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Der bildgewaltige Schauerroman ist der Auftakt zu einer neuen Fantasy-Trilogie. Mit der Vermischung von Fantasy und Horror kehrt der Autor zurück zu den Wurzeln der Phantastik. Erkennen Sie die Realität des Lebens und erleben Sie die bittere Wahrheit über das tragische Schicksal der "Erben der Ewigkeit". Kurzbeschreibung Heller Aufruhr herrscht im mittelalterlichen Weiler Laaberau. Aufgeregt fiebert die Bevölkerung dem großen Konzert fahrender Musikanten entgegen. Die Gefahr der letzten Tage scheint gebannt. Doch war der dämonische weiße Säbelzahn der wahre Schuldige für die erfahrenen Gräueltaten der letzten Stunden? Welch düsteres Geheimnis birgt die verwunschene Waldlichtung und der edle Kirschbaum, den uralte Geschöpfe beleben? Schnell zeigt sich, dass nichts ist, wie es zunächst scheint. Ein grausiges Fantasy-Spektakel mit klassischen Horrorelementen über die triebhaften Auswüchse ewigen Lebens. Das Genre des "Phantastischer Schauerroman" - Düstere Grundstimmung - Gruseliges Setting - Unheimliche Begegnungen - Figurengetriebene Haupthandlung mit großen Gefühlen wie Leidenschaft, Dramatik & Begierde. - Keine Unterscheidung in "gut" und "böse" - Häufig mit tragischem Ende Zitate aus Erben der Ewigkeit »Stell dir mal vor, du hättest alle Lebenszeit der Welt. Unvorstellbares Wissen hast du dir angeeignet, deinem Drang nach Macht und Vollendung nachgegeben und alles erreicht, wonach du immer gestrebt hast. Allen Interessen hast du gefrönt. Alles gelernt, was du immer schon einmal lernen wolltest. Was bleibt da übrig?« »Entlockst du mir mein Geheimnis, ist dir der Tod schon gewiss durch die Hand des Herrn der Finsternis.«
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Prolog
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Kapitel
Epilog
NACHWORT
Komm doch rein, es ist wunderbar«, hauchte Annabell verführerisch und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln.
Er liebte die feinen Fältchen an ihren Mundwinkeln, die das helle Lachen in ihr immer fröhliches Gesicht zauberten. Er wusste, Annabells Lebensfreude würde jede einzelne Sorge aus seinem Leben für immer vertreiben. Es war ihm nicht möglich, ihr zu widerstehen, er hätte es auch gar nicht gewollt. Von langer Hand hatte er den Abend mit dem jungen Mädchen geplant, den Ort ihrer Begegnung weise gewählt. Heute endlich würde es so weit sein.
Schon vor einigen Monden hatte er die faszinierende Lichtung im nahen Wald entdeckt. Ein wahrhaft mystischer Ort inmitten undurchdringlichen Gestrüpps.
Zwei Steine erhoben sich inmitten der Szenerie, doch waren es mehr als nur einfache Steine.
Vor Jahrtausenden hatte sich das Eis zurückgezogen und die beiden mächtigen Findlinge aus grauer Vorzeit einsam zurückgelassen. Beständig hatten die Felsen die Zeit überdauert. Erhaben türmten sie sich auf, überragten alle Geschöpfe des Waldes und boten ihnen dabei Schutz vor Nässe und Kälte. Glatt war ihre Oberfläche. Die makellose, von silbrigen Adern durchzogene Haut des uralten Gesteins leuchtete in einem ehrwürdigen Grau.
Nur wenigen Moosflechten war es gelungen, die weichen Rundungen der Felsen zu besiedeln. Es roch nach feuchter Erde, feinen Kräutern, Waldpilzen und den nahegelegenen Nadeln und Blättern des Waldes. Einzelne Rosenstöcke hatten an mancher Stelle das Moos verdrängt, verströmten einen süßlich, betörenden Duft. Ganz in der Nähe sang eine unterirdische Quelle ihre eigene Melodie, ehe ein Rinnsal klarsten Wassers die Erdoberfläche durchbrach und den Tümpel am Fuße der Findlinge speiste.
Nie zuvor hatte er einen so wundervollen Ort erblickt. Es wirkte, als wäre die Umgebung direkt dem Gemälde des größten Künstlers aller Zeiten entstiegen.
Er war unfähig, sich der mysteriösen Aura der Steine zu entziehen, doch sie war nichts gegen die Wirkung der in voller Blüte stehenden Kirsche, deren Doppelstamm sich an der Seite der Findlinge erhob. In majestätischer Erhabenheit nahm sie den Ort in ihren Besitz, thronte über den Untertanen ihres kleinen Reichs.
»Nun komm doch endlich!«
Er hörte die Aufregung in Annabells Stimme. Es wurde Zeit, ihre Ungeduld zu befriedigen.
Vorsichtig prüfte er mit den Zehen die Temperatur und lächelte, als sich leise, kreisförmige Wellen auf der bisher still daliegenden Oberfläche ausbreiteten. Das Wasser war warm genug, stammte es doch direkt aus dem Innersten der Erde. Der Tümpel war gefüllt mit klarem Wasser, weiße Kieselsteine bedeckten die Böschung des Ufers.
Ungeniert schnürte er die Hosen auf und entledigte sich seiner Kleider, bevor er in das natürliche Becken stieg und sich Annabell bedächtig näherte.
Die heilende Wärme des kristallklaren Wassers war wohltuend. Er genoss jeden einzelnen Tropfen auf seinem Körper und blinzelte in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Er spürte, wie er sich entspannte. Durch körperliche Arbeit verhärtete Muskelgruppen lösten sich. Jegliche Anspannung fiel von ihm ab, als er sich für kurze Zeit auf dem Wasser treiben ließ.
Er genoss die Stille des Ortes und freute sich darüber, da er ihn gefunden hatte, dessen Schönheit mit Annabell zu teilen.
Er spürte ihre körperliche Anwesenheit, schon bevor er sie erreicht hatte. Ungestüm zog er sie an sich. Er umarmte sie so heftig, dass es ihr die Luft raubte. Sanft strich er ihr das lange weizenblonde Haar aus dem Gesicht, bevor er seinen Kopf an ihrem Hals vergrub. Gierig sog er ihren Duft ein. Sie roch nach Blumen und Erde. Er küsste sie und nahm dabei den metallischen Geschmack des Wassers wahr, das ihre Lippen benetzte.
Zärtlich hob er sie hoch. Annabell wehrte sich nicht. Die Arme um seinen Hals geschlungen, presste sie sich an ihn. Ihrer beiden Augen glühten vor Leidenschaft, als er sie, nackt und nass, wie sie war, aus dem Wasser trug und ins weiche Moos am Ufer bettete.
Seine Finger glitten über den zarten Wasserfilm auf ihrer Haut, berührten ihre Schenkel und die Hüfte, während er sich neben sie legte. Er streichelte hinauf bis zu den wohlgeformten Hügeln ihrer Brust, umspielte die zarten blassrosa Knospen mit Fingern und Zunge und erfreute sich daran, als sich diese aufrichteten. Er entlockte ihr ein leises Stöhnen, als er zärtlich liebkosend über ihren Hals aufwärts wanderte. Er liebte den zarten Ton ihrer Haut und genoss die Weichheit ihres jugendlichen Körpers, den er heiß an seinem spürte. Annabell war eine Schönheit, niemals hätte er es für möglich gehalten, sie für sich zu gewinnen. Langsam schob er sich über sie.
Betörender Rosenduft entfachte seine Leidenschaft, steigerte sie zur wilden Ekstase. Er presste die Lippen auf ihre und erschauerte, als sie ihre Hände hinter seinem Rücken verschränkte und ihn näher heranzog, als wolle sie sicherstellen, dass dies kein Traum sei. Rote Flecken zeigten sich auf Annabells Wangen und ihrer Brust, Boten weiter anwachsender sexueller Erregung.
Grelle Blitze vor seinen Augen verklärten ihm den Blick. Der betörende Rosenduft wurde stärker, steigerte die Leidenschaft ins Unermessliche, nahm noch an Intensität zu, bis er meinte, zerreißen zu müssen vor ungebändigter quälender Lust. Weiße Schleier trübten ihm den Blick, obwohl er doch im Meer ihrer grünen Augen versunken war, auf der Suche nach der Seele, die sie wild und willig an diesem stürmischen Akt der Liebe teilhaben ließ.
