Er, Sie und Es - Marge Piercy - E-Book

Er, Sie und Es E-Book

Marge Piercy

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Beschreibung

Shira Shipman wirft ihren Job bei einem Großkonzern hin und kehrt nach ihrer Scheidung endlich heim in die freie Stadt Tikva. Ihre Großmutter Malkah arbeitet dort an einem neuen Projekt mit, das Shira zunächst suspekt ist: Malkah und der alte Dr. Stein haben heimlich eine künstliche Person erschaffen. Ein Tabu, das unter strenger Strafe steht. Das Ding soll, so erklärt Dr. Stein, eine Art Verteidigungswaffe für die Stadt Tikva sein, die sich die mächtigen Multi-Konzerne unter den Nagel reißen wollen. Allerdings muss der künstliche Mitbürger, um nicht aufzufallen, in menschlichem Sozialverhalten ausgebildet werden. Und das soll jetzt Shira übernehmen. Parallel erzählt Malkah dem neuen Wesen eine komplexe Gutenachtgeschichte, die zurück ins Prag des 16. Jahrhunderts führt. Denn dort schuf einst Rabbi Loew einen Golem aus Lehm, um das Ghetto vor Pogromen zu schützen. Ein Akt der Verzweiflung, der beide – Schöpfer und Kreatur – in Widersprüche stürzte. Malkah hofft nun, dass Jod, so haben sie ihren Neuzeit-Golem genannt, aus der Geschichte und den Legenden mehr lernen kann als die Menschen seiner Zeit … Ein ganz aktueller philosophischer Roman, den die Verfasserin Primo Levi gewidmet hat. Gewalt, Abhängigkeit, Beziehungsfähigkeit, Gefühle, Machtverhältnisse und Politik: Das alles wird in packender Prosa neu beleuchtet und spannend hinterfragt.

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Marge Piercy

Er, Sie und Es

Marge Piercy

Er, Sie und Es

Roman

Deutsch von Heidi Zerning

Literaturbibliothek

Argument · Ariadne

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

He, She And It

© Marge Piercy 1991

Alle Rechte vorbehalten

Korrigierte Neuausgabe © Argument Verlag 2016

Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1993

Satz und Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg

Lektorat: Else Laudan

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-874-8

Dem Andenken von Primo Levi gewidmet

Seine Bücher waren wichtig für mich.

Ich vermisse seine Gegenwart in der Welt.

Cover

Titel

Impressum

Widmung

In der Konzernfestung

Die Farbe alten Blutes

Malkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte

Durch das brennende Labyrinth

Vor fünfzehn Jahren: Der Tag des Alef

Wir wissen zu viel und zu wenig

Unter keinem Mond

Wie soll ich dich anreden?

Das Familienalbum wird umgeschrieben

War es gut, das zu tun?

Er, Sie und Es

Das Meer bringt Wandel

Eine zwiefache Geburtshilfe

Im Licht des ungelben Mondes

Genau wie ich

Kleines Mädchen vermisst

Frankensteins Sohn

In der Basis sterben

Malkahs Bettlied

Bass und Sopran

Eine Tür geht auf und eine Tür geht zu

Die Gegenwart

Wein mitten in der Nacht

Vignetten aus dem Alltag eines Golems

Wo sich die Elite trifft

Ich kannte sie gar nicht

Brennende Neugier

Wie scheiden wir den Tänzer von dem Tanz?

Wie viel würde es dir ausmachen?

Der Fehler des Räubers

Die Gestaltwandler

Geistesblitze und gefährliche Machenschaften

Stimmen und Gesichte in der Morgendämmerung

Ein Lazarus, zwei Lazarus

Mit den Untoten leben

Der Maharal gewappnet

Wüstenäpfel

Ein Vorgang von gewisser Endgültigkeit

Die Schlacht am Tor

Ein Protokoll kommt zutage

Wahre Geständnisse und öffentlicher Aufruhr

Das Werk des Schadchen

Heller Stern unwandelbar

Kommst du zurück?

Josephs Heimkehr

Samsons Aufgabe

Yods Mitteilung

Auf Chavas Spuren

Shiras Entscheidung

1Shira

In der Konzernfestung

Josh, Shiras Exmann, saß direkt vor ihr im Familiengericht, wo sie darauf warteten, dass das Urteil über das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn Ari auf dem großen Bildschirm erschien. Joshs Dienstanzug war rückenfrei, weiß für den förmlichen Anlass, dem ihren sehr ähnlich. Eine Schweißperle rann die Rinne seiner Wirbelsäule hinab, und selbst jetzt noch fiel es ihr schwer, nicht sanft mit ihrem Schal darüberzustreichen, um sie zu trocknen. Der Yakamura-Stichen-Kuppeldom in der Wüste von Nebraska war selbstverständlich klimatisiert, sonst wären sie alle tot, aber jetzt war Winter, deshalb durfte die Temperatur nachmittags, wenn die Sonne den ungeheuren Kuppeldom um die Konzern-Enklave aufheizte, auf natürliche dreißig Grad Celsius steigen. Auch Shira hatte schweißfeuchte Hände, aber vor Nervosität. Sie war an einem natürlichen Ort aufgewachsen und hatte sich die Fähigkeit bewahrt, mehr Hitze zu ertragen als die meisten Y-S-Grützer. Immer wieder sagte sie sich, dass sie nichts zu befürchten hatte, doch ihr Magen war schmerzhaft verkrampft, und sie merkte, wie sie sich ständig die Lippen leckte. Wann immer sie auf ihrer inneren Uhr die Zeit aufrief und im Augenwinkel auf ihrer Hornhaut ablas, war es höchstens eine Minute später als beim letzten Mal.

Der Raum gleißte in schwarzem und weißem Marmor, höher als breit und auf Einschüchterung angelegt, so wusste Shira aufgrund ihrer Ausbildung in Psychodesign. Ihr eigentliches Gebiet waren die Schnittstellen zwischen Menschen und den gewaltigen künstlichen Intelligenzen, die die Operationsbasis jedes Konzerns bildeten – wie auch jeder anderen Einheit, die Informationen produzierte und verarbeitete. Auch das Netz, das alle Welt miteinander verband. Aber Shira wusste genug über Psychologie, um die Absicht des Saalbaus zu erkennen, wo sie mit ihren zugewiesenen Anwälten saßen, aufrecht und steif wie Stimmgabeln in Erwartung des Schlages, unter dem sie zu Klang erzittern würden. Um sie herum hockten ähnliche Wartegrüppchen: Bruch des Ehevertrags, Sorgerecht, Versäumnis- und Missbrauchsklagen, und alle starrten sie auf den leeren Bildschirm. Von Zeit zu Zeit erschien dort ein Gesicht, eins dieser chirurgisch modellierten Y-S-Idealgesichter – blondes Haar, blaue Augen mit doppelter Lidfalte, gemalte Brauen wie Hokusai-Pinselstriche, Adlernase, dunkelgoldener Teint. Es verkündete ein Urteil, dann wirbelte eine der Gruppen umeinander, stand auf und ging, manche strahlten, manche blickten finster, manche weinten.

Sie brauchte sich gar nicht dermaßen zu fürchten. Sie war ein Techno wie Josh, kein Tagelöhner; sie hatte Rechte. Ihre Hände brüteten feuchte Flecke auf ihren Hüften. Hoffentlich wurde das Urteil bald verkündet. In fünfundvierzig Minuten musste sie Ari in der Mittelstufentechno-Tagesstätte abholen, das waren vom Behördensektor aus rund zwanzig Minuten Gleitweg. Sie wollte nicht, dass er warten musste, dass er Angst bekam. Er war erst zwei Jahre und fünf Monate alt, und sie konnte ihm nicht einfach erklären: Keine Sorge, Mami kommt vielleicht ein bisschen später. Es war ihre Schuld, sie hatte im Dezember auf der Scheidung bestanden. Seitdem war Ari scheu und Josh verbittert, wütend. Doppelt so lebendig. Wenn er in ihrer Ehe die Leidenschaft entfesselt hätte, die ihr Weggang auslöste, hätten sie vielleicht eine Chance gehabt. Er bekämpfte sie mit aller Kraft und Intelligenz, so, wie sie hatte geliebt werden wollen.

Alles war ihre Schuld. Sie hätte Josh nie heiraten dürfen. Sie hatte in ihrem Leben nur ein einziges Mal leidenschaftlich geliebt, zu jung, und dann nie wieder. Aber wenn sie Josh nicht geheiratet hätte, gäbe es Ari nicht. Ja, sie fühlte sich schuldig, als sie auf Joshs schmalen Rücken schaute, auf die Riffel seiner Wirbelsäule, verletzlich, leicht vorgebeugt, als bliese ein kühler Wind nur auf ihn. Sie hatte gelobt, ihn zu lieben, sie hatte versucht, ihn zu lieben, aber die Beziehung hatte sich seicht und unvollständig angefühlt.

