Erben der Ewigkeit - Derufin Denthor Heller - E-Book

Erben der Ewigkeit E-Book

Derufin Denthor Heller

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Beschreibung

Der bildgewaltige Schauerroman ist der gebührende Abschluss einer neuen Fantasy-Trilogie. Mit der Vermischung von Fantasy und Horror kehrt der Autor zurück zu den Wurzeln der Phantastik. Erkennen Sie die Realität des Lebens und erleben Sie die bittere Wahrheit über das tragische Schicksal der "Erben der Ewigkeit". In Rakshore, der Stadt der Lieder, feiern die Bewohner ein berauschendes Fest. Eine Gruppe bösartiger Musikanten bringt Tod und Verderben in die Stadt. Möchten die Musiker wirklich die Königswürde erlangen? Wird es so einfach sein, dem alten König die Krone zu entreißen und welche Geheimnisse verbergen sich hinter den Mauern des königlichen Palastes? Ein groteskes Ränkespiel um die endlos lange Zeit der Ewigkeit beginnt. Das große Finale eines grausigen Fantasy-Spektakels mit klassischen Horrorelementen über die triebhaften Auswüchse ewigen Lebens. Das Genre des "Phantastischer Schauerroman" - Düstere Grundstimmung - Gruseliges Setting - Unheimliche Begegnungen - Figurengetriebene Haupthandlung mit großen Gefühlen wie Leidenschaft, Dramatik & Begierde. - Keine Unterscheidung in "gut" und "böse" - Häufig mit tragischem Ende Zitate aus Erben der Ewigkeit »Ich fühle mich so müde, dünn und ausgelaugt, als hätte sich der Sand meines Lebens in alle Himmelsrichtungen verstreut. Kraftlos bin ich geworden. Trotz meines jugendlichen Äußeren fühle ich die Kälte des Todes in meine Knochen kriechen. Nur durch dein Zauberwerk wird mein Geist an diesem Ort gehalten.« »Schwarze Knochen, schwarzes Haar, ganz langsam zähl´ ich jedes Schaf, bis mich die Nacht zur Ruhe bringt, und Du das Lied des Todes singst.«

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Seitenzahl: 415

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Epilog

NACHWORT

Derufin Denthor Heller

Prolog

In einen verdächtig unscheinbaren Mantel gehüllt, eilte Avonlea durch die engen Gassen der Stadt. Die Straßen in den Vierteln, durch die sie lief, waren feucht vom leichten Regen, doch sie achtete nicht auf die glitzernden Pfützen und Rinnsale, sondern erfreute sich lieber an den farbenfrohen Pflastersteinen, die unter ihren Füßen dahinfl ogen und nun, da sie vom Staub befreit waren, in ihren satten Tönen aus Rot und Gelb leuchteten.

Selbst in den späten Abendstunden herrschte in der Stadt der Lieder noch reges Treiben. Weniger als hundert Schritte entfernt bog eine Gruppe geschäftig schwatzender Soldaten um eine Ecke. Die königlichen Wachen waren leicht zu erkennen. Dunkelblau prangte der gekrönte Tanzbär, das Wappen Rakshores auf ihren gesäumten Röcken. Avonlea hatte gelernt, den gerüsteten Männern aus dem Weg zu gehen.

Schnell schlang sie den dunklen Mantel enger um sich und drückte sich in den Schatten der Mauer neben ihr. Gut verborgen in der Schwärze hoher Häuserfronten, verdeckte der Stehkragen ihres Mantels selbst die vornehme Blässe ihres Gesichts. Nacht für Nacht gelang es ihr dadurch, unbehelligt die Stadt aufs Neue heimzusuchen.

Ein besonders aufmerksamer Wachsoldat blickte in ihre Richtung, doch nur eine Sekunde später wendete er sich wieder dem stumpfsinnigen Gespräch seiner Gefährten zu.

Wie so oft erinnerten sie die in Stahl und Eisen gerüsteten Männer des Königs an die hohe Sterblichkeit des Menschengeschlechts. Trotz ihrer scharf geschliffenen und auf Hochglanz polierter Waffen fanden sie doch allesamt alsbald den Tod. Auch dieser Soldat sah seinem nahen Ende schon mit Aufregung und Spannung entgegen, sehnte sich geradezu nach dem letzten Atemzug seines Lebens. Längst war der Sand im Stundenglas seiner Zeit aufgebraucht. Zappelnd an der Spitze eines Speeres oder durch heimtückische Krankheit dahingerafft, würde auch seine Seele schon bald die ewige Ruhe finden.

Avonlea lächelte. Ein unrühmliches Ende, das ihr selbst für immer verwehrt blieb.

Die Wachsoldaten betraten eine finstere Gasse und schon bald waren nur noch leise Gesprächsfetzen der Männer zu hören.

Vorsichtig löste sich Avonlea aus den Schatten. Wie einfach es doch war. Sie kannte jeden Stein, jede Ecke, jeden noch so kleinen Winkel des Weges durch die Stadt. Zu oft hatte sie ihn zurückgelegt. Zu oft, um noch unaufmerksam zu sein. Selbst im Halbschlaf hätte sie es vermeiden können, gesehen zu werden.

Nur zu gerne hielt sie sich im Verborgenen, versteckt vor den neugierigen Augen der Massen. Sie agierte lieber im Hintergrund, lenkte die Geschicke der Stadt auf ihre eigene perfide Art und Weise. Sie wusste, dass nur wenig dafür nötig war, die wahre Macht zu entfesseln. Mochten die Menschen ruhig glauben, dass sie mit Schwertern und Speeren die Herrschaft über ein Reich erhalten konnten. List und Tücke brachten den wahren Einfluss. Warum ein ganzes Reich mit Waffengewalt unterwerfen, wenn es reichte, einen Einzelnen zu unterjochen?

Noch dazu, wenn es die Untergebenen noch nicht einmal bemerkten. Wahre Giftträufler versüßten ihre Speisen mit Leidenschaft und Freude. Wie einfach es doch war, das kindliche Gemüt primitiver Menschen zu manipulieren, wenn ein überlegener Intellekt nur über ausreichend Zeit verfügte.

Nun, Zeit war wahrlich im Überfluss vorhanden.

Ein leichtes Kitzeln lenkte Avonleas Aufmerksamkeit auf die kleine Erhebung an ihrer Schulter. Beruhigend streichelte sie mit den Fingern über das Schlüsselbein.

»Keine Sorge, meine kleine Freundin. Es ist nicht mehr weit«, flüsterte sie.

Trotz anhaltender Dunkelheit sah sie ihr Ziel deutlich vor sich. Nur spärlich erleuchteten vereinzelte Öllampen die engen Gassen. Die Lichter kennzeichneten die Herbergen und Tavernen der Stadt, aus deren weit geöffneten Fenstern die Klänge unterschiedlichster Musik ertönten.

Avonlea beachtete die mit leichten Mädchen und betrunkenen Männern gefüllten Spelunken nicht. Schnell, die zierliche Gestalt nach vorne gebückt, schritt sie voran. Lautlos glitten die Sohlen ihrer Stiefel über die farbenfrohen Steine der Straße. Selbst in der Dunkelheit konnte sie die Veränderung des Musters deutlich erkennen. Nun war es nicht mehr weit. Der alte Stadtkern lag direkt vor ihr. Von nun an würde die Anzahl der patrouillierenden Soldaten und Wachen steigen. Einen anderen Weg zu wählen, war die bessere Wahl.

Die Gasse mündete in eine weite Straße. Lange Serpentinen führten hinauf zur obersten Ebene des Felsens. Ein Stein so alt wie die Zeit selbst. Hoch ragte er auf inmitten der Stadt.

Nun, da das Grün von Bäumen sich aus der Dunkelheit schälte, fühlte sie sich wohler, heimischer. Die kalten Steine der umliegenden Häuser waren einer Allee aus Bäumen gewichen. Schnell zählte sie die prächtigen Kastanien. Eine Angewohnheit, die sie niemals vergaß. Zu eng war sie mit ihren Freunden verbunden. Mehr als vierzig der edlen Bäume säumten den Weg. Stille Wächter der steinernen Mauern, die sie mit ihrem unverkennbaren Duft begrüßten. Leichtfüßig verschwand sie hinter dem nächsten Stamm. Wie immer nahm sie sich die Zeit und berührte kurz die wundersame Natur, die sie so liebte.