Intensiver Rosenduft raubte ihm die Sinne. Jedes Zeitgefühl war verloren. Unfähig zur eigenen Handlung beobachtete er die braunen Ranken, die an Annabells Brust züngelten. Scharfe Dornen streichelten über ihren Körper, als versuchten sie sich ihrerseits am Liebesspiel der beiden zu bereichern. Unablässig schlängelten sie sich höher, immer weiter hinauf bis zum Ansatz ihres Halses. Die Ranken strichen sanft über die vor Erregung geröteten Wangen. Einen Augenblick verharrten sie ehrfürchtig am Rande der tiefschwarzen Wimpern, bis sie wild entschlossen Anabells Augen durchdrangen, auf der Suche nach dem schnellsten Weg in die Schaltzentrale des menschlichen Seins. Immer höher kletterten die Ranken. Scharfe Dornen brachten die Kapillaren zum Platzen, als sie endlich die grauen Zellen des Gehirns erreichten.
Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er fasziniert dem dargebotenen Schauspiel der Rosenranken folgte. Annabells Leidenschaft war ungebrochen. Er spürte das Zittern ihres jugendlichen Körpers unter sich, fühlte die Wärme ihrer Lenden.
Penetranter Rosenduft berauschte ihn, sodass er der Dunkelheit nicht gewahr wurde, die seinen Geist empfang.
Rote Blutstropfen traten aus Annabells Augen. Auf jeder Seite verharrte einer kurz schwerelos und suchte sich dann seinen Weg über ihre Wangen hinab, versickernd im feuchten, grünen Moos.
Kalte Augen wendeten sich ab. Das steinalte Wesen schob das dreiteilige Fernrohr zusammen, mit dem es das Schauspiel wie aus nächster Nähe beobachtet hatte. Zu schnell war alles vorbei gegangen. Gelangweilt wandte es sich ab. Schweißgeruch und der Gestank nach totem Fisch lagen in der Luft, als es seine Kleidung ordnete. Breitbeinig, die Schwellung in der Körpermitte ignorierend, schlurfte es in die Dunkelheit.
Derufin kniff das linke Auge zu. Der einzelne Regentropfen hatte ihn voll erwischt. Der natürlichen Spannung beraubt, zerplatzte der Tropfen in kleine Rinnsale. Derufin spürte die feuchten Spuren, die sich kalt über seine Wangen zogen.
Der Kohlestift, mit dem er gezeichnet hatte, entglitt seiner Hand. Mit beschmutzten Fingern und schnellen Bewegungen wischte er sich die Nässe aus dem Gesicht, was das Augenlid noch zusätzlich reizte. Eine kleine Einblutung war die Folge, die unaufhörlich juckte und ihn zu unkontrolliertem Blinzeln zwang. Er brauchte eine ganze Weile, bis sich das Auge beruhigt hatte und er seine Umgebung wieder vollends wahrnahm.
Eben noch hatte er Beregrend vor sich behände den Baum hinaufklettern sehen, doch nun war der Elf im dichten Blattwerk des Wäldchens, das sie gemeinsam durchwanderten, verschwunden. Derufin vermutete ihn gut verborgen in einer der vielen Astgabeln. Von seiner erhöhten Position aus hatte er gewiss einen guten Überblick über das Lager, das sie aufgeschlagen hatten. Es war der perfekte Platz für die Nachtruhe eines Elfen.
Er selbst mochte Höhe nicht. Er bevorzugte die Sicherheit des Waldbodens und die Nähe zur Feuerstelle, auch wenn diese schon längst erkaltet war. Die Sonnenstrahlen des Tages hatten Erdboden und Steine so weit erwärmt, dass er auf eine Decke verzichtet hatte. Konzentriert auf die Natur, die er so liebte, spürte er das wärmende Brennen der Sonne auf seinem Gesicht und den freiliegenden, gebräunten Unterarmen. Das Fleckchen Erde, auf dem er saß, fühlte sich weich an. Er hatte den Rücken an die rissige Haut einer hohen Buche gelehnt und streichelte sanft mit den Fingerspitzen über Moosflechten und die grünen, im Licht der untergehenden Sonne schimmernden Spitzen feinster Gräser.
Seine Hand suchte nach dem verlorenen Kohlestift und dem Fetzen Pergament, das zwischen seine Beine gerutscht war.
»Wäh!« Derufin erschauderte. Ekel verzog seine Mundwinkel, als er sich des schleimigen Gefühls an der rechten Hand bewusst wurde. Er brauchte einen zu langen Augenblick, um die Nacktschnecke von seinen Fingern zu lösen. Endlich, nach einigen erfolglosen Fehlversuchen flog das Getier in weitem Bogen davon. »Verkriech dich bloß.« Er hatte nie verstanden, warum jemand auf den unverständlichen Gedanken gekommen war, diese mistigen Viecher als Kosenamen für hübsche Damen zu verwenden. Myraida, die kleine Schnecke, die mit ihnen durch die Lande zog, hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit diesen grässlich, unappetitlichen Viechern.
Das Tier war im hohen Gras verschwunden, doch Derufin erwischte sich dabei, wie er aufmerksam danach suchte. Obwohl die Hand von der Schnecke befreit war, spürte er noch immer ein merkwürdiges Kribbeln tiefster Abscheu.
»Ich hasse diesen Mist. Bleib mir bloß vom Hals, du abscheuliches Viech.« Wie so oft trug er solche Dinge mit sich selbst aus. Auch wenn es peinlich war, Selbstgespräche zu führen. Ein Zeichen hoher Intelligenz, wie er einst gehört hatte.
Gemeinsam mit seinen Gefährten reiste er seit Jahren durch die Lande und nahm die Strapazen elendig langer Fußmärsche auf sich. Immer auf der Suche nach einem geeigneten Aufenthaltsort, um die Kunst des Musizierens jedem darzubieten, der sie hören wollte. Die Einheimischen waren jedoch meist zu beschäftigt mit bäuerlicher Arbeit und ihren eigenen Problemen und so lauschten nur wenige Zuhörer den wohlklingenden Lauten von Gesangsstimmen und Instrumenten.
Erschöpft von der Anstrengung des Tages versank Derufin völlig in den Gerüchen und Geräuschen seiner Umgebung. Noch immer suchte er nach dem Kohlestift, denn für gewöhnlich entspannten ihn die ruhigen Bewegungen der Finger beim Zeichnen, doch heute erlöste ihn auch diese kreative Tätigkeit nicht von den pochenden Kopfschmerzen, die ihn, seit Stunden quälten.
Endlich fand er, wonach er suchte.
Er atmete tief ein und nahm den angenehmen Geruch des Waldes in sich auf. Er war warm und wohltuend zugleich. Es roch nach feuchter Erde, nach Blüten und Gräsern. Verschiedenste Baumarten, Ranken und Blumen verströmten das unverkennbare Duftgemisch aus abgefallenem Laub und ausgedörrtem Holz.
Er hörte das Murmeln des fernen Baches, dessen Verlauf sie eine Zeit lang gefolgt waren. Seine Gefährten hatten ein Bad im Wasserlauf genossen, während er sich um die Vorräte gekümmert hatte. Wer wusste schon zu sagen, wann die nächste Quelle ihren Weg kreuzte. Übermütig wie kleine Kinder waren Jeldarik und Myraida im Bach herumgetollt. Jeldarik, der Bettelritter, wie Derufin ihn manchmal spöttisch nannte. Sohn eines Adligen, doch seiner Ländereien beraubt, zählte der verarmte Ritter nur noch das Schwarze unter den Nägeln und die erbeuteten Wertgegenstände gefallener Gegner zu seinen Besitztümern. Schwert und Rüstungsteile hatte er sich als Kriegsknecht in zahllosen Schlachten hart erkämpft. Vermutlich eine der Begebenheiten ihrer ersten Begegnung. Nach einer gescheiterten Karriere als ehemaliger Großstadtdieb hatte er selbst als angeheuerter Söldner, seine Münzen mit Plünderungen und Fleddern der Leichname unzähliger Schlachtfelder verdient.