In der Zeit vor der Heirat dachte sie noch, er lerne langsam, mit ihr zu reden, sinnlicher und direkter zu reagieren. In dem wiederbelebten Schintoismus von Y-S waren sie beide Marranos, der Ausdruck war von spanischen Juden entlehnt, die sich unter der Inquisition als Christen ausgegeben hatten, um zu überleben. Y-S pflegte eine Art Erweckungs-Schintoismus, dem christliche Bräuche wie Taufe und Beichte aufgepfropft waren. Marranos waren im zeitgenössischen Sprachgebrauch Juden, die für Multis arbeiteten, in die Kirche oder Moschee gingen und Lippenbekenntnisse ablegten, dabei aber im stillen Kämmerlein Judaismus praktizierten. Alle Multis hatten ihre offizielle Religion als Teil der Konzernkultur, und alle Grützer mussten sie pro forma übernehmen. Wie Shira pflegte auch Josh die Gewohnheit, Freitagabend bei sich Kerzen anzuzünden, die Gebete zu sprechen, die Feiertage einzuhalten. Es schien vernünftig, zu heiraten. Er war seit zehn Jahren bei Y-S. Sie kam direkt von der Universität, mit dreiundzwanzig. Y-S hatte die anderen Multis überboten und sie in Edinburgh angeheuert – wie die meisten begabten Schulabgänger aus Norika, dem einst aus USA und Kanada bestehenden Kontinent, hatte sie im prosperierenden Sektor Europa studiert –, und so blieb ihr keine Wahl als hierherzukommen. Sie hatte sich sehr allein gefühlt. Die rigide, einem strikten Protokoll folgende Hierarchie von Y-S befremdete sie. Sie war in der freien Stadt Tikva aufgewachsen, war an warme Freundschaften mit Frauen gewöhnt und an Männer, die ihre Kameraden sein konnten. Hier war sie verzweifelt einsam und eckte ständig an. Oft fragte sie sich, ob ihre Schwierigkeiten speziell mit der Y-S-Konzernkultur zu tun hatten oder ob sie sich in jeder Multi-Enklave gleich bleiben würden. Es gab dreiundzwanzig große Multis, die die Welt unter sich aufteilten, mit Enklaven auf jedem Kontinent und auf Raumstationen. Gemeinsam übten sie die Macht aus und erzwangen den Konzernfrieden: Überfälle, Attentate, Scharmützel kamen vor, aber keine Kriege seit dem Vierzehntagekrieg von 2017.

Josh war als Sohn israelischer Eltern geboren worden, Überlebenden des Vierzehntagekrieges, den ein Terrorist mit einer nuklearen Vorrichtung angezettelt hatte, welche Jerusalem von der Landkarte brannte. Ein Inferno biologischer, chemischer und nuklearer Waffen, das die Ölfelder entzündete und die gesamte Region verwüstete. Mit zehn Jahren wurde Josh zur Vollwaise und zog ohne Heimatland umher. Das war die Zeit, welche die Juden Die Wirren nannten, als die ganze Welt ihnen die Katastrophen zur Last legte, die in einem Mahlstrom von wirtschaftlichem Chaos der Ölabhängigkeit den Garaus machten. Nichts war ihm in seinem Leben je zugefallen. Je mehr er sie an sich heranließ und ihr erzählte, desto kostbarer erschien er ihr, in dieser emotional aufgeladenen Zeit vor ihrer Heirat, und desto mehr meinte sie, ihm absolut unersetzlich zu sein. Sie war erstaunt darüber, dass sie ihn anfangs als kalt empfunden hatte. Wie hatte er gelitten! Er brauchte sie wie die Luft zum Atmen.

Allmählich schien er sich zu öffnen. Kurz nach ihrer Heirat, auf der er bestanden hatte, begann er sich zurückzuverwandeln. Er gab sich glücklich. Er wirkte entzückt von ihr – doch nur aus sicherem Abstand. Sie näher kennenzulernen, sein Seelenleben mit ihr zu teilen und Anteil an dem ihren zu nehmen, solcher Zeitvertreib schien ihm müßig, entbehrte der Dringlichkeit. Ari sollte die Kluft zwischen ihnen überbrücken. Seit der Geburt ihres Sohnes konzentrierte sich Joshs ganze Freizeitenergie auf Ari. Oft beschlich sie der Verdacht, hätten sie Ari nicht, so gäbe es gar nichts, worüber sie reden könnten. Das Schweigen gellte ihr in den Ohren. Bald kochte sie vor Groll. Sie fochten täglich vierzig Zweikämpfe aus, um nichts. Ihre Großmutter Malkah hatte es ihr prophezeit, als sie Josh heiratete: Sie hatte einen folgenschweren Fehler begangen. Ihr Zusammenleben vereinte die Nachteile des Alleinseins und des Lebens mit einem Fremden. Meinungsverschiedenheiten wurden zu ihrer Hauptbeschäftigung. Sie war in einem liebevollen Haushalt aufgewachsen, denn Malkah war resolut und eigensinnig, aber auch warmherzig und fröhlich. Man musste nicht pausenlos erbitterte Kleinkriege austragen. Shira hatte alle Kraft zusammengenommen und ihn verlassen.

Sie rief wieder die Zeit auf ihre Hornhaut. Nur vier Minuten waren vergangen, seit sie zum letzten Mal nachgesehen hatte. Schließlich erschien das langschädelige Gesicht und sprach auf seine modulationsarme Weise ihre Namen: Joshua Rogovin und Shira Shipman, in Sachen Sorgerecht für das Kind Ari Rogovin. – Nicht einmal bei Y-S mit seiner männerdominierten Kultur änderten Frauen ihren Namen. Ehen basierten auf Fünf- oder Zehnjahresverträgen, und Namensänderungen ohne besonderen Anlass waren unwirksam. Trotzdem bekam Shira eine Gänsehaut, als sie hörte, wie Ari der Name seines Vaters gegeben wurde. So hatte sie ihn nicht eintragen lassen bei der Geburt, aber Y-S missachtete ihre Entscheidung.

»In vorliegender Angelegenheit lautet das Urteil der Geschworenen, dem Vater Joshua Rogovin, Status T12A, das Sorgerecht zu erteilen und der Mutter Shira Shipman, Status T10B, Besuchsrecht zweimal wöchentlich, mittwochs und sonntags. Dieser Spruch erging am 28. Januar 2059, automatische Überprüfung am 28. Januar 2061. Spruch registriert. Ende.«

Josh wandte sich auf seinem Sitz um und starrte sie finster an. Sein Anwalt strahlte und klopfte ihm auf die Schulter. »Was habe ich Ihnen gesagt? Im Sack!«

»Das können sie doch nicht machen!«, sagte Shira. »Sie können mir nicht Ari wegnehmen!«

Josh schnitt eine Grimasse, fast ein Lächeln. »Jetzt gehört er mir. Er ist mein Sohn, er ist ein Rogovin.« Seine hellen Augen, irgendwo zwischen Grau und Blau, schienen ihren Schmerz wahrzunehmen und abzutun.

»Ihr Exmann hat einen höheren Technodienstgrad als Sie«, sagte ihr Anwalt. »Ich habe Sie gewarnt, dass das berücksichtigt wird. Sie hängen seit drei Jahren im gleichen Dienstgrad fest.«

»Ich lege Einspruch ein. Ari braucht mich.« Und ich brauche ihn, dachte sie.

»Das ist Ihre Entscheidung. Wenn Sie mich fragen, vergeuden Sie Ihre Kredite. Natürlich vertrete ich Sie, wenn Sie das wünschen.«

Josh und sein Anwalt waren schon hinausgerauscht. Shiras Anwalt stand über sie gebeugt, ungeduldig wippte er mit einem Fuß. »Ich habe einen Termin mit einem anderen Mandanten. Überdenken Sie das mit dem Einspruch. Ich kann das Verfahren morgen in die Wege leiten, wenn Sie wollen.«

Unvermittelt stand sie auf und stürzte zum Ausgang, als ihr einfiel, dass sie zu spät zu Ari kam. »Bereiten Sie den Einspruch vor«, rief sie über die Schulter. »Ich gebe ihn nicht her.«

Sie sprang auf die Eilspur des gleitenden Gehwegs und hüpfte leichtfüßig von Bahn zu Bahn. Das galt als ungehörig für Grützer – Glop-Slang für die höheren Angestellten und das technische Personal der Multis –, obwohl die Tagelöhner es andauernd taten, aber das war ihr jetzt egal. Sie wollte nur schnell zu Ari. Sie eilte an der Spinnwebarchitektur des Dienstviertels vorbei. Unter dem Kuppeldom gab es kein Wetter, und kein Gebäude konnte höher als sechs Stockwerke sein. Darum herrschten lange, parabelförmige Kurven vor, bizarre Spindeln und labyrinthische Gitter aus glitzerndem, durchsichtigem Filigran. Beinahe alles war schwarz, weiß oder blau, wie die rückenfreien Dienstanzüge, die bis zur Wadenmitte hinabreichten und die alle Grützer trugen. Nahezu jeder Leitende, Mann oder Frau, war unter dem Messer gewesen, um dem Y-S-Ideal zu gleichen, das Gesicht dem vom Bildschirm so ähnlich, wie die Finanzen es erlaubten.

Die Technos, die auf den Gleitern vorbeihuschten, sahen schon unterschiedlicher aus, aber auch sie trugen Anzüge in den abgesegneten Farben. Angehörige gleichen Dienstgrades grüßten einander mit ritueller Geste, einem kurzen Kopfnicken. In der Rangordnung tiefer Stehende ignorierte man gewöhnlich. Kam man an Höherrangigen vorbei, wartete man, bis man bemerkt wurde, und verneigte sich dann tief. Wie oft war sie schon in Schwierigkeiten geraten, weil sie sich so intensiv unterhalten hatte, dass sie unabsichtlich versäumte, einen Gleichrangigen oder Vorgesetzten zu grüßen. Die Tagelöhner trugen Overalls oder Uniformen in Gelb-, Braun- und Grüntönen: die Farben gemäß ihren Arbeiten. Wenn sie zur falschen Zeit am falschen Platz waren, fiel das sofort auf. Shira sprang von Bahn zu Bahn, es war ihr gleichgültig, wer sie sah, wer sie anzeigte – als würdelose Person, die den Y-S-Anstand vermissen ließ. Sie fühlte sich hier sowieso immer zu körperlich, zu laut, zu weiblich, zu jüdisch, zu dunkel, zu überschwänglich, zu gefühlvoll.