Es war eine herrliche Nacht. Strahlendes Mondlicht fiel auf die Vielzahl an zugespitzten Blättern und behaarten Knospen. Ein wohliges Raunen erfüllte die Luft. Wärme flutete in ihren Körper, als die Bäume die Eindrücke des Tages mit ihr teilten. Ein prickelndes Gefühl, das sie mehr als nur genoss.

So schön die Prachtstraße auch war, sie war nicht ihr eigentliches Ziel.

Leise huschte sie entlang des Felsens weiter durch die Nacht, bis sie endlich gefunden hatte, wonach sie suchte.

Gut versteckt hinter einer üppigen Flut aus Ranken und Dornen verbarg sich das wahre Geheimnis. Wie ein vornehmes Geschmeide schmiegte sich an dieser Stelle eine Ader grünen Marmors an die dunkle Haut des Felsens, der viele hunderte Schritte hoch aus dem Erdreich ragte. Das geflüsterte Losungswort und ein Druck mit den Fingerkuppen genügte. Geräuschlos schwang die Tür auf. Nicht das geringste Anzeichen hatte die Öffnung verraten. Seit Jahrhunderten war der Durchgang mit alter Magie versiegelt, gut geschützt vor den Blicken der Bevölkerung.

Schnell schlüpfte sie in den Durchgang. Der Steinblock, der den getarnten Weg freigegeben hatte, glitt zurück und verwehrte jedem den Zutritt, der nicht über das geheime, über Jahrhunderte überlieferte Wissen seiner Existenz verfügte.

Avonleas Kleidung straffte sich, als sie ihre gebückte Haltung aufgab und sich zur vollen Größe aufrichtete. Ein tiefer Atemzug füllte ihre Lungen. Vor ihr lag ein dunkler Pfad. So oft war sie ihm gefolgt und doch überraschte sie die Frische der Luft in den Eingeweiden des Steines auch heute.

Avonlea wusste, dass ihr niemand mehr begegnen würde. Nun war keine Eile mehr geboten. Wenn einem die Stunden von Jahrhunderten zur Verfügung standen, war Zeit nicht mehr von Bedeutung. Anders als die sterblichen Menschen lenkte sie ihr eigenes Schicksal. Stets hatte sie im Verborgenen gewirkt. Über Jahre war ein Plan herangereift, der nun endlich vor seinem Abschluss stand. Sie stand an einer Weggabelung, einer Kreuzung der Zeit. Verschiedenste Pfade konnten eingeschlagen werden. Jeder von ihnen führte sie unweigerlich näher zu ihrem Ziel. Der eine schneller, der andere langsamer, doch was machte das schon? Was bedeuteten schon ein paar Tage oder Wochen? Selbst viele Jahre waren nicht mehr als nur ein Wimpernschlag für sie, schneller in Vergessenheit geraten, als es ihr lieb war. Wenn es etwas in ihrem Leben gab, dass sie im Überfluss besaß, dann war es Zeit. Endlose lange Phasen des Grübelns, die sie mehr als gekonnt genutzt hatte, um ihre Niederträchtigkeiten und Intrigen zu spinnen.

In einer Zeit der Schwäche hatten sich die Menschen in ihrem Reich eingenistet. Wie ein blutsaugender Parasit waren sie über ihre Untertanen hergefallen, brachten Zerstörung und Tod. Da war es nur recht, dass sie scheiterten und noch nicht einmal im Entferntesten verstanden, wer für das Versagen verantwortlich war. Sie erahnten nicht im Geringsten, wer die wahre Macht über sie besaß.

Ein schlauer König hatte mal erwähnt, dass sein Einfluss vergänglich sein könnte. Ein weiser Ausspruch und der Wahrheit so nahe. Vorausgesetzt die Vergänglichkeit besiegelte das eigene Schicksal.

Wahre Macht fand im Verborgenen statt und war auf Einzelne beschränkt. Kein König der Welt zeigte Stärke ohne die Eingebungen seiner Berater.

Schon wieder war sie ihren Grübeleien verfallen. Ein Anzeichen ihres nie ruhenden Verstandes, wie sie vermutete.

Ihre Hand griff in ihren Mantel und streichelte erneut beruhigend über die kleine Erhebung an ihrer Schulter.

Wie vernünftig es war, wenn alte Wesen mit Verstand die Welt lenkten, damit sie nicht aus den Fugen geriet und alles Wertvolle erhalten blieb. Wenn es notwendig war, so mussten arglistig Ränke geschmiedet werden. Wahre Macht äußerte sich nicht in Bärenkräften und Gewalt, sondern in geduldiger Beharrlichkeit und Ausdauer.

Avonlea nahm einen letzten tiefen Atemzug. Gemächlich, deutlich langsamer als zuvor auf ihrem Weg durch die Stadt, folgte sie dem Pfad, der durch magisches Feuer in die uralten Eingeweide des Steins gebrannt worden war. Sie spürte, dass der schmale Weg beständig anstieg. Bläulich schimmerndes Moos wuchs an Decke und Wänden, spendete ein blasses geheimnisvolles Licht. Einhundertundeinundvierzig Stufen führten sie eine Wendelung immer weiter nach oben, bis der Pfad an einem weiteren Durchgang endete. Ein schwerer Wandteppich verdeckte den Eingang. Sie wusste, dass das junge Mädchen, das ihn mit filigranen Fingern geknüpft hatte, mehr als zehn Jahre mit täglich blutig geschundenen Händen daran gearbeitet hatte.

Sie scherte sich nicht darum, was sie dahinter erwartete. Kraftvoll schlug sie die Ecke des Teppichs zur Seite und trat über die knarzende Schwelle. Ihre Stiefel scharrten über das grausig anzusehende Mosaik am Boden.

Wie es ihre Art war, blickte sie ernst um sich. Langsam streiften ihre Augen über die aus kostbaren Hölzern gefertigten Möbel der durch Kerzen erhellten Gemächer, bis sie endlich fanden, wonach sie suchte. In ehrfürchtiger Ergebenheit blickten ihr die Augen des Königs entgegen.

1. Kapitel

Ist das nicht eine herrliche Aussicht? Dafür hat sich der beschwerliche Aufstieg wirklich gelohnt.« Rhania gab ein leises Glucksen der Freude von sich und stupste den Elfen an die Schulter, der gelangweilt neben ihr an einen Baum gelehnt stand und mit den herzförmigen Blättern eines bodennahen Astes spielte.

»Du hast wohl keinen Sinn für Schönheit im Kopf, was? Hey, da unten spielt die Musik.« Rhania deutete auf eine große Lücke im Gestrüpp des Waldes, die den Blick auf eine weite Ebene unter ihnen freigab. »Die Stadt der Lieder zeigt sich im hellen Sonnenschein von ihrer schönsten Seite und du hast nur Augen für dieses unscheinbare Blatt da? Das verstehe wer will!«

Beregrend konnte sich ein müdes Lächeln nicht verkneifen. Die junge Baroness war der letzte Neuzugang ihrer Musikantengruppe und obwohl er das Mädchen erst kurze Zeit kannte, ging sie ihm schon jetzt mit ihren menschlichen Angewohnheiten und abstrusen Ansichten tierisch auf die Nerven. Obwohl er kein großes Interesse an einer gepflegten Unterhaltung mit Rhania hegte, beschloss er dennoch, ihr zu antworten. Er wusste nicht, warum er sich immer wieder auf endlose Diskussionen mit seinen Gefährten einließ. Langeweile war es bestimmt nicht. Die feine Maserung des Blattes, das er hingebungsvoll betrachtete, war interessant genug. Vielleicht war es sein gutes Herz und seine belehrende Art, die ihn immer wieder hoffen ließen, das oft so unnütze Wissen der Menschheit um die Wahrheit zu ergänzen, und in die Vollkommenheit zu lenken.

»Verzeih mir, meine Liebe, wenn ich deine überschwängliche Euphorie nicht teile. Ich habe die stets gepriesene Schönheit von Rakshore, der Stadt der Lieder, schon vernommen und bereits vor Stunden einen Eindruck von den steinernen Mauern gewonnen, in die uns unser Herr und Meister zwingt. Die angesprochene Schönheit vermag ich nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil.«

Rhania starrte ihn verständnislos an. Beregrend sah, wie ihre Lippen bebten. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie ihre aufgewühlten Gefühle wieder unter Kontrolle gebracht hatte.

