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Dona Alberti sitzt im Rollstuhl, kann ihre Hände kaum noch benutzen, und erzählt einem Aufnahmegerät aus ihrem Leben im Hotel Paraíso, einem Altenheim, wo sie aus freien Stücken lebt, seit ein banaler Unfall sie ihrer Selbständigkeit beraubt hat. Das sind die Koordinaten von Lídia Jorges jüngstem und vielleicht persönlichstem Roman. Die alte Dame erzählt von ihrem Alltag, den Auseinandersetzungen und Freundschaften mit jungen Pflegerinnen und anderen Mitbewohnern, ihrer heimliche Liebe zu einem Mann, der kurz darauf stirbt, ihre nächtlichen Kämpfe mit einem Alter Ego, das ihr schwindendes Wissen herausfordert. Immer wieder kreisen ihre Gefühle um die schwierige Liebe zur Tochter, einer Schriftstellerin, der sie vorwirft, nur deshalb nicht reich und berühmt zu sein, weil sie vom Elend Namenloser erzählt, anstatt endlich Heldentaten berühmter Menschen zu beschreiben. Der Generationskonflikt mit autobiographischen Zügen wird zum Verhandlungsort einer sozial fundierten Poetik. Erbarmen wirft ein kritisches Licht auf unsere Gegenwart, vermeidet aber frontale Angriffe und stellt die Leser stattdessen geschickt vor grundsätzliche Fragen: Was ist Wissen in einer Zeit der totalen Verfügbarkeit von Information? Was zählt wirklich im Leben angesichts der Tatsache, dass wir alle dem Tod entgegengehen? Welche Funktion hat das geschriebene Wort in diesem Zusammenhang? Erbarmen entwickelt einen subtilen Sog, dem man sich kaum widersetzen kann, denn Jorge erzählt meisterhaft von Dingen, die uns alle bevorstehen
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Seitenzahl: 557
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Lídia Jorge
ROMAN
Aus dem Portugiesischenübersetzt von Steven Uhly
Kofinanziert von der Europäischen Union. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die der Autorin und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union wider. Weder die Europäische Union noch die Bewilligungsbehörde können für diese verantwortlich gemacht werden.
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Misericórdia im Verlag Dom Quixote, Lissabon
© Lídia Jorge, 2022
By arrangement with Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main, Germany
Erste Auflage
© 2024 by Secession Verlag für Literatur, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Steven Uhly
Lektorat: Christian Ruzicska
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com
Umschlagentwurf und Gestaltung: Eva Mutter, Barcelona
Zeichnung von Eva Mutter ab einen Foto von Linh Le
Gesetzt aus Calluna
Satz: Ulrike Verena Heuter
Printed in Germany
eISBN 978-3-96639-120-7
Lieber Besucher
HOTEL PARAÍSO
ARCHIV 210-B
1 Atlas
2 Vortag
3 Teilen
4 Der Duft
5 Die Lesung
6 Im Rosa Salon
7 Erscheinung
8 Die Gestalt
9 L’Ange Gardien
10 Besuch am Nachmittag
11 Der Informant
12 Ihre Rückkehr
13 Ende gut, alles gut
14 Meine Gedanken
15 Die Nachtschicht
16 Die große Pflegerin
17 Unter der Geschichte
18 Dolorosa
19 Exil
20 Mein Geheimnis
21 Lilimunde
22 Mondlichtnacht
23 Gegenüberstellung
24 Posthum
25 Blitz
26 Von Größe
27 Neue Schuhe
28 In der Reihe
29 Sommer
30 Im Schatten
31 Im Spiegel
32 Senhor Tó
33 Neue Heimsuchung der Nacht
34 Die Invasion
35 Taschenlampen
36 Der zweite Fall
37 Die Figur aus Papier
38 Das Buch Hiob
39 Das Lachen
40 Der Anruf
41 Besatzung
42 Revolution
43 Der Schlaf
44 Definition der Liebe
45 Der Fotograf
46 Das Bad des Maghrebiners
47 Herbstgedanken
48 Die Elenden
49 Zeitplan
50 Der Tanz
51 Edgar de Paula
52 Die vier Jahreszeiten
53 Senhor Tós Poster
54 Beugung des Wortes
55 Alis Worte
56 Tonico Tola
57 Wiederholung der Fakten
58 Senhor Rudolfo
59 Werde ich noch stark sein?
60 Im kleinen Fach
61 Plüschbündchen
62 Der Plan
63 Der Hunger
64 Erbarmen
65 Die Schritte
66 Gnade
67 Im blauen Saal
68 Überschwemmung
69 Ninas Hände
70 Moment
71 Das Jahr Des Wagens
SIEBEN ABSÄTZE IN IHREM NAMEN
1. Das Hotel
2. Die Belagerung
3.Der See
4. Die Prüfung
5. Die Begegnung
6. Der Tanz
7. Der Kampf
Lieber Besucher
Bitte warten Sie geduldig vor der Tür, bis jemand Ihnen öffnet. Läuten Sie nicht zweimal. Wir kommen, sobald es uns möglich ist.
An Sonn- und Feiertagen ist es Besuchern zum Wohl der Bewohner gestattet, eine halbe Stunde früher einzutreffen als im Zeitplan vorgesehen.
Wir bitten Sie jedoch dringend, jegliche Anzeichen von Melancholie oder Traurigkeit an diesen Pforten zurückzulassen – hier drinnen erwartet der Bewohner Ihre Freude.
Wir sind alle eine Familie, die in Ruhe und Frieden zusammenlebt – schauen Sie sich die schönen Blumen in unserem Garten an, bevor Sie dieses Haus betreten. Diese Residenz ist ein wunderschönes Blumenbeet, und die Bewohner sind unsere liebsten Blütenblätter.
Bitte beachten Sie, dass wir aus Gründen des Respekts ausnahmslos alle als Dona und Senhor anreden. Bitte helfen Sie uns, die Etikette zu wahren, die den Menschen gebührt.
Die Heimleiterin
Ana P. de Noronha
18. Nov. 2018
HOTEL PARAÍSO
Dies ist ein Ort der Muße
Ein Ort zum Lernen
Ein Ort des Aufenthalts
Ein Ort des Zusammenseins
Ein Ort der Freundschaft
Ein Ort der Zärtlichkeit
Ein Ort der Zuneigung
Ein Ort der Küsse
Ein Ort der Umarmungen
Ein Ort des Tanzes
Ein Ort, an dem alle
zusammen Brüder und Schwestern sind.
Lasst uns beten, lasst uns singen
und uns bekreuzigen.
Poetische Beschreibung in den Worten
unserer Bewohner.
25. Dez. 2018
ARCHIV 210-B
Die folgenden Texte entsprechen der Transkription einer 38 Stunden umfassenden Audiodatei mit den Aussagen von Maria Alberta Nunes Amado, die zwischen dem 18. April 2019 und dem 19. April im darauffolgenden Jahr mit einem Olympus Note Corder DP-20 aufgenommen wurden. Wie in anderen Fällen dieser Art handelt es sich natürlich nicht um eine getreue Transkription. Für die Reihenfolge, die Absätze und die Titel ist Dona Nunes Amado also nicht verantwortlich. Auch sprachliche Wendungen, die der mündlichen Rede geschuldet sind, wurden entfernt. Außerdem ihr Lachen und Weinen. Aber die Worte, der Atem und der Rhythmus entsprechen vollständig dem Original. Es sei darauf hingewiesen, dass die Musik, die einige dieser Seiten begleitet, wie das populäre Miserere, gesungen von Zucchero Fornaciari und Luciano Pavarotti, oder Gregorio Allegris Miserere mei, Deus, sowie andere Musikstücke – unter anderem alte Boleros, Rumbas und Pasodobles – weggelassen wurden. Es sollte auch betont werden, dass die 38 von Frau Nunes Amado handschriftlich verfassten Notizen einen großen Beitrag zur Gestaltung dieses Buches geleistet haben. Sie wurden von Nina Núñez Mercedes in einem Umschlag gesammelt, in den anschließend jemand einen Ring, Ohrringe, eine Perlenkette und eine kleine Stofftasche legte. In diesem Täschchen befanden sich eine gefaltete handschriftliche Notiz, ein Block mit sechs leeren Blättern im Din A8-Format und ein kleiner, mit einem Messer angespitzter Bleistift der Marke Viarco.
Hier, wo ich bin, ist selbst im Frühling, wenn die Tage normalerweise genauso lang sind wie die Nächte, die Nacht immer länger als der Tag. Und weil ich das weiß, kommt die Nacht gerade mitten in der Nacht zu mir und stellt mir unvorstellbare Fragen, als wäre sie diese uralte braune Katze namens Sphinx. Ich spreche von der Nacht, die meine tiefsten Überzeugungen kennt, meine ruhmreichen Momente und meine Niederlagen, alle meine verborgenen Geheimnisse, auch die, die man nie jemandem erzählt, vor allem solche, die mit den süßen Erinnerungen an die Liebe in Zusammenhang stehen. Ich will damit sagen, dass sie still ist, während ich schlafe, aber irgendwann wache ich auf und die Herausforderin ist schon um mich herum, bewegt sich auf meinen Körper zu, landet auf meinem Bett und befragt mich, als wäre sie eine Grundschullehrerin, die mich bei einem Fehler ertappen will. Es ist nicht leicht.