Die Tagesstätte für die Kinder von Mittelstufentechnos lag jetzt unmittelbar vor ihr, hinter einer hohen Hecke bunter Krotonsträucher. Über dem Eingang hing schlaff die blau-weiß-schwarze Y-S-Fahne. Sie hatte sich noch nicht allzu sehr verspätet, denn sie sah ein paar versprengte Mütter und einen Vater, während sie das letzte Stück vom nächsten Gleiter rannte. Ihr fiel ein, dass sie nie einen Erwachsenen durch diese Straßen rennen sah. Jedem war viel zu sehr bewusst, dass er beobachtet wurde, beurteilt. Dies war der Bezirk der Mittelstufentechnos, kleine Häuser, jedes auf seinem Grundstück. Sie hatte mit Josh in einem davon gewohnt. Vier Häusertypen für diese Schicht, mit den gleichen abgesegneten Sträuchern und gepflegtem Rasengeviert, aber freier Farbwahl. Niemand wählte Rot oder Violett. Die einzigen Verkehrsmittel, die sich auf den Mittelstreifen bewegten, waren Servicefahrzeuge: Lieferwagen, Reparatur- und Notfallwagen, Sicherheitsaffen, alles Elektrovehikel, die eintönig piepten.

Die Aufseherin, Jane Forest, behandelte sie merklich kühler. »Aber Shipman, ein Sicherheitsbevollmächtigter hat Ari Rogovin vor achtzehn Minuten abgeholt. Uns wurde mitgeteilt, das sei korrekt. Sie sind nicht mehr berechtigt, Ari Rogovin abzuholen, außer mittwochs.«

»Ein Affe hat ihn abgeholt? Aber wieso?«

»Ersuchen Sie bitte die Sicherheitszentrale um Auskunft.«

Obwohl Shira schreien und protestieren wollte, war ihr klar, Jane würde niemals Anordnungen abändern, die ihr erteilt worden waren; sonst wäre sie die längste Zeit Aufseherin gewesen. Jeder Widerspruch von Shira war zwecklos und würde ihr nur Ärger einbringen. Sie musste sofort ihren Anwalt anrufen. Aber am meisten spürte sie das Verlangen, mit Malkah zu telefonieren.

Noch vor einem Monat hätte sie ihre Sekretärin angerufen, Rosario, denn sie hatten sich angefreundet. Doch der niedere Angestellte, mit dem Rosario einen Zehnjahresvertrag eingegangen war, hatte ihre Ehe nicht erneuert. Wie auch bei niederrangigen Beschäftigten üblich hatte er sich eine neue, zwanzig Jahre jüngere Frau genommen. Rosario war zweiundvierzig, und Y-S entließ sie. Shira hatte Einwände erhoben, sie brauche Rosario, aber sie besaß keine Macht. Frauen über vierzig, die weder Technos waren noch Aufseherinnen, Spezialistinnen oder Leiterinnen, wurden entlassen, wenn sie nicht mehr zeitweiliges Eigentum eines männlichen Grützers waren. Weibliche Grützer hatten angeblich die gleichen Vorrechte, und wenn ihre Stellung es erlaubte, nahmen sie sich junge Ehemänner.

Rosario war in den Glop entschwunden. Vielleicht wurde sie als Tagelöhnerin täglich durch das Tunnelsystem in die Enklave hinein- und aus ihr hinausgeschleust, verdingte sich als Wäscherin oder Köchin oder tat Wartungsarbeiten, die nicht von Robotern verrichtet wurden, doch Shira würde sie nie mehr zu Gesicht bekommen. Rosario war aus der sicheren Festung ausgestoßen worden in den überbevölkerten, brutalen, gärenden Pferch des halb verhungerten Glop, wo neun Zehntel aller Menschen von Norika hausten. Sollte sie noch am Leben sein, Shira würde es nie erfahren. Glop, das klang nach Auswurf und war auch so gemeint: ein Slangwort für die Megalopolis, die sich vom einstigen Boston südwärts erstreckte bis zu dem, was einmal Atlanta gewesen war, sowie für all die ähnlichen Gebiete auf dem Kontinent, auf der Welt.

Sobald Shira ihre Zweizimmerwohnung erreichte, das Höchste, was ihrem Dienstgrad in den sogenannten Silos für niederrangige Technos zustand, fragte sie die Wohnung nach Mitteilungen. Jede Wohneinheit in der Konzern-Enklave war computergesteuert. Es war kein so anspruchsvolles System wie das, mit dem sie aufgewachsen war und das Malkah programmiert hatte, aber zur Nachrichtenübermittlung reichte es. Sie erfuhr, dass Malkah vor fünfzig Minuten angerufen hatte. Shira kontaktierte zuerst ihren Anwalt und dann Malkah. Bei Gesprächen machte sie sich nicht die Mühe, sich einzustöpseln – das tat niemand. Sie sprach ihre Anweisungen einfach aus. Malkahs rundes, ein wenig verhutzeltes Gesicht erschien, ihr Haar, ebenso schwarz wie Shiras, war in Zöpfen um ihren Kopf gewunden. »Shira, du siehst durcheinander aus.« Malkah hatte eine tiefe, volltönende Stimme. Obwohl sie Shiras Großmutter war, hatte sie sie großgezogen. Das war in ihrer Familie Brauch, bat Shipman, die Dynastie der Töchter, bis Shira das Schema durchbrochen hatte.

»Isst du gerade?«, fragte Shira höflich, denn es war eine Stunde später in der freien Stadt Tikva am Atlantik, wo Malkah lebte und wo Shira aufgewachsen war.

»Was fehlt dir?« Malkah kam immer sofort zur Sache.

»Y-S hat Josh das Sorgerecht erteilt.«

»Diese Schweinepriester«, sagte Malkah. »Diese Giftrülpser. Ich hab dir ja gesagt, heirate ihn nicht. Du bist in unserer Familie seit vier Generationen die Erste, die heiratet. Eine schlechte Idee.«

»Ist ja gut, ich dachte, Josh braucht die Geborgenheit.«

»Und konntest du ihm Geborgenheit geben? Na egal. Komm nach Hause.«

»Ich kann mir nicht einfach freinehmen. Besonders jetzt. Ich lege Einspruch ein. Ich muss Ari zurückbekommen. Ich muss.«

»Was will Y-S?«

»Von mir? Nichts. Sie wissen kaum, dass ich existiere.«

»Als du dein Studium in Edinburgh abgeschlossen hast, warben sechs Multis um dich. Und Y-S lässt dich verschimmeln. Das stinkt.«

»Ich denke, ich leiste gute Arbeit, aber nichts passiert. Niemand hier hält große Stücke auf mich.«

Malkah schnaufte. »Komm nach Hause. Ich kann dich brauchen. Ich arbeite nicht mehr mit Avram. Ich entwerfe jetzt ganztags.«

»Ich fand das eine sonderbare Partnerschaft.«

»Was er macht, ist absolut faszinierend. Aber egal. Er ist wütend auf mich. Er ist ein sturer, arroganter alter Kacker, aber auf seinem Gebiet ist er zweifelsohne ein Genie.«

»Kybernetik hat mich nie besonders interessiert … Malkah, ich ertrage es nicht, Ari zu verlieren. Er fehlt mir schon jetzt.« Shira liefen Tränen übers Gesicht.

»Du hättest nie für diese Manipulanten mit ihren Machenschaften arbeiten dürfen, Shira. Du hast hier einen Platz. Du bist davongelaufen. Dabei ist Gadi gar nicht hier. Der ist oben in Vancouver und entwirft diese kunstvollen Scheinwelten, in denen die Leute Leben spielen, statt sich Gedanken über die Welt zu machen, die wir alle am Hals haben.«

»Ich habe viele Fehler gemacht«, sagte Shira. »Aber Ari gehört nicht dazu. Er ist kostbar, Malkah, er ist für mich das Leben selbst. Ich muss ihn zurückhaben. Er trägt mein Herz in sich.«

»Tochter meiner Seele, ich wünsche dir Kraft. Aber ein Multi hat immer seine Gründe. Du wirst vielleicht eine Weile brauchen, ehe du sie durchschaust, und wenn du es tust, wird dir das unter Umständen nicht helfen, deinen Sohn zurückzubekommen.«

»Tja, bete für mich.«

»Du weißt, ich glaube nicht an persönliche Fürbitten. Ich bete immer nur um Erkenntnis.«

Shira hatte vergessen, sich eine Mahlzeit mitzubringen. Sie aß Cracker und Datteln. Dann setzte sie sich wieder an ihr Terminal und stöpselte sich ein, indem sie die Klinke vom Terminal in die kleine Silberbuchse an ihrer Schläfe steckte, direkt unter der Haarlocke, die immer dorthin fiel. Rosario hatte keine Buchse gehabt; hier war das ein Klassenunterschied, doch in Tikva erhielt jedes Kind die Möglichkeit des direkten Zugangs und lernte, sich in das weltweite Netz zu projizieren und in die lokale Operationsbasis. Sie glitt rasch aus ihrer privaten Basis in die Y-S-Basis. Sie wurde vom Konzernlogo empfangen, weiße und schwarze Doppelblitze vor Himmelblau. Die Y-S-Bildwelt beim Betreten des Stützpunktes war die von Straßenschildern. Sie stand auf einer Kreuzung und hatte sieben Abzweigungen vor sich. Büchereizugang. Sie ging die enge weiße Straße entlang. Natürlich saß sie auf ihrem Stuhl, aber die Projektion wirkte vollkommen realistisch. Man konnte in der Projektion sterben, wenn man von Räubern überfallen wurde, Informationspiraten, die in der einen Basis plünderten und die Beute an eine andere verhökerten.

Ein Gebäude stand vor ihr, weißer Marmor mit Säulengang. Die Bibliothek. Schnell stieg sie die flachen Stufen empor. Sie hielt Ausschau nach der juristischen Abteilung. Sie hatte vor, sich die geltende Y-S-Gesetzgebung über Sorgerecht anzueignen. Deshalb hatte sie nicht einfach nur Text- oder Tonausgabe gewählt. Bei voll projiziertem Zugang, wenn sie in eine Basis eingestöpselt war, lernte es sich wesentlich schneller als in Echtzeit. Sie wollte sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Sie würde ihren Sohn zurückerobern.