»Da verstehe einer euch Elfen!« Rhania schüttelte den Kopf, was den braunen Haarschopf, den sie mit einem einfachen Band gebunden hatte, hin und her schwingen ließ. Beregrend erinnerten die Haare der Baroness an den Schweif eines Pferdes. Bei Damen ihres hohen Standes war es selten, doch der Elf konnte nicht leugnen, dass die Art das Haar zu tragen, der jugendlichen Eleganz der Baroness zuträglich war.

»Kein Wunder, dass man euch mit Unverständnis begegnet. Eigenbrötlerisch, wie ihr seid, möchte doch kein vernünftig denkender Mensch etwas mit eurem Volk zu tun haben.«

Die Wut in Rhanias Stimme war nicht zu überhören. Beregrend hatte damit gerechnet. Die Baroness strotzte regelrecht vor Überheblichkeit. Ihr Selbstvertrauen in allen Ehren, doch insgeheim hegte er den Verdacht, dass sie einzig und allein die Absicht verfolgte, sich in der Gruppe der Musikanten zu behaupten. Jung an Jahren verfügte sie zudem nicht über die Erfahrungen der Ewigkeit.

Sie würde wachsen. Besessenheit hatte ihre Kindheit und Jugend überschattet. Aufgewachsen mit dem bösen Blick, hatte sie ihr eigenes Leben bislang noch nicht gelebt. Erst vor Kurzem war sie befreit worden von dem Geist, der ihren Körper gefangen hielt und ihre Seele unterdrückte.

Beregrend hatte Verständnis für ihre Situation und Mitleid. Rhania suchte noch nach ihrem Platz im Leben. Vor die Wahl zwischen Leben und Tod gestellt, hatte sie eine schnelle Entscheidung getroffen. Jahrelang war ihr das eigene Leben verwehrt geblieben. Nun, da sie wie ihre Gefährten dem Herrn der Finsternis diente, war das Alter für sie belanglos geworden. Ein kurzes unerfülltes Leben hatte man ihr genommen, doch dafür hatte sie die übermenschliche Natur der Ewigkeit gewonnen. Eine grenzenlose neue Welt lag ihr zu Füßen. Krankheit, Vergänglichkeit und Tod versanken in Bedeutungslosigkeit. Nun setzte sie alles daran, das eigene Leben zu verwirklichen. Beregrend wusste, dass Rhanias Übereifer nicht von langer Dauer sein würde. Schon bald würde sie die Realität der Bürde erkennen, die ihr auferlegt worden war, und welch hohen Preis sie für die Wiedergeburt als Dienerin des Bösen zahlen musste.

Beregrend betrachtete die kleine, in ein vornehmes Gewand gekleidete Gestalt der Baroness. Die Kleidung des Mädchens verströmte einen angenehm süßlichen Geruch wie wild gesammelter Honig, der dem Bienenvolk frisch geraubt worden war. Oder war es tatsächlich der Duft ihrer Haut, der die Rezeptoren seiner Sinneszellen einem Reiz aussetzte?

Rhanias Augen funkelten ihn böse an. Ihre Besessenheit hatte sie abgelegt, doch die Besonderheit ihrer Augen war geblieben. Die Einzigartigkeit der Farbe hellen Sandsteines starrte ihm entgegen. Nur die braunen Sprenkel der Iris verliehen ihnen eine nahezu menschliche Erscheinung.

»Du ziehst die Abgeschiedenheit und Einsamkeit dunkler, muffiger und von wildem Getier bevölkerter Wälder vor, das verstehe ich. Als Elf lebst du im Einklang mit der Natur. Aber das berechtigt dich nicht dazu, die Schönheit der von uns Menschen geschaffenen Behausungen in den Dreck zu ziehen.«

Beregrend versuchte erst gar nicht, dem Blick der Baroness standzuhalten. Leidenschaftlich betrachtete er das herzförmige Blatt des Baumes, dessen Borke er in seinem Rücken spürte.

»Ja, gib nur zu, dass du da nichts mehr hinzuzufügen hast. Rakshore ist eine wundervolle Stadt. Ihre Erbauer haben sich viel Mühe gegeben. Prächtige Alleen, Gärten, Obstplantagen und Blumenwiesen laden ein zum ausgedehnten Lustwandeln und Erholen. Überall sprudeln Quellen, und im Sonnenlicht schimmernde Teiche sorgen für Abkühlung in den heißen Monaten des Sommers. Das bunte Treiben einer riesigen Stadt liegt vor dir, und du wirfst noch nicht einmal einen kurzen Blick darauf, um ihre Schönheit zu bewundern.«

Beregrend seufzte. Ein schneller Blick zu seinen Gefährten genügte, um sich zu vergewissern. Wie es schien, blieb ihm kein Ausweg, um sich dem Gespräch mit der Baroness zu entziehen. Eigentlich hatte er gehofft, dass der kurze Wortwechsel Derufin oder Myraida dazu bewegte, sich einzumischen. Geschickt wie er war, hätte er es schon irgendwie geschafft, sich vornehm zurückzuziehen. Gerade die rotgelockte Herumtreiberin war für gewöhnlich immer für ein ausuferndes Gespräch zu haben, doch heute hoffte er vergeblich. Myraida stand nur wenige Schritte abseits und polierte geistesabwesend mit einer harzigen Tinktur den hölzernen Korpus ihrer Fidel. Das Instrument beherrschte sie meisterlich, doch selbst für seine elfischen Verhältnisse übertrieb sie die Pflege des aus noblem Holz gefertigten Stückes ein wenig zu sehr.

Derufin, der ehemalige Dieb, saß auf einem Stein und grübelte. In den letzten Tagen hatte Beregrend ihn oft in solch nachdenklichen Momenten gesehen. Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Die Liebe einer Gespielin der Götter war ihm verwehrt worden. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, bis er den Verlust der Dryáde, die ihn gebannt und anschließend weggeworfen hatte wie einen räudigen alten Sack, verkraftet hatte. Vorausgesetzt, er würde jemals wieder sein Glück finden. Beregrend war sich dessen nicht sicher.

Wie dem auch sei, von Seiten des ehemaligen Diebes war keine Hilfe zu erwarten. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als ganz alleine Rhania ihre jugendlichen Illusionen zu nehmen.

Auf seine ganz spezielle Art sagte er dem Baum Lebewohl. Das elfische Geschlecht verfügte über die Gabe, mit den Pflanzen des Waldes zu verschmelzen, die Gedanken und Gefühlswelt der Bäume zu erkunden und ihre regenerative Kraft zu nutzen. Durch die Berührung der Borke an seinem Rücken hatte er nur eine leichte Verbindung hergestellt, doch er hatte bereits genug von dem Glockenbaum erfahren. Einer seltenen Art, die in diesen Gefilden nicht heimisch war und deren Samen nur durch pures Glück und Zufall an diesem Standort gediehen war.

Bedächtig näherte er sich der Baroness und legte den Arm um ihre Schulter.

»Entschuldige. Ich sollte mir wirklich die Mühe machen, genauer hinzusehen.« Beregrend lächelte milde. Sollte die kleine Baroness sich ruhig in Sicherheit wiegen. Er wusste, dass sie schon bald deprimiert und am Boden zerstört vor ihm stehen würde.

In liebevoller Umarmung vereint, hatten zwei hohe Bäume ihre Köpfe zueinander geneigt. Auf diese Weise war ein Bogen entstanden, der Beregrend an ein dicht mit Ranken bewachsenes Tor erinnerte und das umliegende Gestrüpp verdrängt hatte. Eine Lücke im sonst undurchdringbaren Gewirr aus Ästen und Zweigen, die wahrlich einen herrlichen Ausblick bot.

»Komm …«, sagte er väterlich. »Lass uns für einen kurzen Moment die Schönheit der Stadt genießen.«

Rhania schien besänftigt und zeigte enthusiastisch auf die weite grasbewachsene Ebene, die sich unter ihnen zeigte.

In den letzten Tagen hatten sie verschiedenste hügelige Waldgebiete durchwandert. Nun lag eine weite Ebene vor ihnen, die an einem zerklüfteten Bergmassiv ihr Ende fand.

