Erben alter Feindschaft - Emily Margaret Walsh - E-Book

Erben alter Feindschaft E-Book

Emily Margaret Walsh

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Sechs magische Familien. Unzählige Erben. Alte Feindschaften. Während Isaac Coal, der Erbe der mächtigsten Magier-Familie und der begabteste Raummagier seiner Generation, nur noch aus dieser Welt fliehen will, strebt seine Cousine Mary den Thron ihres Großvaters an. In diese Erbstreitigkeiten wird Cassandra bei den Ermittlungen an einem ungelösten Mordfall verwickelt. Unwissend der Magie stolpert sie in eine Welt der Intrigen und Streitigkeiten. Bei aller Zwietracht der Familien, bleibt den Erben nur die Zusammenarbeit, als immer mehr Anschläge auf die Herrscherfamilien verübt werden...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

Realm & Rune Verlag

Heimat phantastischer Geschichten und

spannender Geschichte!

www.realm-and-rune.de

Insta/TikTok: @realm_and_rune

 

ISBN 978-3-69026-024-4

© 2025 Realm & Rune Verlag

Idee & Text: Emily Margaret Walsh

Lektorat & Korrektorat: Tintenschwert, www.tintenschwert.de

Cover & Illustration: Sonja Blank

Buchsatz & Design: Sonja Blank

Adresse: An der Obstwiese 9, 50171 Kerpen, [email protected]

 

 

 

 

 

 

Für meine Großeltern,

die immer an mich geglaubt haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vita

Emily Margaret Walsh wurde 2002 in Hannover geboren und verbrachte ihre Kindheit in Celle. Aus Langeweile malte sie sich fantastische Welten aus, voller Magie und Abenteuer, die in Form von Geschichten aus ihr heraussprudelten. Immer schon hat sie gern geschrieben, um den Welten und Figuren in ihrem Kopf Leben einzuhauchen.

Nach dem Abitur im Jahr 2021 ging sie für ein Jahr nach Schweden, wo sie ihren ersten Roman schrieb. Danach begann sie ihr Studium der Umweltingenieurswissenschaften in Aachen, während welchem sie ein Jahr in Mailand verbrachte und weitere Romane, sowie einige Kurzgeschichten schrieb.

Table of Contents

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Ende

Danksagung

 

Isaac

Die letzten roten Strahlen der untergehenden Sonne fielen durch die hohen Fensterbögen des Coal-Anwesens. Es war Abend.

Isaacs, Marys und Thomas' Schritte hallten von den Wänden des langen Korridors. Keiner von ihnen schaute zum anderen. Ihre Blicke waren starr geradeaus gerichtet, das Kinn gehoben, der Rücken gerade. Mit jedem Schritt näherten sie sich der alten Holztür. Alles in diesem Anwesen war alt, unverändert seit Jahrzehnten. Und so, so leer.

Isaac hielt einen Augenblick inne. Seine Schultern hoben sich zu einem tiefen Atemzug, dann stieß er die Tür auf.

Vor ihnen erstreckte sich ein weiter Saal, dessen dunkles Parkett und hohe Fenster ihm nur zu vertraut waren. Die heiteren Unterhaltungen verstummten, als sie durch die Tür traten und wie von selbst bildete sich eine Gasse zwischen den ehrfürchtig zurückweichenden Leuten.

Am Ende der Gasse, auf einem Podium, stand ein älterer Herr mit elfenbeinweißen Haaren und einem strengen, faltigen Gesicht. Seine grünen Augen stachen aus seinem sonst so farblosen Erscheinungsbild hervor, als gehörten sie zu einem anderen Gesicht, aus einer anderen Zeit.

»Verehrte Gäste.« Obwohl er kein Mikrofon hatte, hallte seine Stimme durch den Raum wie ein Donnergrollen. »Isaac, Mary und Thomas sind als meine Enkel und einzigen lebenden Nachkommen die Erben der mächtigsten magischen Hochfamilie unserer Zeit.« Ein Raunen ging durch die Menge. »Der ursprüngliche Zweck der heutigen Versammlung war die Einsetzung von Isaac als nächsten Hochmagier der Familie Coal, meinen Nachfolger. Doch bedauerlicherweise haben mich die jüngsten Ereignisse dazu veranlasst, meine Wahl noch einmal zu überdenken. Aus diesem Grund…«

Er machte eine Pause, in der man vermutlich eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle im Saal, inklusive der drei Erben, hingen angespannt an seinen Lippen. Isaac wusste nicht, welche Antwort er erwartete, auf welche er hoffte. Sein Blick wanderte zu Mary. Was sie hoffte, wusste er, auch wenn sie es niemals zugeben würde.

»…schiebe ich die Endscheidung noch auf«, erklang die Stimme seines Großvaters. »Ich hoffe sehr, dass alle meine Enkel dies als eine Chance verstehen und sich nicht erneut als eine solch miserable Enttäuschung herausstellen!«

Isaac senkte den Kopf. Eine kurze, braungelockte Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht und er schloss für einige Sekunden die Augen. Es war noch nicht vorbei.