Am nächsten Morgen stand sie vor der Tagesstätte. Josh kam mit Ari im Schlepptau. Sie stürzte auf Ari zu und kniete sich vor ihn. »Ich will dir nur sagen, dass ich dich heute abhole. Heute Abend bist du wieder bei mir.«

Ari hatte den Daumen im Mund und sah aus, als ob er geweint hatte. Sein Teddybär-T-Shirt war verkehrt herum. Seine Augen waren verklebt.

Josh sagte, und seine Stimme surrte wie eine Hornisse: »Ich werde Beschwerde einlegen.«

Und wirklich erschien auf ihrem Bildschirm um dreizehn Uhr eine Sicherheitsnachricht: ›Shira Shipman wird hiermit jeglicher Kontakt mit dem minderjährigen, dem Sorgerecht seines Vaters Joshua Rogovin unterstellten Ari Rogovin untersagt außer an den vorgeschriebenen Tagen innerhalb der festgesetzten Besuchszeiten. Jeder weitere Verstoß gegen diese Verfügung bewirkt den Widerruf besagter Rechte.‹

Shira schloss sich in eine Abfallbeseitigungszelle ein, bevor sie weinte.

2Shira

Die Farbe alten Blutes

Shira war vor Malcolm auf. Es war die zweite Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, ihr Versuch, etwas Distanz zwischen sich und ihren Exmann zu bringen. Jedes Mal, wenn sie in den zwei Monaten seit dem Urteil Ari abgeholt oder zurückgebracht hatte, war sie mit Josh aneinandergeraten. Jetzt setzte sich Shira an ihr Terminal und ging die Formulierungen ihres letzten Einspruchs durch. Sie fühlte sich deprimiert, der gestrige Abend war ihr lang und bleiern vorgekommen. Während sie eine Begründung umformulierte, teilte ihr der Wohnungscomputer mit, sie habe einen Anrufer. Es war ein billiges Modell, ohne jede Persönlichkeit, aber sie hatte ihm eine weibliche Stimme gegeben, die sie an das Haus ihrer Großmutter Malkah erinnerte. Die meisten Häuser hatten weibliche Stimmen. »Stell die Verbindung nur auf Audio.«

»Shira?« Es war Gadis Stimme. »Stell auf Sicht. Ich hasse es, mit einer leeren Wand zu reden. Wenn du nicht angezogen bist – verdammt, glaubst du, ich erinnere mich nicht an deinen Körper?«

Wie immer, wenn sie seine Stimme ohne Vorwarnung hörte, fiel ihr Herz in sich zusammen wie ein zermalmtes Ei. »An meinen Körper vor zehn Jahren?« Sie versuchte schnippisch zu klingen. Sie schaute in den Spiegel, wollte sich vergewissern, dass sie sich sehen lassen konnte, wollte, es wäre ihr egal, welchen Eindruck sie auf ihn machte. Sie war noch im Morgenmantel aus durchsichtiger schimmernder Seide. Ihr Haar war zerzaust, etwas Goldflimmer von gestern Abend glitzerte im Schwarz. Sie sah etwas zu mädchenhaft aus, ein wenig wie ein verlassenes Kind, wie immer ohne Make-up, aber sie konnte sich nicht überwinden, an einem Sonntagmorgen früh um neun ihr Gesicht anzumalen. Sie sagte: »Sicht an. Guten Morgen. Wo bist du?«

»Heim in Tikva, besuche Avram. Ach, unsere täglichen Duelle, unsere erfrischenden Gefechte gegenseitiger Beleidigungen. Der neue Stimmie, an dem ich mit Tomas Raffia gearbeitet habe, ist fertig und ich habe Urlaub. Warum kommst du nicht auf einen Besuch nach Hause?« Gadi war fast wie sie gekleidet, in einen durchsichtigen Mantel aus Seide – von diesen mutierten Raupen, der letzte Schrei. Seiner war viel schöner als ihrer, in Farben, die unter ihren Blicken changierten. Sein Gesicht war hager, aber so hübsch wie immer. Er hatte sein Haar silbergrau gefärbt, seinen Augen nicht unähnlich. Nur junge Leute hatten heutzutage graues Haar. Die meisten sahen damit furchtbar aus, aber sein braun gefärbtes Gesicht wurde dadurch betont. In Tikva, wo alle in Shorts oder Hosen herumliefen, wirkte er bestimmt ein wenig bizarr. Er war eben ein Sendbote des Glamours von Vancouver, dem Zentrum der Stimmie-Branche. Er war berühmt. Man erwartete von ihm, dass er aussah wie ein auf Hochglanz poliertes Kunstprodukt. Als Designer von Atmos für Stimmies war er durchaus selbst ein Star und konnte sich unter seinen Fans bewegen wie keiner der Schauspieler, die durch ihre vernetzten und verfeinerten Sinne zu verletzlich waren.

»Wie ist er beim Publikum angekommen?«

»Warst du etwa noch nicht in meinem Stimmie?« Seine Stimme krümmte sich vor ungläubiger Verletztheit. »Er war absolut krass!«

»Gadi, ich habe mich auf die Gerichtsverhandlung vorbereitet. Ich habe mich in den letzten drei Monaten jeden zweiten Tag mit meinem Anwalt getroffen. Josh hat mir Ari weggenommen. Schick mir doch eine Kristallkopie.« Dann müsste sie es sich geben. Sie nahm sich selten die Zeit, sich in einen Stimmie zu versenken, selbst jetzt, wo sie allein lebte. Sie hatte die Gewohnheit abgelegt, als Ari geboren wurde, denn sie wollte sich nicht von ihm abschotten, indem sie in diese völlige Überflutung von Sinnesreizen eintauchte: die exquisiten Empfindungen irgendeiner Schauspielerin, verfolgt von zwergenwüchsigen Menschenfressern oder im Orbit auf Nuevas Vegas mit vier Liebhabern zugange, durchpumpt von Gefühlen.

»Computer, letzte Anfrage speichern und ausführen … Wie konnte er dein Kind wegnehmen?«

»Sie haben hier patriarchales Recht. Der Junge gilt als Eigentum der väterlichen Genlinie – und, Gadi, du weißt, dass ich ihn geheiratet habe. Obendrein hat er einen höheren Technodienstgrad als ich.«

»Warum hast du auch diesen Blödsinn gemacht?« Gadi zog eine Grimasse. »Ich habe dir gesagt, du sollst diesen Wurm nicht heiraten. Ein-Heirat ist altmodisch und trostlos.«

»Du hast nie versucht, Josh zu verstehen … Im Moment geht es zwischen uns niederträchtig zu, bösartig. Ich habe ihm entsetzlich wehgetan, Gadi.« Es tat so wohl, mit ihm zu reden. Anfangs schickten sie sich immer Eröffnungssalven und dann diplomatische Botschaften aus ihren gegnerischen Festungen, doch schon nach fünf Minuten tauschten sie Vertraulichkeiten aus. Auf geheimnisvolle, zarte Weise waren sie immer noch miteinander verquickt. Erst gestern Abend hatte sie an ihn denken müssen, während sie mit Malcolm ins Bett stieg, und so würde es wohl bis ans Ende ihres Lebens bleiben. Und jetzt am Morgen saßen sie da und plauderten miteinander. »Gadi, bei Y-S heiraten die meisten. Es wird darauf gedrungen.«

»Dieser Mann wurde geboren, um verletzt zu werden – eine Motte, die sich wieder in die Larve zurückverwandelt hat, aus der er hervorging.«

»Josh ist jemand, der mehr erdulden musste, als wir beide auch nur ahnen können. Er hat nicht einen einzigen Menschen mehr, niemanden. Er hat durch Zufall überlebt. Stell dir vor, sein Heimatland ist die Schwarze Zone.« Ein großer Brocken des Nahen Ostens wurde auf Karten in einförmigem Schwarz dargestellt, denn er war unbewohnbar und für alle verboten. Eine verpestete radioaktive Wüste.

»Du heiratest keinen Mann, weil er dir die Füße vollblutet.«

Shira zuckte zusammen, Salzgeschmack im Mund. »Ich dachte, ich könnte ihn glücklich machen.«

Gadi schnaubte verächtlich. »Das versuchen Frauen andauernd mit mir, und was bringt es ihnen? Einen wunden Arsch vom Drauffallen.«

Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Dein Vater hat mir einen Job angeboten, ist das zu glauben?«

»Warum dir?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Was will Avram mit dir anfangen?«

»Gadi, ich bin sehr gut auf meinem Gebiet, obwohl Y-S mich nicht zu schätzen weiß.«

»Für Avram arbeiten kommt überhaupt nicht in Frage, aber ich fände es schön, wenn du in Tikva wärst. Dann würde ich dich immer sehen, wenn ich mich hierher verdrücke.«

»Bevor nicht über meine Berufung entschieden ist, gehe ich nirgendwohin. Ich werde Ari nicht aufgeben. Ich war schrecklich dumm. Ich habe geheiratet, statt mein Kind meiner Mutter zu geben. Hätte ich es doch nur getan! Ich habe mit unserer Familientradition gebrochen, und jetzt habe ich ihn verloren!«

»Du hörst dich an, als ob du dich schuldig fühlst, Shira. Warum?«

»Wenn ich mich nicht in die Ehe mit Josh gestürzt hätte, wenn ich mein Kind meiner Mutter Riva gegeben hätte, wie es von mir erwartet wird, wenn ich doch bloß auf Malkah gehört hätte, dann wäre mein Kind in meiner eigenen Familie. Es ist meine Schuld. Ich habe mich für so klug, so überlegen gehalten.«

»Durch den Scheiß müssen wir alle durch, Shira. Bist du sicher, dass deine Mutter den Jungen wollte? Ich bin ihr nur ein- oder zweimal in meinem Leben begegnet. Ich kann mich kaum erinnern, wie sie aussieht.«

»Sie ist für mich eine Fremde. Sie arbeitet für Alhadarek, das ist alles, was ich weiß.«

»Du mit einem Kind, die Vorstellung fällt mir sowieso schwer, Shira. Für mich bist du selber immer noch ein Kind. Ich glaube, du hast diesen Ari erfunden, er existiert nur in deiner Einbildung.«

Eine Träne rann ihr aus dem Auge und sie fauchte vor Wut. »Gadi, sei nicht so ein Arsch. Er ist für mich realer als jeder andere Mensch auf der Welt –« Sie merkte plötzlich, dass Malcolm an ihrer Schlafzimmertür stand und lauschte. Jetzt trat er hinter sie, damit sein Bild übertragen wurde.