Gestern Abend stellte ihr schwarzer Mund, tiefdunkel in der Finsternis, mir eine erste Frage, die unmöglich zu beantworten war. Sie wollte wissen, wie viele Städte es auf der Welt gibt. Aber ich kenne die Tricks der Nacht, und so trifft sie mich nie völlig unvorbereitet an. Angesichts einer solchen Frage antwortete ich, ich wisse sehr wohl, dass die Erde eine Sache ist und die Welt eine andere. Die Welt ist viel größer als die Erde, und laut meinem Schwiegersohn wurde bisher noch kein anderer Planet gefunden, der bewohnt ist, geschweige denn Städte, die sich außerhalb des irdischen Raums befinden. Wie also sollte ich in der Lage sein, ihr zu antworten?
So gelang es mir, den Kopf vom Kissen zu heben, mich der Nacht zu stellen und zu sagen: »Denk dir eine vernünftige Frage aus, wenn du willst, dass ich dir eine schlüssige Antwort gebe.« Da schien der Nacht bewusst zu werden, dass sie nicht mit einer Unwissenden in Sachen Städte sprach, und sie änderte ihren Plan. Sie wollte nur noch herausfinden, ob ich wusste, wie viele Hauptstädte es auf der Erde gibt. Ich stellte mir den Globus vor, der auf meinem Nachttisch stand, ein Werkzeug, das ich in meinem eigentlichen Zuhause zurückgelassen habe, und mir wurde klar, dass es erneut unmöglich war, alle Hauptstädte, die es gibt, aufzuzählen. Trotzdem begann ich an den Fingern abzuzählen und ging zunächst Europa von Westen nach Osten durch. Ich nannte Lissabon, Dublin, London, Madrid, Paris, Brüssel, Amsterdam, Berlin, Rom, Wien, Belgrad, Bukarest, Kiew, und ich war schon auf dem Weg nach Russland, als ich mit dem Zählen durcheinanderkam. Die Nacht bemerkte, dass ich das Ende nie erreichen würde, und nahm Abstand von der kolossalen Aufgabe, die sie mir gestellt hatte. Listig bat sie mich, nur die Städte zu nennen, die meine Tochter bereits besucht hatte. Aber ich entgegnete ihr: »Auf keinen Fall. Ich will nicht, dass der Name meiner Tochter mit der albtraumhaften Nacht in Verbindung gebracht wird, ich will, dass sie für die schönen Dingen des Lebens steht, für die Dinge, die außerhalb dieser kahlen Wände geschehen. Lass mich in Ruhe …« Doch die Nacht blieb hartnäckig.
Sie wollte wissen, wo eine Hauptstadt mit dem Namen Reykjavik liegt, weil sie dachte, ich würde das Wort wegen seiner Fremdartigkeit nicht identifizieren, so dass sie sich auf mein Herz setzen, es drücken und zum Stillstand bringen könnte. Aber ich antwortete ihr triumphierend und ohne zu zögern: »Reykjavik liegt in Island, einer Insel mit einem sehr gefährlichen Vulkan, der, wenn er aktiv wird, Rauchschwaden ausstößt, die über ganz Nordeuropa das Sonnenlicht verdunkeln und sich mit den Wolken verbinden. Wegen dieses Rauchs saß meine Tochter vor einigen Jahren mehrere Tage lang in einer Stadt in Kanada fest …«
Angesichts dieser Antwort war die Nacht sprachlos. Hätte ihr jemand eine bessere Antwort liefern können? Dennoch gab sie nicht auf. Sie begab sich auf die andere Seite der Erde und wollte wissen, wo Karatschi liegt. Immer noch versuchte sie, mich bei einem Fehler zu ertappen. Doch es gelang ihr nicht, denn ich antwortete sofort: »Ah! Ja, du sprichst von Pakistan. Nur weiß ich viel mehr als du, traurige, dunkle Nacht. Denn Karatschi ist nicht mehr die Hauptstadt dieses Landes, die Hauptstadt heißt jetzt Islamabad. Das habe ich aus dem Großen Weltatlas vom Verlag Civilização gelernt, bevor er kaputt ging. Stell so viele Fragen, wie du willst. Besieg mich, Nacht, wenn du kannst …«, forderte ich sie heraus. Als wir an diesem Punkt angelangt waren, gab sie nicht etwa auf, sondern wirbelte um meinen Körper herum, schlug mit ihren dunklen Flügeln, dunkel wie die finsterste Nacht, und fragte mich, als Antwort auf meine Herausforderung, mit noch größerer Inbrunst, ob ich wisse, von welchem Land Baku die Hauptstadt sei. »Wie buchstabiert man das?«, wollte ich wissen. Sie sagte, es werde mit K geschrieben. Sofort sah ich das Wort Baku wie in einem Film vor meinen Augen aufblitzen, diesen gestochen scharfen Namen, der sich aus dem Südwesten Asiens, wo das Kaspische Meer beginnt, heraushob, und ich war im Begriff, den Namen des Landes frei von Zweifeln auszusprechen, als das Wort plötzlich vor meinen Augen verschwand. Als hätte sich ein Besen auf mein Gedächtnis gestürzt und die Buchstaben in einen für mich unerreichbaren Bereich gekehrt, war der Film auf unerklärliche Weise verschwunden. Wisch, wisch. An der Stelle des kostbaren Namens, den ich gerade aussprechen wollte, blieb nur Leere. Baku, mit K geschrieben, baumelte in der Dunkelheit meines Geistes, und kein Land umgab es mehr. Die Nacht sah mich an, richtete ihren augenlosen Blick auf meine eigenen Augen und besiegte mich. In diesem Moment wurde mir meine Unwissenheit unerträglich. Wie sollte ich dieser ungeheuren Nacht, die mich in der Dunkelheit des Zimmers auslachte, nun noch entgegentreten? Wie? Ich dachte fieberhaft nach, ohne den Blick von der Nacht abzuwenden, ich unterband ihr Vordringen, hielt sie auf Abstand, und dann fand ich einen Ausweg.
Ohne den Blick auch nur ein einziges Mal vom unaussprechlichen Körper der Nacht abzuwenden, gelang es mir, den Kopf ein wenig zu heben. Ich zog mein Handy unter dem Kissen hervor, öffnete den Deckel, das Display leuchtete auf, ich drückte eine Taste und lauschte. Am anderen Ende der Leitung nahm der Angerufene zwar ab, sprach aber nicht. Ich wartete. Nichts geschah. Dann sagte ich: »Hören Sie, ich habe eine Frage. Wissen Sie zufällig, wo sich eine Stadt namens Baku befindet?« Die Person am anderen Ende der Leitung schwieg, ich konnte ihren Atem hören, als wäre sie direkt neben mir, aber sie sagte kein Wort. Ich wartete, ich beharrte: »Ja, Baku, bitte. Es wird mit K geschrieben …«
Dann ertönte seine Stimme klar und deutlich wie eine große Trommel an meinem Ohr: »Wissen Sie, wie spät es ist, Senhora? Ist Ihnen klar, dass es vier Uhr morgens ist? Was fällt Ihnen ein, mich um diese Zeit anzurufen und nach einer Stadt namens Baku zu fragen?« Ich entschuldigte mich, aber er hörte mir nicht zu, er schnitt mir das Wort ab: »Diesmal kommen Sie nicht davon, Ihre Tochter wird alles erfahren, das sage ich Ihnen! Machen Sie sich auf etwas gefasst …« An seinem Tonfall hörte ich, dass er ewig so weiterschimpfen würde, ich konnte nicht einmal absehen, wie das aufhören sollte, und deshalb beendete ich das Gespräch. So langsam wie möglich drückte ich den Knopf, ich wollte den Ton ersticken, wollte mir vorstellen, dass es gut gewesen wäre, wenn dieser Anruf nicht stattgefunden hätte. Wenn er niemals stattgefunden hätte. Und so behielt ich das Telefon in der Hand und wartete darauf, dass er zurückrief oder sie selbst mich irgendwann später, wenn er sie erreicht hatte, vom anderen Ende der Welt aus anrief und mich ihrerseits aus weiter Ferne befragte und wissen wollte, warum ich um vier Uhr morgens zu Hause anrief.
Aber so kam es nicht. Die Nacht hatte sich an ihren Platz zurückgezogen, ohne dass es zwischen uns beiden Gewinner und Verlierer gegeben hätte, und ich hörte keine weiteren Geräusche, während ich das Telefon fest in der Hand hielt und darauf wartete, dass etwas geschah. Bis ein Frühlingsvogel zwitschernd vorbeiflog. Im Rechteck des Fensters erschien die rosafarbene Morgendämmerung, und die weiße Decke wurde in blassem Rosenrot über meinem Kopf sichtbar und kündigte einen neuen Tag an. Das Wort Baku erschien zwar nicht auf der blaugrünen Karte des Landes, dessen Hauptstadt es ist, aber ich dachte an das Licht, das in diesem Augenblick mein Haus erhellen würde, mein Haus mit seinen Tischen, Stühlen, Fenstern, Tüchern und Vorhängen und dem Stehpult, auf dem ich meine Tagebücher und meinen verlorenen Atlas hatte liegen lassen.
19. April 2019
Der Regen drang durch ein winziges Loch – schneller als ein Blitz überflutete er die Welt.