Der restliche Abend gestaltete sich nicht anders als all die anderen Versammlungen und Bälle zuvor. Die kleinen Häppchen sättigten ihn nicht annähernd und die Gesellschaft der meisten Leute war lediglich durch den verboten teuren Champagner zu ertragen. Sein Bruder, Thomas, und dessen engster Freund Nathan Chadwick standen zusammen mit einigen Männern in teuren Anzügen an einem Tisch und besprachen die neusten Entwicklungen in der Erforschung von Zeitmagie als unerschöpfliche Energiequelle. Nathan war kein Erbe. Dafür war er ein wortgewandter junger Mann, der sich nach seinem Schulabschluss in bemerkenswerter Zeit hochgearbeitet hatte.

Auch Isaac bemühte sich, die einflussreichen Gäste bei Laune zu halten, womit er jedoch weitaus größere Schwierigkeiten hatte als Nathan und Thomas.

»Was genau gedenken sie denn nun mit ihrem Leben anzufangen?«, fragte ein kleiner, pummeliger Mann. »Wie ich hörte studiert ihre Cousine Medizin.«

»Da sind sie wohl falsch informiert, Mr Kane«, antworte Isaac und zwang sich zu einem aufgeschlossenen Lächeln. »Mary wird zum Wintersemester anfangen, theoretische Magie zu studieren.« Bloß nichts von mir erzählen, dachte er. Obwohl die meisten hochrangigen Magier längst wussten, was er getan hatte. Schließlich waren sie alle dabei gewesen.

»Ach, ist das so? Sollte sie nicht die Führung von Coal-Medicine übernehmen? Würde sich da ein Medizinstudium nicht anbieten?«, bohrte der Mann weiter und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.

Isaac tat es ihm gleich, bevor er antwortete. Hilfesuchend schaute er sich nach seiner Cousine um. Sie unterhielt sich gerade, höflich interessiert, mit der Hochmagierin der Familie Linken und sah nicht zu ihm herüber.

»Wie Sie sicherlich gerade festgestellt haben, steht die Nachfolge meines Großvaters noch nicht fest. Demnach lässt sich noch gar nicht sagen, wer welches Unternehmen leiten wird.«

»Sie glauben doch nicht, dass sie Hochmagierin ihrer Familie wird?« Das Lachen des Mannes klang mehr nach einem Grunzen. Isaac konnte die viel zu kleinen Zähne in seinem blassen Zahnfleisch und einige Reste von den Kaviarhäppchen erkennen. »Ich bin mir sicher, ihr Großvater bevorzugt, trotz Ihrer…« Er machte eine kurze Pause. »…Fehltritte, einen männlichen Erben«, erklärte der Mann.

Isaac hob eine Augenbraue und musterte Kane.

»Sie wäre nicht die erste weibliche Hochmagierin«, stellte er fest. Die Moranes hatten in der Vergangenheit bereits eine Hochmagierin und Mary unterhielt sich gerade mit Veronica Linken, der Hochmagierin der vierten magischen Hochfamilie.

»Sie wäre die Erste in ihrer Familie. Was meinen sie warum sich die Familie Coal über Generationen an der Spitze gehalten hat?« Der Mann drehte das Glas in seinen fetten Wurstfingern und trat langsam, ächzend von einem Fuß auf den anderen.

Isaac überlegte einen Augenblick, bevor er auf diese derart lächerlich unfundierte Aussage antwortete. Es war wichtig höflich zu bleiben und die anderen Familien nicht gegen sich aufzubringen.

»Die Familie Kane hat sich ebenfalls gegen eine weibliche Hochmagierin entschieden und – verzeihen Sie, es scheint mir entfallen zu sein – wie nah sind Sie der Spitze?« Ein schiefes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Der Mann schnaubte empört und drehte das halbvolle Glas in seinen fetten Pranken. Unter den sechs Hochfamilien befand sich seine gerade mal auf dem fünften Platz. Das war keinesfalls eine Schande, ganz im Gegenteil. Schon allein die Verschwägerung mit einer Hochfamilie brachte zahlreiche Privilegien mit sich.

Doch Isaac war der Erbe der Coals. Sie standen über den anderen. Sie waren die Herrscherfamilie. Außerdem war er der Enkel, auf den alle setzten und genauso wie die vorherrschende Familie die Gunst der anderen Hochfamilien benötigte, um ihre Stellung zu halten, so brauchten auch die anderen Familien die Gunst der Herrscherfamilie, besonders die des Hochmagiers.

Der schwitzige Mann umklammerte sein Glas und schluckte, bevor er zu einer Antwort ansetzte.

»Keine Sorge.« Isaac lachte herzlich. »Nur ein Scherz.« Er hob sein leeres Glas und verabschiedete sich in der Absicht, sein Getränk nachzufüllen. Mr. Kane stand noch einige Augenblicke regungslos da. Doch als Isaac sich später noch einmal umdrehte, war er aufgetaut und schloss sich einer Konversation über den neuen Gesetzesentwurf der Moranes an.

Auf die Theke gestützt bestellte Isaac einen Gin Tonic. »Aber den mit der Blutorange«, fügte er hinzu. Die Theke war aus schwarzem Marmor, gefasst in einen Gold-Rahmen. Die makellos polierten Gläser im Regal dahinter spiegelten das Licht der prunkvollen Kronleuchter an der Decke.