Derufin bewunderte die Schnelligkeit, mit der die Nacht hereinbrach und richtete den Blick nach oben. Was gab es Schöneres als die Demonstration unendlicher Weite, die der abendliche Himmel zeigte? Nur einzelne Wolkenfetzen waren zu erahnen. Kein Lüftchen regte sich. Es schien fast so, als würde sich der Frühling dieses Jahr einmal von seiner freundlicheren Seite zeigen.
Er dachte kurz an die gestrige Nacht zurück. Stundenlang hatte er sich schlaflos in seinen Decken gewälzt. Klamm hatte die vom leichten Regen feuchte Wollkleidung an seinem Körper geklebt und einen erholsamen Schlaf so gut wie unmöglich gemacht. Erst zur Mittagszeit waren Wams und Hosen soweit getrocknet, dass das Kältegefühl in seinen müden Gliedern verschwunden war.
Die Reise war im trockenen Zustand schon anstrengend genug. Vor allem, da Derufin und seine Gefährten öffentliche Straßen mieden und im Schutz der Wälder wanderten. Nicht nur in letzter Zeit erzählten die Besucher in den Tavernen und Herbergen des Reichs Geschichten von wegelagernden Dunkel-Elfen und anderem Gesindel. Überfälle von abgerissenen Räubern auf der Suche nach Essbarem und allem, was sie zu Geld machen konnten, waren an der Tagesordnung. Da war es besser, abseits bekannter und ausgetretener Pfade zu reisen, auch wenn es bedeutete, dadurch länger unterwegs zu sein, und jeder einzelne Reisetag beschwerlicher zu werden schien als der vorausgegangene.
Das kleine Wäldchen blieb von all dem unberührt. Dichte Vegetation bildete eine Bastion der Natur. Nur wenige Menschen hatten sich bislang hineingewagt, galt es doch als besonders dunkel und tückisch. Stickiges Dickicht und knarrende Bäume waren wie geschaffen für die verrückten Geschichten, die Derufin in den letzten Tagen zu Ohren gekommen waren. Der Landstrich war spärlich besiedelt. Nur an wenigen, kleinen Gehöften waren sie vorbeigekommen, doch bei den Einheimischen kursierten verrückte Legenden über verwunschene Lichtungen und so allerhand verhextes Getier.
Derufin blinzelte in die letzten verbliebenen Sonnenstrahlen der hereinbrechenden Nacht. Er beobachtete den herrlichen Sonnenuntergang und war erstaunt, dass der Mond sich bereits deutlich als helle Scheibe am klaren Himmel zeigte. Er brauchte einen Augenblick, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Im Mondschein zeichneten sich die Konturen der umliegenden Bäume und Sträucher deutlich ab. Es war eine der hellsten Nächte der letzten Tage. Es würde Fremden nur schwer gelingen, sich ihm oder Beregrend, der genau wie er Wache hielt, unbemerkt zu nähern.
Es wurde Zeit, sich der Aufgabe zu widmen, die er sich selbst aufgebürdet hatte. Bei den Göttern, wie er Nachtwachen hasste. Fade und langweilig waren sie, oft nur dazu gut, um in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, obwohl er zugeben musste, dass er genau das sehr liebte. Selten, äußerst selten, geschahen unliebsame Ereignisse, welche die Müdigkeit zwar schnell vertreiben und für Abwechslung sorgten, jedoch seine Gefährten und ihn selbst in immense Gefahr bringen konnten.
Wilde Tiere etwa, die angelockt vom Schweißgeruch der Reisenden, im Lager Verwüstung anrichteten. Er erinnerte sich noch genau an die grün gefleckte Natter, die ein heilloses Durcheinander ausgelöst hatte, als sie plötzlich mitten unter ihnen gezüngelt hatte, bereit dazu, ihr tödliches Gift in jedes Gliedmaß zu schlagen, das ihr zu nahe kam. Er selbst war nervös aufgesprungen und hatte, ungelenkig wie er war, die mit Seilen am Rücken ihres Lasttieres befestigte Kiste mit ihren Instrumenten aus ihrer Halterung gelöst, bevor ein gut gezielter Pfeil des Elfen den kurzen Auftritt der Giftschlange beendete. Die Kratzer an seiner Hand, als er versucht hatte, die Kiste vor dem Fall zu schützen, waren genau so in seiner Erinnerung geblieben wie das Jammern Myraidas, die Blut und Wasser schwitzte, bis endlich Jeldarik Entwarnung gab und ihr signalisierte, dass ihre beiden Fideln heil geblieben waren.
Er strich über die blasse Stelle am Handrücken, die, seit jener Zeit der Pigmentierung beraubt, ihn stets an das Schlamassel und das puterrote Gesicht der gelockten Schönheit erinnerte. Als Tochter eines Instrumentenbauers war Myraida eine Meisterin ihres Faches. Gleichwohl überzeugte sie auch mit einer klaren Gesangsstimme, und sie verdrehte mit betörenden Tanzeinlagen regelmäßig die Köpfe vor allem männlicher Zuschauer. Myraida war Derufin schnell ans Herz gewachsen. Ihre Eltern waren unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Vielleicht war das der Grund für die morastigen Abgründe der erwachsenen Wirklichkeit, durch die sie sich schon in jungen Jahren alleine geschlagen hatte. Myraida hatte schnell gelernt, die Kunst des Lebens – oder besser, des Überlebens – zu meistern.
Derufin hatte schon viele Nachtwachen gehalten, und nur in den wenigsten war er eingeschlafen. Doch er erinnerte sich an jede einzelne, mochte sie noch so öde und langweilig gewesen sein. Das Schlimmste an ihnen war die stetige Plage an Insekten und Parasiten, die das Blut des Wanderers als Delikatesse ansahen und überall auf der Haut des armen Tropfs, der sich ihnen ausgeliefert hatte, eitrige Pusteln und Furunkel zurückließen.
Wie so oft verlief auch diese Nacht ereignislos. Bis auf gelegentlich vorbeischleichende Waldtiere auf der Suche nach fetter Beute rührte sich nichts.
In der Stille der Nacht waren menschliche Stimmen besonders weit zu hören. Umso mehr erstaunte es Derufin, dass sein geschultes Gehör die leisen Geräusche erst wahrnahm, als er bereits das Flackern einer Fackel in der Dunkelheit erahnte. Es war nicht zu verstehen, was gesprochen wurde, doch handelte es sich zweifellos um das Stimmengewirr einer größeren Personengruppe.
Alle Müdigkeit fiel von ihm ab, als der Instinkt des ehemaligen Diebes sein Handeln übernahm. Jahrelang hatte er sich in der Großstadt durch kleine Gaunereien am Leben gehalten. Er war sogar der dort ansässigen Diebesgilde beigetreten. Über die Jahre war ein passabler Taschendieb und Falschspieler aus ihm geworden. In seiner Zeit als Söldner kamen ihm gewisse Spielertricks gerade recht, sie hatten sein Geldsäckchen immer prall gefüllt.
Lautlos erhob er sich. Er musste nicht weit, da die Stimmen sich ihm näherten. In geduckter Haltung, verschmolzen mit der Dunkelheit und den Schatten des Waldes, näherte er sich einem dichten Gestrüpp mit einer eigenartig aussehenden, ihm völlig unbekannten Beerenart. Er hatte sorgsam darauf geachtet, wurzelige Stolperfallen zu umgehen. Hinter dem Gestrüpp ging er in Deckung. Es würde ihn vor unliebsamen Blicken schützen.
Vier ärmlich gekleidete Gestalten gerieten in sein Blickfeld. Sie trugen verschiedene Werkzeuge bei sich und einer von ihnen leuchtete mit der mitgeführten Fackel den Waldboden aus. Offensichtlich suchten sie nach Spuren.
Der Fackelträger, ein stiernackiger Mann, trug ein einfaches graues, ausgewaschenes Wams aus grobem Leinen und wollene Hosen. In der freien Hand schleppte er einen furchteinflößenden Schmiedehammer mit sich. Die anderen Männer waren ähnlich gekleidet. Ein Mann mit Bartstoppeln und einem hässlichen Feuermal an der Wange stützte sich auf eine mitgebrachte Mistgabel, die anderen trugen geschliffene Messer, die in einem Strick um den Bauch steckten. Einer trug zusätzlich ein Beil bei sich, mit dem er wohl sonst das Holz vor seiner Hütte in Scheite und kleine Spreißel hackte.