Ich lag da und wartete darauf, dass die Stunden vergingen und das Wort, das ich durch den Kampf mit der Nacht gefunden und wieder verloren hatte, ganz natürlich in meinem Geist auftauchte, und hörte währenddessen von draußen die Kuckucke und das Krächzen der Amseln und freute mich darüber, dass der Frühling gekommen war. In meiner Vorstellung blätterte ich in aller Ruhe die Seiten meines Atlasses durch, bevor er vernichtet worden war. Denn wenn der Name des Landes, dessen Hauptstadt Baku ist, am Morgen noch nicht auftauchte, würde er am Nachmittag erscheinen. Ich gehöre zu den Menschen, die nicht glauben, dass die Hoffnung als letzte stirbt. Ich glaube, die Hoffnung ist einfach unsterblich. Dieser abwesende Name, der die Auseinandersetzung mit der Nacht unterbrochen hatte, würde auftauchen, wenn ich es am wenigsten erwartete. Ich vertraue voll und ganz auf die Gesetze des Denkens. Sie leiten mich und geben mir Frieden.
Wohl wissend, dass das Wort, das ich suchte, von selbst in Erscheinung treten würde, lauschte ich, wie sich der Morgen hier drinnen zeigte, während die Vögel draußen die Kronen der Kängurubäume verließen, und die Geräusche, die durch die Arbeiten im Haushalt hervorgerufen wurden, sich vermischten. Aus Gründen, die ich nicht kenne, funktioniert mein Kopfkissen manchmal wie ein Lautsprecher. Viele der Geräusche, die das Kissen erreichen, werden unter meinem Kopf verstärkt. So habe ich schon früh mitbekommen, dass sich der Lieferwagen mit den Lebensmitteln in langsamer Fahrt näherte, anhielt und wieder wegfuhr. Der Wasserwagen ächzte am Eingangstor, und etwas, das wie ein Gaskanister klang, rollte mit einem lauten Knall über den Bürgersteig. Da er nicht gegen die Mauer der Blumenbeete prallte, musste ihn jemand aufgehalten haben. Wer ihn wohl festgehalten hatte? Eine Hupe ertönte, ein hoher, scharfer Ton, bestimmt aus Versehen. Ein Mädchen schrie aus dem Fenster, was nicht vorkommen sollte, einige sind schon wegen leiserer Rufe entlassen worden. Das Gebrüll des Mädchens war genauso laut wie das Hupen, auf das es antwortete. Wer sie wohl war? Wenn ich mich nicht irre, ist es die Stimme von Lurdes Malato gewesen.
Oder?
Währenddessen begann hier unten, im Erdgeschoss, jemand, schwere Möbel hin und her zu schieben. Dann klimperte jemand auf den Tasten des Klaviers, und jemand anderes rief am Aufzug im obersten Stockwerk, man solle ihn losfahren lassen. Jemand entgegnete, er stehe im Keller, in der Waschküche. Ein Disput, bei dem die Rufe gehört wurden, aber nicht die Worte. Endlich traf der Aufzug auf dieser Etage ein. Gelächter ertönte. Ich wusste, was los war. Das sind die Bewegungen des Vortages, und der Vortag bringt immer ein Durcheinander. Wir armen Bewohner. So viel Energie auf den Fluren und doch keine Menschenseele an der Tür, um uns guten Morgen zu sagen. Ich dachte daran zu klingeln, um etwas zu bewirken. Ich griff nach der Birne, um sie zu drücken, tat es aber nicht, weil ich befürchtete, die Stimme, die ich aus einem Fenster hatte rufen hören, könnte tatsächlich Lurdes Malato gehören und sie selbst würde hereinkommen, die Hände in die Hüften gestemmt, und sich über mein Rufen beschweren. Lange hielt ich die Birne in der Hand, so lange, dass die Zeit keine Rolle mehr spielte. Genau so war es – und als ich nach langem Warten die Augen öffnete, entdeckte ich Nina Mercedes in der Tür.
Nina kam auf mich zu, und ich wartete darauf, dass sie sich über mein Gesicht beugte und mich zudeckte, wie nur sie es kann. Aber dazu kam es nicht, denn während sie sich näherte, hob die Puerto-Ricanerin heruntergefallene Gegenstände auf, um sie wieder an ihren Platz zu legen. Wie an vielen anderen Tagen auch, lag die Hälfte der Gegenstände, die in der Nacht meinen Schlaf beschützt hatten, verstreut um mein Bett herum. Das Mädchen zählte jedes einzelne Teil auf, das sie vom Boden las - die Wasserflasche, die Uhr, das Foto, den Stoffbeutel, den Kugelschreiber, die Socken, erst die eine, dann die andere. Sogar das Handy lag auf dem Fußboden. Nina hob es auf. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an meines heran und sagte in mein Ohr: »Estuviste otra vez luchando con tu Atlas? Hast du wieder mit deinem Atlas gekämpft? Und wen hast du gestern Nacht angerufen? Eines Tages wirst du mir bestimmt erzählen, was mit diesem unglückseligen Buch geschehen ist.«
Sie spricht leise, sie trägt dieselben Schuhe mit weichen Sohlen wie die anderen, aber sie geht so lautlos den Gang entlang, als wäre sie barfuß. Von allen Mädchen hat sie die sanftesten Hände und die freundlichsten Worte. Manchmal frage ich mich, ob Nina wirklich ist, wie ich denke, oder ob ich es bin, die sie so großartig macht. Die Wahrheit ist, dass alle von Nina Mercedes gewaschen und angezogen werden wollen. Alle rufen nach ihr und wollen sie um sich haben, und ich hatte an diesem turbulenten Morgen das Glück, an der Reihe zu sein. Eine Belohnung dafür, dass ich nicht geklingelt habe, als so viele andere zur gleichen Zeit draußen auf dem Flur läuteten. Nina fragte: »Qué es lo que pasó a tu Atlas? Cuéntamelo, niña… Was ist mit deinem Atlas passiert? Erzähl es mir, Mädchen …« Ich antwortete: »Eines Tages, wenn du Zeit hast, dich neben mich auf das andere Bett zu setzen, werde ich es dir sagen.«
Nina half mir aus dem Bett, und es war gut, wie sie das machte, aber ich werde ihr nie erzählen, wie in einer Winternacht ein unerwarteter Regenguss mit Donner und Blitz in dem Haus, das ich verlassen habe, durch ein Loch der Telefonanlage drang, an der Wand entlangsickerte, sich in einer Ecke des Wohnzimmers sammelte und in den Zeitschriftenkorb leckte. Ich werde niemandem, nicht einmal Nina, von den Missgeschicken erzählen, die ganz allein meine sind. Ich werde ihr nicht erzählen, dass ich den Großen Atlas der Welt versehentlich in diesem Korb gelassen hatte, obwohl er auf die Schreibtischplatte gehört hätte. Aber Gegenstände sind wie Menschen: Sie suchen den Ort ihres Verderbens, wenn sie verloren gehen müssen. In jener stürmischen Nacht sickerte das Regenwasser unaufhaltsam in die Ecke des Zimmers und verwandelte das im Weidenkorb gestapelte Papier in eine einzige unförmige Masse, ohne dass ich es bemerkte. Als es mir schließlich auffiel, war es zu spät. Auf Regen und Donner folgte schönes Wetter, und die Katastrophe war da. Der Große Atlas war zwar noch zu erkennen, doch er war verloren. In der Hoffnung, ihn zu retten, legte ich ihn sogar in die Sonne und bearbeitete ihn mit Föhn und Bügeleisen. Vergeblich. Ich trennte die Seiten einzeln voneinander, aber sie waren miteinander verklebt, und als ich sie auseinanderzog, begannen große weiße Flecken den Platz einzunehmen, auf dem einst Ozeane, Meere, Kontinente, Länder abgebildet waren, gut gekennzeichnete Seiten, auf denen ich die Welt auf meine Weise studierte. Ich hatte nicht vor, Ninas Leben mit solchen privaten Episoden zu füllen, ich sagte einfach: »Ganz schön viel Aufregung in diesem Haus. Wird es morgen ein Konzert geben?« Sie antwortete: »No va a haber, no, Alberti. Wir vermissen immer noch Senhor Peralta, und ohne ihn gibt es keine Konzerte.«
Nina wusch mein Gesicht mit in Rosenwasser getränkter Watte, dann mit klarem Wasser, parfümierte mich, legte mir die Halskette, den Ring mit dem blauen Stein und die Hängeohrringe an und setzte mich in den Rollstuhl, den sie charrete – Karren – nennt. Dann fragte sie mich: »Willst du jetzt dein Plastiktablett, dein Blatt Papier und deinen kleinen Bleistift? Willst du bis zum Nachmittag warten? Wenn du willst, schreibe ich die Daten für die ganze Woche auf, das mache ich gerne. So kannst du, Alberti, dir die ganze Kraft deiner Hände aufsparen, um deine Gedanken niederzuschreiben. Willst du es jetzt tun, oder schreibst du lieber am Abend?«
Ich sagte ihr, es sei schon spät und dass ich meine Notiz bei Einbruch der Nacht schreiben würde. Sie schob den Wagen den Korridor entlang. Hinter meinem Rücken hörte ich, wie sie nach links und rechts »buenos días« sagte, als wir die Wege derer kreuzten, die bereits auf dem Rückweg waren. Dona Marcela, die ohne Hilfe ging, verkündete, heute sei Ostersamstag. Als ich an ihr vorbeiging, winkte ich ihr zu und fragte sie, ob sie zurück in ihr Zimmer, die 214, gehe, worauf sie antwortete: »Nein, ich gehe nicht in mein Zimmer. Was denken Sie denn? Ich gehe ins Jenseits …« Nina kommentierte: »Das ist aber sehr weit weg, doña Marcela, qué lejos …«
Nina führte mich durch den Korridor in Richtung des Rosa Salons. Die Bilder von schneebedeckten nordischen Hütten an der Wand sahen mich an, die Türen und Fenster waren so gemalt, dass einige so wirkten, als lachten sie. Nach einer umkämpften Nacht war ein schöner Samstagmorgen angebrochen, dachte ich. Ich bemühte mich, die Seite wiederherzustellen, auf der Baku zu sehen war, aber mir fehlte die Darstellung des Atlanten.