»Verzeihen Sie mir.« Der Barmann, ein Bild wie aus dem letzten Jahrhundert, schüttelte den Kopf. »Mir wurde ausdrücklich untersagt weitere alkoholische Getränke an Sie auszuschenken.« Er trug ein weißes Hemd mit silbernen Manschettenknöpfen und eine schmal geschnittene Weste.

»Wie bitte?«, fragte Isaac entrüstet. »Sie können meinem Großvater gerne ausrichten, dass ihn das herzlich wenig angeht!«

Der Mann zog eine buschige Augenbraue hoch, sodass das müde, graue Auge darunter ihn besser mustern konnte und deutete zur Seite.

»Sprich leiser. Du blamierst uns.« Neben ihm, auf einem der gold-schwarzen Barhocker, saß Mary. Isaac drehte sich zu ihr. Er hatte sie nicht kommen gehört. »Ich habe ihn darum gebeten«, sagte sie ruhig.

»Und warum genau solltest du so etwas tun?« Seine grünen Augen funkelten, doch Mary funkelte nur böse zurück.

»Was hast du Chester Kane erzählt?«, fragte sie.

»Warum?« Er zuckte mit den Schultern und ließ sich neben sie auf einen Hocker fallen.

»Ich habe euch gesehen«, sagte sie. »Er stand da wie ein Eiszapfen. Und du hast ihn einfach stehen lassen.«

Isaac grinste.

»Das ist nicht witzig!«

»Er war langweilig. Also bin ich gegangen, um mir etwas zu trinken zu holen. Aber hey, scheint als wäre das vollkommen umsonst gewesen«, entgegnete er schnippisch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

»Du wusstest, wie wichtig der heutige Tag ist. Aber wie immer bist du komplett rücksichtslos und egoistisch.« Sie stand auf und zupfte ihr waldgrünes Kleid zurecht. Der weit fallende, knielange Rock und das Oberteil aus filigraner Spitze ließen sie noch schmaler aussehen als ohnehin schon. »Jetzt steh auf, unterhalte dich mit irgendwem. Und benimm dich.« Mit diesen Worten eilte sie zurück an einen der Stehtische und wandte sich wieder einem Gespräch zu. Isaac seufzte und tat es ihr schließlich gleich.

Der Abend verging schleichend und, während die anderen Leute sich die ermüdenden Gespräche über Politik und Intrigen etwas heiterer tranken, herrschte für Isaac ein Alkoholverbot. Trotzdem bemühte er sich bei jedem seiner Gesprächspartner um einige geistreiche Worte und ein aufrichtiges Lächeln. Gegen Ende des Abends fühlte sich sein Gesicht an wie eine ausgeleierte Schuhsohle.

Er verabschiedete sich noch von Nathan und seinem Bruder, bevor er gegen halb zwei die Versammlung verließ. Mary winkte er zum Abschied nur müde zu. Sie war immer noch munter und unterhielt sich mit den wenigen verbliebenen Leuten. Isaac spürte beim Verlassen des Saals den eisigen Blick seines Großvaters in seinem Rücken. Als Ausrichter der Versammlung erwartete man von ihnen allen bis zum Ende zu bleiben. Er versuchte, nicht an seinen Großvater zu denken und auch nicht an Mary. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser, bis er irgendwann nur noch das Widerhallen seiner Schritte hörte.

Isaac drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Wohnungstür. Gähnend streifte er die Schuhe ab, dann ließ er sich erschöpft und vollständig bekleidet in sein Bett fallen und schlief sofort ein.

Die Sonne ging bereits um kurz vor sechs wieder auf. Die hellen Strahlen fielen durch die halb geöffneten Vorhänge und brannten ihm in den Augen. Murrend wälzte er sich zur Seite und angelte nach dem Zipfel des Vorhanges. Er streckte sich über die Bettkante und versuchte den Vorhang zwischen seinen Fingern zu fassen zu kriegen. Seine Fingerspitzen streiften den staubigen Stoff und die scharfe Kante bohrte sich in seinen Rücken. Er lehnte sich noch ein kleines Stück weiter darüber hinaus, da rutschte er von der Bettkante und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden.

Isaac stöhnte und rieb sich seine Schulter. Um ihn herum lagen Socken, T-Shirts und auch noch ein Buch von Prof. Altron: »Theorien der mehrstufigen Raumkrümmung«. Mary hatte ihm empfohlen sich wieder intensiver mit seiner Raummagie auseinanderzusetzen und die Formeln und Erklärungen von Prof. Altron waren die Einzigen, bei denen ihm nicht die Augen zufielen. Langsam zog er sich an seinem Nachttisch hoch und stöhnte nochmal müde. Dann schloss er die Vorhänge vollständig und ließ sich wieder aufs Bett fallen.

Als er später zum zweiten Mal aufwachte, schaute er sich gähnend in seiner verwüsteten Wohnung um. Er trottete ins Badezimmer, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Wenig später hatte er den zerknitterten Anzug gegen eine Jeans und ein T-Shirt getauscht und machte sich auf den Weg, um sich einen Kaffee zu beschaffen.

 

»Das Gleiche wie immer.« Müde schielte er zu der Uhr hinterm Tresen und als die Bedienung, auch nach einigen Sekunden nicht zu reagieren schien, wiederholte er seine Antwort.

»Ich kenne Sie nicht«, sagte diese verwirrt.

