne, flüchtig und verschwenderisch. Es dauerte nicht lange, und die gräfliche Witwe hatte zum Heile des Hauses Laval die Herrschaft über Dienstboten, Küche und Keller an sich gerissen.

So standen die Sachen ... Du hörst doch zu? Bist sicher, mir zuzuhören? ... Also! So standen die Sachen, sagte ich, als Frau Laval starb. Es sind, soviel ich mich besinne, etwa fünf Jahre her. Sie verschied zu Luvercy, als Guy Laval gerade zu Hause weilte, und das Tragische an ihrem Tode ist, daß der eigene Gatte an ihrem Sterben die Schuld trug.

Wenige Tage zuvor war Laval erst aus dem Innern von Afrika zurückgekehrt und hatte unter anderen Kuriositäten auch eine Anzahl Schlangen mitgebracht, die er dem Staat als Geschenk überweisen wollte.«

»Ich weiß«, nickte Jean Mareuil. »Ich erinnere mich des Falles, der in allen Zeitungen stand. Eines dieser Tiere entkam und biß Frau Laval nachts, als sie schlief?«

»Ganz recht«, erwiderte der Notar. »Guy Laval litt fürchterlich unter diesem Schicksalsschlage. Man fürchtete für seinen Verstand. Hervorgehoben muß werden, daß die Gräfin, die sich gleichfalls über den Verlust der Schwester bitter abhärmte, den Schwager hingebungsvoll pflegte.

Guy Laval blieb untröstlich. Er machte sich die furchtbarsten Selbstvorwürfe, er trage an dem Unglück die Schuld. Kaum war er wieder genesen und so weit wiederhergestellt, um reisen zu können, traf er Vorbereitungen zu einer neuen Expedition nach dem oberen Niger. Wer ihn damals sah, hatte das bestimmte Gefühl, daß er nicht zurückkehren würde. Alle Mühe, die man sich gab, ihm die Sache auszureden, war vergeblich. Nach sechs Monaten trat er die Fahrt an – und kam nie mehr wieder.

Ehe er Frankreich verließ, deponierte er bei mir seinen letzten Willen, dessen Fassung so bezeichnend war, daß über das Schicksal, das er sich selbst zu bereiten entschlossen war, kein Zweifel aufkommen konnte. In diesem Testament hatte Laval bestimmt, daß sich die Gräfin im Falle seines Ablebens seines innigstgeliebten Töchterchens Gilberte annehmen solle. – Gelegentlich eines Forschungsrittes, den er ganz allein unternahm – er hatte sich jedes Schutzgeleit verbeten –, fiel er unter den Hieben und Stichen eines wilden Stammes, den er in geradezu irrsinniger Weise herausgefordert hatte. Seine Leiche, die man später auffand, war von einer Unzahl von Pfeilen durchbohrt und entsetzlich verstümmelt.

Die Nachricht seines Todes stürzte das Haus Neuilly erneut in Kummer und Verzweiflung. Man munkelte damals allerhand. Einige wollten bemerkt haben, daß sich hinter dem Schmerz der Gräfin viel bittere Enttäuschung verbarg. Sie hatte sich ja den Kopf darüber zerbrochen, wie sie den Schwager in der Heimat zurückhalten könnte, denn nach dem Hinscheiden der Schwester eröffnete sich ihr anscheinend ein neuer Horizont. Offenbar hatte sie den Ehrgeiz, Joannes Nachfolgerin zu werden, wenn Guy Laval sich erst über den Verlust seiner ersten Gattin etwas getröstet haben würde. Und da nun die Gräfin für die Liebe nicht so recht geschaffen ist, behauptete die böse Welt, sie könne es nicht verwinden, daß ihr die Lavalschen Millionen entgingen.

Diese Millionen begehrte sie allerdings nur für ihren Sohn. Das ist klar. Denn sie selbst ist eine bescheidene, manchmal fast unterwürfige Frau, aber eine heiß liebende Mutter. Lionel zählte damals siebzehn oder achtzehn, Fräulein Gilberte Laval etwa dreizehn Jahre. Das eine steht fest: Von jeher hatte die Gräfin mit dem Plan kokettiert, ihren Sohn Lionel mit Gilberte zu verheiraten. Aber die Verwirklichung dieses Plans stand noch in weiter Ferne. Tausend Dinge konnten die Sache durchkreuzen. Daher hätte sich die Gräfin vorerst einmal durch ihre Heirat mit Guy Laval gern mindestens einen Teil seines Riesenvermögens gesichert. Nun war durch Lavals Tod diese Hoffnung begraben, und die Gräfin kam auf ihren ursprünglichen Plan zurück, die Ehe zwischen Lionel und Gilberte.