20. April 2019
Ostersamstag! Ist mir erst die Erinnerung an meinen Atlas gelungen, werden meine Hoffnungen dem Tod entrungen.
Es ist das zweite Mal, dass ich den Ostersonntag in diesem Haus verbringe. Selbst hier, weit weg von meinem früheren Zuhause, ist dies ein großer Tag. Da ich schon vorher wusste, dass ich Nina nicht mehr bekommen würde, hoffte ich auf Lilimunde, das brasilianische Mädchen, das nach einer Mischung aus Zedernholz und Bergamotte riecht. Als ich aufwachte, fühlten sich meine Handgelenke feucht an und ich hatte den Eindruck, meine Haut sei mit dem Duft dieses Parfums getränkt. Ich rief laut: »Lilimunde, bist du das da draußen?« Aber leider war sie es nicht.
Das Geräusch, das ich wahrnahm, stammte von zwei Mädchen, die hereingekommen waren und sich eilig in meinem Zimmer zu schaffen machten, sie lachten und unterhielten sich sehr laut, während sie meine Kleider herausnahmen. Ich lag schweigend da und wartete, bis sie mich ansprächen, aber sie sagten nicht »Guten Morgen«, sondern unterhielten sich angeregt über ihre nächtlichen Ausflüge und darüber, was ihnen im Dunkeln passiert war. Ich beharrte trotzdem darauf: »Wer ist da? Könnt ihr mir nichts sagen?«
Sie antworteten nicht. Stattdessen lachten sie mit kaum unterdrücktem Lachen und neigten ihre Köpfe nach hinten, als wollten sie ihr Lachen mit der Zimmerdecke teilen. Mehrmals sagte ich: »Guten Morgen, es ist Ostersonntag.« Aber sie zogen mir das Unterhemd und die Bluse an, steckten mir die Füße in die Strümpfe und die Beine in die Hose und sahen mich nicht an, ihr Lachen ging an meinem Körper vorbei und über meinen Kopf hinweg, sie hoben meine Arme, als ob sie in einer Fabrik mit Metallteilen hantierten. Ich sagte laut: »Guten Morgen, man sagt, dass Jesus heute auferstanden ist.« Lurdes Malato, denn sie war es, nahm ihr Handy und sprach hinein: »O. k., ich bin um fünf Uhr da.« Das große Mädchen, das sie begleitete, kommentierte: »Das wird eine Party, Alter.« Ohne mir einen guten Morgen zu wünschen oder ein anderes Wort der Begrüßung zu sagen, fuhren sie mich in den Blauen Saal, wo das Osteressen stattfinden sollte.
Falls sie absichtlich so handelten, haben sie mich nicht beeindruckt – ich weiß, dass das Glück ein sehr knappes Gut ist. Man muss es an der Brust halten, wenn es uns nahekommt und alle Taschen der Seele damit füllen. So hat man ein Schutzschild, sobald das Gegenteil eintritt. Sie störten mich also nicht weiter, ich war bereit. Die Mädchen setzten mich an den Tisch, schoben meinen Stuhl so weit nach vorn, dass meine Brust dicht an der Tischkante war, und dann gingen sie, ohne ein einziges Wort an mich gerichtet zu haben. Aber ich blickte auf und spürte eine gute Quelle des Glücks in der Nähe – der Raum war voll, die Wände waren österlich geschmückt und meine Tischnachbarinnen begrüßten mich. Ich schenkte ihnen meine ganze Freude. Und wenn ich mich schon nicht an das letztjährige Osteressen erinnere, so werde ich doch dieses nicht vergessen.
Im Speisesaal gibt es zwölf Tische für siebzig Personen. Wir waren zu siebt an unserem Tisch und wir verstanden uns gut. Zwischen den Tischen eilten aufgeregte Mädchen herum. Wie immer hatte man mich mit dem Gesicht zum Fenster gesetzt, damit ich aufs Meer blicken konnte. Ich sitze gerne auf dieser Seite, denn auch wenn ich weit weg bin und die Sandbank nicht erkennen kann, weiß ich, wie die Wellen aussehen. Einige der dunklen Flecken müssten Boote sein, und sollten es keine sein, stelle ich es mir doch so vor. Das Menü hingegen war gewöhnlich, aber Dona Rita de Lyon hatte von ihrem Pilotensohn ein Ostergeschenk erhalten und teilte es mit ihren Tischnachbarinnen. Ich bekam eine feine Mandel mit Amaretto-Likör, confiserie française, sagte Dona Rita. Ganz anders Dona Ema. Sie brachte einen Schokoladenhasen an den Tisch, den sie mit niemandem teilte, weil ihre Verwandten von ihr verlangt hatten, ihn allein zu essen. Vor unseren Augen riss Ema das Silberpapier auf, brach kleine Stücke ab und genoss ihr Ostergeschenk.
Dona Fátima fragte, ob er gut sei, aber Ema ließ sich nicht beirren und gab ihr keine Kostprobe, nicht einmal ein kleines Stückchen. Luisa de Gusmão sagte, sie verstehe sehr gut, dass eine Person, die am Tag der Auferstehung einen Schokoladenhasen erhalte, diesen allein essen wolle, aber sie solle dies in ihrem Zimmer tun, wie es sich gehöre. Dona Luisa de Gusmão bezeichnet sich selbst als Nachfahrin eines Grafen, obwohl sie niemanden zwingt, sie Gräfin zu nennen. Für Dona Luisa ist der Verzehr eines ganzen Schokoladenhasen an einem Tisch mit sieben Personen der Beweis dafür, dass es Menschen gibt, die niemals zum Adel gehören können. Wir sind nicht alle gleich. Dona Julieta vergoss ihrerseits ein paar Tränen, als sie sich wünschte, draußen in der Welt hätte jemand an ihr Mittagessen gedacht.
Dona Joaninha Amaral hingegen sagte, es mache ihr nichts aus, dass sich niemand an sie erinnere, es gebe so viel mehr, womit sie sich die Zeit vertreiben könne. Gleich am Morgen war sie durch den Garten spaziert und hatte gesehen, wie die Rosen blühen. Dona Joaninha beschrieb die Rosen, die sie anzuschauen und ihr zu sagen schienen: Nimm uns mit, nimm uns mit, Frau. Die Blüten wandten sich alle um, wollten vom dornigen Stiel gepflückt werden und ihr in die Arme springen. Aber sie fasst nicht gern an, was ihr nicht gehört, selbst wenn es sich um ein Gemeingut wie den Garten des Hotel Paraíso handelt. Vielleicht gehören diese Rosen all den Menschen, die die Residenz unterstützen? Dona Joaninha ist die Tochter eines Fischhändlers, aber sie ist höflich und hat keine einzige Rose angerührt, da sie nicht dazu befugt war.
In der Zwischenzeit war für jeden Teller ein Stück Kuchen gekommen, und Dona Fátima sagte zu Dona Ema, dass sie den Osterkuchen nicht anrühren solle, weil sie ihren Silberhasen schon allein gegessen habe. Dona Ema dachte aber, ihr stehe ein Stück Kuchen zu. Sie streckte ihre Hand aus, nahm das größte Stück und aß es auch. Es tat mir sehr leid, dass ich nicht mehr, wie früher, in mein Tagebuch schreibe, um die Szene vom Osteressen in allen Einzelheiten so festzuhalten, wie ich es gern getan hätte. Wir mussten schließlich das Thema wechseln, denn mitten in der Diskussion darüber, wie das Essen aufzuteilen sei, drangen Schritte in den Raum. Es geschah hinter mir, denn ich saß dem Meer zugewandt. Ich dachte, es müssten die vier Witwen sein, und ich hatte nicht unrecht. Ich erkannte sie an ihren Stimmen, noch bevor sie zu singen begannen.
Eine von ihnen fragte so laut, als spräche sie eine Schulklasse an: »Weiß jemand, was Halleluja bedeutet?« Es herrschte eine lange Stille, niemand sagte etwas. Ich wusste, was es bedeutet, aber da ich ihnen den Rücken zugewandt hatte, beschloss ich, zu schweigen und auf das schmale Band des Meeres zu blicken. Sie fragten weiter. Gerade als ich sagen wollte, dass es Lobet den Herrn bedeutet, sagte eine der Witwen über meine Stimme hinweg: »Lasst uns Halleluja singen, Halleluja!« Und sie begannen zu singen, als handelte es sich um eine Oper. Gut, dass ich ihnen den Rücken zugewandt hatte, denn ich mag diese vier Frauen nicht besonders, aber ich mag ihre Stimmen.