Gadi schien amüsiert. »Du hättest mir sagen sollen, dass du Besuch hast. Wir können ein andermal tratschen.«

Mit Malcolm neben sich konnte sie nicht die Wahrheit sagen: dass sie ihn beim Reden mit Gadi völlig vergessen hatte. Sie beendete die Übertragung und es war rundum peinlich.

Das Frühstück gestaltete sich schwierig. »Ich wusste nicht, dass du noch einen anderen Mann an der Angel hast«, murrte Malcolm. Er war ebenso groß wie Gadi, aber viel kräftiger gebaut, mit braunem Haarschopf und buschigen, herrischen Augenbrauen, mit der Angewohnheit, das Kinn vorzurecken, als befehlige er einen Angriff.

»So ist das nicht. Er ist ein alter Freund. Wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Du hast immer wieder gelacht, als du mit ihm geredet hast. Er hörte sich nicht an wie jemand, der nur ein Freund ist.«

»Ich denke von Freunden nie als ›nur‹. Freunde sind kostbar.«

»Das richtige Wort für ihn. Sieht gut aus, wenn man solche Schmuckstücke mag.«

»Er entwirft Atmos für Uni-Par.«

»Ich tauche nie in diese Dinger«, sagte Malcolm. Das war die offizielle Devise bei Y-S, außer, es handelte sich um ein konzerninternes Programm. Dennoch senkten sich seine Mundwinkel. »Ich besitze nicht mal einen Helm, um vollständig reinzugehen. Ich benutze bloß poplige alte Elektroden … Das war doch nicht etwa Gadi Stein?«

Sie spürte, wie sie sich ärgerte, und versuchte, es höflich zu überspielen, indem sie ihn nach seinem Sandsegeln fragte. Das war ein Nachtsport, aber trotzdem gefährlich. Wie viel angenehmer wäre es gewesen, weiter mit Gadi zu quatschen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, ihn nach seinem Vater Avram zu fragen, nach all ihren alten Freunden, nach den komplizierten Beziehungen in Tikva, nach dem letzten Politskandal, den neuesten Trends. Es war unanstrengend, mit Gadi zu reden, und mühselig, in öder, schrittchenweiser Kleinarbeit diesen Mann kennenzulernen, der von Minute zu Minute unsympathischer wirkte. Er war offensichtlich eingeschnappt und peitschte mit einem Löffel, der wie ein Mast aus der Tasse ragte, seinen Kaffee im Kreis, als wolle er ihn dafür bestrafen, dass sie ihn enttäuscht hatte. Sie wollte sich nicht mit ihm überwerfen – sie konnte keine weitere Fehde am Arbeitsplatz gebrauchen –, also würde sie einfach das Frühstück hinter sich bringen und ihn hinauskomplimentieren. Sie selbst war das Problem.

»Ich dachte, du wärst … weicher. Manchmal hast du einen Gesichtsausdruck wie ein kleines Kind, so unschuldig«, sagte Malcolm, als sei das eine Anklage. Sein Kinn reckte sich ihr entgegen, seine Brauen sträubten sich drohend.

Sie hätte ihm am liebsten gesagt, dass das am Kindchenschema lag: Große dunkle Augen in einem schmalen Gesicht riefen bei Säugern einschließlich Menschen die angeborene Reaktion auf Neugeborene hervor – das Rehkitz, das Kätzchen, das Hundebaby und die Shira. Während des Studiums hatte sie oft die Stirn gerunzelt, um ihre Umgebung zu zwingen, sie ernst zu nehmen. Sie war nicht mädchenhaft, scheu, unschuldig, unbekümmert, und sie wünschte sich häufig, nicht diese Fassade zu bieten, die offenbar nur Männer anlockte, die eine Kindfrau wollten. Sie war rauer, dorniger. Und die Wahrheit war, die Anstrengungen, ihren Sohn zurückzugewinnen, nahmen sie viel zu sehr in Anspruch, um sich noch um irgendeinen Mann bemühen zu können. Sie hätte sich am liebsten bei Malcolm dafür entschuldigt, dass sie seine Zeit verschwendete. Sie war eine Fata Morgana.

Heute würde sie Josh treffen, auch ein Grund, warum sie glaubte, vorgeben zu müssen, dass sie eine ernst zu nehmende neue Beziehung hatte. Sie musste sich einfach Josh stellen und versuchen, vernünftig mit ihm zu reden. Dann würde sie Ari ganze zwanzig Stunden für sich haben, von mittags bis acht Uhr früh am nächsten Morgen.

Sobald Malcolm gegangen war, bereitete sie sich in Kleidung und Benehmen psychologisch auf die kommende Schlacht vor. Josh hatte voll gemeiner Spiele gesteckt, seit sie ihn verlassen hatte, doch sie wusste, dass dies nur Ausdruck seines Schmerzes war. Es war nicht so, dass Josh sie leidenschaftlich geliebt hatte, obwohl er das bestimmt behauptet hätte. Er hatte vielmehr eine konventionelle Anhänglichkeit entwickelt, jedoch eine, die für sein Überleben von zentraler Bedeutung war. Er verließ sich einfach darauf, dass sie da war.

Keine weiteren Obduktionen. Ihr größter Wunsch war, Ari einen vollkommenen Tag zu bereiten. Hoffentlich mochte er immer noch luftige Omeletts, bei denen das Eiweiß getrennt geschlagen wurde. Sie hatte es geschafft, drei echte Eier aufzutreiben. Sie würde ihn fragen, ob er Lust hatte, eine Wolke zu essen. Leider war der Tag dunkel, das künstliche Licht schmutzig orange. Wahrscheinlich tobte außerhalb des Kuppeldoms ein Sandsturm. Sie plante, mit ihm in den Park zu gehen. Ein wenig Spielzeug hatte sie zwar, aber da sie ihren ganzen Kredit für Gerichtskosten ausgab, konnte sie sich nicht viel leisten.

Sie eilte durch die gepflegte, stets neue und stets saubere City der Enklave. Über den gezackten Reihen der Silos für Unterschichttechnos dehnte sich der silberne Kuppeldom. Dreihunderttausend Menschen lebten hier; noch einmal so viele wurden täglich aus dem Glop herein- und wieder hinausgeschleust. Unter dem Kuppeldom herrschte Frühling, und das Klima war so eingestellt, wie es hier vor fünfzig Jahren gewesen sein mochte, aber die Straßenbeleuchtung brannte.

In Zweierreihen marschierten Kinder in ihren blauen Sonntagsuniformen mit dem Y-S-Logo vorbei. Sie erkannte, dass es Kinder von Leitenden und nicht von Technos waren, denn sie hatten schon chirurgische Eingriffe hinter sich, um sie dem Y-S-Ideal in Gesicht und Körper anzupassen. Sie sangen eine der Konzernhymnen, ein Sicherheitsaffe führte sie an, ein zweiter bildete den Abschluss. Die Affen bewegten sich schwerfällig wie Roboter, obwohl es seit den Cyberkrawallen verboten war, Robotern menschliche Gestalt zu geben. Affen waren einfach chemisch und chirurgisch veränderte Menschen mit besonderen Implantaten für übermenschliche Kräfte und Schnelligkeit. Die Oberschichtkinder wurden durch das Einkaufsviertel der Mittelschichttechnos wohl zu einer Sonderveranstaltung geleitet. Denn normalerweise wagten sie sich nicht aus dem Paradiespark, einer Enklave innerhalb der Enklave hinter hohen Mauern um einen Teich mit richtigem Wasser. Eine hochgewachsene, elegante Frau auf einem Pferdobil – einem goldglänzenden Pferderoboter, der in zierlicher Gangart jeden Kobalthuf hoch in die Luft hob – ritt neben ihnen. Lehrerin? In Anbetracht des Pferdobils – das ein Vermögen kostete – und ihres Haars, in das Juwelen geflochten waren, wohl eher eine der Mütter.

Sie dachte an ihre eigene Mutter, Riva, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. Sie war Riva selten begegnet. Beim letzten Mal war sie siebzehn gewesen und hatte kurz vor der Abreise zur Universität gestanden. Ihre Mutter war eine unscheinbare, vorzeitig in die Jahre gekommene Frau, eine typische Bürokratin oder Mittelschichtsanalytikerin – Shira hatte nie ganz kapiert, was ihre Mutter tat, aber offensichtlich nichts Wichtiges. Die Begabung, die Malkah weltweite Anerkennung als Genie gebracht und die bis vor kurzem noch Shira die Auswahl ihrer Schulen und Projekte ermöglicht hatte, schien Riva übersprungen zu haben. Hatte Riva sie jemals so vermisst, wie sie Ari jetzt schon vermisste? Sie bezweifelte es. Soweit Shira sie sich ins Gedächtnis zu rufen vermochte, sah sie eine hektische Frau, die sich nervös die Hände rieb. Riva hatte sie mit offenkundiger Erleichterung Malkah übergeben, Malkah hatte sie großgezogen, und alle waren glücklich. Nein, Shira hatte die Familientradition, ihr Kind der Mutter zu übergeben, gar nicht ernst nehmen können. Riva wäre schon mit der Aufzucht einer Springmaus überfordert gewesen.