Ein großer Strom schlängelte sich in Windungen durch grüne Auenwälder, gespeist von Flüssen, Bachläufen und Rinnsalen, die Wasser in unterschiedlichsten Farbschattierungen führten, je nachdem, welche Mineralien sie aus ihren Ursprungsorten gewaschen hatten.

Beregrend genoss die Schönheit der Natur. Nur widerwillig richtete er den Blick auf die steinernen Mauern einer gewaltigen Stadt, die sich am Fuße des Gebirgsmassivs über mehrere Ebenen erstreckte.

Jeder, der Rakshore, die Stadt der Lieder, zum ersten Male erblickte, staunte über den mächtigen Felsen, der sich im Zentrum der Stadt erhob. Hunderte Fuß ragte er aus dem Boden, mehr als glatt war seine Haut, und die Oberseite des gigantischen Brockens war von Menschenhand zu einer ebenen Fläche behauen worden, die umringt von einer hohen Mauer die prunkvollen Gärten des königlichen Palastes beherbergte. Verglichen mit der mächtigen Erhabenheit des Felsens war der pompöse Palast ein unscheinbares Gebäude. Aus grünem Marmor gehauene Säulen säumten den hohen Eingang an der Vorderseite.

Beregrend achtete nicht weiter auf den Amtssitz des Königs. Noch immer nahm ihn der Anblick des Felsens in Besitz. Schön und unheimlich wirkte er wie der hinterlassene Fußabdruck einer Gottheit, die vor langer Zeit die Landschaft mit eigenen Händen geformt hatte. Wie eine flinke Zunge schob sich der Stein aus den tiefliegenden Eingeweiden des Gebirges an die Oberfläche. Ein Stein von solch magischer Erscheinung, dass er völlig fehl am Platze wirkte, als wäre er dem sphärischen Strudel einer anderen Zeit und einem anderen Ort entsprungen. Das Bemerkenswerteste jedoch war seine Farbe: Schwarz wie die Nacht, nur von wenigen silbrigen Adern durchzogen, glänzte die narbenlose Oberfläche im gleißenden Licht der Sonne, dass das Auge zu schmerzen begann, wenn man den Blick zu lange darauf richtete.

An seinen Flanken hatten die Bewohner der Stadt Wohnviertel, Gärten und Felder in großen Terrassen angelegt. An jeder Seite führten mit hohen Bäumen bewachsene Prachtstraßen in Serpentinen hinauf zur obersten Ebene. Ein Wirrwarr aus engen Gassen und schmalen Pfaden erstreckte sich innerhalb der Mauern der Stadt, ermöglichte der Bevölkerung, auf schnellstem Wege ihren Tagesgeschäften und Besorgungen nachzugehen.

»Siehst du die vielen Fahnen und Wimpel?«, fragte Rhania.

Beregrend erkannte die Aufrichtigkeit in ihrer Stimme. Die junge Baroness glaubte an die prächtige Schönheit der Stadt. In der Tat verfehlten die farbenfrohen Fahnen auch auf ihn ihre Wirkung nicht. Überall prangte und leuchtete das dunkelblaue Wappen der königlichen Stadt. Vor den Toren Rakshores wölbte sich in einem Halbrund eine gigantische Fläche blutroten Grases. Dutzende Blockhütten und Zelte in unterschiedlichsten Farben zierten die Landschaft. Die Unterkünfte für Edelleute, Ritter und ihr Gefolge, die zu den Feierlichkeiten angereist waren.

Überall herrschte reges Treiben. In Massen strömten Menschen durch die Einfallstraßen und Tore der Stadt. Das ganze Reich war auf den Beinen und gesellte sich zu den tausenden Einwohnern Rakshores. Allein die Anzahl der einheimischen Bevölkerung schätzte Beregrend auf an die vierzigtausend Seelen. Gemeinsam mit den Edelleuten, Gesandten und Besuchern aus den umliegenden Dörfern platzte die Stadt aus allen Nähten. Wohin sein Auge auch blickte, überall drängten sich die übelriechenden Körper der Menschen.

»Rakshore ist so schön, zu Zeiten des Festes. Die Menschen schmücken ihre Häuser und Vorgärten, um die Festivität zu begehen. Zu keiner anderen Zeit erstrahlt die Stadt der Lieder in dieser Schönheit.«

Beregrend sagte nichts. In bekümmerter Stimmung musterte er das bunte Treiben unter ihm. Es würde nicht einfach werden. Rhanias Begeisterung für das städtische Leben war echt. Vielleicht würde die junge Baroness schon bald den größten Schock ihres Lebens erfahren. Warum musste ausgerechnet er es sein, der dazu genötigt wurde, ihr diesen Schmerz zu versetzen?

»Wir haben richtiges Glück, weißt du? Nur alle zehn Jahre findet das große Spektakulum statt. Das Treffen der Barden, Spielleute und Musikanten. Genau zur richtigen Zeit sind wir am richtigen Ort. Ich kann es kaum erwarten, mich mit den anderen Musikern zu messen. Jeder, uneingeschränkt von seiner Herkunft, darf seine Künste vorführen.«

Beregrend konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Noch immer ruhte seine Hand auf ihrer Schulter. Mit sanften Fingern streichelte er über Rhanias Haut. Er spürte die verkrampfte Anspannung ihrer Muskulatur, den inneren Kampf, den sie mit sich selbst ausfocht. Wie jedes junge Mädchen verhielt sich die Baroness altersgerecht.

Ungestüm löste sie sich aus seiner Umarmung. Erst jetzt schienen ihr seine Berührungen vollends bewusst zu werden. Der Elf ließ sie gewähren. Rhania sträubte sich gegen die väterliche Hingabe, die er ihr bot. Selbstbewusst demonstrierte sie ihm ihre Stärke und Unabhängigkeit. Beregrend störte sich nicht daran. Es war das Recht der Jugend, gegen den Einfluss der Erwachsenen zu rebellieren. Dabei war ihm völlig klar, dass es genau die väterliche Fürsorge war, nachdem sich die Baroness heimlich sehnte. Den grausigen Tod des Bruders vor Augen war sie nun allein auf sich gestellt und gestrandet in der furchterregenden Weite der Welt. Erwacht aus langem Schlaf, unfähig, das Leben eigenständig zu bestreiten, war sie den Qualen unaufhörlichen Schmerzes vollends ausgeliefert. Dem unabänderlichen Wissen über ihre tragische Mitschuld am Tod von Vater und Bruder. Als Adelige geboren, trug sie von nun an die Verantwortung über unzählige Untertanen, doch die Baronie lag brach. Die Baroness musste die ihr zugewiesene Aufgabe erfüllen. Schutzlos und ohne Führung waren die Menschen der Baronie ihrem ungewissen Schicksal ausgeliefert. Es würde noch eine Zeit dauern, bis Rhania einen neuen Platz in dieser Welt gefunden hatte, und noch viel länger, bis die Ewigkeit ihrer Seele die Ruhe schenkte, die sie verdiente. Beregrend war gespannt, welche Türen die junge Baroness ihnen dennoch öffnen konnte.

Mit samtweicher Stimme formulierte er die nächsten Sätze, um ihr zu zeigen, dass er ihr die abweisende Haltung ihm gegenüber nicht krummnahm.