Ich mag sie nicht nur, ich schätze sie sehr. Es gibt Stimmen, die sollten vom Himmel kommen, sie sollten nicht die Gestalt des menschlichen Körpers benötigen. Hinter meinem Rücken konnte ich den bewegenden Gesang hören, und am Ende klatschten alle – ein schwaches Klatschen für so schöne Stimmen. Eine Pflegerin erinnerte sich daran, meinen Stuhl zu wenden, und so konnte ich mich vergewissern, dass sie es waren, gekleidet in Weiß und Rosa. Wie Bonbons sahen sie aus.
No vale ou no monte, adorarei
Adorarei, adorarei.
Aleluia, aleluia!1
So sangen sie. Ich schloss meine Augen, ich mag sie nicht. Aber sie sangen und man merkte nicht, wie die Zeit verging. Wenn sie nicht mehr singen, werden sie gehen, dachte ich, als sie verstummten und noch blieben, weil sie mehr und mehr Applaus wollten. Das Klatschen dauerte schon länger als der Gesang, und sie wollten immer noch nicht gehen. Dann endlich verabschiedeten sie sich, winkten mit ihren blassen Kleidern, die vier geschmückten Witwen. Es ist kaum zu glauben, dass diese Menschen solche Stimmen in sich tragen, wiederhole ich jetzt, da ich mit meinen Gedanken allein bin. Nach dem Mittagessen sagte Dona Joaninha Amaral, diese Frauen singen sehr gut, sie unterhalten uns immer, und dann wollte sie meinen Rollstuhl schieben. Ich schätze Dona Joaninhas Freundlichkeit sehr. Was wäre mein Ostersonntag ohne sie gewesen? Während sie meinen Stuhl den Gang entlangschob, sagte sie immer wieder: »Dona Alberti, ich lasse Sie jetzt in Ihrem Zimmer, wo Sie es sich vor dem weit geöffneten Fenster bequem machen und in die Natur schauen können. Es ist kaum zu glauben, dass eines Tages Ihre Tochter dort sein wird …« Aber wir kamen nicht bis zum Ende des Korridors.
Eine Pflegerin namens Hermínia, die schon in Rente ist, aber freiwillig aushilft, forderte uns auf, in den Salon zurückzukehren. Also gingen wir zurück. Und dann passierte etwas. Ich schloss meine Augen, denn was ich sah, war zu viel für mich. Ich bat die Pflegerin sogar, mitten auf der Fahrt anzuhalten. Ich wollte mich von der Überraschung erholen, ich wollte nicht, dass man mir ansieht, wie überwältigt ich war. Das hätte ich mir niemals vorstellen können: Neben dem Klavier standen die Nachbarn von Casa Branca, Quinta Ferrari und Vivenda Almanjar. Ich sah sie alle an und fand, sie seien die schönsten Menschen, denen ich je begegnet war.
Ich zählte sie: acht Nachbarn insgesamt. Sie waren gekommen, um mich zu besuchen. Der Gesang der vier Witwen, die nicht mehr da waren, drang an meine Ohren und ich spürte, wie ich vom Boden abhob. Halleluja brach es aus meinem Herzen hervor und mein rechtes Handgelenk begann zu zittern. Aber ich hielt mich am Stuhl fest, zog ein Tuch aus der Tasche, die ich immer um den Hals trage, und fragte sie gelassen, als ob ich sie erwartet hätte: »Welche Neuigkeiten bringt ihr mir aus unserer Welt? Ist dort alles beim Alten?«
Einer meiner Nachbarn beugte sich zu mir herunter und fragte: »Wissen Sie, wer Sie besucht?«
Das beleidigte mich: »Um Himmels willen, Senhor Frank, ich kann Ihnen Ihre Häuser beschreiben, wem sie gehörten, bevor Sie dort einzogen, in welchen Jahren das jeweils geschah, und warum Sie sie gekauft haben, immer für viel mehr Geld, als Sie hätten zahlen müssen. Ich kenne die Namen aller Anwesenden und derer, die fehlen. Meine Frage ist eine andere: Ist alles in Ordnung in euren Häusern und in dem Haus, das meines war, dort drüben? Sind die Gräser nicht braun bei dieser Dürre?«
»Es ist alles in Ordnung, Dona Alberti, aber ein paar Regentropfen wären gut. Die Gärten brauchen sie wie Brot …«, sagte die Nachbarin aus dem Weißen Haus. Und ich erwiderte: »Oh ja, die Gärten und auch die Bäume. Denn der Garten ist zwar eine Zierde, aber die Bäume sind die eigentliche Stütze für das Klima. Wenn die großen Bäume keinen Sauerstoff abgeben, gibt es keine Feuchtigkeit, also gibt es auch keinen Garten. Es gibt Pflanzenarten, die dann verschwinden. Aber, meine Freunde, es ist nicht nur die Flora, die sich verändert, wie Sie wissen, sondern auch die Fauna. Man munkelt, dass zwischen den hochmodernen Gebäuden und Häusern Wildschweine herumwühlen. Der Krankenpfleger Marlon hat mir erzählt, man habe neulich in der Nähe einen Fuchs gefunden, der aus einer Pfütze getrunken und sich im Gras gewälzt hat. Das bedeutet, die wilden Arten beginnen, mit einheimischen Arten zusammenzuleben und den menschlichen Familien näherzukommen. Wir sind alle Lebewesen, das ist wahr, aber wir müssen die Arten voneinander getrennt halten. Die Welt verändert sich. Oder etwa nicht?«
Alle pflichteten mir bei, sie beugten sich zu mir herab, sprachen mit mir und hörten mir zu, anders als hier, wo niemand mehr als zwei Worte von mir hören will, und wo ich nichts anderes tue, als den anderen zuzuhören. Meine Nachbarn hingegen sprachen mit mir, legten dann Geschenke in meinen Schoß und sagten, ich verstünde sehr wohl, dass die Welt im Wandel ist. Und ich war so zufrieden mit dem, was geschah, dass ich noch weiterging und sagte: »Ich bin hier eingesperrt, aber ich weiß alles, was auf der Erde und darüber hinaus geschieht. Was ich im Laufe meines Lebens gesehen habe, reicht aus, um mir vorstellen zu können, was als Nächstes passieren wird. Und so Gott will, wird das Leben besser werden, auch wenn die Natur verwirrt ist. Die Zukunft wird prächtig sein …«
Meine Nachbarn sahen mich sehr zufrieden an, wickelten für mich ihre Geschenke aus, unterhielten sich weiter mit mir. Und ich sprach so, weil sie merken sollten, dass ich in der Lage bin, meinen Besuch ganz gelassen zu empfangen, in einem Raum voller Stimmen, Kinder, Lachen, ein paar Tränen, kleiner Gefühlsausbrüche, Kuchen, Süßigkeiten, Bananen und Nachthemden, denn es ist Ostersonntag. Meine Nachbarn lachten glücklich und freuten sich, dass sie mich genauso antrafen, wie ich mein Zuhause verlassen hatte. Sie standen im Kreis um mich und es sah aus, als ob wir tanzten. Dona Joaninha ging nicht weg, sie hörte aufmerksam zu, und ein paarmal mischte sie sich sogar ins Gespräch ein. Macht nichts. Es war ein wunderbarer Tag dank meiner Nachbarn, einer der schönsten Tage meines Lebens. Als ich die Augen zumachte, liefen in meinem Kopf alle möglichen Szenen durcheinander.
1›Ob im Tal oder auf dem Berg, ich werde lobpreisen, ich werde lobpreisen, ich werde lobpreisen. Halleluja, Halleluja!‹ Portugiesische Version des Songs Hallelujah von Leonard Cohen.
Die Pflegerin Hermínia, die als Dienstälteste miterlebt hatte, wie aus dem Hotel Paraíso ein Wohnheim wurde, sie, die sich an jeden einzelnen dieser Schritte lebhaft erinnern kann, hatte mich zum Salon begleitet, und als sich meine Gäste verabschiedeten, war sie es, die mich in mein Zimmer brachte. In ihrer Verbitterung versuchte sie noch, mir meine Freude zu nehmen: »Machen Sie sich keine Illusionen, Dona Alberti, an solchen Tagen stehen die Autos die ganze Avenida entlang und mehrmals um den Platz gegenüber Schlange. Aber nur an solchen Tagen. Die Verwandten kommen, um ihre Schuldgefühle mit Schmeicheleien aller Art loszuwerden. Ich nenne sie die Tage, um das Bündel zu erleichtern. Ich sage nicht, das Gewissen zu erleichtern, denn das schlechte Gewissen ist ein ehrbares Gefühl. Darum geht es hier nicht. Das Bündel ist der Ort, wo jeder seine Angst vor dem verbirgt, was andere über ihn sagen. Ihre Angst bekämpfen, dafür kommen sie her. Eine Schande. Ein Feuerwerk, damit die anderen es sehen. Ich bin schon zu lange hier. Die erkenne ich mit bloßem Auge …« Die Pflegerin legte den Finger an ein Auge und zog das Unterlid so weit herunter, dass die Innenseite zu sehen war.