Isaac rieb sich die Augen und betrachtete die blonde Frau genauer. »Stimmt«, murmelte er. »Ich kenne Sie auch nicht.«

Sie schmunzelte. Wahrscheinlich war sie neu und hielt ihn wegen der unordentlichen Haare und den tiefen Schatten unter den Augen für einen Spinner.

»Also«, fragte sie nochmal, unerwartet freundlich. »Was hätten Sie gern?«

»Kaffee schwarz. Mit Sahne.«

Die junge Frau zögerte. Den bisher noch leeren Becher in der Hand, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Wäre das denn dann noch Kaffee schwarz?«, fragte sie irritiert.

»Keine Kaffeesahne, Schlagsahne. So eine Mütze oben-drauf«, erklärte Isaac in diffusen Gesten.

Sie nickte und füllte das schwarze Gebräu in den, laut Aufschrift, biologisch abbaubaren Pappbecher. Obendrauf türmte sie eine perfekt geformte Sahnemütze.

»Möchten sie noch Streusel obendrauf?«, fragte sie grinsend. Isaacs erschöpfte Miene leuchtete auf und wenig später hielt er einen schwarzen Kaffee mit einer süßen Sahnehaube und bunten Zuckerstreuseln in der Hand.

Er inhalierte den Duft von frischem Kaffee und trat ins Freie, wo ihm die Sonne direkt ins Gesicht schien. Die grellen Strahlen blendeten ihn. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und schirmte sie mit der freien Hand von der Sonne ab. Er steuerte, immer noch die Hand vor den Augen, auf einen kleinen Tisch im Schatten zu, als er auf einmal einen heftigen Stoß in die Seite bekam und sich die Hitze des Kaffees in seine Haut fraß.

Ihm entwich ein kurzer Schrei, genau wie dem Mädchen neben ihm. Er blinzelte gegen die Sonne und musterte sie. Ihre braun gewellten Haare waren ihr bei dem Zusammenstoß ins Gesicht gefallen. Sie zog ihre Augenbrauen seltsam zusammen und schob den Unterkiefer nach vorn, als sie Isaacs prüfenden Blick erwiderte. Sie sah, wie er fand, ziemlich lustig aus, was sich in seinem Gesicht spiegelte.

»Was lachst du denn so blöd?«, fauchte sie und richtete sich auf.

»Du schuldest mir einen Kaffee«, erwiderte Isaac. Er grub in seinen Hosentaschen und zog schließlich ein zerknülltes Taschentuch heraus.

»Wie bitte?« Sie lachte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Einen kurzen Augenblick zögerte er. Er kannte dieses Gesicht. Erkannte sie ihn auch? Es schien nicht so.

»Du bist in mich reingerannt und hast meinen Kaffee verschüttet«, sagte er dann achselzuckend und versuchte mit dem Taschentuch den Kaffeefleck aus seinem hellen T-Shirt herauszureiben.

»Du hast nicht geschaut, wo du hinläufst«, sagte sie.

»Du aber auch nicht. Sonst wärst du wohl kaum in mich reingerannt«, entgegnete Isaac.

Das Mädchen verdrehte die Augen und strich bedeutungsvoll ihr T-Shirt glatt. »Ich habe keine Zeit dafür«, sagte sie und wollte geradewegs an ihm vorbei gehen.

»Komisch«, meinte er und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich habe jede Menge Zeit.« Er stellte sich ihr grinsend in den Weg, woraufhin sie fast erneut in ihn reinlief. Sie stand kaum eine Hand breit vor ihm und schielte verärgert zu ihm hoch.

»Gut«, sagte sie schließlich und verschränkte demonstrativ die Arme. »Ich hol dir deinen blöden Kaffee, aber nicht hier.«

»Ist das dein Ernst?« Isaac lachte. »Ich dachte du hast so wenig Zeit.«

»Dafür habe ich genug Zeit.«

»Das ist aber mein Lieblingscafé.«

»Mir egal. Du wolltest einen neuen Kaffee, also kriegst du einen. Los komm«, sagte sie und drehte sich um.

»Nein.« Isaac blieb an seinem Platz stehen und musste sich ein Grinsen verkneifen. Das Mädchen war bereits einige Schritte vorgelaufen und drehte sich nun verärgert um. Sie schob wieder trotzig ihren Unterkiefer nach vorne und stapfte zurück.

»Es ist doch wohl egal, wo du deinen Kaffee herkriegst.«

»Wenn es so egal ist, warum sparen wir uns dann nicht den Weg?«, fragte Isaac. »Hast du hier mal geklaut oder so?«

»Ich habe hier mal gearbeitet, du Vogel«, antwortete sie prompt, doch das wusste er längst. Er kannte diese haselnussbraunen Augen, auch wenn sie normalerweise etwas freundlicher guckten.