Wonach sie auch suchen mochten, sie würden schnell und schmerzlos den Weg ins Jenseits finden, sollten sie für die Spielleute zur Gefahr werden.
Derufin kauerte sich hinter das dichte Buschwerk und machte sich so klein wie möglich. Jahrzehntelang antrainierte Reflexe und Konditionierung übernahmen sein Handeln. Muskeln verhärteten sich, Sehnen spannten sich. Automatisiert hoben sich seine Fersen vom Waldboden. In nur wenigen Sekunden hatte sein Verstand die Situation gemeistert und diverse im Gedächtnis gespeicherte Muster verglichen. Er war bereit.
Derufin war nicht auf sich gestellt. Er wusste, dass just in diesem Moment eine Pfeilspitze auf den Hals eines der Männer gerichtet war, und vermutete Beregrend, dessen Sinne um ein Vielfaches schärfer waren als seine eigenen, auf einem Ast über oder neben sich. Sie verstanden sich blind und er hätte ihm jederzeit sein Leben anvertraut.
Die nächsten Sekunden der nahen Zukunft spulten sich vor seinem inneren Auge ab.
Er tastete nach dem obersten der Wurfmesser, die an einem Gurt an seiner Brust befestigt waren. Mit geübtem Griff schlossen sich die Finger um die längliche, spitze Klinge. Zwischen Daumen und Zeigefinger balancierte er das glänzende Metall, um es in einer einzigen fließenden Bewegung treffsicher zu entsenden.
Dreimal rotierte das Wurfmesser um seine Achse, ehe das Wurfgeschoss, den Brustkorb des Fackelträgers durchstieß und das Herz zum Stillstand brachte. Er sah den großen Fleck deutlich vor sich, der das Wams des Mannes um die Eintrittsstelle des Eisens rot färbte – hörte beinahe den dumpfen Aufschlag, mit dem der Mann zu Boden fiel, und das klirrende Geräusch, als dessen Schmiedehammer hart auf einen Stein prallte.
Ein Pfeil bohrte sich in den Hals des zweiten Mannes, der etwas abseits, müde und abwartend auf seine Mistgabel gestützt, unter einer hohen Fichte stand. Ein Schwall dunklen Blutes besudelte seine Kleidung. Würgend stürzte der Mann zu Boden. Sein Leib nur noch wenige Sekunden zitternd, bevor die letzten Impulse des Gehirns verstummten und die Leiche still am Waldboden liegen blieb.
Auch die beiden verbleibenden Männer hatten keine Chance. Aus den Schatten auftauchend, sah Derufin Beregrend, den Bogen achtlos wegwerfend, plötzlich direkt vor sich. Die breite Klinge seines Wolfsmessers blitzte im Mondlicht. Zwei schnelle Schritte reichten aus. Der Elf täuschte einen Angriff auf den Brustkorb des dritten Mannes an, tauchte unter den zur Abwehr erhobenen Händen hindurch und beendete seine Attacke mit einem schnellen Stoß in die Eingeweide. Tief rammte er die Waffe in den Wanst des Mannes. Ein Schnitt nach links und schon quollen die Innereien aus dem Bauchraum, gerade so, als hätte der Elf ein Tier erlegt und fachmännisch ausgeweidet.
Der Schrei des Mannes hallte schon in Derufins Kopf, als er sich dem letzten der Kerle zuwandte. Die kurze doppelschneidige Kampfaxt flog in seine Hand. Zwei Sekunden später lag der Unterarm des Gegners im Blättermatsch des Waldes. Die Finger der abgetrennten Hand umklammerten noch immer das Messer, das er gezogen und ungeschickt in der Hand gehalten hatte. Der Mann starrte ungläubig auf den Stumpf, aus dem nur wenig Blut quoll. Ein finaler Streich der Axt und ein röchelnd zu Boden gehender Bauer beendeten das Kampfgeschehen. Unschuldiges Blut versickerte im Waldboden.
Derufin sah den Ablauf deutlich vor sich. Unzählige Male hatten sich Kämpfe in ähnlicher Form abgespielt.
Doch so weit kam es nicht. Noch war völlig unklar, ob die Männer für sie eine Bedrohung darstellten.
Derufin verharrte in seiner Kampfposition und lauschte in die Dunkelheit. Er ignorierte das wilde Rauschen des Blutes in den Ohren und verbannte die Bilder des Kampfgeschehens aus seinem Bewusstsein.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte der Bärtige lustlos. »Wir sind müde und haben keine Lust mehr, noch weiterzusuchen. Das dumme Luder von Magd ist bestimmt beim Wäsche waschen im Bach ertrunken.«
»Rede nicht so von meiner Hannah. Sie mag eine törichte Gans sein, doch ich sage dir, etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Zu viele sind in den letzten Monaten verschwunden«, entgegnete der hünenhafte Mann mit dem Schmiedehammer.
»Aberglaube ist auch ein Glaube«, sagte der Bärtige undeutlich und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Selbst wenn ein Untier im Wald sein Unwesen treibt, hätten wir jetzt in der Dunkelheit nur wenig dagegen auszurichten. Ich habe dich bis hierher unterstützt, Osgard, aber seit Stunden laufen wir unverrichteter Dinge durch diesen verlausten Wald und haben noch keine einzige Spur von deiner Hannah gefunden.« Der Bärtige hatte leise gesprochen. »Ich möchte nach Hause«, fügte er genervt hinzu.
»Dann geh doch!«, rief der Schmied und blinzelte eine Träne aus den Augen. »Arme kleine Hannah, sie war doch noch so jung.«
»Und du hattest wohl ein Auge auf sie geworfen, was?«, mischte sich einer der anderen Männer ein.
»Lass es gut sein, Osgard«, sagte der Bauer mit der Mistgabel, gab seine abwartende Haltung auf und drosch dem weinerlichen Schmied auf die Schulter. Langsam führte er ihn den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.
Die anderen Männer schlossen sich den beiden an und bald verschwand der Lichtkegel der schon weit heruntergebrannten Fackel hinter den Baumkronen.
Derufin wartete noch einige Minuten und kehrte dann an seinen früheren Wachplatz zurück. Die kleine Kuhle an der Buche, die sein Hinterteil geformt hatte, war noch warm und lud erneut zum Verweilen ein.
Sehr interessant, fand er. Anscheinend gab es im nahegelegenen Weiler ein Problem. Sie würden es morgen noch früh genug herausfinden. Der Bauer mit der Mistgabel hatte zudem recht. In der Finsternis der Nacht war es schier unmöglich, Spuren einer verschwundenen Magd ausfindig zu machen.
Derufin fand zurück zu seiner inneren Ruhe und setzte die Tätigkeit fort, die er vorher, abgelenkt durch den kurzen Regenguss und seinen nächtlichen Ausflug, ausgeübt hatte.
Er nahm den Kohlestift und das aufgefaltete Pergament wieder auf, das er zuvor achtlos ins Gras hatte fallen lassen, und fuhr erneut die dünnen Linien nach, die er bisher gezeichnet hatte. Der Kohlestift gab leise kratzende Geräusche von sich, als er sich bedächtig über das Pergament bewegte. Langsam näherte er sich dem gewünschten Ergebnis. Die Zeichnung ähnelte schon fast dem groben Entwurf seiner Gedanken, mit dem er die Kohlestriche stets verglich. Tagelang hatte er darüber nachgedacht und kleine Details verworfen, andere hinzugefügt, bis er schließlich den Mut gefunden hatte, seine Erfindung für die Ewigkeit festzuhalten. Endlich fertig.
Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Um die filigraneren Teile herzustellen, war meisterhafte Schmiede- und Handwerkskunst notwendig. Die Zeichnung hatte entfernte Ähnlichkeit mit einer Vorrichtung, die er bei einem fahrenden Medikus gesehen hatte. Der Quacksalber hatte damit krumme Beine begradigt. Zwei rechteckige Platten, ein Scharnier und ein paar metallene Stangen, fertig war seine Erfindung. Einige Lederbänder sorgten zusätzlich für ausreichende Beweglichkeit. Die Überlegung, statt der Lederriemen Nägel zu verwenden, hatte er schnell verworfen. Zu starr wären die einzelnen Elemente gewesen und wahrscheinlich hätte es bei längerem Gebrauch schnell zu Bruchstellen geführt oder unliebsame Nebengeräusche verursacht.
Er betrachtete kurz sein Werk und fügte an der mittleren, drehbaren Stange einige Striche und Kreise hinzu. Ein Schlägel mit einem Kopf aus Fell oder Filz, der sich durch den Mechanismus auf und ab bewegen ließ.
Eine neue Möglichkeit der Spielweise für einen Musikanten wie ihn. Derufin hoffte darauf, die größte seiner Trommeln auf ganz eigene Art erklingen zu lassen.
Anhand der Zeichnung konnte jemand Fachfremdes durchaus die Funktionsweise erahnen. Jetzt musste er nur noch jenen Handwerksburschen finden, mit dessen Geschick und meisterlichem Können die vielen Einzelteile zum Leben erweckt werden konnten. Derufin strich noch einmal liebevoll mit den Fingern über das raue Pergament. Schließlich legte er es zu einigen anderen auf den Boden, welche ähnliche Abbildungen von Gerätschaften in unterschiedlichster Form und Größe zeigten. Vorsichtig rollte er alle Pergamente zusammen und verstaute sie gemeinsam mit dem Kohlestift in einem mit feinen Schnitzereien verzierten Holzkästchen.
Seine rechte Hand klatschte an die Stelle neben seinem Ellenbogen. Das leichte Ziehen im Arm verschwand, als er eine klebrige, breiige Masse zwischen den Fingern spürte. Angewidert wischte er die Überreste der Stechmücke ins Gras. An viele Entbehrungen, die das Leben als reisender Musikant mitbrachte, hatte er sich im Laufe der Zeit gewohnt. Juckenden Hautstellen und den dazugehörigen Beulen konnte er aber beim besten Willen nach wie vor nichts, aber auch gar nichts, abgewinnen. Er widerstand dem Drang, sich zu kratzen, und sah kurz hinüber zu dem aufgetürmten Stapel Kisten und Fässer unter einer alten Eiche, der sich gebildet hatte, als er seinen Gefährten dabei geholfen hatte, das junge Pony, welches als Packesel für sie alle diente, von der Last zu befreien. Irgendwo in einer der Kisten bewahrte Myraida eine Tinktur auf, die gegen lästige Insektenviecher Wirkung zeigte.
Möglichst leise ging er hinüber und durchwühlte den Stapel mit ihrer Ausrüstung. Zunächst musste er seine eigenen Instrumente beiseiteschieben: Drei Trommeln aus bestem Ahornholz in unterschiedlicher Größe, schwarz-grün lackiert mit glänzenden Farben, wie sie sonst nur bei den Holzschilden edler Ritter Verwendung fanden. Die Trommelkessel passten ineinander, sodass sie insgesamt nur wenig Platz in Anspruch nahmen. Schade war nur, dass er die aufwendige Bespannung mit abgeschabten Reh- und Wildschweinfellen jedes Mal erneuern musste, wollte er mit Schlagwerkzeugen aller Art den Trommeln mystische, dunkle Töne entlocken. Das Bespannen war eine elendige Schinderei, doch der besondere Klang, nicht verstimmter oder eingerissener Felle entschädigte ihn meist recht schnell für die Plackerei.
Auf dem Stapel fanden sich auch die Instrumente seiner Kumpane. Er musste nur kurz danach suchen und erblickte die große Holzkiste, in der Myraida, in ein Tuch eingeschlagen, ihre beiden Fideln aufbewahrte. Die Lauten und Saiteninstrumente, die sein Gefährte Jeldarik meisterlich zu spielen pflegte, lagen ordentlich verstaut daneben.
Nur Beregrends Instrument konnte er nicht unter der alten Eiche entdecken. Bestimmt trug der Elf die tiefklingende Hornflöte wie immer direkt am Körper. Zudem verfügte das elfische Volk von Natur aus über eine wundersam melodische Gesangsstimme, die hervorragend mit der lieblichen Tonlage Myraidas harmonierte.
Derufins Blick schweifte über die Waldlichtung, auf der er und seine Gefährten das nächtliche Lager aufgeschlagen hatten. Wo hatte der Elf sich nur wieder versteckt?
Er konnte Jeldarik und Myraida schlafend und eng beieinander in ihre Decken gewickelt, in der Dunkelheit ausmachen. Er erwischte sich dabei, dass er Jeldarik beneidete. Nur zu gerne wäre er zu Myraida unter die Decken geschlüpft und hätte sein Gesicht in den kupferfarbenen Locken vergraben. Wie so oft fragte er sich, worin seine Schwierigkeiten mit dem weiblichen Geschlecht begründet waren. Es war nicht so, dass er sich über mangelnden weiblichen Zuspruch beklagte. Recht häufig machten ihm Frauen schöne Augen, doch aus irgendeinem Grund wurde meist nicht mehr daraus.
Oft hatte er den Eindruck, dass Frauen ihre Reize dazu nutzten, um sich Vorteile zu verschaffen. Sie heuchelten Interesse, um ihr eigenes Bedürfnis nach Anerkennung zu befriedigen, oder nutzten die Eifersucht aktueller oder ehemaliger Partner, um sich selbst besser und überlegener zu fühlen. Ein nicht ganz faires und manchmal auch gefährliches Spiel, wie er meinte. Jedenfalls war er es meistens, der dabei verlor. Er hatte gelernt, die Einsätze möglichst gering zu halten, aber nervig war es trotzdem.
Die Atmung der beiden Schlafenden war gleichmäßig, zeugte von tiefem Schlaf. Es war ihnen nicht zu verdenken, schließlich war der vergangene Reisetag anstrengend gewesen. Über zwei Stunden lang hatten sie sich, abseits der Wege, durch dichtes Unterholz und meterhohes Gestrüpp gekämpft. Wären sie das Dickicht umgangen, hätten sie nicht nur an Zeit, sondern auch den Bachlauf aus den Augen verloren, den Lieferanten für das überlebenswichtige, immer frische, lebensspendende Nass. Außerdem hatten sie beschlossen, beim ersten Morgengrauen erneut aufzubrechen. Der nahegelegene Weiler mit Namen Laaberau war eine Zwischenstation auf ihrer Reise, die sie spätestens am nächsten Abend erreichen wollten. Vor einigen Tagen waren sie einem vorbeiziehenden Kaufmann begegnet. Dieser hatte regelrecht geschwärmt von der Gastfreundlichkeit der Schenke zu Laaberau.
Derufin lächelte. Der Gedanke, dass er mit ein wenig Glück schon morgen zumindest eine Nacht lang in einem richtigen Bett schlafen konnte, bereitete ihm ein gutes Gefühl. Sich in weichen Federn zur Ruhe zu begeben und der ausbleibende, allmorgendliche Protest seiner Wirbelsäule nach dem Aufstehen, machte die Aussicht auf die obligatorischen Bisse und Stiche von Wanzen, Läusen und anderem unappetitlichen Getier mehr als wett. Auch die wohlige Wärme einer Feuerstelle oder eine richtige heiße Mahlzeit, ein guter Gemüseeintopf, vielleicht mit einer kleinen Einlage aus Rindfleisch, Innereien oder Geflügel, stellte eine willkommene Abwechslung zur kargen Kost der Wildnis dar.
Auf ein nächtliches Lagerfeuer hatten sie wohlweislich verzichtet und davor auch nur ein spärliches, lauwarmes Mahl eingenommen. Man wusste nie, wen oder was Rauch und Brandgeruch so alles anlockten.
Endlich fand er, wonach er suchte. Er entkorkte die kleine Phiole und zuckte zusammen, als ihm ein vertrauter muffiger Geruch entgegenschlug. Er streckte die Hände weit von sich und träufelte ein paar Tropfen der bräunlichen Flüssigkeit in seine Hand, die er großzügig auf Händen und Armen verteilte. Das Wundermittel des kleinen Rotschopfs half bestimmt. Er selbst hatte tiefstes Verständnis für die Insekten. Bei dem Gestank, den er nun verbreitete, hätte er um sich selbst auch einen weiten Bogen gemacht.