Shira war mit Katzen und Vögeln aufgewachsen, aber hier waren richtige Tiere nur Oberschichttechnos und Leitenden erlaubt. Alle anderen behalfen sich mit Robotern, aber die guten waren für sie viel zu teuer. Aris kleiner Koala war das Äußerste, was sie und Josh sich leisten konnten. Ari war ganz verrückt danach, seinem Wawabär, aber Josh hatte verboten, dass Ari ihn mit zu ihr nahm, er sei viel zu teuer, um ihn durch die Gegend zu schleifen.

Ihre Straße war wie hundert andere, ihr Haus einer von den vier Prototypen für Joshs Dienstgrad. Shira zog ein Gesicht, sie stand vor der Tür, die sich auf ihre Berührung nicht mehr auftat. Der Hauscomputer war neu programmiert, sie zu behandeln wie eine Fremde. In letzter Zeit wartete sie draußen, wenn sie Ari abholte. Als sie das Haus, das einmal ihr gemeinsames gewesen war, zuletzt betreten hatte, fand sie Wohnzimmer und Küche demonstrativ verdreckt, überall Essensbehälter und schmutziges Geschirr. Das Haus schrie ihr entgegen: Da, sieh, was du uns angetan hast! Josh hätte nur den Reinigungsroboter an die Arbeit zu lassen brauchen. Aber er hatte es vorgezogen, mit dem Dreck zu sagen: Dazu bin ich verkümmert. Seine Verbitterung stank ihr entgegen. Sie hatte den Vorfall in ihrer letzten Eingabe beschrieben und die Atmosphäre in seinem Haushalt als unzuträglich und ungesund für ein Kleinkind bezeichnet. Vergammeltes Essen konnten zwei als Waffe benutzen.

Das Haus öffnete die Tür. »Treten Sie ein. Für Sie ist eine Nachricht da.« Die Stimme war umprogrammiert worden. Ja sie hörte sich sogar an, als sei das Haus neutral gestellt, als wohne niemand darin. Die Stimme war deutlich eine Maschinenstimme, nicht mehr weiblich, nicht mehr vertraut.

»Ist Josh nicht zu Hause? Wo ist Ari?«

»Josh ist nicht da. Ari ist nicht da. Bitte empfangen Sie die Nachricht für Shira Shipman.«

Sie ging durch die Diele. Die meisten Möbel standen an ihrem Platz, aber die persönlichen Dinge waren verschwunden, die Fotos von Joshs Familie. Er würde nie die Bilder seiner hingemordeten Eltern und Brüder entfernen, solange er dies Haus bewohnte. Offiziell wurden sie als Seuchenopfer geführt, aber sie waren im Kampf gefallen. Die verbogene und halb geschmolzene Menora, die er aus den Trümmern gerettet hatte, war nicht mehr da. Sie eilte rasch zum Terminal. Es war nicht das erweiterte, das sie immer benutzt hatten. Es war das simpelste Modell, darauf eingestellt, das Haus instand zu halten, Nachrichten entgegenzunehmen, einfache Fragen zu beantworten, einen Reinigungsroboter zu beaufsichtigen. Das Hausmeister-Modell. Sie hatte das Gefühl, ihre Brust fülle sich mit kaltem Schlamm. Sie fühlte sich schwer, formlos, durchgefroren. Was ging hier vor? Sie sank vor dem Terminal auf einen Stuhl und identifizierte sich.

Joshs Gesicht erschien auf dem Bildschirm, die Lippen schmal gespannt. »Ich nehme an, du bist hergekommen, um dich mit mir zu streiten. Jeder weitere Einspruch ist sinnlos. Du hast uns verlassen, und jetzt haben wir die Erde verlassen. Yakamura-Stichen hat mich auf die Pazifika-Plattform versetzt. Ich nehme meine Assistentin Barbra mit und Ari. Ich habe die uneingeschränkte Berechtigung von Y-S, Ari mitzunehmen. Wenn du keine Starterlaubnis für Pazifika erhältst, wirst du warten müssen, bis wir nach Ablauf unserer Pflichtdienstzeit zur Erde zurückkehren. Die üblichen zwei Jahre. Josh Rogovin Ende.«

Sie saß da wie betäubt. Dann rannte sie hoch in Aris Zimmer. Es war leergeräumt. Y-S musste Josh gestattet haben, Aris Bettchen mitzunehmen, seinen Spieltisch, seine Spielsachen, seinen Koalaroboter. Sie lief durchs Haus und rief nach ihm, hoffnungslos, unnütz. Dann warf sie sich an das Terminal und spielte noch einmal Joshs Nachricht ab.

»Du hast dich gründlich an mir gerächt. Das hast du geschafft«, sagte sie zu seinem Gesicht, das am Ende der Nachricht auf dem Bildschirm eingefroren war. Sie blieb sitzen, während es dunkler im Zimmer wurde. Das Licht ging hier nicht an, außer sie befahl es ausdrücklich, was sie nicht tat. Wie schäbig und klein das Haus um sie herum anmutete, bar aller Spuren ihrer Ehe bis auf die Abnutzungserscheinungen an den Möbeln und hier und da einen noch nicht entfernten Fleck an der Wand. Ari war fort. Er war nicht einmal mehr auf der Erde.

Alles ließ sich auf die simple Tatsache zurückführen, dass Joshs Fähigkeiten für Y-S wertvoller waren als ihre. Sie hatten versucht, Plasmaphysiker auf die Pazifika-Plattform zu versetzen, aber gemäß den Rechten der Y-S-Bürger durfte niemand ohne Einwilligung in den Weltraum umgesiedelt werden. Jeder hatte den Verdacht, dass Pazifika sehr viel mehr harter Strahlung ausgesetzt war, als der Multi zugab. Josh hatte sich nie dafür interessiert, im Weltraum zu arbeiten. Das Leben auf einer Plattform war die vollständig verwirklichte Klaustrophobie. Josh hatte nicht das Recht, Ari eine Kindheit in solcher Umgebung zuzumuten. Er hatte es getan, um sie zu bestrafen. Sie konnte nichts tun, absolut gar nichts.

Sie hasste Y-S. Ihr Chef hatte nicht hart genug für sie gekämpft. Sie war geopfert worden, für den Bedarf des Multis an Wissenschaftlern, die bereit waren, zwei Jahre in einer großen Blechbüchse zuzubringen. Zwei Jahre. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie wollte nicht in diesem verlassenen Haus weinen, das die letzte Phase ihrer dummen, totgeborenen Ehe mit angesehen hatte. Sie putzte sich heftig die Nase und ging heim.

Der Form halber legte sie bei Y-S Protest ein. Dann schickte sie ganz offen eine Mitteilung an Avram. Sie sprach nicht selbst mit ihm, sondern sandte ihm eine Nachricht durchs Netz: Sie sei bereit, die Stellung in seinem Labor anzunehmen. Sobald sie ihre Angelegenheiten hier geregelt hatte, würde sie kommen und sofort die Arbeit aufnehmen. Ihren angesammelten Kredit hatte sie auf Rechtsstreitereien verschwendet.

Ihr war rätselhaft, warum Avram ihre Mitarbeit wollte, aber ein befristeter Job in Tikva verschaffte ihr Zeit zu überlegen, wohin sie wollte, Zeit, mit Multis zu verhandeln, Zeit zu heilen. Welche Freude, wieder zu Hause zu sein, wo Malkah die Sabbat-Kerzen entzünden würde, wo sie wieder die alten Gebete sprechen würden, wo sie frei sein würde, die zu sein, die sie war. Wie bitter, ohne ihr Kind zurückzukehren. Sie hatte sich so oft vorgestellt, ihn nach Tikva zu bringen. Sie rechnete nicht mit Schwierigkeiten bei der Kündigung. Hätte Y-S ihre Dienste behalten wollen, wäre ihr ein Teil des Sorgerechts für Ari zugestanden worden. Hätten sie sie so dringend gebraucht wie Plasmaphysiker auf Pazifika, besäße sie jetzt das alleinige Sorgerecht. Konzerngerechtigkeit. Nun kehrte sie heim.

3Malkah

Malkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte

Es war einmal, so beginnen Geschichten. Halb Künstlerin, halb Wissenschaftlerin, weiß ich das. Als Mutter und Großmutter habe ich fünfzig Jahre lang Geschichten erzählt. Wie die Kinder heranwachsen, so auch die Geschichten, von bewegten Strichzeichnungen zur vollen Skala aller Farbtöne, dick aufgetragen wie Gips oder Blut. Einige Moralgeschichten gehören in den Kindergarten, das Alter, in dem man im Dunkeln Angst hat, das Alter, in dem man sich ein kurzes Stück allein aus dem Haus wagt, ermahnende Fabeln mit grellen Buntstiften geschrieben. Aber andere Geschichten sind immer bei uns. Wir erzählen sie uns selbst in der Mitte unseres Lebens und im Alter, jedes Mal anders, sie wachsen zusammen wie Stalaktiten, die zur Erde drängen, werden schwerer mit jedem Tropfen und seiner Last geheimer, aufgelöster Gesteine und Mineralien, den vielen Salzen des Planeten.

So ist denn, lieber Yod, die Geschichte, die ich nun in der Basis lasse, nicht so, wie ich sie meinem Kind Riva oder meinem Kind Shira erzählt habe, oder Shira und Gadi, als sie vor mir hockten wie kleine Frösche, ganz Knopfaugen und Erlebnishunger. Ich zeichne die Geschichte nur für dich auf, in den Nächten meiner aschgrauen Schlaflosigkeit, wenn mir mein Leben vorkommt wie eine Dachkammer voller Schachteln, die ich weggestellt habe, Dinge, die einmal kostbar waren und die jetzt verstaubt und halb vergessen sind, aber immer noch ein Chor von Forderungen, dass ich sie ordne und jedem einen Platz zuweise, als Vermächtnisse, als Gerümpel, als Museum, das ich der Familie öffne oder der Welt. Dies ist eine Zeit, in der Neues beginnt und anderes endet, eine Zeit der großen Risiken und Gefahren, des plötzlichen Todes durch geistige Ermordung. Es ist auch die Zeit, in der mein Augenlicht wieder schwindet, und diesmal kann es nicht wiederhergestellt werden. Die Dunkelheit der Nacht äfft die Dunkelheit nach, die ich so fürchte, und der Schlaf ist der Liebhaber, den ich vielleicht stärker fürchte, als dass ich seine sanfte, warme Last auf mir wahrhaft begehre.