»Du wurdest gefeuert.«, stellte Isaac fest und konnte sich das Lachen nicht länger verkneifen. »Warum bloß, wo du doch so ein Sonnenschein bist?«

Das Mädchen versetzte ihm einen unsanften Stoß gegen die Schulter. »Halt die Klappe und komm mit.«

»Ganz bestimmt nicht.« Isaac wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich will definitiv hier meinen Kaffee.«

»Was bist du denn für ein sadistisches Arschloch?« Das Mädchen stampfte mit dem Fuß auf den Boden, was eine kleine Staubwolke aufwirbelte. Sie zog sich umständlich den Rucksack von den Schultern und nestelte im Seitenfach. Mit einer Ausladenden Bewegung zog sie ein kleines Stoffportemonnaie heraus und fuchtelte damit vor Isaacs Gesicht herum. Dann drehte sie sich um und ging mit langen Schritten und gehobenem Kinn in das Café. Isaac folgte ihr grinsend.

»Cassandra«, zwitscherte die blonde Frau, die Isaac seinen ersten Kaffee verkauft hatte, und zeigte ihre kalksteinweißen Zähne. »Mit dir hätte ich hier nicht gerechnet.«

Das brünette Mädchen verzog keine Miene und deutete mit ihrem Portemonnaie auf Isaac. »Kaffee schwarz, ungesüßt mit Schlagsahne«, sagte sie ohne Zögern und fügte ein bissiges »Am besten mit Schokostreuseln.« hinzu.

Die junge Frau hinterm Tresen klimperte kurz mit den Wimpern, als sie Isaac hinter Cassandra erspähte, und wendete sich dann wieder ihr zu. »Kommt sofort«, säuselte sie.

Als sie ihnen den Rücken zudrehte, um den Kaffee zuzubereiten stupste Isaac Cassandra grinsend an. »Du erinnerst dich an mich.«

Ihr fiel der neutrale Ausdruck aus dem Gesicht, um den sie sich so bemüht hatte und verdrehte die Augen. »Ich erinnere mich an deine kranke Bestellung«, sagte sie mit tiefster Verachtung in ihrer Stimme. »Jeden Tag, bei jedem Wetter. Brühwarmes, bitteres Gesöff mit Sahne.«

Isaac wippte grinsend vor und zurück, während sie auf seinen Kaffee warteten. Als die Frau die Schokostreusel auf der Sahnemütze verteilte murmelte er gerade laut genug: »Ich finde die bunten Streusel besser.«

»Schokostreusel passen besser«, antwortete sie kalt. Dann fügte sie mit einem schiefen Seitenblick hinzu: »Aber wenn du deine Getränke selbst bezahlst, kannst du meinetwegen auch die quietschbunten Zuckerstreusel haben.«

Er wollte etwas erwidern, doch da schob die Frau seinen Kaffee über die Theke.

»Zwei Euro achtzig«, sagte sie und lächelte gekünstelt in Isaacs Richtung. Cassandra legte das Geld passend auf den Tresen und drückte Isaac den Becher in die Hand.

Er sah sie weiterhin breit grinsend an.

»Was?«, fragte sie. »Soll ich deiner Mutter noch das Waschmittel erstatten?« Zu einer Antwort kam Isaac nicht mehr.

Ein lautes Geräusch ließ die beiden erschrocken zusammenfahren. Eine Frau am anderen Ende des kleinen Cafés war panisch aufgesprungen, wobei der runde Tisch, an dem sie gesessen hatte, scheppernd zu Boden gegangen war. Sie taumelte rückwärts, beide Hände um den Kragen ihres T-Shirts gekrallt. Panisch wanderte ihr Blick durch den Raum, während sie verzweifelt nach Luft schnappte.

Isaac drückte Cassandra den Kaffee zurück in die Hand und rannte zu der Frau. Cassandra folgte ihm.

Er kniete sich neben sie und nahm ihre Hand.

»Hey, es ist alles in Ordnung«, versuchte er sie, und zum Teil auch sich selbst, zu beruhigen. »Haben sie etwas verschluckt?« Er versuchte den Kopf der Frau in den Nacken zu legen, um nachzuschauen. Doch die Frau schüttelte verkrampft den Kopf und hämmerte mit einer Faust auf ihren Brustkorb, schleppend und in einem unregelmäßigen Rhythmus.

»Nehmen sie die Arme hoch.« Immer noch mit einer Hand ihren Kragen umklammernd, schüttelte sie den Kopf. Tränen quollen aus ihren Augen. Sie versuchte etwas zu sagen, doch sie war zu nicht mehr als einem kläglichen Röcheln im Stande.

»Hey, hey. Sehen sie mich an. Alles wird gut. Sie müssen nur die Arme über ihren Kopf nehmen und ruhig weiter atmen.« Isaac drehte sich in die gaffende Menge. »Einer muss einen Krankenwagen rufen, verdammt!«

Cassandra zog ihr Telefon aus der Tasche und wählte den Notruf. Nachdem sie der Person am anderen Ende die Situation geschildert und den Ort genannt hatte, fragte sie sich durch die Cafébesucher und Passanten auf der Suche nach einem Arzt.

Isaac saß weiterhin neben der Frau am Boden. »Alles wird gut.«

Schließlich wurden das panische Zucken und Schluchzen ruhiger und sie schnappte nur noch vereinzelt nach Luft. Vorsichtig ließ Isaac die Frau zu Boden. Ihre blauen, tränennassen Augen wanderten an der Decke entlang.

»Alles gut«, flüsterte er, während das Rot ihres Gesichts verblasste und die Haut blau anlief. Nach einigen Sekunden fiel ihr Kopf zur Seite und sie blieb regungslos am Boden liegen. Er griff ihr Handgelenk und legte Zeige- und Mittelfinger auf ihre Pulsader. Nichts.