Myraida bewegte sich unruhig im Schlaf. Derufin konnte ihre blasse Hand erkennen, die unter den Decken hervorlugte und sich näher an die Hand des Ritters heranwagte, bis beider Fingerspitzen sich zart berührten.
Vom hochgewachsenen Elfen aber fehlte nach wie vor jede Spur. Die Elfen verstanden sich darauf, mit dem Wald zu verschmelzen, nicht zuletzt deswegen galten sie als hervorragende Jäger und wahre Zauberkünstler im Umgang mit Pfeil und Bogen. Ihre magischen Fähigkeiten wurden ihnen jedoch häufig angedichtet. Nur wenige Elfen verfügten über die besondere Gabe, die Elemente des Lebens zu ihren Zwecken zu beeinflussen.
Derufin gab es auf, nach Beregrend zu suchen, und kehrte zu seinem alten Sitzplatz an der Buche zurück. Er lehnte sich an den Stamm, der den anhaltenden Rückenschmerzen Linderung versprach. Die Borke fühlte sich warm an, als hätte der Baum das Licht des Tages gespeichert, um es jetzt in der kühlen Nacht wieder abzugeben.
Er dachte zurück an das letzte Konzert, das er mit seinen Freunden gegeben hatte. Wie groß die Bevölkerung eines kleinen Weilers doch sein konnte. Die windschiefe Scheune, in der sie aufgetreten waren, hatte die Menschen gar nicht alle fassen können. An die achtzig Zuhörer, hatten in der nächtlichen Kälte zitternd ihren Beifall bekundet und mit offenen Mündern bis zum letzten verklungenen Ton ausgeharrt. Frauen und Männer, Kinder und Alte, alle hatten sie den wundersamen und fremdartigen Klängen gelauscht.
Viele Jahre traten die vier jetzt gemeinsam auf, zogen durch das Land auf der ruhelosen Suche nach einem besseren Leben. Der große Traum hatte sich bislang nicht erfüllt. Noch nie hatten sie vor einem Edlen gespielt, nie die Halle eines Adligen oder gar Königs gefüllt.
Derufin gähnte. Er hoffte darauf, dass Jeldarik ihn um Mitternacht von seiner nächtlichen Wache erlösen würde. Schon mehrmals hatte der verarmte Ritter verschlafen und Derufin hatte nicht gewagt, den tiefen, erholsamen Schlummer zu stören, den sie alle hin und wieder bitternötig hatten. Wenige Stunden Tiefschlaf und ein wenig dösen reichten ihm. Er hatte gelernt, genügsam zu sein.
Ein Schatten schälte sich aus der Nacht.
»Wachablösung«, murmelte Jeldarik und wischte sich den Schlaf aus den müden Augen.
»Na endlich. Schlaf mir bloß nicht ein, mein Freund. Ich verspüre keine Lust, mich heute Nacht entführen zu lassen.« Derufin grinste und räumte für den stets gerüsteten Kriegsknecht den Platz. »Insektenabwehrmittel. Fang, das kannst du bestimmt brauchen.«
Er warf dem Ritter die Phiole zu, der sie geschickt auffing und die Nase rümpfte.
»Irgendetwas von Interesse?«, fragte Jeldarik, als er sich an der gleichen Stelle an der Buche niederließ.
Derufin schüttelte den Kopf und zog nichtssagend die Schultern hoch. »Nichts, was nicht bis morgen früh Zeit hätte. Du weißt ja, wie diese verdammten Nachtwachen sind.« Der Dieb grinste. »Langweilig«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu und verschwand in der Dunkelheit.
Der Schlafplatz war noch warm, als er zu Myraida unter die Decken kroch. Er entlockte ihr ein kurzes Stöhnen, als er sich an ihren verlängerten Rücken drückte. Er wickelte eine der kupferroten Locken um seinen Finger und schlief sofort ein.
Beregrend hatte die Gruppe der Bauern noch eine Zeit lang begleitet, um sich zu überzeugen, dass diese die Suche nach dem entlaufenen Bauernmädchen tatsächlich aufgegeben hatten. Lautlos war er ihnen gefolgt, bis sie den Rand des Wäldchens erreicht hatten. Erst dann war er beruhigt zu seinem Ruheplatz, in die Astgabel einer Eiche zurückgekehrt. Majestätisch überragte der alte Baum mühelos jegliche Konkurrenz in der näheren Umgebung. Seine erhöhte Position ermöglichte ihm einen Rundumblick über die Lichtung, die ihnen als Nachtlager diente. Beregrend lehnte seinen Rücken an die raue Rinde und fühlte zum wiederholten Male die altehrwürdige Weisheit und Reinheit der Natur, als er, wie es Sitte der Elfen war, mit dem Baum eine alles umfassende Symbiose einging. Er fühlte die innere Kraft der Jahrhunderte alten, weißen Stieleiche, als sich weißgraue Borke und Bast von der Schulter an abwärts bis zur Hüfte um den schmalen Elfenrücken schloss. Eine Vereinigung in uralter Tradition.
Wie so oft überkam ihn ein kurzes Schwindelgefühl, als der Baum seine Lebensweisheiten an ihn übermittelte. Flimmernde Bilder erschienen vor seinem Geist, tauchten die Farben der Wirklichkeit in grauen Nebel, als sie beide im Einklang des Bewusstseins Nährstoffe tauschten. Die verbrauchten Kräfte des vergangenen Tages kehrten zurück, als Beregrend den reinen Sauerstoff genoss, der, von der Eiche in natürlichster Weise produziert, seine Lungen füllte. Das lebensnotwendige Element versorgte seinen Körper bestmöglich. Erneuerte verbrauchte Zellen und brachte sein Blut in Wallung.
Er bewunderte die unerschöpfliche Kraft des Baumes. Unaufhörlich pumpte die Eiche Wasser durch die feinen Kapillaren des Splintholzes. Gewonnen aus dem Grundwasser, versorgte die riesenhafte Pfahlwurzel auch die letzten Äste und Zweige der wunderbaren Baumkrone mit dem köstlichen Nass. Beregrend nahm ein wenig Feuchtigkeit auf und versorgte seinen Körper mit ausreichend Nährstoffen und lebenswichtigen Mineralien. Erholt und gestärkt versenkte er sich gänzlich in die magische Welt des Baumes.
Beregrend ließ seinen Gedanken freien Lauf und entdeckte die Vielfalt an Lebewesen, welche Stamm und Äste der Eiche bewohnten. In ähnlicher Weise wie er selbst verbrachten sie ihr Leben in symbiotischer Einheit. Ein Honigpilz breitete sich großflächig in den untersten Regionen des Stammes aus und tauschte Assimilate mit der Eiche. Silbergrauer Zunderschwamm leistete ihm, etwas höher gelegen an den tiefen Längsfurchen haftend, Gesellschaft. Echter Mehltau bestäubte die ledrigen Blätter der Krone. An den Ästen tummelten sich unzählige grüne Raupen, aus denen sich schon bald schillernde Zitronenfalter und Kohlweißlinge entwickeln würden. Braune Ameisen trugen, unablässig einer unsichtbaren Straße folgend, Blätterteile und Rindenreste in ihren Bau. Ein Glanzkäfer suchte nach einer passenden Gelegenheit zur Paarung, Borkenkäfer fraßen sich durch Bast und Kambium und ein Eichenwickler starb eines natürlichen Todes, zersetzt vom Speichelsekret der Kreuzspinne, in dessen Netz er sich verfangen hatte.
Beregrend hatte die Augen geschlossen. Sein mit dem Baum verschmolzener Körper hatte den Trampelpfad der Ameisen unterbrochen, doch sie setzten ihren Weg ungehindert fort und krabbelten zu Hunderten über Arme und Brust.