Dies ist also die Geschichte vom Golem: nicht du, mein eigener kleiner Golem, den ich klein nenne, obwohl du viel größer bist als ich, so groß wie ein hochgewachsener Mann (wie Razi, mein vorletzter Liebhaber), und um ein so Vielfaches kräftiger als ich, dass ich gar nicht erst raten mag. Du kannst einen Marmorblock über deinen Kopf heben. Nein, klein ist ein liebevoller Ausdruck, so wie viele Sprachen Kosesilben anhängen, die im Format verkleinern, was sie an Zuneigung vergrößern. Avram hat mir verboten, dich zu sehen, aber wir können uns immer noch über die Basis austauschen, und dort lege ich meine bobe majßeß für dich nieder. Ich bin mir keineswegs sicher, in welchem Maße ich mich bei deiner Programmierung großer Torheit und grenzenlosen Ehrgeizes schuldig gemacht habe oder bis zu welchem Grad ich vielmehr die Figur der Kraft im Tarot-Spiel bin, die Frau, die den Löwen zähmt, die dir beigebracht hat, deine Gewalt mit menschlichen Bindungen zu mildern. Ein Vorhaben, das Avram unterband.

Ich erzähle diese Geschichte für dich, während ich allein in meinem eigenen geräumigen, antiken Bett liege, in dem Schlafzimmer, das mir angepasst ist wie ein altes vertrautes Kleidungsstück, mit dem Duft der Narzissen aus dem Hof, in diesem Haus meiner Familie mit seiner grünen Oase inmitten der Wüste, zu der unsere Welt geworden ist. Ich liege wach und spüre die Gefahr, die um uns in diesem zerbrechlichen modernen Ghetto wächst. Dies ist eine Geschichte meiner Familie aus alter Zeit, als die Welt aufzubrechen schien. Sie nannten es Wiedergeburt. Renaissance. Aber nichts kommt je genauso wieder. Die Welt bewegt sich auf der menschlichen Ebene in Epizyklen, obwohl zu der Zeit, in der meine Geschichte erzählt werden möchte, es ebenjenes epizyklische Weltbild war, das von einigen wenigen mutigen Astronomen verworfen wurde. Sie traten für ein System ein, einfach, klar und völlig anders als das menschliche oder vielmehr anthropozentrische Weltbild, das den meisten, die damals in Europa lebten, als unwandelbar galt und als zutiefst christlich. Aber wie das ptolemäische Weltbild hat auch meine Geschichte ein menschliches Zentrum.

Dies ist im Besonderen die Geschichte eines gewissen Judah Löw, mehrerer Männer und Frauen um ihn herum und eines Un-Mannes. Aber es ist auch die Geschichte einer Stadt und eines Städtchens innerhalb einer Stadt, eines Städtchens so einzigartig, so eingekesselt und so gefährdet wie unsere eigene freie Stadt der Juden hier an der steigenden, vergifteten See. Prag ist die Stadt, das schöne Prag, das just seine graue und goldene, senf- und terracottafarbene, erdbeerrote und pistaziengrüne Stuckwärme annimmt, das sich gerade zu der Stadt gestaltet, durch deren barocke Formen ich im Frühling meines zweiundzwanzigsten Lebensjahres ging – im Jahre 2008 –, während ich bei jenem brillanten Manne Philosophie studierte, der ein so großer Lehrer war und ein so ungeschickter Liebhaber, und doch hielt ich den Tauschhandel von meinem Fleisch für seine Gesellschaft und seine Gespräche für angemessen, und ich hatte recht. Ich wanderte durch die verwinkelten Gassen und erklomm die Treppen, träumte von Kafka, dessen Geschichten ich immer bei mir trug, und träumte auch von Einstein, der an dieser Universität gelehrt hatte, während er seine Relativitätstheorie schuf. Ich war eine hochbegabte Studentin, die beste Studentin meines Professors und für eine Zeit seine Liebste, während in jenem Frühling der Flieder blühte.

Jeden Tag schaute ich von den Universitätsgebäuden hinüber in das, was einmal das Ghetto gewesen war; jeden Tag durchquerte ich es, vorbei an der Altneuschul, vorbei am jüdischen Friedhof zu meinem Studenten- und Arbeiterviertel, einem mittelalterlichen Pferch enger Gassen, zwei- und dreistöckige Häuser, an denen senfgelber Stuck die uralten zerbröckelnden Ziegelsteine in der Rasnovkastraße übertünchte. In der Pinkas-Synagoge, erbaut im fünfzehnten Jahrhundert und schon alt, als Rabbi Judah Löw durch diese engen Gassen schritt, stehen an den kahlen Innenwänden die 77.397 Namen von Juden angeschrieben, die in den Todeslagern zu Rauch verbrannt wurden, im gleichen Jahr, als meine Mutter in Cleveland, Ohio geboren wurde, einundvierzig Jahre vor meiner eigenen Geburt. Der Flieder stand in Blüte, als ich meine Tochter Riva empfing, die ich, kaum der Jugend entwachsen, in aller Stille aus Prag forttrug, ein Klümpchen in meinem Leib wie ein Souvenir der Freude, so wie andere Besucher Kunsthandwerk aus tschechischem Kristall davontrugen. Und in der Tat, Riva war von Kindesbeinen an ungefähr so formbar und gefügig wie Kristall.

Innerhalb des Prags von 1600 befindet sich die Judenstadt, das ummauerte Ghetto, der Glop seiner Zeit, mit Häusern, die sich wie Schuhlöffel in Höfe zwängen, und Familien, die in einem Zimmer hausen, oder mehreren Familien, die in einem Raum zusammengepfercht sind, der ihnen kaum genug Platz bietet, um sich nebeneinander schlafen zu legen – Mauern, die selten den Pöbel abhalten, der sich regelmäßig erhebt, um zu brandschatzen und zu morden. Es ist nicht viele Jahre her, seit ein Pöbelhaufen plündernd durch die Straßen zog und ein Viertel der Einwohner hinschlachtete, verstümmelte und zerrissene Leiber wie blutiges Gerümpel auf die Straßen geworfen, umgestürzte Wiegen, aufgespießt, während sie beteten, aufgeschlitzt im Wochenbett. Nicht einen Überlebenden gab es, der nicht einen Gatten, eine Frau, ein Kind, eine Mutter, einen geliebten Menschen zu beerdigen hatte. Im Jahre 1543 wurden alle Juden aus Prag vertrieben, wurden plötzlich mit dem, was sie tragen konnten, aus ihren Häusern gejagt und im feindlichen Umland ausgesetzt, um anderswo ihren Weg zu machen, irgendwo anders. Erst gestern hörten die Juden von Prag Reden der Bürger, auch aus den Handwerksgilden, dass es Zeit sei, sie wieder davonzuschicken. Zu Lebzeiten von Judah Löw wurden alle jüdischen Bücher beschlagnahmt, viele verbrannt und der Rest durch ein enormes Lösegeld zurückgekauft. Jedes Jahr zahlen die Juden einen ›Leibzoll‹ – eine Steuer auf ihr Recht zu leben.

Sie tragen auf ihren Mänteln, Männer und Frauen und Kinder, ein gelbes Symbol, das sie als Juden kennzeichnet. Es ist nicht der Sechsstern, der Magen David, weil dieses Symbol nur ein örtliches Emblem auf dem Banner der Prager Gemeinde ist und ungewöhnlich anmuten wird, wenn es später für einen der Menschen, denen wir bald begegnen werden, benutzt werden wird, auf seinem Grabstein. Nein, das erforderliche Mal ist einfach ein ausgeschnittenes Stück Gelb, das jeder Jude zu tragen hat, um auf den ersten Blick erkennbar zu sein. Es ist nicht immer so gewesen. Tatsächlich stehen die Dinge in diesem Augenblick für eine kleine Weile ein wenig besser für die Juden von Prag, doch es ist nur eine Atempause. Das Leben ist, seit sie zurückdenken können, merklich schlechter geworden, und es ist ein Segen für ihren ruhigen Nachtschlaf, dass sie noch keine Ahnung haben, wie schlecht es in ein paar Jahren werden wird, wenn der Dreißigjährige Krieg über sie hinwegfegen wird, hin und her und hin und her wie eine toll gewordene Sense, die Menschenköpfe erntet.

Jahrhundertelang hatten wir eine kleine, unehrenhafte, aber notwendige Rolle eingenommen: Wir waren die Bankiers, die Pfandleiher, die Geldwechsler, die Quelle für Darlehen; das war die Arbeit, die uns erlaubt war. Doch als auch Christen Bankiers wurden, trachteten die Juden, Arbeiten zu tun wie jedermann sonst, und dies, obwohl uns die meisten Gewerbe von Seiten der Obrigkeit verboten waren. Wir mussten einem Broterwerb nachgehen, und wir konnten uns nicht einfach gegenseitig die Wäsche besorgen. Bis zur Zeit des ersten Kreuzzuges lebten die Juden meist in eigenen Vierteln, wie es Menschen eben tun, in der Nähe ihrer Verwandten, ihrer Freunde, und in einer Stadt wie Prag mochte es drei oder vier mehr oder minder jüdische Viertel geben, und wenn ein Jude woanders leben wollte, wen kümmerte es? Aber seit dem ersten Kreuzzug war die Kirche kriegerisch, sie weitete sich aus, entschlossen, zu erobern oder anderen Glauben auszumerzen. Das Vierte Laterankonzil verfügte, Juden seien in Ghettos einzusperren oder zu vertreiben.