Sofort beugte er sich nach vorn und legte beide Hände auf ihr Brustbein. Dann begann er in einem gleichmäßigen Rhythmus zu pumpen. »Der Krankenwagen kommt gleich«, flüsterte er mit zittriger Stimme.

Die sechs Minuten, die der Rettungsdienst zum Café brauchte, verliefen zäh wie Kaugummi, langgezogen in klebrige Schlieren, die sich wie Stunden anfühlten. Zwischenzeitlich übernahm Cassandra den regelmäßigen Wechsel von Pumpen und Beatmen für Isaac, damit er sich einige Augenblicke beruhigen konnte. Als der Rettungsdienst schließlich ankam, hatten sie nicht mehr viel zu tun.

»Zeitpunkt des Todes: Elf Uhr 39«, sagte der Sanitäter mit einem Blick zur Uhr hinterm Tresen.

 

 

Cassandra

Wenig später war das kleine Café von gelbem Flatterband eingeschlossen. Der regungslose Körper der Frau lag auf den kalten Fliesen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen, der panische Ausdruck ihres Gesichtes erstarrt und auf ihrer blauen Haut bildeten sich die ersten, rot-violetten Leichenflecken aus.

»Wie geht's dir?«, fragte Cassandra und ließ sich neben den Idioten auf die schmalen Stufen vor dem Brunnen fallen. Er zuckte mit den Schultern. So betroffen, wie er dreinblickte, war es schwer, ihn weiter unsympathisch zu finden. »Und wie heißt du überhaupt?«

»Isaac Coal.« Er sah sie bei der Antwort nicht an. Stattdessen beobachtete er das Treiben um das Café herum. Der Brunnen war nur wenige Meter vom Café entfernt und doch schien es, als würde man von dort auf eine Modellandschaft herabschauen, in der die Figuren zum Leben erwacht waren und nun aufgeregt umherliefen.

»Warum hast du die Polizei gerufen?«, fragte Isaac, ohne sie anzusehen.

»Wie sie…«, begann Cassandra. »Wie die Frau gestorben ist, das war kein natürlicher Tod. Und mein Vater ist Polizist bei der Mordkommission, also…«

Isaac lachte bitter. »Und lass mich raten: Deine Mutter ist Ärztin?«

Sie antwortete nicht. Isaac kauerte auf den Stufen wie ein geprügelter Hund, beide Arme um die Knie geschlungen. Hinter ihnen plätscherte das Wasser.

»Wie auch immer«, sagte Cassandra und stand wieder auf. Auf einmal war es doch wieder sehr einfach, Isaac für einen Idioten zu halten. »Sag Bescheid, wenn du dich wieder eingekriegt hast, dann können wir vielleicht herausfinden, was hier passiert ist.« Sie drehte sich um und ließ Isaac vor dem Brunnen sitzen.

Samuel Cooper, der den Anblick der Leiche scheinbar nicht länger ertragen konnte, legte ein weißes Laken über den starren Frauenkörper, welches diesen von den schaulustigen Blicken abschirmte. Cassandra blieb etwas abseits stehen und kaute nervös auf ihren Fingernägeln. Sie kannte Cooper. Er arbeitete schon länger mit ihrem Vater zusammen und, als sie kleiner war, durfte sie oft bei ihm im Streifenwagen mitfahren.

»Schrecklich«, stellte er fest.

»Woran ist sie erstickt?«, fragte Cassandra und trat etwas näher an die Leiche.

»Wie es scheint, an gar nichts. Der Rachen ist frei«, sagte Cooper achselzuckend.

»Hat man sie vergiftet?« Diese Frage war vermutlich unangebracht und durfte ihr auch nicht so ohne weiteres beantwortet werden, aber das war Cassandra egal und Cooper würde für sie sicher eine Ausnahme machen.

»Können wir noch nicht genau sagen. Dafür müssen erst noch ein paar Tests gemacht werden«, antwortete Cooper wahrheitsgemäß. Trotzdem war Cassandra mit dieser Antwort nicht zufrieden.

Er hatte keine Ahnung. Keiner dieser Leute wusste, was diese Frau das Leben gekostet hatte. Wobei… Vielleicht weiß es einer, dachte Cassandra und schaute sich um. Die unscheinbare, junge Frau oder der erfolgreiche Geschäftsmann, der sich nach der Arbeit einen Kaffee hatte holen wollen? Jemand, der gerade befragt wurde und bestürzt erzählte, wie die Frau auf einmal aufgesprungen und wenig später qualvoll verendet war?

»Naja, trotzdem danke«, murmelte sie. Gedankenverloren trotte sie über den Platz vor dem Café und hielt nach ihrem Vater Ausschau. Dieser hatte gerade die Unterhaltung mit der blonden Kaffee-Frau beendet und ging in Richtung Brunnen. Cassandra schaute sich nach Isaac um, der immer noch am Boden kauerte.

»Hey, Dad!«, rief sie und fing ihn auf halbem Weg ab.