Antworteten die Wände im Gang etwa? Genauso antwortete ich. Ich bedankte mich nur dafür, dass sie mir Gesellschaft geleistet hatte. Nun konnte sie gehen, die Senhora Hermínia, sie hatte ihre Galle vergossen und ihre Pflicht getan. Auf dem Schoß hielt ich mit beiden Händen die Freude fest, die meine Nachbarn mir gebracht hatten. Und dank eines schönen Zufalls sollte sie noch größer werden. Denn es war wohl gegen sechs Uhr abends, als ich im Flur Geräusche hörte und anschließend Dona Joaninha in mein Zimmer trat, im Arm einen wunderschönen Strauß Blumen. Sie strahlte.
Letztlich hatte auch sie Besuch gehabt. Entfernte Cousinen, die sie für tot gehalten hatte, waren gekommen und hatten ihr einen riesigen Strauß geschenkt, und den wollte sie nun mit mir teilen. Rosen, Margeriten und Gipskrautzweige, die den Krug an der Eingangstür füllten. Die Rosen, die wirklich rosafarben waren, dufteten wie der Frühling selbst, der in mein Zimmer drang. Dona Joaninha sagte, der Rosenduft mache sie verrückt. Und der Gesang der Vögel auch. Sie setzte sich auf das Nachbarbett, das zum Glück noch immer frei war, und fing an, über Blumen und Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Und ihre Augen lachten so sehr, dass sie zu schmalen Schlitzen wurden. Sie sagte: »In dieser Jahreszeit denke ich viel an meine verflossenen Geliebten …« Sie lächelte immer seliger: »Meine Geliebten und die Blumen, die passen gut zusammen.« Und dann erzählte sie, wie sie zu ihren Geliebten gekommen war. Sie sagte, als sie noch sehr jung war, sei sie mit ihrem Freund an einem Frühlingstag an den Strand gegangen und mit einem anderen zurückgekommen. Und danach sei sie mit beiden sehr glücklich gewesen. Sie hatte sich niemals zwischen ihnen entscheiden können, was auch nicht nötig gewesen sei. Die Geschichte ihres Lebens offenbare sie aber erst jetzt, da inzwischen beide verstorben seien. Und dann erzählte sie, wie sie vorgegangen war, damit sie sich im Laufe der Jahre niemals begegneten, obwohl sie im selben Ort wohnten, und wie schön das Leben war, so aufgeteilt. Am Samstagvormittag mit dem einen, am Sonntagabend mit dem anderen. Um ehrlich zu sein, war sie sicher, dass die beiden Männer doch voneinander erfahren hatten, aber es hatte ihnen wohl nichts ausgemacht, falls sie es wussten. Schließlich waren alle drei bis zum Schluss glücklich gewesen. Drei Glückskinder.
Und während sich der Duft der Rosen im ganzen Raum ausbreitete, erzählte Dona Joaninha von einigen Situationen ihres Doppelspiels mit einer frühlingshaften Fröhlichkeit, wie ich sie seit langer Zeit bei niemandem mehr erlebt hatte. Bei der Erinnerung an diese herrlichen Zeiten sah Dona Joaninha aus wie die Heilige Jungfrau. Ihre Augen und ihre Wangen glänzten. Und ich dachte: Gesegnet sei die Wirkung des Frühlings, denn unter seinem wohltuenden Wind wird alles Licht, alles neu und vervielfacht, selbst für jene, für die die Liebe nur eine Erinnerung ist.
Sie redete und redete, ich fragte und sie antwortete, aber ehrlich gesagt ging es mir um etwas anderes, denn während ich an Dona Joaninhas ausschweifendes Leben dachte, musste ich gleichzeitig auch an mein eigenes denken. Da Dona Joaninha sich flink bewegt, bat ich sie, bevor sie sich verabschiedete, meinen Notizblock zu nehmen und sehr vorsichtig ein Blatt herauszutrennen. Sie reichte mir das tadellos an der Perforation herausgelöste Blatt und dazu auch noch den weich schreibenden Bleistift. Ich bedankte mich: »Vielen Dank, Dona Joaninha, kommen Sie gern wieder.« Dann ließ ich meine Tischgenossin gehen, wartete, bis ihre Schritte im Flur verhallten, damit ich mitten auf das weiße Blatt das Wort schreiben konnte, das mir den ganzen Ostersonntag durch den Kopf gegangen war. In Großbuchstaben, so perfekt, wie meine Hand es zulässt, malte ich BAKU.
21. April 2019
Mein Gott – So klein ist der Kuckuck und seine Stimmeso laut. So schlau sein Eiund ich so dumm. Dieses Nest wird niemandüberfallen.
Es war wohl gegen sieben Uhr morgens, als das Handy unter meinem Kopfkissen vibrierte. Es war schwierig, an den Apparat zu kommen, meine Hand hatte Mühe, ihn hervorzuholen. Als ich endlich antworten konnte, hörte ich eine portugiesische Stimme sagen, bitte versuchen Sie es jetzt. Die Stimme der Person, die das sagte, gab den Anruf weiter an jemanden, der mich sprechen wollte. Es war sie. Ich rief so laut ich konnte: »Ich höre dich, sprich, sag was, ich höre dich!«
Sie begann zu sprechen. Ich hörte zu, und ihre Stimme war so klar, als käme sie direkt aus dem Kopfkissen. Ich hörte meine Tochter sagen: »Ich wollte dir nur frohe Ostern wünschen. Hier, wo ich bin, ist die Leitung sehr schlecht, gestern bin ich nicht durchgekommen, ich weiß nicht, was da los ist …« Ich machte schon Anstalten, mich zu bedanken und meine ersten Fragen nach ihrer Gesundheit zu stellen, nach ihren Problemen, ihren Kleidern und wann sie zurückkommt, da wurde mir klar, dass die Verbindung abgebrochen war.
Ich behielt das Telefon noch lange in beiden Händen und wartete, aber ohne Erfolg. Um mich zu trösten, dachte ich darüber nach, wie großartig es war, dass eine Person nicht weit vom Atlantik in einem Bett liegen und eine andere auf der anderen Seite des Meeres an der äußersten Spitze eines anderen am Pazifik gelegenen Kontinents sagen konnte, Ich wollte dir nur frohe Ostern wünschen, und dass die Person auf dieser Seite es hörte und getröstet war. Denn nun weiß ich, dass sie sich in einem spanischsprachigen Land befindet, aber in Begleitung einer Person, die ihre Muttersprache spricht. Und dann schlief ich beruhigt die letzte Morgenstunde. Zum Glück gibt es solch friedliche Momente im Leben eines Menschen.
Die zweite Situation an diesem Tag, die ich jetzt, wo es schon stockdunkel ist, so gern selbst aufschreiben würde, um mich für immer daran zu erinnern, ereignete sich nach dem Mittagessen. Ich saß schlummernd im Sessel, als ich ein Geräusch hörte. Ich schlug die Augen auf und sah einen sehr großen jungen Mann vor mir stehen. Ich bin an solche Erscheinungen gewöhnt und dachte mir gleich, dass es ein Freiwilliger vom Verein hilfsbereiter Jugendlicher sein müsse, die für eine Stunde zur Unterhaltung der Hausbewohner kommen, organisiert von der Animateurin Bianca. Der junge Mann ließ sich nieder. Als er saß, stellte ich fest, dass er sehr hässlich war. Er hatte ziemlich buschige Augenbrauen, und wenn er lachte, zeigte er Zähne, die viel zu weiß und viel zu groß waren. Sehr hässlich. Aus seinem Rucksack zog er eine Zeitung, aber ich bat ihn, nicht daraus vorzulesen. »Warum nicht?«, fragte er. »Darum«, antwortete ich und erklärte, dass Zeitungen und Nachrichten im Fernsehen mich in letzter Zeit traurig stimmten.
Der junge Mann wollte unbedingt den Grund wissen, und ich zögerte mit meiner Antwort, sagte aber schließlich doch die Wahrheit. Ich sagte, dass es mich in letzter Zeit anwiderte, ständig von Tragödien, Betrügereien und Überfällen zu hören, von Menschen, die in Schlauchbooten ums Leben kommen, ohne das rettende Ufer erreicht zu haben, von Kriegen, Bomben und Beerdigungen mit Särgen auf den Rücken von revoltierenden Menschenmengen. Es ist die Welt in ihrer dauerhaften Schieflage, und dieses Chaos nimmt kein Ende, sagte ich. Denn die Zeitungen informieren niemals über das Ende der Tragödien, sie berichten lediglich von ihnen und beschreiben sie in den finstersten Farben. Sie bilden ständig das Durcheinander ab, ohne Aussicht auf Ordnung. Deshalb habe ich für mich entschieden, dem Chaos ein Ende zu setzen, indem ich es ignoriere. Wenn ich gegen diese traurige Wirklichkeit nichts tun kann, will ich auch nichts von ihr wissen. Früher war das anders.