»Ich weiß. Ich habe davon gehört. Nur die besten Sänger und Spielleute werden den Preis und die Königswürde gewinnen. Ich finde es jedoch sehr befremdlich. Die Elfen wählen ihren König nicht. Und ganz bestimmt folgen sie keinem dahergelaufenen Spielmann.«

»Da siehst du mal, wie rückständig dein Volk ist. Ist das Musizieren nicht die schönste und reinste Form, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen? Sind es nicht gerade die Lieder, die Ehrgefühl und Empfindsamkeit in uns erwecken? Das Mitgefühl zu den Menschen ist eine wichtige Eigenschaft, die einen guten und gerechten König ausmacht.«

»Was versteht ihr Menschen schon von Gerechtigkeit? Es braucht mehr, um als König zu bestehen. Die Weisheit des Alters lässt viele Dinge in anderem Licht erstrahlen. Dazu kommt eine Herrschaft mit eiserner Hand, mit körperlicher Kraft, mentaler Stärke und dem Wirken feuerverzehrender Magie, um sich die Königswürde zu verdienen. Es ist empörend und lächerlich zugleich, dass ein einfacher Spielmann nur durch die Wahl von nichtswissenden Tölpeln die Königswürde erlangen kann.«

»Weisheit und Stärke, körperliche Kraft? Steht nicht der Wille des Volkes an erster Stelle? Ist es nicht erstrebenswert, dass ein Vertreter aus den eigenen Reihen die Geschicke der Stadt und des Landes lenkt? Nur ein König aus dem einfachen Volk kann die Nöte der Bevölkerung richtig einschätzen und Lösungen für die Widrigkeiten ihres Lebens vorantreiben. Ist es da nicht richtig, einen König aufgrund seiner künstlerischen Ausdruckskraft und seiner Empahtie zum Volke zu wählen?«

Beregrend hörte, wie Rhania lautstark Luft holte, so sehr hatte sie sich verausgabt.

»Ein König muss nicht gewählt werden«, sagte er. »Nein, er darf nicht den Reihen des niederen Volkes entstammen. Die einfachen Menschen sind schwach und anfällig für verschiedenste Eitelkeiten. Einfältig, wie sie sind, würden sie das ihnen überlassene Reich in Windeseile zugrunde richten.«

Rhania schüttelte den Kopf. »Du wirst doch soeben selbst Zeuge davon. Sieh es dir doch an! Erkennst du nicht die Schönheit der Stadt unter dir? Wie eine seltene Blume wächst und gedeiht Rakshore seit Hunderten von Jahren. Herangereift zur vollen Blüte, liegt sie da, erbaut und geschaffen von den aus eigenen Reihen ernannten Königen des Volkes. Wäre eine solche Pracht anders möglich? Ist der König einer der ihren, so hält das Volk zusammen. Nur mit Besonnenheit und mit vereinten Kräften lässt sich solch ein Wunder bewerkstelligen.«

Für einen Moment schloss Beregrend die Augen. Wie engstirnig Rhanias Argumente doch waren. Sie würde noch lernen, die Welt mit anderen Augen zu sehen, wie vergänglich die Zeitspannen menschlicher Generationen doch waren.

»Es tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, aber der Zahn der Zeit nagt bereits an der von dir so hochgeschätzten Pracht und den Grundpfeilern der Stadt.«

Rhania sah ihn verständnislos an.

»Sieh genau hin, erkenne die Wirklichkeit.« Beregrend deutete auf einen schmalen Landstrich auf der gegenüberliegenden Seite der Ebene, ein brauner morastiger Bereich sumpfigen Landes.

Rhania kniff die Augen zusammen, als ihr Blick der ausgestreckten Hand des Elfen folgte. Beregrend wusste, dass das grelle Sonnenlicht den Sehnerven der Menschen mehr Schwierigkeiten bereitete als ihm selbst, und stellte sich so dicht hinter Rhania, dass ihre Körper sich berührten. Sein Schatten ermöglichte seiner Gefährtin, zu erkennen, worauf er hoffte.

»Alles, was ich sehe, ist eine Sumpflandschaft, wie sie im Auwald üblich ist. Der große Strom ist wohl über seine Ufer getreten und hat das Stück Land geschwemmt. Ich weiß nicht, wie du darin den Untergang der Stadt erkennen möchtest.«

»Dort, in den gefluteten Auen, liegt die Heimat und der Ursprung allen Übels.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Rhania und schüttelte den Kopf.

»Jetzt rede doch nicht immer so endlos um den heißen Brei herum. Sieh es einfach ein. Sie versteht deine verschrobenen Winkelzüge nicht«, mischte sich die helle Stimme des ehemaligen Diebes ein. »Spanne sie nicht noch unnötig länger auf die Folter. Erteile ihr endlich den finalen Streich der Erkenntnis, die sie nicht wahrhaben möchte.«

Beregrend sah, wie Derufin mit mürrischem Gesicht zu ihnen herüber schlenderte. Seine Worte klangen kratzig und gepresst, als wären seine Stimmbänder, wie die filigranen Teile seiner Trommeln, längere Zeit nicht mehr mit Fett und ätherischen Ölen geschmiert worden.

Unmerklich zuckte Beregrend beim Klang der kehligen Worte zusammen. So sehr der Elf die Sangeskünste seines Freundes schätzte, so sehr missfielen ihm die artikulierten Töne seiner Sprechweise.

Rhania löste sich von Beregrend und trat einen weiten Schritt zur Seite. Aus finsteren Augen funkelte sie beide an.

»Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht, aber behandelt mich nicht wie ein weinerliches Kind.«

Derufin lachte spöttisch und deutete eine vornehme Verbeugung an. »Keine Sorge, liebste Gefährtin. Niemals würde ich eine edle Baroness, wie Ihr es seid, behandeln wie ein Kind.«

»Ich kann die Wahrheit, wie du es nennst, schon verkraften.«

»Davon bin ich zwar nicht gänzlich überzeugt, aber Derufin hat recht. Ich wollte dich schonen. Vielleicht war das eine falsche Entscheidung.« Beregrend senkte den Kopf und sprach leiser, aber gut vernehmbar, weiter als zuvor: »Der Herr, dem wir alle fortlebens dienen, hat unsere Schritte nicht ohne Grund an diesen Ort gelenkt. Blutrot wird schon in wenigen Stunden das Farbenspiel des Himmels die Ankunft der Finsternis verkünden und den Untergang der Stadt der Lieder besiegeln.«

»Verstehst du nicht?«, fragte Derufin und richtete seinen durchdringenden Blick auf Rhania, deren nun blasses Gesicht die ersten Züge des Verstehens zeigte. »Wir sind die Diener des Herrn der Finsternis. Wir folgen unserer Bestimmung. Wir sind es, die Hunger, Elend und Not über die Menschen bringen werden, und am Ende wartet auf sie alle der Tod.«

Rhanias Stimme zitterte, als ihre Lippen die nächsten Worte formten. »Aber warum? Warum soll die prächtigste Stadt der Welt durch unser Handeln untergehen? Welches Unrecht haben die Bewohner begangen, dass es ein solch hartes Urteil und die Höchststrafe nach sich zieht?«

Derufin konnte sich ein mildes Lächeln nicht verkneifen. »Unsere Aufgabe besteht nicht darin, darüber zu urteilen. Wir sind nur die niederen Handlanger des Bösen, doch glaube mir, meine Liebe, sie alle verdienen den Tod.«

Rhania wollte etwas sagen, doch der strafende Blick des ehemaligen Diebes ließ sie verstummen.

»Zu lange haben sich die Bewohner der Stadt unerlaubt ausgebreitet«, sagte Derufin. »In unkontrollierter Vermehrungswut haben sie die Grenze des eigenen Verfalls überschritten, der Beschränkung des Lebens keinen Wert beigemessen. Jahr für Jahr wurden es mehr und mehr. Zu viele, um die natürlichen Bestände, der sie umgebenden Natur ausgleichend zu nutzen. Zu viele Mäuler, die gestopft werden mussten. Zu viele Menschen, die mit ihren menschlichen Bedürfnissen die eigene Existenz schädigten.«

Beregrend hörte, dass Derufin eine kurze Pause einlegte, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, und er nutzte diese um mit seinen eigenen Gedanken fortzufahren.

»Erfinderisch und ideenreich, wie sie waren, machten sie sich die Natur untertan. Übereifrig und mit verachtungswürdigem Hochmut gegenüber dem Leben, das sie einst hervorgebracht hat, hielten sie sich für die Herren ihrer Welt. Wie weit haben sie gefehlt? Wie engstirnig waren ihre Rechtfertigungen? Baum für Baum wurde gefällt, tausende von Sträuchern gerodet, um die Bevölkerung einer großen Stadt durch fruchtbaren Boden zu ernähren. Um die Bewässerung und Ernte der so geschaffenen Felder zu gewährleisten, wurden Bachläufe begradigt, Steine behauen und Behausungen geschaffen. Sesshaft musste die Bevölkerung werden, da nur so ertragreicher Ackerbau und lohnende Viehzucht über die Stürme der Jahreszeiten hinweg von Erfolgen gekrönt waren. Mehr und mehr Waren wurden auf den bunten Märkten feilgeboten. Die einst wunderschönen Wälder ihrer Heimat wurden durch ungehemmte Kaufsucht mit ihrem Unrat besudelt. Die Gesetze der Natur durch Misswirtschaft ins Abstruse verkehrt. Verblendet durch ihren immerwährenden Fortschritt, setzten sie sich den Göttern gleich. Nichtsahnend, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Natur ihrer Zerstörungswut Einhalt gebieten würde. Rakshore, die Stadt der Lieder, ist dem Untergang geweiht. Die Grenze von Wachstum und Selbstzerstörung ist erreicht. Viel schneller, als ihnen lieb ist, wird sich die Natur zurückholen, was ihr genommen wurde.«

»Ist das also das unwiderrufliche Schicksal der Stadt der Lieder?«, fragte Rhania leise, die bei den letzten Worten immer weißer um die Nase geworden war.