Benjamin Wilson, ein großer, breitschultriger Mann, blieb beim Klang ihrer Stimme augenblicklich stehen und drehte sich zu ihr um. »Cassandra, Kleines, wie geht es dir? Tut mir leid, dass ich bisher noch keine Zeit für dich hatte.« Er beugte sich etwas zu ihr runter, ähnlich wie zu einem kleinen Mädchen, als das er sie trotz ihrer 18 Jahre immer noch sah.

»Kein Problem«, sagte Cassandra und trat nervös von einem Bein aufs andere. »Wisst ihr denn schon was Genaueres zu dem Mord?«

»Nicht so schnell«, sagte ihr Vater und richtete sich ruckartig wieder auf. »Wir wissen bisher noch nicht einmal, ob es überhaupt ein Mord war.«

Cassandra sah ihn irritiert an. Natürlich war das ein Mord, dachte sie. Was sollte es sonst gewesen sein? Erinnerungsfetzen an das verzweifelte Röcheln und die panisch wandernden Augen tanzten in ihrem Verstand, doch sie versuchte sich zusammenzureißen. Sie konnte das Gefühl nicht erklären, nicht ihrem Vater, einem Rationalisten wie sie eigentlich selbst einer war, doch sie wusste, dass jemand dieser Frau etwas Schreckliches angetan hatte. Es war, als hätte jemand seine Arme um sie gelegt und sie dann langsam zerquetscht. Cassandra konnte sich an dieses erdrückende Gefühl erinnern, doch sie wusste nicht, wie sie es erklären sollte, ohne komplett wahnsinnig zu klingen. Das Gefühl von kaltem Nebel in diesem warmen, hellen Café. Ein Gefühl von unsichtbaren Klauen, die durch den ganzen Raum rankten, sich um die Menschen schlangen und ihre Schulter streiften. Sie schüttelte den Kopf und blinzelte einige Male, bevor sie wieder ihren Vater ansah. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein einfaches »OK« hielt sie für unangebracht, auch wenn es ihr auf der Zunge brannte.

»Naja«, begann sie. »Dann ermittle mal schön weiter.« Sie trat von einem Beim auf das andere und bemühte sich um ein Lächeln.

»Das mach ich. Ich muss sowieso noch den Typen befragen, der versucht hat, die Frau wiederzubeleben«, sagte ihr Vater.

Cassandra nickte. Isaac schien sich wieder einigermaßen gesammelt zu haben. Zwar saß er immer noch vor dem Brunnen, dafür aber nicht mehr so zusammengekauert. Er stand auf, als Wilson auf ihn zu kam.

Cassandra beobachtete wie ihr Vater Isaac befragte und dieser sich bei seinen Antworten tatsächlich Mühe zu geben schien. Vielleicht tat er aber auch nur so. Nach der Befragung ging er, ohne nochmal mit ihr zu reden, oder sie auch nur anzusehen.

Später am Abend setzte sich Cassandra zu ihrem Vater an den Küchentisch. Er aß gerade etwas, das nach einem Käse-Erdnussbutter-Sandwich aussah.

»Was werdet ihr jetzt machen?«, fragte sie.

»Ich erstmal gar nichts«, antwortete ihr Vater mit vollem Mund. Nachdem er aufgekaut hatte, erklärte er: »Der Gerichtsmediziner muss erstmal abklären, woran die Frau gestorben ist, und ob das wirklich irgendetwas mit einem Verbrechen zu tun hat.«

Bevor ihr Vater noch einen Bissen nehmen konnte, fragte sie: »Was glaubst du? War es ein Verbrechen?«

Er schaute von seinem Teller auf und überlegte. Mit undeutbarem Blick musterte er seine Tochter, die auf der Stuhlkante hängend und mit wachen Augen auf seine Antwort wartete. »Es passiert, dass Menschen plötzlich umkommen. Daran muss niemand schuld sein«, sagte er schließlich.

»Und du denkst, das ist heute passiert?«, fragte sie.

»Ja.«

Für ihn war damit das Gespräch beendet und er wandte sich wieder seinem Sandwich zu. Cassandra stand auf und ging in ihr Zimmer. Sie versuchte ein Buch zu lesen, doch sie konnte sich nicht auf die Worte konzentrieren. Zwar las sie Zeile für Zeile, doch war der gesamte Inhalt danach wie aus ihrem Verstand gelöscht. Nachdem sie die Seite zum vierten Mal gelesen hatte, warf sie das Buch weg und legte sich auf ihr Bett. Sie starrte an die Decke. In dem Moment hätte sie gerne ihre Schwester bei sich gehabt. Die beiden hatten sich nie gut verstanden und doch vermisste Cassandra sie.

In den kommenden Tagen fragte sie ihren Vater beinahe stündlich, ob der Bericht der Gerichtsmedizin schon da war. Sie bekam immer die gleiche ernüchternde Antwort, bis sie eines Abends, den sechsten genau genommen, auf dem Sofa sitzend Limonade trank. Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und noch bevor ihr Vater die Haustür aufstoßen konnte, war sie aufgesprungen und in den Flur geeilt. »Und?«

»Nichts und«, antwortete ihr Vater, zog seine Jacke aus und hängte sie an die Garderobe neben der Tür.

»Was?«

Cassandra sah ihren Vater ungläubig an. Dieser zuckte nur mit den Schultern und ging in die Küche.