Nun ließ auch er die alte Eiche an seinem Leben teilhaben. Er übermittelte Bilder von grauen, schneebedeckten Berggipfeln, das Rauschen wogender Wellen eines Ozeans, den er selbst ein einziges Mal befahren hatte, und Eindrücke von stinkenden, engen und verwinkelten Gassen aus den behauenen Städten der Menschen. Im Gegenzug erzählte ihm der Baum Geschichten längst vergangener Tage, wachte über ihn und seine Gefährten und half ihm, hinüberzugleiten in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Der Elf wusste, dass er bei der leisesten Gefahr geweckt werden würde.
Er erwachte am frühen Morgen und begrüßte die ersten, zaghaften Sonnenstrahlen, indem er ihnen die Wangen seines Gesichts zuwandte. Nicht ohne sich zuvor zu verabschieden, schälte er sich aus der Umklammerung des Baumes.
Beregrend ordnete Haare und Kleider. Leichtfüßig verließ er seine Ruhestätte und schwang sich hinab, um sich der wichtigsten Tätigkeit des frühen Morgens zu widmen: Er fütterte das Pony mit einer Karotte, von denen er einige nur zu diesem Zweck mit sich führte. Freundschaftlich tätschelte er den Hals des kleinwüchsigen Pferdes und begann danach, geräuschvoll die Last ihrer Wasser- und Proviantvorräte auf dessen Rücken zu verteilen. Mit Seilen und Stricken zurrte er Kisten mit Instrumenten, Fässer und Trommeln fest, achtete dabei aber peinlich genau darauf, dass keines der Hanfseile ins Fell schnitt oder die Bewegungsfreiheit des Tieres zu stark einschränkte.
»Na, kann ich das ein bisschen besser als der stümperhafte Söldner?« Beregrend zog den Kopf des Ponys heran und flüsterte ihm die Frage ins Ohr. Ein leises Wiehern war ihm Antwort genug.
»Hast es dem alten Klepper mal wieder gut gemeint, was?«, fragte Jeldarik.
Beregrend setzte die Tätigkeit fort, während er dem Ritter antwortete, der sein geschäftiges Treiben von seinem Platz an der Buche aus verfolgte, aber allen Anschein nach keine große Lust verspürte, selbst mit Hand anzulegen. Der Umgang mit Vierbeinern zählte nicht zu seinen Stärken. »Vor allem wollte ich möglichst schnell aufbrechen. Wir sollten den nächsten Weiler heute Abend noch vor Einbruch der Dämmerung erreichen.«
»Oh ja. Ich freue mich auch schon auf ein richtiges Bett.« Jeldarik streckte sich und gähnte. »Ich dachte, ich könnte mich irgendwann an diese Nächte in freier Wildbahn gewöhnen, aber meine Knochen sind noch immer kalt und steif. Außerdem schrumpfe ich. Es ist bestimmt Mittag, bis ich meine volle Größe wieder erreicht hab.«
»Ich ziehe die freie Natur einer kalten und dunklen menschlichen Behausung bei Weitem vor, wie Du zweifelsohne weißt.« Beregrend befestigte das letzte Teil am Rücken des Ponys und griff nach den Rucksäcken, die am Boden lagen.
»Hey, pass auf!«
Eine der Kisten hatte sich gelöst. Mit lautem Scheppern fiel sie zu Boden. Verschiedenste Musikinstrumente verteilten sich im Wald.
»Verdammt«, sagte Jeldarik und zeigte auf eines der Hanfseile, das gerissen und jetzt unbrauchbar war.
»Ausgerechnet das Zeug von Derufin. Der kriegt sicher wieder einen Anfall«, sagte Beregrend.
Der Elf bückte sich und sammelte die herumliegenden Gegenstände auf. Er griff nach einem großen, dreieckigen Tuch, von dem er wusste, dass der ehemalige Dieb darauf ein ganz besonderes Augenmerk richtete. Darin eingeschlagen bewahrte er eine kleine, mit Hirschfell bespannte Trommel auf, an deren Unterseite mit Schnüren rasselnde Metallspiralen angebracht waren. Sie erzeugten einen lang anhaltenden schnarrenden Ton. Es war Derufins ganzer Stolz. Lustlos warf er das Instrument zurück in die Kiste.
»Weck die anderen. Wir wollen endlich los«, fügte er trocken hinzu.
»Nicht nötig.« Derufin stand plötzlich, Myraida an seiner Seite bei ihnen. »Bei dem Radau, den du veranstaltest, wird doch sogar das letzte Murmeltier wach.« Sein Haar war noch zerzaust, doch er grinste bereits breit in frühmorgendlichem Tatendrang.
»Mein lieber Herr Elf«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Anfall?«, fügte er hinzu. »Den Gefallen tu ich dir nicht. Ich möchte nur mal wissen, wie du denken würdest, wenn ich deine Flöte in den Dreck werfe.«
»Ist ja gut.« Beregrend sammelte einige Glocken, Schellen und Holzblöcke auf und legte sie etwas vorsichtiger zurück in die Kiste. Die Töne, die der Dieb daraus mit Händen und Holzstöcken zauberte, gefielen ihm eigentlich ganz gut. Ohne den beständigen Rhythmus, den Derufin im Blut hatte, war ihre Musik nur halb so viel wert. Vor allem der gleichbleibende Takt brachte ihre Zuhörer dazu, sich zu bewegen und zu tanzen.
Wohlwollend nahm er zur Kenntnis, dass sich Derufin um den Rest persönlich kümmerte. Wahrscheinlich waren die beiden runden kupferfarbenen Scheiben besonders empfindlich, denn er beobachtete, wie der ehemalige Dieb sie fast liebevoll zurück in die Kiste steckte.
Die eine war groß und schwer mit einer breiten, erhabenen Kuppe in der Mitte, die andere gänzlich flach und etwas kleiner. Sie ruhten in einer extra angefertigten Leinentasche, damit das empfindliche Metall nicht verkratzte oder sich gar Grünspan auf der in mühevoller Handarbeit gefertigten Oberseite zeigte.
Derufin hatte sich diese vibrierenden Bronzeteller bei einem Waffenschmied anfertigen lassen. Die einzelnen Hammerschläge auf dem Metall waren deutlich zu sehen. Er zauberte damit Klänge, die weder er noch einer seiner Gefährten jemals zuvor gehört hatten: explosionsartige, schrille, hohe Töne mit langem Nachhall, nahezu perfekt, um Akzente in der Musik zu setzen und um sich richtig Gehör zu verschaffen.
Gemeinsam verschlossen sie die Kiste und verstauten sie erneut auf dem Rücken des Ponys, sorgsam darauf bedacht, dass die drei empfindlichen Fahnentücher, die eingerollt noch immer befestigt waren, nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nichts wäre schlimmer gewesen, als ein Riss in den Tüchern, deren Ecken mit Nieten versehen waren, um sie zu einer Größe zusammenzubinden, die dem Segel eines Kauffahrers in nichts nachstand.
Die schwarzen Fahnen zierte der Name ihrer musikalischen Gruppe und sie zu entrollen, gehörte jedes Mal zum großen Finale ihres Auftritts.
Beregrend kraulte das Lasttier am Kopf, das ihn fragend anblickte.
»Keine Sorge. Das war nicht deine Schuld.«
Er schulterte seinen Rucksack und reichte einen anderen an Derufin weiter.
Jeldarik hatte seinen schon vom Stapel stibitzt. »Tja. Unsere Habe hätten wir jetzt verstaut. Machen wir, dass wir wegkommen.« Der große Mann grinste.
»Ein weiches Bett wartet«, fügte Myraida hinzu. »Ich weiß doch genau, wie du dich danach sehnst. Glaub aber nur nicht, dass ich dich nach deinen Eskapaden noch zu mir unter die Decke lasse.«
Beregrend kannte den Kriegsveteranen lange genug, um zu wissen, dass im nahen Weiler keine der jungen Mägde vor ihm sicher war.
»Tja, dann werde ich wohl ein kleines Weilchen ohne dich auskommen müssen.« Jeldarik zwinkerte Myraida zu, was diese nur mit einem verächtlichen Hüsteln quittierte.