Beregrend nickte. »Die Schwingen des Todes nahen, wenn der Herr der Finsternis seine Finger nach den Mauern der Stadt streckt. Unsere toten Hände sind seine Werkzeuge. Der Verfall wird langsam eintreten. Listig und verschlagen werden wir zunächst in den engen Gassen wüten, bis die Finsternis mit Fanfarenstößen und dunklen Wogen über die Stadt hereinbricht.« Beregrend nahm seinen Bogen und streichelte zärtlich über die Riemen aus Leder, mit denen das gebogene Holz umwickelt war. »Die scharfe Klinge meines Wolfsmessers und die gefiederten Pfeile dieses Bogens werden den Menschen, die sich so schamlos an der Natur vergriffen haben, den Krieg bringen. Derufins Axt wird die Saat ihrer Felder mit Blut besudeln und Myraidas Dolch wird Gift und Pestilenz unter denen verbreiten, die sich den Kräften der Natur widersetzten.«

»Und welche Rolle fällt mir dabei zu?«, fragte Rhania. Schneller, als der Elf geglaubt hatte, war die Röte in ihr Gesicht zurückgekehrt. Vielleicht war sich Rhania ihrer Bestimmung doch mehr bewusst, als er geahnt hatte.

»Furchteinflößend wirst du an Jeldariks Stelle treten. Einen kraftstrotzenden Ritter haben wir verloren und eine bekümmerte Adelige voller Tatendrang dafür bekommen. Myraida hat das Schwert des Ritters in seinem Gedenken aufbewahrt. Lass es dir von ihr geben. Der Herr wird deine Hände lenken, doch trainiere deine Fertigkeiten damit, wann immer du kannst. Feindschaft und Zwietracht wirst du unter den Menschen säen, bis ihr Gräuel ihnen den Tod bringt und das Leidwesen der Natur vor Augen führt.«

Die letzten Worte waren noch nicht verklungen, als sich der Elf wieder den herzförmigen Blättern des Glockenbaumes zuwendete und das Gespräch damit für beendet erklärte.

Derufin blinzelte Rhania verschwörerisch zu. »Wir müssen den Auftrag unseres Herrn erledigen und die uns auferlegten Aufgaben erfüllen. Beginnen wir damit, die Feierlichkeiten ein wenig zu stören. Ich denke, unser werter Herr Elf hat hierzu auch schon einen passenden Vorschlag ausgeheckt.«

Beregrend lächelte, denn der ehemalige Dieb hatte direkt ins Schwarze getroffen. Vorsichtig drehte er das herzförmige Blatt, das er in Händen hielt, auf die Rückseite und entlockte Derufin damit ein anerkennendes Murmeln.

»Wie sich unschwer erkennen lässt, hatte ich wohl recht«, sagte der ehemalige Dieb. »Heute Nacht werden wir gemeinsam die Saat ausbringen.«

»Die Natur wehrt sich mit all der ihr zur Verfügung stehenden Macht«, stellte Beregrend klar. »Schon seit Stunden habe ich den unverkennbaren Geruch der Umgebung in der Nase. Die uralten unter den Bäumen senden Botenstoffe aus, treffen Absprachen mit ihresgleichen. Unzählige Tiere bereichern die Luft mit dem unverwechselbaren Geruch der Hormone, die sie freisetzen. Das wächserne Siegel des Jüngsten Gerichts wurde gebrochen. Jetzt ist es an uns, dem Sieg der Gerechtigkeit über die Schlächter der Welt ein wenig auf die Sprünge helfen.«

»Ihr könnt auf mich zählen«, flüsterte Rhania und schrie lautstark zu Myraida hinüber, die, als würde sie das alles nicht das Geringste angehen, noch immer an ihrer Fidel herum polierte: »Hey, du giftträufelnde Herumtreiberin, bring mir mein Schwert, aber spute dich, und wehe ich finde auch nur eine Scharte in der Klinge!«

2. Kapitel

Schon am frühen Morgen zeigten sich die Gemächer von hellem Licht durchflutet. Nicht ohne Grund hatte Avonlea die Gehilfen angewiesen, so oft es ging, für ausreichend Sonnenschein und Frischluft zu sorgen. Der Schwermut des Königs war nur schwer zu ertragen. Die wärmenden Strahlen der Sonne halfen zumindest ein wenig dabei, die trübseligen Gedanken aus dem vernebelten Verstand des Königs zu vertreiben.

Manchmal wurde selbst ihr die Melancholie des Mannes zu viel. Einst hatte sie ihn so sehr geliebt. Nein, falsch. Seine verzweifelte Hoffnungslosigkeit und tiefste Wehmut machten es wahrlich nicht einfach, und doch, tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie niemals aufgehört hatte, unendliche Liebe für ihn zu empfinden. Ihre Gefühle für ihn waren stärker als jemals zuvor, ausgenommen, die Betrübnis, die sie daran hinderte, die Freuden zu erfüllen, die er sich von ihr erhoff te.

Gedankenverloren streichelten ihre Finger über das edle Holz der Vertäfelung. Die feinen Linien einer ehemals prächtigen Kastanie glänzten im hellen Licht. Ihre Gehilfen hatten sich richtige Mühe gegeben. Gleichmäßig aufgetragenes Harz und Pfl anzenöle hoben die Maserung gekonnt hervor. Sie liebte die Natur in all ihren Daseinsformen. Wände und Möbel waren aus den kostbarsten Hölzern gefertigt und sie wusste genau, dass ihr jedes noch so kleine Stückchen davon in ewiger Dankbarkeit verbunden war.

Ihr Blick schweifte hinaus zu den hohen Säulen, die grün schimmernd im Sonnenlicht glänzten. Aus nächster Nähe betrachtet, waren die dunklen Glyphen darauf gut zu erkennen. Nur sehr alte, den Göttern gleichgestellte Wesen konnten die Schriftzeichen der Vorzeit entziffern. Avonlea zählte sich zu ihnen, doch sie achtete nicht auf die warnenden Worte, die dort unverständlich für die Bewohner Rakshores am Eingangsbereich des königlichen Palastes für alle ersichtlich prangten.

So sehr Avonlea die herrschaftlichen Gemächer auch schätzte, erst hinter den Säulen erstreckte sich das wahre Prunkstück des Palastes. Wohin man das Auge richtete, erblickte es Gärten mit den erlesensten und seltensten Pflanzen. Überall leuchteten die bunten Farben der Natur. Die Gärten waren so groß, dass alle Bewohner der Stadt darin problemlos dem Lustwandeln verfallen konnten. Nur zu gerne machte die Bevölkerung davon Gebrauch. Mit farbenfrohen Steinen gepflasterte Wege führten zwischen Kräutern, Büschen und Blumenbeeten bis zu einer weißen Mauer, die rund herum die Gärten begrenzte. Wer auf den wahnsinnigen Gedanken kam, die Begrenzung zu überwinden, stürzte viele hundert Fuß an der Kante des dunklen Felsens hinab in die Tiefe.

Selbst Avonlea beeindruckte die unheimliche Macht, die der schwarze Brocken ausstrahlte. Die Menschen waren dumm genug gewesen, die Ansiedlung im Gebiet ihres Einflusses zu errichten, doch über den Stein, der das Herz der Stadt bildete, konnte selbst sie nicht gebieten. Die Linien der Macht, die sich unter ihm kreuzten, waren so stark, dass selbst eine Dryáde nur von Ehrfurcht davor erfüllt sein konnte.