Der junge Mann vom Freiwilligenverein wirkte enttäuscht. »Sie haben also aufgegeben?«, fragte er. Ja, stimmte ich ihm zu. Früher ließ ich mir die Nachrichten vorlesen, aber jetzt will ich das nicht mehr. Im Leben kommt nach Schlechtem natürlicherweise immer Gutes, aber die Zeitungen tun nichts anderes, als ein Schlechtes nach dem anderen zu berichten. Allerdings, fuhr ich fort, möge ich es noch immer sehr, dass mir vorgelesen wird, nachdem ich selbst es nicht mehr könne. Ich erklärte ihm, dass nach der ersten Zeile die darauf folgenden vor meinen Augen ineinander verschmelzen und vibrieren würden, als schössen aus dem Papier kleine Blitze, die mich blendeten. Der junge, sehr hässliche Mann mit den buschigen Augenbrauen wühlte in seinem Rucksack und förderte Blätter zutage, von denen einige in Klarsichthüllen steckten. »Ich habe eine Erzählung für Sie«, sagte er, nachdem er sich den Inhalt der Hüllen angesehen hatte. Ich wollte wissen, wovon die Erzählung handelte, die er vorlesen wollte. Der junge Mann antwortete: »Es geht um das Leben eines chilenischen Lehrers, daraus ist eine sehr schöne Geschichte entstanden.« Aber ich fragte misstrauisch: »Eine sehr schöne und sehr traurige, oder? Wenn sie eher schön als traurig ist, bin ich einverstanden. Wenn nicht, dann lieber nicht.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass sie eher schön als traurig ist«, antwortet er und begann die Geschichte eines Lehrers namens Gálvez2 vorzulesen.
Er las gut, sehr gut sogar. Obwohl es in der Erzählung, wie ich vermutet hatte, nur um Not und Unglück ging, um Verfolgungen, Deportationen und Trauriges, brachte die Stimme des jungen Mannes es fertig, schöner zu sein als die Tragödien, die er vorlas. Die viel zu buschigen Augenbrauen auf der sehr dunklen Haut, mit den viel zu weißen und großen Zähnen veränderten sich allmählich vor meinen Augen, während er überraschende Sätze las, die ich mir nicht merken konnte, die aber den Fluss dieser Sprache aufhellten. Und nach der Schilderung der Tragödien und der traurigen Reisen der Hauptfigur, die vor einem mörderischen Diktator von einem Kontinent zum nächsten floh, las der junge Mann, den ich vorher so hässlich gefunden hatte, den letzten Teil der Geschichte des Lehrers namens Gálvez einfach wunderschön vor. Es handelte sich dabei um einen Traum, den Traum des Don Gálvez, wie der junge Mann ihn beim Vorlesen nannte. Er las die kurzen Zeilen, die vom Traum handelten: In seinem früheren Leben hatte der Lehrer sich so hingebungsvoll für seine Aufgabe engagiert, dass er eines Nachts, kurz bevor er im Exil in Europa starb, träumte, er sei an die Schule seiner fernen Heimat zurückgekehrt, um den Kindern dort die regelmäßigen Verben beizubringen, und der Traum war so intensiv und real, dass seine Finger, als er am Morgen aufwachte, von Kreide weiß gefärbt waren. Der junge Mann steckte die Blätter in die Klarsichthülle zurück und bemerkte: »Sehen Sie, es geht gut aus.«
Ich sagte nichts dazu.
Ich dachte eine Weile über den Schluss der Geschichte nach, denn es dauerte, bis ich den Sinn dieses überraschenden Endes erfasst hatte. Um es ganz und gar zu verstehen, musste ich mir den Traum von der Rückkehr des Lehrers an seine Schule vorstellen, und ihn selbst vor den kleinen Kindern. Dann musste ich mir den Traum im Dämmerlicht des Schlafs vorstellen und sehen, wie der Lehrer im Traum weiße Buchstaben auf eine Tafel schreibt. Anschließend musste ich mir vorstellen, wie der Lehrer aufwacht, und die von Kreide weißen Finger vor mir sehen, musste mir vorstellen, dass es die Vorstellung des Lehrers war, und mir vorstellen, dass er sich gewünscht hatte, dass die Vorstellung der Realität entspräche, und mir dann noch vorstellen, dass er wahrhaftig ein betrogener Bürger war, und ich war fassungslos darüber, dass man mit so wenig ein so starkes Mitgefühl auslösen kann. Ich sah den jungen Mann an, den ich hässlich gefunden hatte, und der mir jetzt schön erschien, und ich spürte, dass ich schwach wurde, mich fallen ließ, so wie es meiner Tochter passiert, aber ich wollte das Schwächegefühl, das mir Tränen in die Augen trieb, nicht nähren.
Schließlich sagte ich: »Oh, ja, es geht sehr gut aus. Aber trotzdem ist es nicht mehr als die Geschichte eines Grundschullehrers und seines Sohnes, eine sehr kurze Erzählung. Und eine sehr kurze Erzählung bleibt, auch wenn sie der Wahrheit entspricht, immer nah an der Lüge. Als ich noch las, hatte ich gern dicke Bücher, die sich so ähnlich entwickeln wie das Leben eines Menschen im Laufe der Zeit. Bücher über besondere Menschen, nicht über Lehrer, die als Besiegte sterben, ohne Geschichte geschrieben zu haben.« Der junge Mann sah auf die Uhr, hatte es aber offenbar nicht eilig. »Was für Bücher mochten Sie denn?«
Ich sah den jungen Mann ungläubig an.
Er war der erste vom Freiwilligenverein, der mich so etwas fragte. Die Nähe zu diesem aufgeschossenen jungen Mann wurde mir allmählich zu viel. Ich antwortete vage, mir gefielen Bücher über Napoleons Schlachten, davon hätte ich zwei gelesen. Über das Leben der Engländer in Arabien hätte ich eines gelesen. Über das Leben der römischen Kaiser, als sie über alles herrschten, hätte ich mehrere gelesen. Einer dieser Kaiser sei homosexuell gewesen und habe einen Jüngling geliebt, der dann starb, sein Name lautete so ähnlich wie António, und der Kaiser habe so sehr getrauert, dass ich selbst fast geweint hätte. Allerdings sei es sehr schwierig zu lesen gewesen, sechs Monate lang hätte ich versucht, zum Ende zu kommen, manche Seiten hätte ich übersprungen, wenn ich das Thema nicht richtig verstand, denn die Städte und Meere hießen nicht so, wie man sie heute nennt. Doch nun, da ich nicht mehr lesen könne, und seien die Buchstaben noch so groß, und ich mich damit abfände, dass mir jemand vorliest, müsse ich mich zufrieden geben mit kurzen Berichten über die einfachen Dinge des Lebens, was auch schön sei, aber nicht so schön wie die dicken Bücher mit ihren vielen Seiten, damit die Geschichten dem wahren Leben der Personen ähnelten.
Und so unterhielten wir uns über eine Stunde lang.
Dann wollte der junge Mann ein bisschen über mein Leben erfahren, aber das wollte ich ihm nicht erzählen. So wie ich auch nichts über sein Leben hören wollte. Ich bin sehr alt, ich weiß, dass der Zauber in seinem Gefäß aufbewahrt werden muss, sonst läuft er über und verflüchtigt sich. So blieben wir auf das Vorlesen einer Erzählung beschränkt, das genügte für ein perfektes Zusammensein. Zum Abschluss der vom Verein der freiwilligen Hilfe organisierten Unterhaltungsstunde bat ich ihn, dieselbe Erzählung noch einmal vorzulesen. Das tat er. Und in den Tragödien, die er las, war nichts tragisch, denn alle Wörter führten zu dem Moment hin, als der Lehrer aufwacht und seine Finger von der Kreide weiß sind. Als der junge Mann die zweite Lektüre beendete, stellte ich fest, dass er unter den buschigen Augenbrauen tiefgründige Augen besaß, sein Haar fiel ihm in schöner Unordnung zur Seite, und seine magere Gestalt, die ein wenig seitlich saß, erinnerte mich an die Fotografie eines Geistes. Ich fand ihn schön. So schön, dass mir die Augen von seinem Anblick schmerzten. In meinem Blick war er jetzt ein anderer, er war die kostbare Stimme, die einer alten Frau eine Erzählung großartig vorliest, und seine Stimme hatte vermocht, die verborgene Schönheit des Vorlesers zu offenbaren. Von seinen Lippen, die mir zu dick erschienen waren, und seinen zu weißen Zähnen war eine wunderbar vorgelesene Erzählung erklungen, genau im richtigen Maß. Seine Schönheit, die sich nach dem letzten Wort offenbarte, war so stark, dass ihr Anblick unerträglich wurde. Ich wünschte mir, dass der junge Mann ganz schnell verschwand.
Ich sollte nicht so sein, wie ich bin, immer in Erwartung von Schönem, Großartigem, Mächtigem. Ich hob die Hand vielleicht ein wenig unbeholfen und verabschiedete den jungen Mann: »Vielen Dank, Sie haben Gutes getan. Nun können Sie gehen.« Und er ging. Anschließend bereute ich es. Aber ich habe diese Art, ich will zu viel, ich bestimme zu viel, ich liebe zu sehr etwas, das ich nicht erreichen kann, und wenn ich es nicht erreiche, versuche ich verzweifelt, das, was vorhanden ist, so zu verändern, dass es der unerreichbaren Realität möglichst nahekommt. Ich weiß nicht wohin mit meinen Gedanken, sie sind zu groß für den Raum in meinem Kopf und den Umfang meines Herzens. Es war drei Uhr nachmittags. Ich wurde abgeholt.