»Jetzt lasst doch mal dieses Gebell am frühen Morgen. Wie kann man nur morgens schon so schlecht gelaunt sein?«, sagte Beregrend. Der Elf kannte Myraidas Stimmungsschwankungen, die sich an so manchen Tagen zeigten. Eine Eigenschaft, die er, im Gegensatz zu seinen beiden menschlichen Gefährten nicht an ihr schätzte. Myraidas aufbrausendes Temperament war ihm einfach zu anstrengend, obwohl es offensichtlich war, dass sich seine drei Gefährten spielerisch den ständigen Neckereien hingaben. Er war wohl der Einzige, der dem Charme der rotgelockten Lebenskünstlerin noch nicht erlegen war.
»Lasst uns aufbrechen. Mal sehen, ob einer von uns heute verloren geht«, sagte Derufin und zwinkerte Beregrend zu. Er griff nach dem letzten verbleibenden Rucksack und reichte ihn galant an Myraida weiter.
»Siehst du Jeldarik, dein Kumpel hier hat wenigstens einen Funken Anstand, wenn auch viel zu selten.« Myraida lachte.
»Was hat er denn damit gemeint?«, wandte sich Jeldarik an den Elfen und zeigte auf den ehemaligen Dieb.
Beregrend führte das Pony bereits weiter in den Wald hinein, als er dem Ritter eine Antwort gab.
»Lass es uns herausfinden. Ich bin schon sehr gespannt, ob die nächtlichen Geschehnisse unseren eigenen Zwecken dienlich sind.«
Kaffeeduft war es, der Leopold den Kopf heben ließ. Er sah vom Folianten auf, der aufgeschlagen auf seinen Knien ruhte, und schnupperte erwartungsvoll in Richtung Küche. Die nachmittägliche Kaffeezeit war doch die angenehmste Tageszeit, wie er fand. Als genügsamer Mensch war er bereit, auf allerlei Schnickschnack zu verzichten, doch diese Extravaganz wollte er nicht ablegen. Der unverwechselbare, leicht muffige Duft des herben Getränks, das er stets schwarz zu sich nahm, wurde stärker. Nicht mehr lange und Meáv, die junge Tochter der Haushälterin, würde das dunkle Gebräu auf einem silbernen Tablett servieren.
Er dachte kurz an die endlosen Diskussionen mit Maireàd, der Haushälterin, die die Ansicht vertrat, man könne alle Getränke im selben Trinkgefäß in gleicher Weise genießen. Dabei wurde der Geschmack sowohl von Wasser und Wein als auch natürlich von Kaffee sehr wohl, und zwar in erheblicher Weise, vom Material beeinflusst, aus dem getrunken wurde. Er hatte darauf bestanden, den erlesenen Geschmack am Nachmittag aus einem hellen, durchsichtigen Glas mit Henkel zu sich zu nehmen.
Eôghán hatte ihn verflucht. Tagelang war er auf der Suche nach einem derartigen Gefäß. Bei einem Händler hatte er einen horrenden Preis für ein solch edles Glas ohne milchige Einschlüsse, wie sie sonst üblich waren, bezahlt. Es war ihm deutlich anzusehen, wie stolz er auf seine Leistung war, als er das Glas schlussendlich an ihn überreicht hatte.
Wie Leopold später einmal erfahren hatte, war Maireàd nicht zimperlich mit ihrem Mann umgesprungen und hatte ihm die kalte Schulter gezeigt, als er am Abend zu ihr unter die Decken gekrochen war. Kein Wunder. Leopold wusste, dass es die Haushälterin nicht schätzte, wenn die anfallende Arbeit des Alltags alleine an ihr hängen blieb, während sich Eôghán, in ihren Augen belustigender Weise, auf den Märkten herumgetrieben hatte.
Ein lautes Quietschen kündigte die Tochter des Haushaltspaares an. Leopold fertigte eine geistige Randnotiz an, um Eôghán daran zu erinnern, die Scharniere zu schmieren. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er Meáv über die Türschwelle treten sah. Wie immer war der Anblick des zierlichen Mädchens mit den pupillenlosen, stahlblauen Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte für ihn eine willkommene Abwechslung. Sie kam näher und stellte das silberne Tablett mit einer großen Karaffe und dem geschliffenen Glas auf einem Tischchen neben Leopold ab. Sofort entströmte der starke Duft frisch gemahlenen und gebrühten Kaffees und erfüllte die Luft.
»Euer Getränk, Herr.« Sie deutete einen höflichen Knicks an und gestattete ihm, seinen Blick über ihre Erscheinung schweifen zu lassen. Meáv war, wenn auch eine Gnomin, ein mehr als hübsches Mädchen. Das weiße Kleid, das züchtig erst unterhalb der Knie endete, schmiegte sich eng an ihren jugendlichen Körper. Darunter zeichneten sich erste weibliche Konturen ab. Es stand ihr perfekt. Langes braunes Haar umrahmte ein ovales Gesicht mit stechenden Augen und einer vielleicht einer kleinen Spur zu großen Nase.
Wie sich herausstellte, erwiesen sich seine Vorstellungen über Gnome als völlig falsch. Nur an der etwas geringeren Leibeshöhe und den tiefgründigen Augen ohne Pupillen, waren sie von den Menschen zu unterscheiden.
Maireàd und Meáv verließen nur selten ihr Heim und wie er wusste, kaschierte Eôghán den Makel seiner Augen häufig mit dünnen Linsen aus Baumharz, in deren Mitte er einen runden Fetzen schwarzen Stoffes gegossen hatte.
»Habt Ihr noch einen Wunsch, Herr?« Meáv lächelte und musterte Leopold in ähnlich begaffender Weise, wie er es seinerseits tat.
»Danke, du darfst dich entfernen.«
Schnell zog sie sich zurück und schloss die Tür. Er wurde nicht schlau daraus, ob sie gerne zu ihm kam oder nicht. Aber was kümmerte ihn das? Er entlockte dem Mahagonisessel, in dem er ruhte, ein leises Ächzen, als er sich entspannt zurücklehnte, und goss sich etwas Kaffee ein. Erfreut nahm er das Brettchen mit Gebäck zur Kenntnis. Die Gnome meinten es heute wieder besonders gut mit ihm. Er nahm einen Schluck Kaffee in der Hoffnung, dass er schon ein wenig abgekühlt war. Gestern hatte er sich den Gaumen verbrannt. Heute hingegen hatte der Kaffee eine angenehme Temperatur. Leicht bitter im Abgang mit der genau richtigen Note der Röstung und einem Hauch von Erde. Eôghán hatte vor einigen Jahren Kaffeestauden angepflanzt. Seitdem ernteten sie beide die frischen Bohnen und rösteten sie nach einer Trocknungszeit über Buchenholzspänen. Erst durch die Röstung erhielt der spätere Kaffee seinen individuellen Geschmack. Er nahm sich fest vor, morgen einmal zu ergründen, ob ein wenig Zucker den Eigengeschmack der gerösteten Bohnen übertönen würde.
Leopold stellte das Glas zurück und nahm sich eine der köstlichen mit dunkler Schokolade überzogenen Gebäckkugeln vom Tablett. Er stopfte sich das Praliné, wie Maireàd sie nannte, in den Mund und ließ die Schokolade langsam auf der Zunge zergehen, bis sie sich mit der zartschmelzenden Mandelcremefüllung mischte. Maireàd war nicht nur eine hervorragende Haushälterin, sondern die mit Abstand beste Bäckerin, die er kannte. Er erinnerte sich an das zarte Gebäck, das ihm gestern kredenzt worden war: längliche Stangen eines feinblättrigen, mehrschichtigen Teiges, goldgelb gebacken. Die eine Hälfte davon hatte Maireàd mit einer Glasur aus Schokolade überzogen, die anderen Exemplare waren mit einer süßen Creme mit Vanillearoma bestrichen. Eine Geschmacksexplosion von allerfeinster Güte. Die Gnomin schaffte es jeden Tag aufs Neue, ihn mit abwechslungsreichen Gebäckvariationen zu beglücken. Das Verspeisen diverser Köstlichkeiten gehörte eindeutig zu den wenigen Dingen, die selbst in der Zeitspanne seines Lebens niemals zur Langeweile verkommen waren.
Sein Blick schweifte durch den Raum. Sein Sehnerv würde es ihm danken. Auf den letzten Seiten des Folianten waren die Buchstaben neben den farbenprächtigen Zeichnungen, mehr und mehr verschwommen.