Und jetzt willst du Fräulein Laval heiraten! Na, Mareuil, schläfst du? ... Woran denkst du?«

Der junge Mann zwinkerte mit den Lidern, als erwache er aus einem Traum.

»Ich dachte gerade an eine kleine römische Lampe, die ich heute nachmittags in der Auslage eines Antiquars entdeckte«, gab er zur Antwort. »Das Bronzelämpchen ist entzückend und hat eine goldene Viper als Henkel. Es würde sich gut in den Rahmen; meiner Sammlung einfügen, und ich werde es mir wahrscheinlich leisten.«

Herr Feuillard war baff. Er fand nicht gleich die Worte. Eine derartige Gleichgültigkeit war ihm noch nicht vorgekommen. Er begann sich, zu ärgern.

»Zum Kuckuck«, rief er, ganz rot werdend. »Es verlohnt sich wahrlich nicht die Mühe, sich mit dir heiser zu reden. Du bist klassisch. Das kann ich dir schriftlich geben.«

»Vielleicht nur etwas phantastisch«, verbesserte Mareuil belustigt.

»Höre, hüte dich vor der Gräfin!« fuhr der Notar nach einer Weile fort. »Glaub' mir, mein Alter, nimm dich vor dieser Frau in acht! ... Nein, danke, vor Tisch rauche ich nicht.«

Jean Mareuil zündete sich eine Zigarette an. Die ersten blauen Wölkchen in die Luft blasend, erwiderte er gelassen: »Zur Sache, lieber Freund! Was ist also eigentlich ein Ehekontrakt?«

Der Wagen hielt, sie traten in das Kabarett ein.

Kapitel III Aubry und seine Herrschaft

Inhaltsverzeichnis

Gilberte hatte zu ihrer Tante den lebhaften Wunsch geäußert, Herrn Jean Mareuil bei sich empfangen zu dürfen. Die Gräfin hütete sich, Einspruch zu erheben, denn erstens bildete es ihre Gepflogenheit, ihrer Nichte nichts zu verweigern – und an diesem Brauche wollte sie nicht rütteln –, und zweitens freute sie sich, bei dieser Gelegenheit den unliebsamen »Verführer« etwas mehr aus der Nähe studieren zu können.

Jean Mareuil wurde somit in den Kreis von Gilbertes engeren Bekannten aufgenommen. So weit es die kühle Höflichkeit Mareuils zuließ, suchte hierbei Lionel in die Lebensweise des jungen Mannes Einblick zu gewinnen. Er wußte es einzurichten, daß sie öfters auf gemeinsamem Terrain, bei Golf, Tennis oder im Fechtsaale, zusammenkamen.

Aber schon nach wenigen Tagen sah Lionel das Zwecklose, ja Lächerliche dieser Art von Spionage ein. Er entschloß sich, sie überhaupt gänzlich aufzugeben, um so mehr, als auch der ehemalige Haushofmeister Aubry, den er mit einer schärferen, sozusagen polizeilicheren Beobachtung Mareuils beauftragt hatte und der – letzterem vollkommen unbekannt – dem verhaßten Nebenbuhler auf Schritt und Tritt nachspürte, nicht das geringste Verdächtige festzustellen vermochte.

Lionel teilte seinen Entschluß der Gräfinmutter mit, stieß aber auf heftigen Widerstand.

»Bis jetzt sah ich Mareuil allerdings nur ab und zu«, meinte sie. »Seitdem ich aber Gelegenheit habe, ihn näher zu beobachten, bin ich über seine Persönlichkeit restlos im Bilde. Ich fühle, ja, ich bin dessen sicher: irgend etwas verbirgt er vor uns. Seine Geistesabwesenheit, sein träumerisches Wesen ist unnatürlich. In seinem Leben gibt es irgendein Geheimnis.«

»Wieso denn?« ärgerte sich Lionel. »Drücke dich etwas klarer aus. Wenn ich dir doch sage ...«

»Was es für ein Geheimnis ist, werden wir schon erfahren. Folge mir, mein Sohn, wirf die Flinte nicht ins Korn. Vorerst habe ich nur so ein Gefühl, aber du weißt, meine Gefühle täuschen mich selten.«

Das stimmte. Wiederholt hatte sich schon Lionel vor dem Scharfblick seiner Mutter gebeugt.