2.Es handelt sich um die Kurzgeschichte »¡Salud, profesor Gálvez!« (in Historias marginales, 2000) des chilenischen Schriftstellers Luis Sepúlveda.
Die Schritte des jungen Mannes verklangen im Flur. Ich wusste nicht, was ich mit dem Nachhall dieser Lesestunde anfangen sollte. Eine Weile saß ich reglos da und dachte über den Sinn der Wörter und ihren Klang nach, aber bald darauf verwandelte sich das Gefühl stiller Verzauberung in Aktion. Salomé, die Flinke, kam im Flur vorbei, ich rief und sie erschien, tüchtig und hilfsbereit wie immer. Ich bat sie, mich ins Erdgeschoss zu bringen. Ich wusste, dass das Echo des jungen Mannes, der so wunderbar das Unglück des chilenischen Lehrers und seinen Kreidetraum vorgelesen hatte, mir bei meiner Entscheidung helfen würde, sowie ich über die Schwelle des großen Saals gekommen wäre, in dem es, wie man erzählt, in den fünfziger Jahren Bälle und Empfänge gegeben hatte, Vorhänge mit Jagdszenen, Bilder von englischen Landschaften an den Wänden, und wo jetzt sieben Dutzend Lehnstühle verteilt waren, von der Decke herab ein Fernseher hing und im Mittelgang ein Klavier stand.
Und so geschah es. Ich konzentrierte mich auf den Raum ringsum, die Gestalten meiner dort sitzenden Mitbewohner, und ehe Salomé einen Platz für mich wählte, bat ich sie, mich an eine Stelle zu bringen, von der aus ich mit der Heimleiterin Noronha würde sprechen können.
Salomé tat, was ich wollte. Sie stellte mich in den Mittelgang, zwischen die Tür, die zum Großen Foyer führt, und die Tür, durch die man zum Sprechzimmer und zur Kapelle gelangt, und damit war ich nicht allein. Nachdem Salomé mich dort zurückgelassen hatte, stellte ich fest, dass neben mir zwei weitere Mitbewohner darauf warteten, dass Ana Noronha vorbeikam, die junge Frau, die seit ein paar Monaten das Haus leitet. Außerdem fiel mir auf, dass der Fernseher nicht eingeschaltet war, was selten vorkommt in diesem Saal, in dem wir wegen der Lautstärke der Nachmittagsprogramme kaum einander verstehen können. Und ich dachte, dass dank dieses Zufalls die Sterne gut für uns standen, denn in der Stille, die im Raum herrschte, würde die junge Heimleiterin Ana Noronha uns zuhören. »Sprecht sie an, wenn sie vorbeikommt, aber seid höflich«, riet uns Salomé, als fürchtete sie, wir würden es übertreiben. Und schon näherte sich die Heimleiterin dem Mittelgang, aber falls sie in unsere Richtung blickte, nahm sie uns nicht wahr. Sehr eilig ging sie weiter.
Während ich ihr hinterhersah, konnte ich kaum glauben, dass die Heimleiterin Noronha noch vor einem Jahr auf die Koseform ihres Vornamens, Anita, gehört hatte. Damals war sie nur eine Praktikantin, die ab halb acht morgens die Bewohner in ihren Zimmern aufsuchte. Sie kam in ihren hübschen flachen Schuhen, klopfte mit den Fingerspitzen an jede Tür, fragte, ob sie hereinkommen dürfe, und egal, ob wir schon schliefen oder noch wach waren, immer trat sie an unsere Betten und beugte sich über uns. Dann sah sie uns lange in die Augen, ihr Blick wanderte langsam über unsere Gesichter, betrachtete, was sie darin las, als hätte sie Zeit, uns bis in die Seele zu blicken. Mit jedem einzelnen von uns unterhielt sie sich. Deshalb sagen die Leute, sie habe ihre Rolle als Praktikantin so gut erfüllt, dass sie binnen weniger Monate zur Angestellten wurde. Und schon bald beförderte man sie, ein erstaunlicher Aufstieg, wenn man bedenkt, dass alles innerhalb eines einzigen Jahres geschah. Aber das bedeutet nicht, dass sie sehr viel gewonnen hat, im Gegenteil, meiner Ansicht nach ist bei all dem zu viel verloren gegangen – vor allem die Ruhe in ihrem Blick.
Jetzt fliegen die Augen der ehemaligen Anita rasch über alle Flächen, ohne sich bei einer aufzuhalten, sie hetzen glasig und fiebrig hin und her, und ich denke, weil sie über alles bestimmen muss, hat sie nichts mehr von dem, was sie zu einem liebenswerten Menschen machte. Die zur Doutora Noronha gewordene Anita hat den friedlichen Blick eingebüßt. Meiner Ansicht nach hat man sie nicht befördert, sondern degradiert. Als man mich heute Nachmittag in den Mittelgang brachte, lief sie hin und her, als nähme sie niemanden wahr. Beschäftigt.
So beschäftigt, dass sie mal vom Großen Foyer, mal vom Sprechzimmer herkam, als liefe sie durch das ganze Haus, aber sie blieb nicht bei uns stehen, obwohl meine Mitbewohner sie mit deutlichen Gesten auf sich aufmerksam machten. Als Doutora Noronha vorbeikam, ging Dona Santanita, die links von mir saß, sogar so weit, nach ihrem Rockzipfel zu greifen, aber der Rockzipfel rutschte ihr aus der Hand. Nach einer Weile kam die Heimleiterin wieder vorbei, und diesmal erhob sich Senhor Mota, der zu meiner Rechten saß, und versuchte, sie mit seinem Gehstock aufzuhalten. Doch der Heimleiterin, die es mit einem Packen Papiere unterm Arm sehr eilig hatte, gelang es, weiterzugehen und uns hinter sich zu lassen. Ich verlor nicht alle Hoffnung, ich wusste, wenn sie sich bücken und auf die anderen eingehen würde, dann bekäme auch ich meine Chance. Der Fernseher war noch immer stumm, nur vom Fahrstuhl her drangen Stimmen herüber, und eine davon erkannte ich als die von Dona Joaninha. Die anderen sprachen laut, aber Dona Joaninha lachte schallend. Dorthin begab sich die Heimleiterin, als gäbe es da etwas besonders Interessantes. Ohne die Geräusche des Fernsehers hallten die Gespräche im Hintergrund durch den ganzen großen Raum, auch wenn sie in normaler Lautstärke geführt wurden.
Senhor Mota gab nicht auf. Als die Heimleiterin erneut vorbeikam, rief er laut: »Halt!«
Man erzählt sich, dass Senhor Mota ein guter Tischler war, seinerzeit hatte er eine große Werkstatt geleitet, in der Möbel groß wie Häuser und mit vielen Schubladen hergestellt wurden. Ich glaube das. Egal, was Mota einmal war, sein Ruf funktionierte. »Halt!« Die Heimleiterin beugte sich zu uns herab, ihr langes Haar hing über unseren Gesichtern, und sie lächelte meine Mitbewohner an. »Was gibt's?«, sagte sie. Ihr Blick blieb eine Weile auf den Boden gerichtet. Sie hörte zu. Dann sprach Dona Santanita ihr ins Ohr, sie redete lange, hörte nicht auf, die Lippen zu bewegen. Dona Noronha löste sich von ihr, antwortete laut: »Dona Santanita, niemand hat Ihren Frühlingsmantel gestohlen. Er ist nur einfach verschwunden. Aber hier taucht in letzter Zeit alles wieder auf, was verschwunden war. Wahrscheinlich befindet er sich in der Wäscherei. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihn selbst suchen. Sie werden sehen, morgen können Sie ihn weder anziehen …«
Dona Santanita glaubte ihr: »Oh, wie schön, morgen bekomme ich meinen hübschen braunen Mantel zurück!« Dann wandte die Heimleiterin sich an Senhor Mota: »Bitte!« Eine ganz einfache Sache. Letztlich wollte Senhor Mota nur einen Zwanzig-Euro-Schein in Verwahrung geben und wusste nicht, wie. Aber in diesem Fall musste er sich gedulden und den Schein im Sekretariat abgeben, Senhor Luís Cotovio würde sich darum kümmern. Die Heimleiterin hatte keine Zeit, Senhor Mota zu Cotovio zu bringen, aber Cotovio würde zu ihm kommen. Senhor Mota war nicht überzeugt. »Und was mache ich solange mit meinem Schein?«, fragte er mit angsterfüllter Stimme. »Halten Sie ihn fest in der Hand, Senhor Mota, lassen Sie ihn nicht los, drücken Sie ihn tief in die Tasche, Luís kommt gleich zu Ihnen.« Die Heimleiterin Noronha wollte aufstehen und gehen, ihr Haar flog schon in eine andere Richtung, aber das ließ ich nicht zu. Ich fragte: »Und ich? Bin ich niemand?«
Noronha legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich bitte Sie, Dona Alberti. Bitte sagen auch Sie, was Sie brauchen.« Da fing ich an zu zittern, ich hatte alle Wörter fest am Herzen, und sie wollten sich nicht lösen. Da die Heimleiterin geduldig darauf wartete, dass ich etwas sagte, fragte ich schließlich: »Doutora Ana Noronha, wissen Sie zufällig, wo eine Stadt namens Baku liegt?«
»Baku?«, fragte sie.