Gerne hätte sie die Aussicht auf die wunderbaren Gärten noch ein wenig bewundert, doch so schön die Umgebung des Palastes auch sein mochte, so konnte sie doch nicht noch mehr Zeit verschwenden und die Angelegenheit unverrichtet lassen, die bereits viel zu lange aufgeschoben war.

Ein Kribbeln im Nacken sagte ihr, dass der Blick des Königs auf ihr ruhte. Fast konnte sie die eisige Kälte darin spüren, die er ihr wie spitze Pfeile aus den Augen zuwarf. Tief drangen sie durch die Haut, mitten hinein in ihr schuldgeplagtes Herz.

Sie konnte ihm die erdrückende Kälte seiner Gefühlswelt nicht verübeln. Schon vor vielen Jahren war die Feuersbrunst ihrer Liebe erloschen und einer dünnen Rauchsäule gewichen, einem zutiefst unbefriedigenden Zustand, den sie aufrecht erhielt, obwohl sie nicht genau wusste, warum.

Dabei nahm sich Verbrennung und Erfrierung nicht viel. Rötlich verfärbte Hautstellen und ein langanhaltendes Brennen waren die Kennzeichen beider Verletzungen. Schon vor vielen Jahren hatte die schneidende Kälte einer psychischen Erkrankung das Gemüt des Königs verbrannt. Mit klammen Fingern hielt die Krankheit seinen Verstand im eisigen Griff.

Es war nicht so, als könnte sie die Beweggründe des Königs nicht verstehen. Sie war nicht unschuldig an seinem Zustand. Wie oft hatte er sie angefleht?

Unentrinnbar war sein Schicksal an sie gebunden. Unmöglich konnte er der Magie der Natur entfliehen, die sie entfesselt hatte.

Schon vor langer Zeit, als die Liebe fast erloschen war, hätte sie den Zauber lösen müssen, der ihn an sie band. Viele andere hatte sie aus ihrem Leben verstoßen, doch der König war etwas Besonderes. Auch wenn das einst heiße Feuer zu einem zarten Glimmen verkommen war, auf eine gewisse Art liebte sie ihn noch immer. Noch war sie nicht bereit, ihn ziehen zu lassen.

»Lasst uns allein!« Rau hallte Avonleas Stimme durch die Eingangshalle der Gemächer.

Noch bevor der letzte Ton ihres Befehls verklungen war, setzte das vertraute Rauschen ein, das einzigartige Geräusch, das die Macht der Natur aus ihren Fesseln befreite. Schnell gewann es an Intensität. Holzfasern verbanden sich zu Strängen, Wurzeln und Ranken verformten sich, bildeten sich zu dichten Gliedmaßen heraus.

Ein hohes Wispern verriet Avonlea, dass die Gehilfen gehorchten.

Es war nicht notwendig, hinzusehen. Die Dryáde wusste auch so, dass die beiden von ihrer Magie geschaffenen Wesen den Vertäfelungen der Wand entstiegen. Zwei schlanke, baumähnliche Geschöpfe, deren Äste und Zweige ihnen als Arme und Beine dienten. Gesichtslos und stumm waren sie die einzigen Gefährten, die sie dem König zustand.

»Bereitet alles vor! Ihr wisst, was zu tun ist.«

Die aus Wurzeln und Hölzern geformten Beine glitten über den Boden davon. Das Wispern und Rauschen erstarb erst, als sich die von den Schraten hinterlassenen Lücken in der Vertäfelung wieder geschlossen hatten.

Langsam drehte sich Avonlea zum König. Der Saum ihres Kleides streifte den hölzernen Boden, was ein helles Rascheln zur Folge hatte.

»Meine Gebieterin«, sagte der König. Seine angedeutete Verbeugung blieb unvollendet. »Wie immer ist es mir eine Freude, Euch zu sehen.«

Fast war es so, als könnte sie die Vielzahl wirrer Stimmen hören, die ihn in seinen Träumen verfolgten und seinen Verstand mehr und mehr vernebelten. Dank ihrer magischen Kraft war er zu einem universellen Genie geworden, doch der einstige Scharfsinn und Erfindergeist war längst verschwunden und blankem Wahnsinn gewichen, der verhängnisvoll in seinen Augen leuchtete.

»Deine Blicke verraten dich. Denkst du wirklich, ich wüsste nicht, welche Qualen dir mein Anblick bereitet?«

»Nur Ihr seid im Stande, mein Leiden zu beenden.«

»Warum sollte ich das tun?« Avonlea wandte sich ab. Schon wieder machte der alte Tropf ihr das Leben so schwer.

Sicher, er wusste es nicht besser und konnte nicht ahnen, dass ihm der Schlüssel, der die Tür zu seinem Gefängnis öffnete, so nahe war wie niemals zuvor. Er wusste nichts von der quälenden Überwindung, die ihr der, nach so endlos langer Zeit gefällte Entschluss bereitete.

Sie spürte das wilde Klopfen ihres Herzen. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Wie oft hatte sie ihm die Auflösung des magischen Bannes verwehrt? Und auch jetzt waren es seine eigenen Worte, die sie dazu brachten, die nach reiflicher Überlegung getroffene Entscheidung erneut in Frage zu stellen.

»Sieh dich nur an.« Die Dryáde schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr eine rote Haarsträhne ins Gesicht fiel. »Viel zu lange habe ich dir erlaubt, mir so vor die Augen zu treten.«

»Verzeiht mir mein Betragen, Herrin. Es steht Euch frei, Euch meiner zu entledigen, wenn Euch mein Äußeres missfällt.«

Mit einem Blick voller Mitleid trat Avonlea zu ihm und schlang die Arme um den Mann, der zottelig und bärtig mit verfilzten Haaren vor ihr stand. Sein Körper verströmte einen beißenden Geruch, der so unangenehm war, dass er die Dryáde in der Nase stach.

Zaghaft erwiderte er die Umarmung seiner Herrin, was dazu führte, dass die silberne Krone, die sein Haupt zierte, herunterrutschte und scheppernd zu Boden fiel.

Avonlea lächelte, als der König unbeholfen ihren Rücken tätschelte. Sie spürte die Nässe seiner Tränen an ihrer Schulter.

»Bitte …«, schniefte er. »Bitte lasst mich fortgehen. Zu lange weile ich schon unter den Lebenden.«

Die Dryáde löste ihre Umklammerung und nahm seinen Kopf in beide Hände. In der dunklen Tiefe der Augen des Königs entdeckte sie die unendliche Leere, die sie kannte. Ausgebrannt wartete die alte Seele auf die letzte Reise ihres Lebens. Jahrhundertelang hatte sie sich verausgabt, als universelles Genie, das die schönsten Kunstwerke erschaffen hatte, bis sie der Liebe und des Lebens überdrüssig geworden war.

»Ich liebe dich. Immer habe ich dich geliebt, selbst all die langen Jahre, in denen du mich vergessen hast«, flüsterte der König. Feuchtes Glitzern stand in seinen Augen.

Seine Lippen bebten. »Befreie mich, wenn du mich schon nicht mehr lieben kannst«, wisperte er.

Avonlea konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Jahrhundertelang waren sie gemeinsam durch die Wälder gestreift. Kein Anderer hatte sich je mit ihm messen können. Alles hatte sie dafür gegeben, sein Leben zu erhalten. Selbst als die Gefühle zu ihm schwanden, hatte sie ihm dennoch ewige Treue geschworen, das unentwegte Leiden seines Herzens ertragen. Zuerst die brennende Eifersucht, die ihn quälte wie ein verendendes Tier. Danach das weinerliche Selbstmitleid, in das er, der Liebe beraubt, verfallen war. Alles hatte sie ertragen, auch den Schmerz, der sich seit jenen Tagen in ihrem eigenen Herzen ausbreitete.

Ein warmer Luftzug störte ihre Gedanken. Die Dielen des Bodens knarrten. Behutsam, als wollte er die Unterhaltung seiner Herrin nicht stören, kehrte einer der beiden Schrate zurück. Knarzend zeigte er mit der Wurzel, die ihm als Hand diente, auf die mit Rankenmustern geschmückte Tür, die zu einem angrenzenden Raum führte. Dampfende Rauchschwaden quollen daraus hervor und ein betörender Duft nach Wald und Kastanien schwängerte die Luft.