»Warte!«, rief sie und lief ihm nach. »Was soll das heißen? Nichts?«

»Die Frau ist eines natürlichen Todes gestorben«, antwortete Wilson und öffnete den Kühlschrank.

»Und dieser ‚natürliche Tod‘ ist was genau?«

»Es war kein Mord, der Rest ist nicht mein Problem.«

»Wie kannst du das sagen?«, rief Cassandra aufgebracht. Wild gestikulierend rannte sie in der Küche auf und ab, während ihr Vater sich ein Brot schmierte. »Die Frau wird wohl kaum einfach tot umgefallen sein!«

»Nein, aber ihre medizinischen Probleme gehen mich nichts an«, sagte er und fügte nach einer kurzen Pause noch hinzu: »Und dich auch nicht.« Dann setzte er sich an den Tisch und aß sein Brot. Cassandra stemmte die Hände in die Hüften und durchbohrte ihren Vater mit finsteren Blicken. Er ignorierte sie.

 

Am nächsten Tag stand Cassandra erst so spät auf, dass sie ihrem Vater am Morgen nicht nochmal über den Weg lief, was sie nicht im Geringsten bedauerte. Vermutlich saß er an seinem Schreibtisch und füllte Formulare aus, anstatt sich um den Mord zu kümmern. Sie riss verärgert an der Cornflakes-Tüte. Was hatte diesen Gerichtsmediziner geritten? Sie schaute sich nach einer Schere um. Normalerweise steckte diese vorne im Messerblock, doch der Spalt war leer. Nachdem sie einige Schubladen durchwühlt hatte, nahm sie die Ecke zwischen die Zähne und versuchte sie abzubeißen. Irgendjemand sollte sich den Bericht des Gerichtsmediziners nochmal durchlesen. Sie zerrte an der Tüte, zwei-, dreimal. Dann riss die Ecke ab. Der Riss zog sich einmal über die Tüte, was die Cornflakes zu einer Wolke aufwirbelte und sie auf dem Boden verteilte.

»Verdammt!« Sie stolperte rückwärts, wobei die Cornflakes unter ihren Socken knirschten. Seufzend nahm sie den Besen aus dem Küchenschrank und kehrte sie auf.

Als sie die letzten Krümel aus der Ecke kratzte, überlegte sie. Nur ein kurzer Besuch beim Gerichtsmediziner würde nicht schaden und etwas Besseres hatte sie sowieso nicht zu tun.

Wenig später hatte Cassandra sich ihre Schlüssel geschnappt und das Haus verlassen. Die Hände tief in den Hosentaschen stapfte sie zur nächsten Bushaltestelle. Am Boden vor ihr lag ein kleiner Stein, den sie missmutig zur Seite trat und der warme, trockene Pollengeruch kribbelte in ihrer Nase. Die Bushaltestelle war so gut wie leer. Nur ein Mann, vielleicht Mitte 40, saß auf der Bank und las Zeitung. Cassandra wollte sich nicht neben ihn setzen, also blieb sie einige Schritte entfernt stehen.

Der Bus hatte etwas Verspätung. Als sie also in den brütend heißen Bus einstieg und sich auf einen freien Platz am Fenster fallen ließ, hatte sich ihre Laune nicht gebessert. Es roch unangenehm nach Menschen, genauer gesagt: nach menschlichem Schweiß. Deshalb war sie umso erleichterter, als die Türen an ihrer Haltestelle endlich aufschwangen und sie ins Freie trat. Das rechtsmedizinische Institut war einige Minuten zu Fuß von der Bushaltestelle entfernt. Vor dem Gebäude blieb sie stehen und schaute sich nach allen Seiten um. Es war niemand zu sehen.

Sie holte tief Luft und marschierte direkt auf die große Glastür zu. Die Tür schwang auf und ihr wehte beim Eintritt ein angenehm kühler Luftzug entgegen. Hinter dem Tresen saß eine Frau, die aufschaute, als die heiße Luft von draußen in den klimatisierten Raum strömte.

»Entschuldigung«, begann sie, »mein Name ist Cassandra Wilson. Ich würde gerne mit jemandem aus der Gerichtsmedizin sprechen. Es geht um den Fall aus dem Café.«

Ohne eine Grußformel zu erwidern, wandte die Frau sich ihrem Computer zu und antwortete nach wenigen Handgriffen: »Sie stehen für heute nicht im Kalender.«

»Ehm, ja ich weiß, aber-«

»Gehören sie zur Kriminalpolizei?«, unterbrach sie die Frau, deren Name laut Schild Jolene Murphy war.

Cassandra mühte sich ein Lächeln ab, das jedoch mehr einem Zähnefletschen glich. »Nein, das nicht. Ich war an dem Tag dabei und wüsste gerne, was da passiert ist.«

»Oh«, sagte Jolene überraschend mitfühlend, »Wenn das so ist.« Sie schaute wieder auf ihren Computerbildschirm. »Der Fall ist abgeschlossen. Die Leiche wird noch heute abgeholt.« Für einige Sekunden deuteten ihre Lippen ein Lächeln an, dann widmete sie sich wieder ihrem Computer.

Unsicher was sie tun sollte, stand Cassandra vor dem Tresen und schaute zwischen der Tür und der Frau hin und her.

---ENDE DER LESEPROBE---