Im Ghetto von Prag gibt es wenige wohlhabende Juden, die weiterhin Handel in der Fremde finanzieren, deren Geschäftsunternehmungen weitreichend und wagemutig sind, und viele, viele arme Juden. Es gibt eine Handvoll wie die Löws zwischen der Hölle der ganz Armen und dem Himmel der Reichen. Aber in der Judenstadt ist jedermann, die reichen Maisls, die mittleren Löws, die Hungernden, die den Abfall um ein Stückchen Brennholz durchwühlen, alle sind sie auf kleinstem Raum zusammengepfercht und sie kennen sich bei Namen und sie alle kennen einander Handel und Wandel. Es ist ein heißer, enger Ort, Tag und Nacht lärmerfüllt, wo der Lumpensammler auch ein großer Gelehrter sein mag und der Rollkutscher ein Kantor, der singen kann, bis die Vögel in Ohnmacht fallen, oder ein Fiedler, der deine Knochen erschauern lässt. Die reichen Juden versuchen alle paar Jahre, ein Haus oder etwas Land außerhalb zu erwerben, aber sie sind zu verhasst. Niemand will an sie verkaufen. Erwägt jemand ein Angebot, so widerfährt diesem Verkäufer etwas oder aber das Haus, das Land verschwindet sofort vom Markt. So bleiben auch die Reichen eingesperrt in diese große, zänkische Familie, umgeben von Unmut und Argwohn der Armen, deren Hütten und Behausungen sich an die Mauern der vornehmen Häuser drängen und deren Gerüche und Geschrei durch jedes Fenster, jede Ritze dringen ebenso wie die Ratten, die sich in den Kellern vermehren. Rabbi Löw streitet mit den Reichen, weil er sie zur Rechenschaft zieht, er schilt sie und er besteht darauf, dass die Armen das Recht auf die gleiche Erziehung haben wie die Söhne der Wohlhabenden.

Lass uns Judah Löw betrachten, um den sich diese Geschichte ballt wie eine Wolke, die auf den Schultern eines Berges ruht. Er wird der Maharal genannt. In jenen Tagen haben große Rabbis Spitznamen wie Sportstars oder Stimmiestars. In den Ghettofestungen sind sie Kulturhalbgötter und gleichzeitig Unterhaltungskünstler. Er wird geheißen: Judah Löw ben Bezalel, Judah der Löwe. Ein Löwe unter den Juden.

Der Maharal ist ein gescheiter, streitbarer Mann, ein hitzköpfiger Kabbalist, durchdrungen von uralter Tradition, so dass die Tora für ihn die Welt begleitet, beseelt und bildet, dabei ist er neugierig, aufgeschlossen für die Wissenschaft und die Gedankenflüge seiner Zeit. Der Maharal ist ein griesgrämiger Heiliger von überragendem Verstand, der es liebt, die Gegner mit jeder Waffe seines Arsenals zu bekämpfen, von Vernunft und hoher Redekunst bis zu Hohn und Spott. Er ist freigebig mit seinen Schmähungen, seinen Beleidigungen. In jedem geistigen Wettkampf übermannt ihn der Wille zu siegen, und er ficht, um seinen Gegner zu vernichten. Er steht fast allein in seiner Zeit mit der Ansicht, dass jede Meinung ein Recht hat, ausgesprochen zu werden – er glaubt ganz unzeitgemäß an die Redefreiheit, nicht, weil er ein Relativist wäre. Nein, er glaubt an die Wahrheit seiner Religion. Aber er glaubt zu fest an die Heiligkeit des Denkvermögens, um es durch das Verbot jeglicher Ideen zu verkrüppeln. Er liefert sich unendliche Wortgefechte mit den berühmten Rabbis seiner Zeit. Im Dezember 1599 jedoch erhält er eine Aufforderung, öffentlich mit einem Priester zu disputieren, ein gefährlicher Wettstreit, denn als Jude hat er zu verlieren. Tut er es nicht, so hat die Kirche vielfältige Möglichkeiten, sich zu rächen, rasch oder gemächlich, ganz nach Belieben, und ohne Ende – oder mit dem üblichen Ende. Dies ist keine Zeit, da jemand, der sich den Anblick wünscht, das Schauspiel brennender Juden entbehren müsste. Aber wie kann der Maharal den Disput absichtlich verlieren? G-t würde nichts Geringeres als den Sieg anerkennen. Als Jude ist er verpflichtet, all seine Geisteskräfte einzusetzen. Der Bibeldeuter dei Rossi, dessen Gedanken der Maharal verabscheut, sagte, wenn du G-t ein Opfer bringen willst, opfere es der Wahrheit, und vielleicht ist das die einzige Äußerung von Rossi, mit der der Maharal übereinstimmt.

Der Maharal bereitet sich auf einen öffentlichen Disput mit dem Priester Thaddeus vor, einem Dominikaner, der zuvor in den Diensten der spanischen Inquisition stand. Thaddeus wurde kürzlich nach Prag versetzt, wo unter Kaiser Rudolf ein Klima der Toleranz zu blühen scheint, dessen Fortbestand oder gar Umsichgreifen nicht erlaubt werden kann. Judah findet in seinem Herzen Zorn und Verachtung für seinen Gegner, der so viel Zerstörung, Marter und Tod in anderen Leben anrichtet und dabei die Sicherheit der eigenen Stellung genießt, doch er bemüht sich, seinen Groll zu überwinden. Er erwägt, sich auf versagende Gesundheit zu berufen, aber solche Berufungen haben selten Wirkung. Er erfreut sich bester Gesundheit, obwohl er ein alter Mann ist. Dennoch war er diesen Winter bedrückt. Er hat sich nicht erholt vom Tode seines einzigen Sohnes.

Wenn er seinen Sohn im Geiste vor sich sieht, sieht er nicht den Fünfundfünfzigjährigen mit den grauen Strähnen im Bart, sondern vielmehr das begabte, aber oft zu empfindsame Kind mit den schwachen Augen und der zittrigen Stimme. Er denkt, dass er seinem Sohn ein schlechter Vater war und seinen Töchtern wahrscheinlich ebenfalls, obwohl er die überwiegend Perl überließ, seiner rührigen baleboßte von einer Frau. Er hegte große Erwartungen für den Sohn, auf den er so lange warten musste, den Nachfolger, den Träger seines Namens in die Zukunft. Nun hat er ihn überlebt. Das ist ein beklagenswertes Schicksal, das ich besonders fürchte. Ich habe eine vogelfreie Rechtsbrecherin großgezogen, die ihre Bahnen weit von mir entfernt zieht und auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist. Werde ich überhaupt von ihrem Tod erfahren? Während ich durch meine geschäftigen, gemütlichen Tage wandere, bin ich in Gedanken oft bei Riva. Wie der Maharal war ich eine schlechte Mutter und eine wunderbare Großmutter.

Obwohl der Maharal alt ist – nicht, wie Leute mich alt nennen, und dann schaue ich überrascht in den Spiegel und sage: Wer ist dieser Sack mit den Falten und Runzeln? Wer hat meine Zähne gelockert? Wer hat meine Brüste aufgeweicht? Nein, der Maharal war alt genug, um sein Alter zu spüren. Meine Familientradition sagt, er war einundachtzig; die Bücher berichten verschiedene Geburtsdaten und somit eine Mischung von Altersangaben bis hinauf in die Neunziger. Ich werde die Familienerinnerung übernehmen. Nichtsdestoweniger ist er immer noch tätig und immer noch schöpferisch. Seine Stimme hat nichts von ihrer Kraft verloren, und sein Verstand ist so messerscharf wie eh und je. Er ist vielleicht ein wenig heftiger in seiner Sprache und ein wenig härter im Streitgespräch, als er es in mittleren Jahren war, und er fühlt, dass ihm nur noch wenig Zeit bleibt und viel zu tun. Sein Greisenalter ist unerbittlich und leidenschaftlich. Er erscheint nicht kleiner, sondern größer, als er in seiner Jugend stand, seine Augen sind so hell und feurig wie eh in einem immer hagereren Gesicht. Statt seine Ecken und Kanten abzuschleifen, hat das Alter sie geschärft. Er ist ein Adler.

Judah ist vor vierzig Jahren nach Prag gezogen, aber immer, wenn die Zeit kam, einen Oberrabbiner zu wählen und er offenkundig der Würdigste war, wurde er übergangen. Zu tief in der mystischen Kabbala vielleicht, zu streitlustig, ein zu origineller Denker. Ein Störenfried. Nicht, dass sein Licht völlig unter einem Scheffel stand. Er leitete eine berühmte Talmud-Schule. Er war der Freund des reichsten Juden in Prag, Mordechai Maisl. Er war umgeben von Schülern und Kollegen. Unmittelbar bevor er 1592 Prag für die letzte Exilperiode verließ, schickte Kaiser Rudolf nach ihm und empfing ihn privat, ein unerhörter Umgang mit einem Juden.

Auch für einen rüstigen alten Mann war es ein langer Weg durch die Tore des Ghettos, auf der Karlsbrücke über die weite Moldau mit ihren weißen Stromschnellen, durch die Straßen der Malá Strana, wo sich der Adel hinter hohen Mauern inmitten von Obstgärten und Weideland prächtige Paläste erbaut hatte. Über den steilen, gewundenen Straßen dräute das von Türmen und Spitzen starrende Schloss auf seinen Felsklippen. Er lehnte sich auf die Arme seines Schwiegersohns Itzak Cohen und seines derzeitigen Lieblingsschülers Jakov Sassun. Er kämpfte sich die lange Treppe empor, sein Herz schüttelte seinen schmächtigen Körper, während sie sich an die Mauer drückten, um den Pferden auszuweichen, die vorbeigeritten oder -geführt wurden. Unter ihnen erhoben sich die Stimmen der Stadt und hingen wie leuchtende, flatternde Banner über den roten Dächern.