Avonlea spürte den heißen Atem des Königs. In unendlicher Traurigkeit sah er sie an.

»Ich fühle mich so müde, dünn und ausgelaugt, als hätte sich der Sand meines Lebens in alle Himmelsrichtungen verstreut. Kraftlos bin ich geworden. Trotz meines jugendlichen Äußeren fühle ich die Kälte des Todes in meine Knochen kriechen. Nur durch dein Zauberwerk wird mein Geist an diesem Ort gehalten.«

Nun war es also so weit. Der Tag war gekommen, an dem sie das unsichtbare Band zwischen ihnen durchtrennen würde. Diesmal konnte sie nichts zurückhalten. Beherzt fasste Avonlea den Entschluss, der längst überfällig war.

»Komm«, sagte sie.

Ihr Blick richtete sich auf das große Mosaik, das in der Mitte der Gemächer in den Boden eingelassen war. Ein Bildnis, bestehend aus tausenden bunter Steinchen, die der König selbst in mühevoller Kleinarbeit bemalt und gesetzt hatte. Dazwischen leuchteten goldgelbe Bernsteine unterschiedlichster Größe. Darin eingeschlossen starrten ihr leblose Augen entgegen.

Die Dryáde war froh darüber, dass das gesamte Ausmaß des Bildnisses nur aus einer erhöhten Perspektive zu erkennen war. Eine hohe Balustrade diente dem König dazu, den Schrecken seines Schaffens in reiner Vollkommenheit zu bewundern. Die langen Jahre hatten sich auch an seinem Verstand zu schaffen gemacht. Abgedeckt und verborgen hinter dunklen Tüchern, standen die Apparaturen ungenützt in einer Ecke, die er für die meisterliche Vollendung seines Werkes benötigte.

Avonlea hatte genug gesehen. Zu lange hatte sie es aufgeschoben.

»Komm«, wiederholte sie. »Auf dem Höhepunkt des Festes bringst du dein Machwerk zu einem gebührlichen Abschluss und dann, im Wissen, dass du für immer bei mir sein wirst, werde ich deine Seele ziehen lassen.«

Ein Leuchten trat in die Augen des Königs. Zufrieden, als fiele eine schwere Last von ihm ab, atmete er lautstark ein.

Avonlea tat ihm den Gefallen und beantwortete seinen fragenden Blick. »Ja, das verspreche ich dir.«

Die Dryáde nahm den König an der Hand und gemeinsam durchquerten sie den Raum, wobei es Avonlea vermied, das unheimliche Mosaik am Boden mit den Füßen zu berühren.

»Wie ich sehe, bist du mit deiner Forschung wieder ein gutes Stückchen weiter gekommen«, sagte sie beiläufig, als sie einen halbrunden Tisch passierten, auf dem ein längliches Gefäß befestigt war. Die zähflüssige hellbraune Substanz darin formte konzentrische Kreise, als sie sich so nahe daran vorbeibewegten.

»Ich bin der Lösung schon ganz nah«, verkündete der König. Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.

»Es war wirklich schwierig, herauszufinden, wie ich den Erhärtungszustand beeinflussen kann. Deine Schrate leisten mir gute Dienste. Emsig wie die Bienen sammeln sie soviel, wie ihnen möglich ist.«

»Schön, das zu hören«, sagte Avonlea. Sie war sicher, dass der König an der Sanftheit ihrer Stimme erkennen musste, wie wenig sie sich für seine abstrusen Machenschaften interessierte. Das Kunstwerk aus Stein und Bernstein, wie er es nannte, war so schon grausig genug anzusehen. Sie musste nicht auch noch detailliert in Erfahrung bringen, wie er es zustande brachte.

Doch entweder sie hatte das Feingefühl des Königs unterschätzt oder er war nicht geneigt, auf ihre Befindlichkeiten Rücksicht zunehmen. Unbeirrbar, als wäre jedwede Melancholie von ihm abgefallen, plapperte er einfach weiter.

»Du glaubst ja gar nicht, wie schwierig es ist, das blöde Harz davon abzuhalten, sich zu schnell zu verfestigen. Und bedenke die Komplexität der Gerätschaften, die notwendig sind, um allem die richtige Form zu geben, von den natürlichen, dafür vorgesehenen Zeitspannen ganz zu schweigen. Nicht jedes Harz ist geeignet, weißt du. Da gibt es wahrlich große Unterschiede. Außerdem musste ich unbedingt sicherstellen, dass der fertig polierte Bernstein nicht so schnell verwittert. Sonnenlicht ist nicht gut. Die Steine müssen dringend davor geschützt werden. Die richtige Mischung macht´s. Schwierig alles, wirklich schwierig.«

Avonlea hatte genug gehört. Kräftiger als noch zuvor zog sie ihn weiter und gemeinsam betraten sie den Nachbarraum, in dem sie die Schrate angewiesen hatte, ein Bad für den König zu bereiten.

Es war einfacher, als sie gedacht hatte, ihn zu überreden. Ein sanftmütiges Lächeln genügte und der König schlüpfte ohne weitere Worte aus der übelriechenden und abgetragenen Bekleidung, deren Schmutz seit viel zu langer Zeit an seinem Körper klebte.

Nackt und unbekümmert ließ er sich in das nach Wald und frischen Blumen duftende Wasser des im Boden eingelassenen Bassins gleiten. Die Dryáde hörte, wie seine Gelenke knackten, als das wärmende Wasser seinen Körper umspielte und die schon vor Jahren ermüdete Muskulatur entspannte.

Die Schrate blieben nicht lange untätig. Mit respektvollem Abstand beobachte Avonlea, wie sie ihm mit Bürsten den Rücken schrubbten und so die gröbsten Verkrustungen entfernten. Der Dreck von Jahrhunderten färbte das Wasser matschig braun.

Das steinerne Bassin war eine edle Konstruktion. Schmutziges Wasser konnte durch mehrere Durchlässe abfließen und beständig floss klares Wasser nach, das, einem Wasserfall ähnlich, aus drei Löchern der aus Marmor gefertigten Wand zugeführt wurde.

An der Seite hatten die Schrate einen hohen Kamin geschürt, der das daran vorbeigeleitete Wasser auf Wohlfühltemperatur erwärmte. Magisch leuchtendes grünes Feuer loderte darin. Immer wieder entsandten die züngelnden Flammen dichte Rauchschwaden, die lange in der Luft hängen blieben.

Eine hölzerne Liege und ein Schränkchen, in dem Baderwerkzeug und duftende Öle und Essenzen aufbewahrt wurden, vervollständigten die Einrichtung.

Avonlea senkte den Kopf, als die Schrate dem Badewasser mehr und mehr der kostbaren Flüssigkeiten zusetzten. Eine Phiole nach der anderen kippten sie hinein, bis der beißende Körpergeruch des Königs sich endlich verflüchtigte.

Den König schienen die Peinlichkeiten nicht zu interessieren. Fröhlich plantschte er im Wasser herum.

Avonlea wandte sich ab. Eine einzelne Träne glitzerte in ihren Augen. Wie schnell hatte sich sein Gemütszustand verändert? Den eigenen Tod vor Augen hatte sich die schwerlastende Dunkelheit seines Verstandes in die hinterste Ecke zurückgezogen.

Die Dryáde spürte keine Furcht vor dem Ende in ihm, nur eine tiefe Sehnsucht nach dem Tod. Nun, da ihm das Sterben nicht länger verwehrt wurde, genoss er die letzten Stunden seines Lebens wie ein Kind, das soeben etwas Neues entdeckt hatte.

Übermütig tollte er im Bad herum. Avonlea traute ihren Ohren nicht, als der König lauthals anfing zu singen.

Erwartet hab’ ich es lange Zeit, nun ist’s vorbei mit der Ewigkeit. Herbeigesehnt hab’ ich den Tod, schon bald begeb’ ich mich zur Ruh. Die Nymphe gibt mein Leben frei, einst dachte ich, es wird niemals sein. Heiß ersehnt hab’ ich den Tod, tritt er nun ein, bin ich sehr froh.

Warum nur war der König so glücklich? Konnte es wirklich sein, dass er sich den Tod so sehr ersehnte und als Erlösung sah?